Form+Zweck #25

Page 1

$$ '* :JGD

lll#[dgbjcYolZX`#YZ



:EDITORIAL. Seit einigen Jahren macht der Begriff der Kreativindustrie Konjunktur. Während das Stammwort »Industrie« an Versatzstücke der fabriklichen Ära erinnert - an weiträumige Lofts und stählerne Türen - suggeriert der Zusatz »kreativ«, daß die Arbeit endlich befreit sei von allen depravierenden Wirkungen industrieller Betriebsamkeit: Statt wie die Proleten zwischen stählernen Kolossen zu schuften, die den Körper in schweißtreibende Takte zwingen, hängen die Kreativen heute zwischen smarten kleinen Kisten herum, an denen jeder als sein eigener kleiner Direktor auf eine durchaus selbstbestimmte Art fleißig sein kann. Europa, so heißt es euphorisch, habe die Herstellung von Dingen aufgegeben und sein Schicksal hänge nun davon ab, Konzepte und Images zu entwickeln: technologische Innovationen und Phantasieerreger für Konsumakte. Der Kapitalismus sei von einem neuen Geist beseelt und dürfe nun »kultureller Kapitalismus« genannt werden. Tatsächlich eröffnen die neuen Konstellationen dem Designberuf neue Möglichkeiten und bescheren ihm neue Limitierungen. Fiel in der alten Arbeitsteilung die Arbeit an der Form unter die Entscheidung und Zensur ästhetisch inkompetenter, formal aber mächtiger Nachfolgeprozesse (Konstrukteure, Technologen, Betriebswirtschafter), so bringen digitale Tools und neue Formen des Managements die Designer bei Produktentwicklungen in eine führende und wirtschaftlich verantwortungsvolle Position. Das Auslagern von Produktions- und neuerdings auch von Entwicklungsleistungen (outsourcing und offshoring) führt international zu einem breit gefächerten Angebot hochflexibler Firmen, die - untereinander in einem international deregulierten Wettbewerb - Zulieferungen ebenso wie Ingenieurs- und Konstruktionsleistungen zu ununterbietbar günstigen Konditionen offerieren. Zusammengehalten wird dieses Netzwerk über die elektronischen Verkehrswege. Parallel dazu verändert sich das Denken des Industriemanagements. Statt sich der Tradition von Branchen oder endogenen Entwicklungspotentialen verpflichtet zu fühlen, misst das Neue Management die Entwicklung des Unternehmens an seiner Bewertung auf den Kapitalmärkten: Statt Forschungs- und Entwicklungsarbeiten noch länger an die Einführung konkreter Produkte in konkreten Zeiträumen zu binden, gibt das Neue Management gleich bloß noch die zu erzielenden Gewinnmargen vor. Mit dieser Umstellung der Zielvorgaben von Produkten auf Gewinne durch das Neue Management wächst der Entscheidungsspielraum in den Sphären von Produktentwicklung und Marketing ebenso wie die Bereitschaft der Unternehmen, mit externen Partnern zusammenzuarbeiten. Für selbständige Designfirmen ergeben sich dadurch neue Möglichkeiten, den gesamten Prozeß der Produktentwicklung, einschließlich ingenieurstechnischer Arbeit und Marketing unter ihre Regie zu bringen und die in der alten Arbeitsteilung verloren gegangene Entscheidungsmacht über die Form zurück zu gewinnen. Diese Position kann allerdings nur eingenommen werden, wenn Designer habituell und technologisch in der Lage sind, derartig komplexe Innovationsprozesse zu managen, Ingenieurs- und Werbeaktivitäten in ihr Regime zu integrieren und zu vernetzen und über einen längeren Zeitraum die Zuverlässigkeit der Innovationen zu garantieren. Bisher sind Designer eher mit den negativen Folgen dieser Trends konfrontiert worden – für viele beginnt die Arbeitswelt in prekären Verhältnissen - mit wenig Sicherheit, aber vielen Freiheiten: Jeder bestimmt nun selbst, wie viele Stunden der Lebenszeit unbezahlt an andere veräußert werden oder wie teuer eine Krankheit kommt. Wir haben zu den Widersprüchen, in denen das Entwerfen heute stattfindet, Gespräche geführt und Standpunkte eingeholt einerseits zur neuen Lage und den neuen Möglichkeiten des Designs und andererseits zu den prekären Verhältnissen von Freelancern: Statt als Lebensstilgeber anderen die kulturellen Muster ihrer Erfüllung vorzuschreiben, begreifen viele der jungen Designer ihren Alltag als ein komplexes kulturell engagiertes Projekt. Was steckt hinter der Ideologie vom kulturellen Kapitalismus und was hat sie mit ästhetischem Avantgardismus gemein? Und: Ist das Entwerfen nur eine Arbeitstätigkeit wie das Konditorhandwerk auch oder hat das Gefühl von der Besonderheit des Entwurfs, das viele Designer noch immer motiviert und umtreibt, eine Wirklichkeit, die tiefer verankert ist, als jegliche Einbildung je reicht? Jörg Petruschat

_03_


:INHALT. 06 DIGITALE TOOLS Ein Gespräch mit Holger Jahn

16 THINK Ein Gespräch mit Chup Friemert über den Stuhl »Thinkcase«

26 CULTURE JAMMING Ein Gespräch mit Margarita Tsomou


40 KREATIVITÄT UND DER NEUE GEIST DES KAPITALISMUS

50 DIKTATUR DES AUGES

68 IMPRESSUM

Ein Gespräch mit Simone Hain

Ein Gespräch mit Ulf Wuggening

_05_


: Ein Gespr채ch

mit Holger Jahn .

: k inzelk1frontrad.tif.>


»Im Rahmen einer frühen Phase der Produktentwicklung des Sportkinderwagens Kinzel K1 der Renner (www.Kinzel-K1.de) entstandene Baugruppe des Frontrades. Das neuartige Lenk-Stabilisations-System und Federungs-System wurde auf Basis dieser Daten erstmals mittels Rapid Prototyping realisiert und getestet.« _07_


Als die Software menugeführt wurde, begannen auch Designer Computer für den Entwurf zu nutzen. Hinweise darauf, daß der Einsatz von digitalen Technologien dem Design Anpassungsleistungen abzwingen würden, taten viele mit dem Spruch ab, der Computer sei doch nur ein neues Werkzeug. Mittlerweile zeigt sich, daß Rechner nicht bloß irgendwie anders funktionierende Zeichenstifte sind, sondern Tools, die, in Kongruenz zur Globalisierung, den Gestaltern neuartige arbeitsteilige Gefüge bescheren mit neuen Risiken, anderen Verantwortungen, aber auch mit neuen Chancen. Wir sprachen mit Holger Jahn, Inhaber von Jahn-Design Berlin, und seit einiger Zeit Professor am einzigen Fachbereich für Gestaltung im Freistaat Sachsen, über Industriedesign unter den Bedingungen des Outsourcings von Produktionskapazitäten und des Offshorings von Entwicklungsleistungen, sowie über die Optionen, die sich dabei für das Entwerfen ergeben.

:atmoport.tif.<


FORM+ZWECK

Warum sind Rechner für das Entwerfen von Produkten unverzichtbar geworden?

J A H N Der Einsatz von Rechnern fängt da an, wo es über eine Handskizze hinausgeht. Ich halte es für unnötig im Computer renderings zu machen, die nur ein schönes Bildchen darstellen. Jemand, der versiert ist in einem 3-D-Tool kann in derselben Zeit auch ein 3-D-Modell aufbauen, was der Variantenerzeugung weitaus dienlicher ist. Was auch ermöglicht einzuschätzen, ob der innere Aufbau funktioniert, ob in dieser Form ein package funktioniert. Digitale Werkzeuge bedeuten für das Entwerfen einen völlig anderen Ansatz. Erst mit guten 3-d-Tools wurde es überhaupt möglich, komplexere Produkte in einer entsprechenden Geschwindigkeit zu entwickeln und sich auch als Gestalter an wirklich komplexe Konstruktionen heranzuwagen. Vorher waren das arbeitsteilig sehr aufwendige Prozesse der Abstimmung. Heute wird erwartet, dass man mit dem inneren Aufbau schon relativ früh in der Entwicklung anfängt und nicht erst eine Hülle macht und die Hülle dann an irgendein Ingenieurbüro liefert und sagt, nun schaut mal, was ihr da hineinbekommt. Die bisher gewohnten Arbeitsweisen kann heute niemand mehr bezahlen und es hat auch niemand mehr Zeit, auf deren Ergebnisse zu warten. FORM+ZWECK

Seit wir die Computer mit ihren komfortablen Layout-Programmen haben, wird von den Grafik-

Designern verlangt, eine ganze Kohorte an technischen Prozessen (Satz, Bildbearbeitung, Druckmanagement) mit zu liefern, so dass die Arbeit im Grafikdesign nicht nur kreativer geworden ist, sondern wegen der zahlreichen technischen Routinen auch arbeitsintensiver, anstrengender und in gewissem Sinne auch uninteressanter. Holt das Industriedesign jetzt, fünfzehn Jahre später, derartige Entwicklungen auf seinem Felde nach? J A H N Es kommt darauf an, von welchen Produkten wir reden. Bei hochkomplexen Maschinen- und Produktionsanlagen oder Investitionsgüter mag es durchaus so sein, dass es eine Konstruktions-abteilung beim Kunden gibt und ein externes Designbüro und beide in engem Kontakt eine Entwicklung machen. Unternehmen, die weniger komplex strukturiert sind als es bei Spezialmaschinenherstellern oder der Automobilindustrie der Fall ist - also die übergroße Mehrheit der Industrie etwa im Konsumgütersektor mit ihren nun auch nicht gerade niederkomplexen Erzeugnissen - können sich eine Produktentwicklung nach dem klassischen Vorbild nicht mehr leisten. Klassisch heißt: Die Designern machen die Form, die Ingenieure machen die Technik und anschließend sieht man zu, wie alles zusammenpaßt. So macht ein durchschnittliches Produktdesignbüro heute nicht vielmehr als 20 Prozent seines Umsatzes mit »reiner« Gestaltung. Der Rest sind andere Dinge, die da dran hängen und notwendig sind, um ein Produkt zu entwickeln. Eine derartige Entwicklungsarbeit ist sehr nervenaufreibend. Aber sie bedeutet auch eine Chance, zu Innovationen zu kommen, die viel tiefer gehen, als das mit einer Arbeit an der »reinen« Form möglich wäre. Selbstverständlich gibt es noch immer Büros gibt, die in erster Linie formal arbeiten, die damit auch ganz gut klar kommen, auch weil sie Kunden haben, die sagen, o.k. den Rest machen wir. Aber daneben erstarken eben jene Büros, die auch das Kompetenzfeld der Entwicklung mit abdecken, weil die Kundenstruktur das erfordert. Die Entwicklung der 3-D- und CAD-Programme ist durchaus mit der DTP-Geschichte vergleichbar. Die digitalen Tools gestatten es, eine komplette Produktentwicklung vom Schreibtisch aus zu machen, wenn das entsprechende Knowhow vorhanden ist und gute Verbindungen, sprich Datenverbindungen, zu externen Dienstleistern bestehen. Diese Dienstleister, die irgendwo auf der Welt sitzen können, fertigen dann die Teile für die Prototypen, die schlußendlich im Design-Büro zusammen montiert werden zu dem gewünschten hochkomplexen Gerät oder System. Modellbauwerkstätten und ähnliche Dinge sind für die Struktur eines Designbüros nicht mehr zwingend erforderlich. Heute bildet das Design-Büro die Schnittstelle für die Gesamtentwicklung und liefert am Ende nicht bloß ein Designmodell ab, sondern einen fertigen Prototyp, der, gestützt auf eine CAD-Konstruktion, auch realisiert werden kann.

>>>

»Der Wunsch, unterschiedlichste Komponenten (packages) in einem Gehäuse unterzubringen erforderte schon in der ersten Entwurfsphase, die Bauräume mittels 3D CAD zu simulieren.« _09_


FORM+ZWECK

Funktioniert die Zusammenarbeit mit externen Ingenieursabteilungen per Datenfiles so gut,

daß ein Designbüro gegenüber den Kunden tatsächlich die Gesamtverantwortung für eine Produktentwicklung übernehmen und garantieren kann? J A H N Das geht schon. Obwohl es immer noch extrem mühselig ist, in 3-D-CAD-Formaten Datenmodelle hin- und herzuschicken. Wenn verschiedene Leute an verschiedenen CAD-Formaten sitzen, ist eine Zusammenarbeit am Modell auch heute noch nicht wirklich gut möglich und Doppelarbeiten oft unvermeidlich. Aber man kann auf jeden Fall die Definitionen zur Geometrie austauschen und Teilaufgaben definieren. Es ist durchaus üblich, dass heute Designstudios bestimmte Entwicklungsarbeiten nach Kroatien oder nach Asien auslagern und dass sie dann am nächsten Tag, wenn sie wieder ins Büro kommen, an den Stellen weiterarbeiten können, die ihnen von anderwärts zugearbeitet worden sind. Mit konventionellen Zeichnungen wäre ein solcher Arbeitsstil schlichtweg ausgeschlossen. In einem 3-D-Modell sind die Eigenschaften von einem Bauteil oder einer Baugruppe schon sehr genau definiert und man kann daran viel direkter weiterarbeiten, weil der Einarbeitungsaufwand sehr viel geringer ist, als bei einer technischen Zeichnung.

:S y s t e m 6 / R o e sch Office.tif.<


FORM+ZWECK

In Deiner Darstellung sieht es so aus, als wären es die digitalen Tools, die eine Veränderung in

den Arbeitsweisen der Designer und in ihren Entwurfsstilen erbracht haben. Ist es aber nicht schon länger so, daß mit den digitalen Tools nur etwas möglich wird, das schon seit geraumer Zeit gefordert wird vom Design und den Designern selbst, nämlich, daß sie eben nicht bloß den formalen Entwurf liefern, sondern mit ihm auch gleich noch die technische und die fertigungsgerechte Konstruktion, die Zulieferbeziehungen plus den gesamten Marktauftritt für Produkt und Unternehmen? J A H N In vielen Unternehmen werden heute die Entwicklungskapazitäten abgebaut, weil sie im Tagesgeschäft nicht ausreichend genutzt werden und damit wirtschaftlich nicht darstellbar sind. Diese Art von Unternehmen ist darauf angewiesen sind, ihre Entwicklungen extern machen zu lassen. Meist kann ein externes Designstudio solche Entwicklungen mit einem Bruchteil des Zeitaufwandes machen. Externe Designer können ihre Kapazitäten bündeln und Erfahrungen, die sie in anderen Projekten mit anderen Kunden gesammelt haben, mit einbringen. Gleichzeitig ist der Druck, den die Unternehmensführung auf einen Externen mit einem kleinen Budget bringen kann, viel leichter auszuüben als wenn sie es mit einer unternehmensinternen Entwicklungsabteilung zu tun haben. Handelt es sich bei den Auftraggebern um Startup-Unternehmen, die irgendeine Marketingkompetenz oder irgendein Patent auf irgendein Verfahren haben, dann wollen die sich sowieso nicht damit belasten, wie das Produkt entwickelt wird und wer das dann produziert. Für dieses Umfeld hat sich vor allem in Asien eine sehr differenzierte Dienstleistungsstruktur bis hin zum Qualitätsmanagment entwickelt. Diese Strukturen ermöglichen es selbst Unternehmen, die nur mit Kapital und einer Idee ausgestattet sind, Produktionsleistungen zu beschaffen und seien sie noch so kompliziert. Früher bestand die Unternehmensidee darin, die Entwicklung und Produktion als Kernkompetenz im Hause zu behalten und nie aus der Hand zu geben. Heute existiert ein völlig anderer Ansatz und ein sehr anderes Denken. Heute genügt es den Unternehmen nicht mehr, sich mit jemandem zu unterhalten, der ihnen sagt, wie das Produkt aussehen könnte. Heute möchten Unternehmen sich mit jemandem unterhalten, der ihnen sagt, wie ein Produkt für welche Zielgruppe aussehen muß, wie es verpackt ist, in welchem Regal es an welcher Stelle stehen soll, wieviel es dafür kosten darf, und sie erwarten, daß derjenige, der diese Auskünfte gibt, das Produkt auch auf die Schiene setzen und realisieren kann, und zwar im Zeitraum x, dem Budget y und dem Verkaufspreis z. Der Kunde möchte sich nicht darum kümmern, jemand zu suchen, der ihm das Gehäuse macht und jemand, der ihm die Elektronik macht, er will es alles aus einer Hand oder aus möglichst wenig Händen haben. Er möchte es eigentlich nur noch verkaufen.

>>>

»Um den verschiedensten Zielgruppen und Einrichtungswünschen gerecht zu werden, wurde das Büromöbel System 6 von Roesch Office auf einem parametrischen 3D-CAD-System entwickelt. Dies ermöglicht es, mit geringstem Aufwand nahezu jede Konfiguration zu planen, zu kalkulieren und ohne Medienbrüche an die Produktion zu übergeben.« _11_


FORM+ZWECK

Wenn es durch die digitalen Tools möglich wird, daß der Designer zur zentralen Figur im

Erzeugnisentwicklungsprozeß wird, wie Du es beschreibst, und dieser Veränderungsprozeß von den Unternehmen auch gewollt wird, dann werden alle Vorstellungen hinfällig, die das Design auf einen Dienst an der gebrauchstüchtigen und fertigungsgerechten Form reduzieren. Würdest Du so weit gehen und behaupten, daß die ingenieurtechnischen Leistungen nicht mehr die bestimmenden sind und dafür das Design auch zum Manager für die technisch-technologisch Faktoren aufgestiegen ist? J A H N So allgemein und ausschließlich würde ich das nicht stehen lassen wollen. Die Innovation kann aus dem Marketing, aus dem Design oder aus der Technik kommen. Ich denke die Unternehmen wählen ganz bewußt ein Designbüro, weil sie wissen, daß das Produkt dann gut zu vermarkten ist. Wenn sie ein Ingenieurbüro beauftragen, dann wissen sie, daß es gut zu produzieren ist, aber nicht, ob sie es auch gut vermarkten können. Das aber ist heute die viel größere Schwierigkeit. Deshalb ist es attraktiver, einen Designer zu wählen und nicht ein Ingenieurbüro. Es ist nur die Frage, welches Designbüro kann ein solches Produkt komplett entwickeln? Welches verfügt über ein entsprechendes Netzwerk? Kann es mit der Größe und Komplexität des Projektes umgehen? Der Vorteil der Designer besteht darin, daß sie die Integrationsfunktionen einer Produktentwicklung viel besser wahrnehmen können als ein Ingenieurbüro oder selbst eine Entwicklungsabteilung. Ich denke, Designer haben die Fähigkeit, sich auf sehr kompetente Weise mit Problemen der Technik, der Fertigung, von Budgetlimitierungen und Vermarktung auseinanderzusetzen. Zumindest gibt die gegenwärtige Struktur ihnen die Chance, an dieser Schnittstelle kompetent zu arbeiten. FORM+ZWECK

Nimmt die Spezialisierung der Designbüros zu, wenn die technischen Kompetenzen einen so

hohen Stellenwert für die Akquise haben? J A H N Die Komplexität bei der Produktentwicklung treibt die Designstudios dazu, sich auf bestimmte Sparten zu spezialisieren oder Schwerpunkte zu setzen. Wenn ich die 25. Bohrmaschine entwickelt habe, werde ich schneller sein, als wenn ich die erste entwickle. Andererseits lebt der Gestalter in seinen Entwicklungen davon, dass er Bandbreite macht und dass er sich nicht auf ein ganz spitzes Feld konzentriert. Betrachtet man das Designstudio in erster Linie als ein Wirtschaftsunternehmen, dann werden sicher Rationalisierungseffekte durch gleichartige Projekte in den Vordergrund rücken. Die Kunden entscheiden gern nach der Kompetenz oder Referenz, die jemand in einem bestimmten Produktfeld vorweisen kann. FORM+ZWECK

Zurück zu den digitalen Tools. Sind sie tatsächlich Werkzeuge für das Entwerfen, oder sind

es nur Werkzeuge, eine Entwurfsidee, die irgendwie schon vorhanden ist, in technischer Perfektion zu veranschaulichen? J A H N Wenn es darum geht, ein Parfümflakon zu machen, dann ist es völlig ausreichend, sich um die Außengeometrie Gedanken zu machen. Irgendwie wird am Schluß auch noch gelingen, die Größe so zu skalieren, daß die richtige Menge Parfüm hineinpaßt. Das ist eine typische Formgestalteraufgabe, die kann man mit einem von diesen intuitiven Designertools oder Flächenmodellern machen. Sobald es darum geht, technische Produkte zu machen, wo sich etwas bewegen, klappen oder ineinander greifen muß, wo ich auf schon bestehende Systemkomponenten zugreife, die zu irgendwas kompatibel sein müssen, zum Beispiel bei Straßenbahnen, ist das menschliche Abstraktionsvermögen ganz schnell am Ende. Dann kann ich in einem 3-D-Konstruktionsprogramm die Baugruppen nach definierten Parametern verschieben. Dabei wird die innere Logik, die dem Produkt als Grundlage dient, von vornherein und auf eine sehr einfache Art und Weise sichtbar und erlebbar. Es sind derartige Konstruktionsprogramme, die es dem Gestalter erlauben, sich überhaupt um solche Dinge Gedanken machen zu können, eben weil man mit ihnen schon sehr nah an der konstruktiven Realität dran ist. Das ist ein völlig anderer Weg, als würde ich die Dinge nur als eine Außenhaut betrachten.


Als Gestalter lebt man davon, dass man für technische Lösungen, für Dimensionierungen, für formale Details, für Zusammenhänge ein Gefühl entwickelt. Dieses Gefühl kann im Alltag selbstverständlich durch das Anschauen von Objekten geweckt und ausgebildet werden. Beim Entwerfen von komplexeren, durch Technik und Kultur bestimmten Projekten, hat man es mit einer sehr hohen Abstraktion zu tun. Eine 2-D-Zeichnung ist auch eine Abstraktion, aber eine, die mir erlaubt, das Objekt nur in einer Ebene zu betrachten. Arbeite ich in einem 3-D-Modell, dann ist es immer noch eine Abstraktion, aber ich bin schon viel näher dran an den Möglichkeiten, es zu manipulieren und zu verändern. Ein richtig gutes Konstruktionsprogramm, das für einen Designer geeignet ist, das läßt, was geometrisch und technisch nicht möglich ist, auch im virtuellen Raum nicht zu. Eigentlich ist es ein virtueller Modellbau. Wenn ich an einem realen Modell anfangen würde, an einer bestimmten Stelle zu fräsen, dann würde ich auch merken, das geht nicht, das war eine blöde Idee. Das erlebe ich am Rechner in viel kürzerer Zeit und es führt zu einer viel schnelleren Erkenntnis. In meinem Büro habe ich die Erfahrung gemacht, dass Mitarbeiter in Entwicklungsprozessen sehr viel über Konstruktion gelernt haben, obwohl sie sich eigentlich nie mit realen Komponenten auseinandergesetzt haben, sondern nur mit virtuellen Konstruktionen. Aber in die realen Komponenten hätten sie nie so tief eindringen können, wie in die Konstruktion mit digitalen Tools. FORM+ZWECK

Heißt das, Du lehnst es ab, die Arbeitsteilung so stark auseinanderfallen zu lassen, daß der eine

die Ideen kreiert, ein zweiter die Rechner bedient, um diese Ideen digital umzusetzen, und noch ein dritter sich um die Präsentation kümmert? J A H N Das ganzheitliche Bild vom Designer ist eine schöne Idee. In der Realität ist es eher so, dass diese Komplexität vielleicht eher durch Arbeitsteilung abbildbar ist als durch jemanden, der das Universalgenie in allen Bereichen ist. Man fährt ganz gut damit, dass es überlappende Kompetenzen gibt, z. B. Leute mit dem Schwerpunkt 3-D-Modelling, die sich mit einer komplexen Formensprache auseinandersetzen können und ein Gefühl für Formen und ein Gefühl für Konstruktion haben, dass es daneben aber auch Leute gibt, die sich eher auf Präsentation oder Ergonomie spezialisiert haben. FORM+ZWECK

Bei aller Kompetenz, die man Designbüros zukünftig zutrauen kann: Es wird sicher Arbeiten

geben, die eher als andere aus den Designbüros ausgelagert werden können oder für die man sich bedenkenlos unbekannte Leute von außen holen kann… J A H N Heute ist es so, dass der Kunde dem Dienstleister diktiert, in was für einem CAD-Programm er den Auftrag abgewickelt haben will. Der Kunde akzeptiert nicht, wenn man ihm anbietet die Daten in sein Format zu exportieren, sondern der Kunde sagt, ich möchte, dass ihr das genau nach den Bedingungen macht, die bei uns herrschen: Ihr müsst nach diesen Konstruktionsregeln verfahren, dieses (und kein anderes) Programm verwenden. Wenn Du einen solchen Kunden hast, aber nicht über das Programm verfügt, das er fordert, dann macht es Sinn, sich jemand zu suchen, der sich in diesem Programm auskennt und der diese Kompetenz als Dienstleistung in den Entwicklungsprozeß mit einbringt. Das ist aber immer ein Kompromiß, weil ein Projekt erst halb entwickelt wird, bevor es dann in das entsprechende Programm umgesetzt wird, danach folgt wieder ein Entwick-lungsabschnitt, der wiederum in einer Konvertierung festgefroren wird usw. Der Idealfall ist anders. Im Idealfall wird schon sehr früh und durchgängig mit den Programmen gearbeitet, die der Auftraggeber wünscht. Problemlos können Rapid-Prototyping-Prozesse initiiert werden und die Daten werden immer konkreter, immer exakter. Letztlich begleitet der fertige Datensatz auch das fertige Produkt. Auch wenn das Produkt schon am Markt ist, kann man wieder nachschauen und Optimierungen vornehmen oder für die nächste Produktgeneration darauf zugreifen. Mit dem kompletten Datenfile hat das Unternehmen natürlich auch die gesamte Entwicklungsleistung so vollständig erworben, daß eine Zusammenarbeit mit dem Designer in Zukunft nicht mehr zwingend ist. Per Programm kann er (oder können andere) nun selbst jede Änderung am Produkt vornehmen und das implementierte Knowhow ausnutzen, ohne je die Urheber noch »belästigen« zu müssen.

>>>

_13_


FORM+ZWECK

Vor ein paar Jahren gab es eine große Euphorie hinsichtlich des Netzgedankens: Statt in klassischen

Bürostrukturen und Hierarchien zu arbeiten, so hieß es, werden sich die Leute immer wieder projektbezogen in weitgestaffelten Netzwerken zusammenfinden. Das erfolgreiche Gegenbild dazu sind die großen Tanker, Entwicklungsbüros, die 100 oder 200 Leute zählen und die dann auch alle möglichen Kompetenzen im Hause haben. J A H N Für einen Auftraggeber ist es natürlich ein extrem großes Risiko, einem Designer einen Entwicklungsauftrag zu geben. Funktioniert das Produkt am Ende nicht oder ist es nicht zu vermarkten, dann hat das Unternehmen ein ziemliches Problem. Aus diesem Grund schaut sich ein Unternehmen sehr genau an, mit welchem Dienstleister er welches Projekt machen will und kann. Je komplexer die Produkte werden, desto schwieriger wird es mit einem kleinen Büro werden, den Auftrag machen zu können oder überhaupt nur angeboten zu bekommen. Für die Global Player am Markt ist es bei begrenzten Ausschreibungen völlig normal, am Freitagabend ein Briefing auszugeben und am Dienstagmittag die erste Präsentation in einer europäischen Metropole ihrer Wahl zu erwarten: Inklusive kontrollierbarer Angaben über die Jahresumsätze aller zu beteiligenden Zulieferfirmen. Das nächste ist die Geheimhaltung. Bevor ich überhaupt über Netzwerke reden kann, habe ich schon beim Prototyping und beim Formenbau, sofern ich das extern machen lasse, mit dem Thema Geheimhaltung zu tun. Es ist mittlerweile eine Kunst, Datenfiles nach Asien so zu fragmentieren und auf verschiedene Dienstleister zu verteilen, daß man sicher sein kann, nicht mit einem Plagiat aus dieser Ecke der Welt konfrontiert zu werden bevor die eigene Produktentwicklung auf dem Markt erscheint. Auch dies ist eine direkte Folge der digitalen Tools. Meiner Meinung nach ist der Netzwerkgedanke nur realistisch in einer festen Struktur. In einer freien Struktur ist es im Bereich Produktentwicklung sehr schwierig, weil ich da sehr mit Patentansprüchen, mit Patentverletzungen, mit urheberrechtlichen Problemen zu tun habe. Wenn die Basis für ein Produkt in irgendeiner geistigen Leistung des Unternehmens besteht, dann hat es selbstverständlich kein Interesse daran, auf irgendwelchen Internetplattformen dafür Jobs auszuschreiben, weil gar nicht zu gewährleisten ist, dass mit ihren Daten und Informationen seriös umgegangen wird. Von daher sehe ich die Netzwerkidee im Bereich der Produktgestaltung als ein nur schwer durchsetzbares Modell. Im Gegenteil, mein Eindruck ist, dass es zukünftig noch mehr abgeschlossene Kreise geben wird, noch stärkere vertragliche Bindungen und dass die Unternehmen noch größer werden. Die Schwierigkeit besteht darin, dass man Freelancer maximal in einem Designstudio abfedern kann, weil nur die institutionelle Form es ermöglicht, dem Unternehmen gegenüber irgendeine Sicherheit zu repräsentieren. Welche Garantien kann ein freies Netzwerk schon geben?

<<< Das Gespräch führte Jörg Petruschat


_15_


In Europa werden Anerkennungen fürs Design meist aus der Zusammenarbeit von Designern mit kleineren, personengeführten Unternehmen gewonnen. Selten werden Designleistungen großer Firmen so ausgezeichnet, dass Unternehmen und Designer gleichermaßen partizipieren. In den USA ist dies anders. Glenn Oliver Löw, dessen ... mittlerweile im Moma stehen, hat ein Angebot von Steelcase angenommen und »Think!« entworfen – einen


BĂźrostuhl mit neun Patenten und mittlerweile mehreren internationalen Auszeichnungen. Die Firma mĂśchte mit dieser Entwicklung als ausgesprochen designorientiertes Unternemen am Markt auftreten. Chup Friemert zeichnet das Zueinander und Miteinander von ingenieurstechnischen Leistungen und Designentwicklungen nach und stellt dabei heraus, wie das Neuartige an einem Produkt entsteht, das weltweit verkauft werden soll. _17_


:CHUP FRIEMERT ÜBER DEN STUHL »THINK« VON STEELCASE. Steelcase, der größte Büromöbelhersteller der Welt, ist

Für die Firma Steelcase bedeutete die Orientierung auf

nicht führend im Design und hat sich bisher nicht als

das Design zunächst die Bereitstellung zusätzlicher Gel-

designorientierte Firma etabliert. Das Unternehmen

der für externe Entwicklungen sowie die Einstellung ei-

operierte seit Jahrzehnten recht gut mit funktionalen

nes Designverantwortlichen, der innerhalb der Firmen-

und robusten Produkten, die lange halten und zu repa-

hierarchie eine hohe Stelle einnimmt. Bei Steelcase

rieren sind. Dabei muß ein robuster Gebrauchswert einem

war er im Vorstand. Um nun seinerseits Kompetenz zu

designorientierten nicht grundsätzlich widersprechen.

beweisen, muss der Designverantwortliche anerkannte Designer heranziehen: Auf seinen Vorschlag hin entwickelte ein ehemaliger Mitarbeiter von Eames zunächst

»Ein Jahr nachdem ich angefangen habe für Steelcase zu arbeiten, ist der Designchef gefeuert worden und zudem war grade die Börsenkrise. Da stand mein Projekt auf der Kippe. Es war zum Glück schon so weit fortgeschritten, dass es genug Fürsprecher gab, die sagten: »Wenn die Ökonomie wieder umdreht, dann brauchen wir genau ein solches Produkt, das preisgünstig ist und trotzdem einen hohen Designanspruch repräsentiert.« (G. O. Löw)

einen Konferenzstuhl. Zur Festigung dieser designorientierten Strategie suchte er für weitere Entwicklungen Designer in Europa, genauer in Mailand. So traf er auf Glen Oliver Löw, der als Entwerfer von Bürostühlen für führende designorientierte Firmen weltweit einen sehr guten Namen hat. Zudem ist Löw eingeordnet in das, was als deutsches Design wahrgenommen wird, in ein Design, von dem viele meinen, es ließe sich weltweit am besten verkaufen, weil es auf Rationalität beruht und weniger auf formalen Vorlieben oder auf dem, was man die Handschrift eines Designers nennt. Soll heutzutage ein neuer Bürostuhl auf dem globalen Markt von Steelcase erfolgreich sein, dann muss die ästhetische Erscheinung einen sozialen Code bedienen, der global verstanden wird. Mehr noch: Er muss in die unterschiedlichen Codes der sozialen Hierarchien eingebaut werden können – die ästhetische Erscheinung muss also unabweisbar den Kern eines universalen Codes treffen. Der Kern des universalen Codes aller industriell erzeugten Waren ist: Komme neuartig daher, sei neu, erscheine auf keinen Fall alt! Bei einem Bürostuhl helfen Farben, Materialien, Volumina, diesen ästhetischen Imperativ zu unterstützen. Aber eine Unterstützung ist eben immer sekundär und so können derartige Erscheinungsmerkmale nicht zum Kern des Neuartigen vorstoßen. Das Neuartige in diesem Feld ist nämlich nicht das Modische, das in jenen unterstützenden sekundären Erscheinungsmerkmalen zu Hause ist, das Neuartige ist generell und unstrittig dem Feld der Technik zugehörig. Nur dort ist das Neue das einzig Anerkannte. Anders ausgedrückt: will etwas, das nicht Kunst sein kann, weil es nicht bloß angeschaut, sondern weil auf ihm gesessen werden soll, modern und neu erscheinen, so muss es eine technische Innovation nicht bloß suggerieren, sondern auch tatsächlich haben und vorweisen können.


Hier kommt die Designarbeit ins Spiel. Den Designern

ausdauerndes Sitzen ein Grund für Müdigkeit, sitzen

wird die Aufgabe zugedacht, die technisch noch rohe

heißt jetzt ermüden - gesucht werden folgerichtig

Innovation durch Gestaltungsarbeit zu kultivieren.

Sitzgelegenheiten, die Ermüdung verhindern, zudem

Am neuen Stuhl von Steelcase mussten Technik und

bequem und entspannend sind.

Innovation nicht vorgelogen werden. Im Entwicklungsprozess fielen immerhin neun Patente an. Selbst das Recyclingkonzept ist avanciert: Der Stuhl ist mit dem Schraubenzieher in fünf Minuten auseinander zu nehmen, die Komponenten sind dann nach Stoffen getrennt und können nahezu vollständig in Stoffkreisläufen unmittelbar recycelt werden. Dies zertifizierte McDonough Braungart Design Chemistry. Setzte sich früher jemand auf einen Stuhl oder auf eine Bank, so vor allem um auszuruhen, weil er vielleicht vom Gehen oder von anderen Tätigkeiten müde war. Selten war jemand müde vom Sitzen. Eine Sitzgelegenheit – sei es ein Stuhl oder sei es eine Bank - war ihrem Charakter nach eher ein Gerüst, ein Korsett. Kissen, Polsterungen, elastische Stoffe oder geschäumte Flächen milderten die Härte der Sitzfläche und der Rückenlehne, machten das Sitzen angenehmer und zeigten durch ihre Dicke visuell Komfort an. Auf Stühlen sitzen ist heute weltweit üblich. In allen Staaten wachsen die Verwaltungen, Ämter und Polizeikasernen, auch die privaten Dienstleistungen breiten sich aus, in Büros, Banken, Schulen und Krankenhäusern wird das Sitzen über längere Zeiten am Tag zur Normalität. Auf diese neue Tätigkeit und auf das darauf bezogene weltweit verbreitete Bedürfnis antwortet ein dann eben auch weltweit verbreiteter Gebrauchsgegenstand: Der Bürostuhl. Überall werden neue Sitzmöbel bestellt, produziert und gebraucht. Ein weltweit verbreiteter, ein globaler Gegenstand muss, obwohl er ein und derselben Tätigkeit dient, einer Vielzahl von Normen entsprechen, sie in seiner konkreten Existenz harmonisieren, in seiner Gebrauchsgestalt müssen die Normen im asiatischen Raum, die amerikanische Norm und die europäische Norm zur Deckung gebracht werden. Damit sind zunächst vorrangig Normen beschrieben, welche den Komfort, die Sicherheit, die Vermeidung von Verletzungen und die Unterstützung von Gesundheit betreffen. Es ergibt sich ein merkwürdiges »Mittelmaß«, wenn der Stuhl für alle drei Regionen gleich dimensioniert ist. Wenn seine Masse auf den Durchschnitt für Europa zutreffen, dann ist er für Amerika eher zu klein und für Asien eher zu groß. Heute ist im Alltag langes und

_19_


Der Typ des starren Stuhls ist nur schwer zu verbes-

Zutreffend sind derartige Bezeichnungen nicht. Denn

sern, Bequemlichkeit und Entspannung werden nicht

wer zu Maschinen greift, um zu sitzen, der sitzt nicht

durch Veränderungen an ihm erprobt, sondern bereits

selbst, sondern der wird »gesessen«. Maschinen sind

um 1900 durch die Verbindung zweier Stuhltypen auf

dazu da, den Menschen Tätigkeiten abzunehmen. Wenn

einem neuen Weg verfolgt, durch die Verbindung des

ich fliegen will, dann steige ich doch nicht in eine Maschi-

Schaukelstuhls des Farmers und des Drehstuhls aus

ne, soll Tatlin gesagt haben, bevor seine Flugschwingen

dem Büro. »Durch Kreuzung zweier Typen, befruchtet

entwarf.

durch eine starke mechanische Phantasie, entsteht eine neue leistungsfähigere Spielart.«(Giedion, S., 1982, Die

Auch Bürostühle, die den Anspruch erheben, Maschinen

Herrschaft der Mechanisierung, Frankfurt/Main, S. 443)

zu sein, werden dann zu Geräten, die dem Sitzenden

Beweglichkeit war das gemeinsame Merkmal beider

das Sitzen sosehr erleichtern, dass ihm die Muskeln

Ausgangstypen und bleibt das entscheidende Merkmal

schwinden. Die Folge davon sind dann noch perfekte-

dieser neuen Spielart, die dynamisches Sitzen ermög-

re Maschinen, die nun nicht mehr bloß verstellbar sind,

licht. Werbetexter oder Journalisten mögen Bürostühle

sondern auch noch die Funktionen der Stützmuskulatur

Werkzeug oder gar machines for sitting nennen. Sie

übernehmen und den Körper des Sitzenden vollständig

wollten damit ein Sitzen beschreiben, das durch die

umfangen und still stellen.

»Sitzmaschine« erleichtert wird, indem die Positionen, die der Sitzende einnimmt, auf einfache Art mechanisch

Gegen diese, an der Optimierung von Komfort orientier-

verändert werden können.

ten Ergonomie, wurde das Konzept vom dynamischen Sitzen gestellt. Gegen die alte Auffassung von verstellbaren Stühlen wurde die Idee von in sich beweglichen Stühlen gesetzt. Ein Stuhl sollte den Körper nicht ablagern, sondern auf seine Bewegungen reagieren und mit ihnen interagieren. In der Entwicklung der Stuhltypen zeigte sich dieser Trend zur kontrollierbaren Rückkopplung der Körperbewegung als Arbeit an der inneren Beweglichkeit des Stuhlgerüsts, technisch als Integration von immer mehr Gasdruckfedern und Verstellmechanismen unter dem Sitz. Diese Hilfsteile werden entweder in ihrer rohen technischen Gestalt belassen, oder, weil ihre Zahl anwächst, in einer black box unter dem Sitz versteckt, die wie eine volle Windel aussieht. Ergonomen fordern Stühle für aktives Sitzes, bei dem Sitz und Rücken eine Synchronbewegung beschreiben. Dabei soll sich der Schwerpunkt der Person, die auf dem Stuhl sitzt, nicht verändern, sie soll immer ausbalanciert bleiben, so, als sitze sie schwingend auf einem Balken. Ist sie hinten, kann sie durch eine leichte Bewegung der Bein- oder Armmuskulatur wieder nach vorne kommen. Die Leichtigkeit wird durch eine Federkraftmechanik erreicht, welche die hinten sitzende Person nach vorn heraus schiebt. Interessanter wirkt eine Mechanik, die nicht durch ziehende oder drückende Muskelkräfte, sondern durch eine geringe Verlagerung des Körpergewichts gesteuert wird. Dabei hebt die Person sich selber hoch, wenn sie sich nach hinten lehnt. Beugt sie den Körper nach vorn, senkt sie sich wieder ab. Diese komplexe kinematische Aufgabe wird klassisch mit Drehpunkten, Hebeln und Federn realisiert. Löw machte in einem frühen Entwurf den Vorschlag, diese Aufgabe technisch mit rubber-packs zu lösen, damit die Mechanik sichtbar bleiben könnte. Die jetzige Lösung des Steelcase ChefIngenieurs Kurt Heidmann verweist den Designer auf


seinen Platz und nimmt die technische Erfindung für sich

treffen verschiedene Mentalitäten aufeinander und das

in Anspruch. Ein konstruktives Denken unter anderem

ist sichtbar: Der Hersteller und da besonders die Desig-

im Material, durch die Konzepte des Biomimikry ange-

ner des Stuhles haben ein Interesse, ein Ganzes zu er-

regt, führte von klassischen mechanischen Lösungen

stellen und entwickeln dafür einen Blick, der Zulieferer

weg zu einer intelligenteren Lösung: Das Material selbst

arbeitet nach der Mentalität, so preisgünstig wie mög-

kann etwas, was sonst nur als Spiel eines Mechanismus

lich zu produzieren, er hat nur sein Teil im Auge. Das

gedacht worden ist, die Mechanik ist gewissermaßen

teilt dem Designer eine neue Aufgabe zu: Er ist dafür

ins Material gerutscht: Zwei sichtbare Federstahlflügel

verantwortlich, die Teilbereiche zu integrieren und eine

realisieren durch ihre Form und Stellung eine definierte

Kommunikation herzustellen zwischen den arbeitsteilig

räumliche Bewegung und wirken gleichzeitig energe-

und unabhängig voneinander entwickelnden Ingenieu-

tisch im System, ersetzen zum Beispiel Gasdruckfedern.

ren. Am vorgestellten Beispiel lässt sich ablesen, dass

Eine sitzende Person arbeitet durch ihre Bewegungen

die Armstütze für den Büroarbeitsstuhl ein Zulieferteil

Energie in die Stahlflügel hinein, verformt sie und die-

ist. Der Designer hatte die Armstützen im ersten Entwurf

se gespeicherte Energie wird wiederum genutzt, um

am Rückenrahmen angebunden, aber sie waren nicht

elastisch in die Ausgangslage zurückzukommen. Es ist

verstellbar genug. Jetzt ist mit einer etwas groben Me-

eine Art Echo. Die Bewegung ist fließender, als sie es

chanik sowohl Höhenverstellung als auch seitliches

mit einer klassischen Mechanik wäre, denn jede Bewe-

Ausschwenken und Verschieben technisch möglich,

gung mit Hebeln, Drehpunkten und Federn hat immer

aber es ist sichtbar, dass ihre Form nicht in dem Aus-

erst einmal einen Druckpunkt, der überwunden werden

tausch zwischen Technik und Design erarbeitet wurde

muss und immer wird sie abrupt gestoppt, wenn die

– vielmehr ist das vorgegebene Technische mit einem

Mechanik irgendwo anschlägt. Die jetzige Bewegung

Designhauch versehen. Ein Vergleich der vielfach ver-

ist fließend, dynamisch, fast lebendig. Die Federstahl-

stellbaren Armlehne mit der starren, die der Designer

Stäbe der Sitz- und Rückenfläche sind selbst wiederum

entwickelt hat, zeigt den Unterschied: Die verstellbare

beweglich gelagert, biegen sich bei Belastung und

erscheint angefügt, die starre bildet in allen Ansichten

beschreiben dabei einen definierten Radius. Das macht

mit dem Stuhl eine Silhouette, sie ist ihm eher verwach-

die Rücken- und Sitzbespannung elastisch, sie antworten

sen und geht unauffällig ins Ganze ein.

fast wie eine lebendige Oberfläche auf die Körperbewegungen und geben ein ganz anderes Gefühl als Schaumpolster oder gespannte oder elastische Flächen. Der Sitzende rechnet mit den antwortenden Bewegungen des Stuhls und passt sich ihnen an, fast wie ein Reiter, der auf die Bewegungen des Pferdes reagieren und sich ihnen auch anpassen muss. Gleichzeitig erlaubt die Bespannung eine schmale seitliche Silhouette. An der Herstellung von industriellen Waren sind zunehmend unterschiedliche Firmen aus unterschiedlichen Regionen beteiligt. Spezialisten stellen Teile her, die von vielen an vielen Orten in vielen Produkten verwendet werden. Vielfach werden Halbfabrikate verwendet, es werden nicht ausschließlich auf einen einzelnen Gegenstand bezogene und für ihn gesondert entwickelte Teile verwendet, er ist meist ein Zusammengesetztes, in welches Gefundenes eingeht. Auch ausgesprochen designorientierte Unternehmen nehmen in größerem Umfang technische Stücke als gegeben hin und versuchen dann, seine jeweilige Gestalt in ihr Gesamtes einzufügen. Aber der Standard ist der Gegner des Designs, oft gelingt es selbst designorientierten Unternehmen nicht, die Beziehungsrichtung umzukehren und als Käufer sich den Zulieferer zu unterwerfen, damit dieser den Käufer bedient. Dies kann dann ein Problem werden, wenn ein nahezu in allen Teilen neu entwickelter Bürostuhl vor handene Teile von Zulieferern verwendet, denn es

»Nachdem nun technisch alles gelöst ist könnte man als Designer nochmals anfangen. Das Konzept ist eigentlich eine Art modularer Baukasten, aus dem sich weitere Stühle gestalten lassen.« (G. O. Löw) _21_


:DER ENTWURFSPROZESS. 1 STEELCASE machte den technischen Vorschlag, für den neuen Stuhl eine Synchronmechanik mit Federn zu verwenden. Die Mechanik wurde als Funktionsmodell gebaut, seine Bewegungen per Rechner in einer Tabelle simuliert. Diese technischen Daten waren der Ausgangspunkt für die Studien des Designers, die er alle als Zeichnungen im Rechner erstellte. Der Designer entwickelte den Stuhl von innen nach außen. Das Herzstück des Entwurfs ist die Mechanik. Sie sollte offen gezeigt werden. Die Federn wurden durch rubberpacks ersetzt. Die räumliche Gruppierung der Drehpunkte ist dem Designer freigestellt: Er kann sie nach außen an den Rahmen der Sitzfläche legen oder sie innen in einem Block konzentrieren. 2 STEELCASE forderte ein Designmodell, obwohl das technische Konzept noch nicht definiert war. Ein Modell sollte gebaut werden. Der vom Designer erstellte Datensatz wurde in die USA geschickt, die Teile dort stereolithografiert oder CNC-gefräst. Der Zweck des Modells war, ein Eindruck des neuen Stuhles zu simulieren, um innerhalb des Unternehmens die Akzeptanz und das Engagement für dieses Entwicklungsprojekt zu erhöhen. 3 Die Designentscheidung, das technische Prinzip offen zu zeigen und einen Rahmen zu verwenden, veranlasste den Ingenieur, ein bereits von ihm entwickeltes Konzept für eine experimentelle Mechanik mit Blattfedern vorzuschlagen. Das technisch Neue am Stuhl wurde von den Ingenieuren in einem Funktionsmodell demonstriert: eine gewichtsunterstützte Mechanik, deren Bewegung durch Blattfedern gesteuert wird, ersetzte eine Mechanik mit Hebeln, Spiralfedern und Drehpunkten. Das ergibt einen neuen Bewegungsablauf: Neigt sich der Rücken nach hinten, schiebt sich der Sitz nach oben und nach vorne. Die Zeichnung des Designers für diese neue Mechanik verfolgte kühn die Idee, die Blattfedern zu ersetzen und das Ganze aus Kunststoff zu spritzen. Dieser Gedanke, alles Mechanische in einem Material zu homogenisieren, erwies sich als technisch zu riskant: Das Verhalten des Kunststoffs über die Garantiezeit von 15 Jahren konnte nicht zuverlässig ermittelt werden.


4. Auch die Ingenieure brauchten die Anschauung, um ihre Entwürfe zu prüfen, und bauten erste Funktionsmodelle für die neue Mechanik. Das Rückenteil kommt von einem anderen Stuhl und ist provisorisch. Es dient nur dazu, die Mechanik auszuprobieren. Das Augenmerk galt dem Bewegungsablauf von Sitzund Rückenfläche. Die Sitzfläche aus Latten nimmt die flexible Lagerung bei Lattenrosten auf. Die Lösung wurde weiterentwickelt, Rundstäbe ersetzten später die Latten. 5. Das erste Designmodell, in dem sich das gestalterische Konzept manifestiert: Bespannte Rahmen für Sitz- und Rückenfläche, sichtbare Mechanik mit dem Ziel, das Gewicht des Stuhles physisch und visuell zu reduzieren. Mit diesem Modell gelang der Durchbruch bei STEELCASE. Von da an wurde Geld zur Verfügung gestellt, und die Ingenieure und die Designer arbeiteten zielgerichtet. Dieses Modell des Stuhles wurde in Hamburg gebaut und beruhte teilweise schon auf der neuen technischen Lösung. Nur die hintere Blattfeder sollte aus Stahl sein, während die Bewegung des Sitzes noch mit einem Kunststoffteil erreicht werden sollte. Das Modell enthält noch Sonderrollen, die Armlehne ist noch mit dem Rücken verbunden, das Rückenteil hat noch eine Querstrebe und es werden noch drei Blattfedern verwendet. Die Grundlage für den Modellbau bildete ein Datensatz, das Modell wurde aus Schaum geschnitten und von Hand vom Designer zu Ende gebracht. Beim nächsten Schritt wurde die Dimensionierung der Rahmen den tatsächlichen Anforderungen angenähert, errechnete und getestete Querschnitte übernommen, die Entformung der Kunststoffteile mit bedacht, die Normen berücksichtigt. 6. Ein technisches Funktionsmodell diente zur Überprüfung der Mechanik. Am Gelenk and der hinteren Blattfeder konnten verschiedene Federungshärten simuliert und die Lager an den Enden der Blattfedern, ihre Wirkungsweise und die auftretenden Belastungen studiert werden.

_23_


7. Der Gedanke, den Bewegungsablauf von Sitz- und Rückenfläche in nur einem Material zu realisieren, war im Prozess der technischen Entwicklungsarbeit aufgegeben worden. Die Berechnungen ergaben, dass zwei Blattfedern aus Metall genügen, um die auftretenden Kräfte aufzunehmen. Sie wurden an den Stirnseiten des Mittelholmes angebracht. Die Stirnseiten sind in einem Winkel von 45 Grad abgeschrägt. Diese Geometrie bestimmt den Bewegungsablauf der Sitzfläche. Statt Latten für die Sitzfläche wurden Rundstäbe verwendet. Sie waren in eine Gummimatte eingegossen, weil sie beweglich sein mussten. Es war noch unklar, wie dies industriell hergestellt werden sollte. 8. Parallel zu den technischen Modellen wurde ein weiteres Designmodell mit Kopfstütze gebaut. Die Armstützen sind unter der Sitzfläche angebunden. Dieses Zugeständnis an die Funktionalität des Stuhles ermöglicht, verstellbare und nicht verstellbare Lehnen zu montieren. Gegenüber den anderen Designmodellen ist der Drehfuß modifiziert, die Streben sind hohl und damit leichter und günstiger zu fertigen. Die Flächen von Sitz und Rücken sind schwarz, alle sonstigen Teile glänzen gleichermaßen metallisch, als wären sie alle gleich behandelt und aus dem gleichen Material. Es entsteht eine Unterscheidung von metallischem Gestell und textiler Bespannung, von Struktur und Fläche.


9. Die Designvariante des Rahmens trägt die verschiebbare Sitzfläche, das Rückenteil ist drehbar angelagert und die Bedienelemente sind integriert. Der Rahmen musste aus technischen Gründen völlig umgestaltet werden. Der ursprünglich flach gehaltene, ausgeformte Sitzträger mutiert durch dieses volumenbestimmte Stadium hindurch zu einem stabilen technischen Träger mit einem L-förmigen Querschnitt. Die Bauteile wurden so angeordnet und geschichtet, dass trotz massiverer Elemente die visuelle Leichtigkeit erhalten blieb. 10. Der Rahmen der Lehne wird aus einem Teil gespritzt. In die senkrechten Holme wird ein separat gespritzter Kunststoffeinsatz eingelegt, der wiederum die vorgespannten und beweglichen Stäbe wie ein Gleitlager hält. Sie werden so geführt, dass sie parallel ausgerichtet sind. Die Rücken- und Sitzbespannung wird mit einem U-Profil an den Querstreben in eine Nut eingehängt und ist somit leicht auswechselbar. 11. Dieses letzte Designmodell diente als gültiges Vorbild für die Produktion der Testserie. Das Rückenteil war bereits in einer Versuchsform gespritzt worden, um es zu testen. Die fertigen Prototypen werden aufwendigen Tests unterzogen, um verlässliche Daten zur Alltagstauglichkeit des Stuhls zu erhalten und um nötigenfalls letzte Modifikationen vorzunehmen.

_25_


>>>

$

$

CULTURE JAMMING IS SO COOL.

: Text Margarita Tsomou.


Im Jahr 2000 verfassten Designer, Grafiker und Kulturarbeiter aus dem Spektrum der Organisation Adbusters ein Manifest, das ihre Position als kreative Ideenproduzenten im Dienst der Verkaufsindustrien reflektierte:

We [‌] are graphic designers, art directors and visual communicators who have been raised in a world in which techniques and apparatus of advertising have been presented to us as the most lukrative, effective and desirable use of our talents.1

: gener alstrike.tif.>

_27_


|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| :SUBVERTISEMENT. >>>

Corporations advertise. Culture Jammers subvertise«2, so das Diktum von Kalle Lasn, Kopf der Adbusters,

einer der bekanntesten Organisationen des Culture Jamming weltweit. Das Subvertisement in der Abbildung zeigt eine besonders populäre und nahe liegende Logoverfremdung: Das Lucky Strike-Logo wurde in den letzten Jahren mehrfach als Signet von Streikbefürwortern umfunktioniert.3 Auffällig ist beim gezeigten Jam, dass kein Sinnzusammenhang zwischen dem eingefügten Text und der Bildsprache des Zigarettenherstellers besteht. Dieses Subvertisement ist ein typisches Beispiel für eine recht vordergründige, aber verbreitete Methode der Ästhetisierung von politischem Propagandamaterial mit Hilfe von vertrauten Symbolwelten aus der Werbung. Bei solchen Manipulationen wird, wie es die autonome a.f.r.i.k.a. gruppe formuliert, die politische Botschaft unter Camouflage lanciert: Die Optik des Gegners wird imitiert mit dem Ziel, über das visuell vertraute Material Kommunikationsbarrieren zu überwinden, um dann im zweiten Moment den geköderten Rezipienten mit einem unerwarteten Inhalt zu konfrontieren.4 Es ginge darum, so der amerikanische Jammer Jorge Rodriguez Gerada, »die Ästhetik der Madison Avenue nachzuahmen«, ein potemkinsches Dorf aufzubauen, dessen Fassaden auch politisch uninteressierte Rezipienten anlocken: »Denn die MTV-Generation ist daran gewöhnt, dass alles prächtig, glänzend und sauber aussieht. Wenn man Zeit darauf verwendet, es sauberer zu gestalten, wird es nicht abgelehnt.«5 Etwas komplexer funktioniert eine Variante des Subvertisements, die über ihre Manipulationen die ursprüngliche Botschaft des angeeigneten Materials kommentiert, indem sie eine Sinnverschiebung vornimmt. Die »Corporate Flag«, die Fahne der »Unbrand America«-Kampagne der Adbusters, ist exemplarisch für einen Jam, der über eine einfache Umdichtung hinausgeht und die Assoziationsräume der vorgefundenen Symbole nutzt, um sie gegen sich selbst zu richten und dadurch eine Aussage zu treffen, die zu der ursprünglich intendierten in starkem Widerspruch steht. Erzielt wird hier die Freilegung einer »anderen Wahrheit« hinter dem freiheitlichen Image Amerikas, das durch die Flagge repräsentiert wird. Das staatliche Emblem wird auf ein »Metalogo« der »Corporate Culture« reduziert. Ganze Kampagnen gegen die Machenschaften multinationaler Konzerne und der politischen Klasse werden mittlerweile von den Mitteln des Subvertisement begleitet. Das war zum Beispiel bei den Protesten gegen Shell oder bei der »Deportation Class«-Kampagne gegen die Lufthansa der Fall. Hier wurden Sit-ins, Boykott-Aufrufe und BlockadeAktionen mit einer umfassenden, bewegungseigenen Corporate Identity umwickelt, die als Antiwerbung den Imageauftritt der Unternehmen manipulierte und gleichzeitig zum Markenzeichen der Kritik wurde.6 Der Widerstand greift hier zur Waffe der Imageverschmutzung. Das öffentliche Bild einer Institution wird sabotiert, indem deren repräsentative Bilder, Slogans und Logos so verfremdet werden, dass es nicht mehr zur Erfüllung ihres ursprünglichen kommunikationspolitischen Zwecks kommen kann. Die Symbole der Macht werden angeeignet und in einen neuen semiotischen Kontext, also in eine neue Zeichenumgebung verschoben, wodurch sie eine Veränderung ihrer Bedeutungen erfahren. Subvertisement stellt sich somit als ein Eingriff auf der Ebene der Zeichen dar und wird daher auch als die »Politik der Semiotik« bezeichnet. Darüber hinaus wird vor dem Hintergrund des steigenden Investitionsaufkommens multinationaler Konzerne für Marketing und Werbung darauf spekuliert, dass die Imageverschmutzung neben dem symbolischen auch einen tatsächlichen wirtschaftlichen Schaden anrichtet.7 Mit der semiotischen Regelverletzung wird auf allen denkbaren medialen Ebenen operiert: Gängig ist das Sampling mit Audiofragmenten, die Video-Montage mit Found Footage, aber auch die gezielte Manipulation von Konsumartikeln. Der wohl berühmteste Konsumartikel-Jam ist die Vertauschung der Sprechkassetten von Barbie-Puppen mit denen von G.I. Joe-Puppen, die anschließend zurück in die Verkaufsregale gestellt wurden. Diese Aktion wurde von der so genannten Barbie Liberation Organisation durchgeführt. Nach dem Tausch des Sprachmoduls wiederholte der »korrigierte« G.I. Joe-Sätze wie »Lass uns einkaufen gehen«, die »befreite« Barbie übernahm die Phrasen des Soldaten G.I. Joe: »Dead men don´t tell lies«.8

»Corporations advertise. Culture Jammers subvertise« 2


: corporateflag.tif.>

||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| :BILLBOARD VERÄNDERUNG. Die Guerilla-Attitüde von Culture Jamming zeigt sich am deutlichsten in der Verfremdung von Plakatflächen im öffentlichen Raum. In Nacht- und Nebelaktionen ziehen die Antiwerber durch die Straßen und greifen direkt verändernd in Werbeflächen ein. Manchmal geschieht das als kreativer Vandalismus, manchmal wird auch hier versucht, das Plakat dahingehend zu manipulieren, dass eine Sinnverschiebung in Richtung einer Gegen- oder Richtigstellung der ursprünglichen Werbebotschaft gelingt. Eine aufwändige und äußerst professionell ausgeführte Aktion dieser Art zeigen die folgenden Abbildungen. Vermummte Aktivisten des Adbusting-Netzwerks von Attac Deutschland haben sich für eine Überklebungsaktion vom Dach eines Gebäudes abgeseilt – um ein fassadenfüllendes Mega-Poster um ihre Botschaft zu ergänzen und zu zeigen, was die Berliner Bank wahrhaftig für Berlin bedeutet. Im Zusammenhang mit dieser spezifischen Praxis von Subvertisement im Außenraum wird oft auch die Kolonialisierung des Stadtbilds durch die kommerzielle Emblematik angeklagt: »Advertising suffuses all corners of our walking lives«9, so empfindet es nicht nur die Billboard Liberation Front, eine der ältesten und bekanntesten Organisationen für Billboard-Veränderung.

>>>

: b ankenskandal.tif.v

_29_


|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| :IRRITATION IM ÖFFENTLICHEN RAUM. >>>

Der öffentliche Raum als Sphäre der Alltagskultur ist ein weiteres Aktionsfeld von Culture Jamming. Neben

dem Angriff auf Plakatwerbung werden performative Aktionen eingesetzt, um auf die Strukturierung des öffentlichen Raums durch Architektur und Stadtplanung zu reagieren, die in den Augen der Jammer die Bedingungen für Bewegung diktiert und damit das Alltagsleben der Menschen auf unbewusster Ebene reguliert. Interventionen durch abweichendes Verhalten, etwa einer »Reclaim the Streets«-Party, sollen Möglichkeiten zur alternativen Wiederaneignung der Stadt bieten und, ähnlich wie die »umgestülpte Welt« des Bachtin’schen Karnevals, den Regulierungen des Raums temporäre Befreiungsmomente abtrotzen. Mit der Herstellung von unerwarteten Situationen sollen die normierte Öffentlichkeit irritiert und die subtilen Disziplinarregeln außer Kraft gesetzt werden, »die im öffentlichen Raum bestimmen, was als normal, erlaubt oder verboten gilt«10. Die Space Hijackers (»Raumentführer«) begreifen den Komplex von Architektur und Stadt als einen aus codierten Zeichen bestehenden Text, der Les- und Verhaltensarten im Raum mythisch fixiert. Durch ungewöhnliche Aktionen in Orten der »Corporate Architecture«, wie etwa einer Partie Mitternachts-Criquet in Londons Finanzzentrum, schaffen die Hijackers als »Anarchitekten« Zeichenirritationen im Raum; sie möchten Krisenmomente in der gewohnten Wahrnehmung auslösen und auf diese Weise die »naturalisierte« Korrelation zwischen Zeichen und Bedeutung, in diesem Fall zwischen räumlicher Anordnung und sozialer Verhaltensnorm, dekonstruieren.

: r eclaimthestreets.tif.

:s p a c e h i j a c k e r s c r i c k e t . t i f.

:spacehijackerscricket2.tif.

||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| :CYBER JAMMING. Die Kulturstörung im Internet widmet sich der Sabotage feindlicher Netzpräsenzen – hier spricht man auch von Hacktivism oder von Hacktivismus, einer hybriden Wortschöpfung aus (politischem) Aktivismus und Hacking.11 Mit Cyber-Sit-ins, Massenmailings, Online-Demos und digitalen Blockaden werden neue Protestformen im virtuellen Raum erprobt. Im deutschsprachigen Raum wurde zum Beispiel die Online-Demo der »Deportation Class«-Kampagne gegen Abschiebefluglinien bekannt, bei der durch ein massenhaftes Abrufen der Lufthansa-Webseite die Server für den normalen Kundenverkehr blockiert wurden. Solche sogenannten Denial-of-Service (DOS)-Attacken sind klassische Hacking-Methoden, die hier, und das ist verhältnismäßig neu, für ein politisches Ziel eingesetzt werden. Mit der fortlaufenden Weiterentwicklung von speziellen Sabotage-Software-Tools wird auch der E-Protest zunehmend professioneller: Die Netzkunst-Gruppe Etoy hat beispielsweise im Zuge des legendären »Toywar« mit dem Online-Spielzeug-Kaufhaus eToys das Sabotage-Tool »killertoy.htm« programmiert, das die virtuellen Warenkörbe auf etoys.com unablässig füllte, ohne je einen Kauf zu tätigen, wodurch die eToys-Seite für Kunden praktisch unbenutzbar wurde. Die einmalige Qualität des Internet-Jamming ist nicht, so schätzt es der Netzaktivist Florian Schneider ein, »dass nun statt auf der Straße am Bildschirm demonstriert wird«12, sondern dass hier Mediensabotage reell und ganz materiell greifen kann. Eine weitere Spielart des Cyber-Jamming ist das »Faken« von existierenden Webseiten. In typischer Culture JammingManier werden hier Domainname und graphische Gestaltung der gejammten Internetpräsenz nachgeahmt und mit einem neuen Inhalt konterkariert. Solche versteckten Netz-Parodien sollen verirrte Nutzer mit Gegen- oder Falschinformation konfrontieren.


||||||||||||||||||||||||||| :FAKES. Fake-Webseiten sind oft die Ausgangspunkte für realweltliche Fakes – in Namen einer Autorität, zum Beispiel eines Konzernchefs, verbreiten die Jammer gezielt falsche Informationen in der Öffentlichkeit, um die Grenzen des gesellschaftlich konsensfähigen Rahmens zu testen. Mit einer professionell gestalteten Webseite und entsprechender PRArbeit gelang es der Künstlergruppe 0100101110101101.org, die Öffentlichkeit glauben zu machen, die Firma Nike habe im Rahmen ihrer Kampagne »rethinking space« den Wiener Karlsplatz in »Nikeplatz« umbenannt.13 Der Fake explizierte damit die Selbstverständlichkeit, mit der heute die Privatisierung des »Öffentlichen« verhandelt wird. Beim Fake wird eine fremde Identität angenommen und sich deren öffentlicher Glaubwürdigkeit und Sprechmacht bedient. Damit wird nicht nur der nachgeahmte Gegner, sondern auch die Logik der Medienapparate vorgeführt, die sich ohne nähere Untersuchung auf die Verbreitung der Falschinformation eingelassen haben. : nikeground.tif.>

|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| :AHNEN DER JAMMER. Das Prinzip der Aneignung und Subversion von öffentlichen Zeichenvorräten, von Kommunikationskanälen und sozialen Situationen ist nicht neu. Es hat im Feld der freien und der angewandten Kunst eine lange Tradition. So werden als historische Vorläufer des Culture Jamming gerne die Praktiken künstlerischer und kultureller Avantgardeströmungen der Moderne ins Feld geführt: Die Montagen und Bürgerschreckaktionen der Dadaisten, die situationistische Zweckentfremdung und Skandalproduktion, die Fakes der Kommune 1, die Praktizierung von abweichendem Verhalten durch die Merry Pranksters oder auch die Provokationen der Yippies erhalten prominente Erwähnung in den Ahnengalerien der Jammer, und sie können tatsächlich in Technik, Einsatzfeld und Geist als historische Entsprechungen zu Culture Jamming gelten. Alle diese auf der Ebene der Kultur und der Gestaltung ansetzenden politischen Strategien widmeten sich der Bekämpfung der Dominanz der Bilder, der Zeichen und der Gewohnheiten im Alltag und der Normierung des Menschen durch ihre Macht. Der in Culture Jamming-Kreisen viel zitierte Situationist Guy Debord sprach bereits in den 1960ern von der Herrschaft der »Gesellschaft des Spektakels«. Durch das massenmediale Bombardement in den westlichen Konsumgesellschaften sei der Warenfetischismus, so Debord, zur totalitären Chiffre der Gesellschaft avanciert. Im »Spektakel« sei der Mensch in einen Verblendungszusammenhang verwoben, der ihn unfähig mache, seine genuinen Bedürfnisse und Interessen hinter den spektakulären Bildern zu spüren. Die Situationisten setzten der Macht der Bilder die Entwendung und Zweckentfremdung ästhetischer Elemente aus der Populärkultur entgegen. Ziel war neben einer öffentlichen Entwertung bzw. Umwertung der konsumweltlichen Bilder das Einschleusen von visuellen Schocks zur Irritation der Gewohnheitsmuster der Anschauung.

>>> _31_


: |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| DIE GESELLSCHAFT DES ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| SPEKTAKELS UND |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| DIE »CORPORATE CULTURE«. >>>

Fake-Webseiten sind oft die Ausgangspunkte für realweltliche Fakes – in Namen einer Autorität, zum

Beispiel eines Konzernchefs, verbreiten die Jammer gezielt falsche Informationen in der Öffentlichkeit, um die Grenzen des gesellschaftlich konsensfähigen Rahmens zu testen. Mit einer professionell gestalteten Webseite und entsprechender PR-Arbeit gelang es der Künstlergruppe 0100101110101101.org, die Öffentlichkeit glauben zu machen, die Firma Nike habe im Rahmen ihrer Kampagne »rethinking space« den Wiener Karlsplatz in »Nikeplatz« umbenannt.13 Der Fake explizierte damit die Selbstverständlichkeit, mit der heute die Privatisierung des »Öffentlichen« verhandelt wird. Beim Fake wird eine fremde Identität angenommen und sich deren öffentlicher Glaubwürdigkeit und Sprechmacht bedient. Damit wird nicht nur der nachgeahmte Gegner, sondern auch die Logik der Medienapparate vorgeführt, die sich ohne nähere Untersuchung auf die Verbreitung der Falschinformation eingelassen haben.

: n ikemonument.tif.>


Das Prinzip der Aneignung und Subversion von öffentlichen Zeichenvorräten, von Kommunikationskanälen und sozialen Situationen ist nicht neu. Es hat im Feld der freien und der angewandten Kunst eine lange Tradition. So werden als historische Vorläufer des Culture Jamming gerne die Praktiken künstlerischer und kultureller Avantgardeströmungen der Moderne ins Feld geführt: Die Montagen und Bürgerschreckaktionen der Dadaisten, die situationistische Zweckentfremdung und Skandalproduktion, die Fakes der Kommune 1, die Praktizierung von abweichendem Verhalten durch die Merry Pranksters oder auch die Provokationen der Yippies erhalten prominente Erwähnung in den Ahnengalerien der Jammer, und sie können tatsächlich in Technik, Einsatzfeld und Geist als historische Entsprechungen zu Culture Jamming gelten. Alle diese auf der Ebene der Kultur und der Gestaltung ansetzenden politischen Strategien widmeten sich der Bekämpfung der Dominanz der Bilder, der Zeichen und der Gewohnheiten im Alltag und der Normierung des Menschen durch ihre Macht. Der in Culture Jamming-Kreisen viel zitierte Situationist Guy Debord sprach bereits in den 1960ern von der Herrschaft der »Gesellschaft des Spektakels«. Durch das massenmediale Bombardement in den westlichen Konsumgesellschaften sei der Warenfetischismus, so Debord, zur totalitären Chiffre der Gesellschaft avanciert. Im »Spektakel« sei der Mensch in einen Verblendungszusammenhang verwoben, der ihn unfähig mache, seine genuinen Bedürfnisse und Interessen hinter den spektakulären Bildern zu spüren. Die Situationisten setzten der Macht der Bilder die Entwendung und Zweckentfremdung ästhetischer Elemente aus der Populärkultur entgegen. Ziel war neben einer öffentlichen Entwertung bzw. Umwertung der konsumweltlichen Bilder das Einschleusen von visuellen Schocks zur Irritation der Gewohnheitsmuster der Anschauung. Die Kommunikationsguerilleros von heute teilen diese Sensibilität für die Macht des »Spektakels« und schließen an die Kritik der Situationisten an. Die allgegenwärtigen Privatisierungsprozesse und die rasante Ausbreitung des Sponsoring sind nur Symptome dafür, wie sich die Logik der Ware mit ihren Images und ihren Bildern heute in immer mehr gesellschaftliche Bereiche einschleicht. Die Jammer zetteln einen Kampf gegen die Kolonialisierung jeder Facette kulturellen Lebens durch die Privatwirtschaft an. Als Quellen der Empörung, die die subversiven KulturAnschläge motivieren, werden in den Schriften der Aktivisten die Omnipräsenz der Logos und Bilder der hegemonialen Kultur genannt, die Standardisierung der Medienlandschaft, der, wie ein Mitglied der Barbie Liberation Front es ausdrückt, durch Werbung und Konsum »fabrizierte Konsens und die konstruierten Bedürfnisse«, sowie der Zwang und die Gleichförmigkeit des Alltags zwischen Erwerbsarbeit und Schlafstadt.

>>>

_33_


>>>

Culture Jamming wird als ein Versuch begriffen, das kulturelle Leben zurück in Gemeingut zu verwandeln,

es neu zu markieren. Die dissidente Störung der sozialen (Zeichen-)Ordnung soll darüber hinaus Krisenmomente im Weltverständnis auslösen und den zum Konsumenten degradierten Menschen aus der Medientrance des Spektakels wachrütteln. Mit dem kulturellen und semiotischen Regelbruch glauben die ambitioniertesten unter den Aktivisten ein politisches Instrument in der Hand zu halten, das die in Mediatisierungen aufgelöste »postmoderne Kulturgesellschaft« adäquat bekämpfen kann.

:||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| GUERILLA MARKETING–. ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| CULTURE JAMMING IN DER WERBUNG. Doch am Zeichenspiel üben sich nicht nur die politisch Subversiven. Motive und Floskeln aus der Revolutionskiste und der nonkonformistische Stil der Rebellion müssen spätestens seit Ende der 1960er Jahre dafür herhalten, zumindest noch das Kaufbegehren der politisch desillusionierten Konsumenten zu wecken. Um die Botschaft von Neuheit und Verbesserung zu vermitteln, gibt sich der Werber als Konventionsbrecher, so der Kulturkritiker Thomas Frank: Dem Zwang des Immergleichen wird der Krieg erklärt und die Werbung lässt um sich die Aura des mutigen Ausbrechers erstrahlen, die einst den Unangepassten der »Gegenkultur« am Rande der Gesellschaft vorbehalten war. Wie die Jammer sich die Symbole der Werbewirtschaft aneignen, so schöpft diese aus der im Culture Jamming neu gewonnenen rebellischen Formensprache. Die Kampagne »Action« des Jeans-Herstellers Diesel von 2002 ist dafür ein gutes Beispiel: Ganz im Sinne eines Jams wird hier mit der Strategie der Camouflage eine subkulturelle Demo-Ästhetik nach-inszeniert, um den protestinteressierten und in der Regel werberesistenten Käufer anzusprechen. Bei solchen leicht durchschaubaren Taktiken belässt es die Kommunikationsindustrie aber natürlich nicht. Zeitgemäße Werbestrategien setzen auf Überraschungsmomente und Schockkommunikation und lassen vor allem unter der Oberfläche eine Haltung mitschwingen, die einen subkulturell geschulten Mut zur Abweichung suggeriert. So kommen im Rahmen von Konzepten wie dem Viral- Sensation- oder Guerilla-Marketing sämtliche Störtechniken des Culture Jamming als Verkaufsstrategien zur Anwendung. Bekannt für eine solche Praxis ist beispielsweise die Leitwerbeagentur der Bundesregierung, die Agentur Zum goldenen Hirschen. Ihre Plakate zur Agenda 2010 bedürfen nicht mehr der subversiven Korrektur, sie bringen den Graffiti-Tag von Haus aus gleich mit. Zeichenmanipulation, Irritation, pfiffige Provokation, die Ästhetik des Bruchs und die Techniken des Schocks – heute werden wir mit denselben Instrumenten zum Warentisch gebeten, die mancher Jammer für den Weckruf aus der hegemonialen Verblendung anstimmte.

: a g e n d a 1+agenda2.tif.<

O.V.: First things first. http://www.xs4all.nl/~maxb/ftf2000.htm, 13.03.05 // 2 Lasn, Kalle: Culture Jam. The Uncooling America, Eagle Brook/William Morrow: New York, 1999, S. 131 // 3 Erste räge Popularität erfuhr dieser Jam während des Studentenstreiks 1997/1998. Die Kreativ- und Öffentlichkeitsarbeits-AGs der bestreikten Unis entwickelten eine eigene »Corporate Identity« und ließen dieses »werbebewusste Motto« als ihr Streik-Logo auf T-Shirts, Baseball-Kappen und Buttons anbringen. // 4 Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe: Imagebeschmutzung. Macht und Ohnmacht der Symbole. In: Culture Jamming. Kokerei Zollverein. Zeitgenössische Kunst und Politik. Reader zusammengestellt von Jeronimo Voß: Essen, 2003 // 5 Gerada, Jorge Rodriguez, zitiert in: Klein, Naomi: No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. 3. Auflage, C. Bertelsmann Verlag, 2001, S. 297 // 6 siehe Internetauftritt unter http//:www.deportationclass.de, 01.03.05 // 7 Florian Schneider, Netzkünstler und Aktivist der Deportation Class Kampagne erscheint es 1


:|||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| IKONOKLASMUS IM ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| 21 JAHRHUNDERT. In einer Mediengesellschaft ist Widerstand zunehmend darauf angewiesen, sich spektakulär und medial zu inszenieren – Kommunikationsguerilla kann dabei ein möglicher Ausgangspunkt zur Entwicklung einer zeitgenössischen Widerstandsästhetik sein, sofern sie mehr als nur ein Abklatsch der Bilderfabrik der Kulturindustrie ist. Die Strategien der Kulturstörung erweisen sich vor dem Hintergrund ihrer Kompatibilität für die Werbung als politisch neutrale formale Methoden, die ohne eine Einbettung in entsprechende Kontexte kein per se widerständiges Potential in sich bergen. Das Prinzip der Verfremdung von Bekanntem eignet sich gut zur Generierung von Aufmerksamkeit und kann sowohl für Werbung als auch für die Politik der Repräsentation gegenwärtiger Protestbewegungen nutzbar gemacht werden. Gleichwohl: Culture Jamming ist durchaus eine adäquate und folgerichtige Reaktion gegen die sich im Zuge von Privatisierungsprozessen in unserer ganz unmittelbaren Umwelt ausbreitende Emblematik der »Corporate Culture«. Die Praktiken der Kulturstörung sind ein moderner Ikonoklasmus mit großem Potenzial. Heute wird der kreative Bildersturm nicht mehr nur von exquisiten, künstlerischen Avantgardekreisen vorgenommen; die Verbreitung der neuen Medientechnologien, wie dem Desktop-Publishing, von Bildbearbeitungssoftware und dem Internet hat eine ganze Generation mit einer medialen Kompetenz ausgestattet, die den zweckentfremdenden Angriff auf die hegemoniale Kultur massenhaft werden lassen kann. Der ästhetische Guerillakampf wird zwar die Inbesitznahme der medialen Flächen durch die Ökonomie nicht aufhalten. Aber er kann die Bilder der Macht punktuell reklamieren und ihre Bedeutungsordnung hinterfragen – eine anwachsende Armee von Kreativarbeitern, von Professionellen und Laien richtet schon ihre Waffen in diese Richtung und füllt den symbolischen Raum mit ihrer eigenen Weltinterpretation.

>>> : d i e s e laction.tif.<

»lukrativ, am schwächsten Glied der Kette, dem Image, der Corporate Identity eines Unternehmens anzusetzen«. Der Organisator eines Arbeitskampfs mit eingebetteten Adbusting-Aktionen in der amerikanischen Teamster Gewerkschaft bemerkt, dass »man so millionenschwere Werbekampagnen in Gefahr bringt«. // 8 Information zu diesem legendären Jam unter http://www.rtmark.com/blo.html, 18.03.05 // 9 Napier, Jack und Thomas, John: BLF Manifesto unter http://www.billboardliberation.com/history.html, 12.01.05 // 10 Vgl. Selbstdarstellung von »Reclaim the streets« unter unter http://rts.squat. net/, 15.03.04 // 11 Zum Begriff Hacker und »Hackitivism« siehe Chaos Computer Club Definition unter http://de.wikipedia.org/wiki/Hacker. 12.01.05 // 12 Vgl. Schneider, Florian: Semioresistance. Online- und Offline-Protest im Zeitalter der New-Actonomy. Unter www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/ co/3634/1.html, 12.01.05 // 13 siehe http://www.nikeground.org und Presse unter http://www.0100101110101101.org/home/nikeground/, 13.03.05

_35_


In der Regel hat Grafik-Design heute die Funktion, das Getriebe der politischen und ökonomischen Hegemonie mit Bildern zu schmieren. Entwurfsstrategien jenseits des Mainstreams der Symbolpolitik sprengen schnell die Grenzen des Designs, die durch den »Gebrauch« abgezirkelt sind, und können daher in das geheimnisvolle Reich der Kunst verwiesen werden, in dem vermeintlich gänzlich andere Regeln gelten.

Margarita Tsomou ist Kulturwissenschaftlerin und politische Aktivistin in Hamburg, Berlin und Athen. In ihrem Artikel stellt sie die Bewegung vor und gibt einen Überblick darüber, welche Formen der Aneignung und Umdeutung von Zeichen hier praktiziert werden. Im Interview spricht sie mit Timo Meisel über die Motivationen und Kontexte der Culture Jammer und über die Grenzen der Wirksamkeit von Interventionen in den symbolischen Raum.

: I||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| NTERVIEW ZU CULTURE JAMMING ||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||| M IT MARGARITA TSOMOU. F O R M + Z W E C K Warum hat Culture Jamming in den neunziger Jahren eine Konjunktur erlebt? TSOMOU

Dafür ist eine Konstellation von mehreren Faktoren Ausschlag gebend. Der wohl wichtigste ist die

Ausbreitung der kommerziellen Emblematik. Wenn eine »Corporate Culture« praktisch an jeder Ecke sichtbar wird, provoziert sie natürlich auch vermehrt das Bedürfnis, sich die entwendeten Bereiche wieder anzueignen. Man könnte sagen, dass die Zupflasterung des öffentlichen Raums mit Logos, Markenemblemen und Werbung einen ikonoklastischen Kommentar auslöst. Daran gekoppelt ist, dass in einer stark mediatisierten Gesellschaft die Angriffsflächen auf der Ebene des Symbolischen wachsen und dass Widerstand darauf reagiert, indem er sich auch medial und symbolisch artikuliert. Weiterhin gibt es neue Produktionsmittel. Durch die Verbreitung und die immer einfachere Nutzbarkeit von Computern für die Zwecke der Symbolmanipulation kann eigentlich jeder jammen und auf diesem Weg eine oppositionelle Position artikulieren. Bis in die 80er Jahre hinein waren es meist professionelle Gestalter, die für oppositionelle Mobilisierung und politische Kampagnen Poster gemacht haben. Heute ist es ein unglaublich Leichtes, eine Werbeanzeige zu scannen, in Photoshop den Slogan auszutauschen – und schon hat man seinen eigenen Jam. Dazu kommt, dass durch die tägliche Konfrontation mit Bildwelten auf breiter Basis Sensibilitäten wachsen für visuelle Kommunikationsinszenierungen und deren Eigenarten. Diese Fähigkeit, hinter die Bilder zu schauen, und die Techniken, um ihre Aussage zu manipulieren, werden im Culture Jamming im widerspenstigen Sinne eingesetzt. Zuletzt noch ein weiterer wichtiger Grund für die Konjunktur: die Alterglobalisierungsbewegung. Seit Ende der Neunziger formiert sich eine globale Bewegung, in der zwar sehr verschiedene Gruppen an ganz verschiedenen Themen arbeiten, in der sich diese Gruppen aber gegenseitig stärken und aufeinander beziehen. Verbindende Elemente sind zum Beispiel die Konzernkritik und die Kritik an der neoliberalen Umstrukturierung der Gesellschaft, die programmatisch die Vermarktung des Öffentlichen verfolgt. Gäbe es diese Bewegung und ihre Netzwerke nicht, würde wohl auch eine Form der Artikulation wie Culture Jamming in dieser Verbreitung nicht stattfinden. Innerhalb der Alterglobalisierungsbewegung wird Culture Jamming als ein Mittel betrachtet, um den Konzernen an die Gurgel zu gehen, zumindest auf der symbolischen und medialen Ebene. Auf der gesetzgeberischen und auf der ökonomischen Ebene gibt es ja nicht viele Spielräume.


»Culture Jamming«, eine politische Bewegung, in der Designer wesentliche Protagonisten sind, verfolgt darum eine andere Strategie. Sie versucht die alltäglich ausgeübte, subtile Bildgewalt gegen deren Strippenzieher zu wenden, indem sie ein Redesign vorhandener Gebrauchsbilder unternimmt, diese neu kontextualisiert, verfremdet, verschmutzt, enttarnt.

F O R M + Z W E C K Sind die Konzerne denn überhaupt beeindruckt von den Attacken der Culture Jammer – von Imagebeschmutzungskampagnen und dergleichen? Wie wird die Bedrohung eingeschätzt und darauf reagiert? TSOMOU

Reaktionen seitens der gejammten Konzerne erfolgen meist erst dann, wenn ein Jam schon breitere

öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Das ist meistens bei umfassenderen Kampagnen der Fall, die auf mehreren Ebenen operieren und von größeren sozialen Kontexten getragen und verhandelt werden, wie der Deportation Class Kampagne oder dem Nikeground-Fake. Die vielen täglich, zerstreut und in meist kleiner Anzahl produzierten Jams sind den Konzernen wahrscheinlich noch kein Dorn im Auge. Wenn aber tatsächlich eine konzertierte Kampagne das öffentliche Image eines Konzerns aufs Spiel setzt, wird mit juristischen Verfahren gegen die Jammer vorgegangen. Dabei wird die Verletzung von Copyright und Markenrecht ins Feld geführt, um ihnen das Handwerk zu legen. Der Ausgang solcher Prozesse ist je nach Fall unterschiedlich. Die Prozesse gegen die Fälschungen der Deportation Class Kampagne und den Nikeground-Fake gewannen die Aktivisten, weil ihre Anwälte mit dem Recht auf die »künstlerische Freiheit« argumentierten. Es gibt aber auch zahlreiche Beispiele, bei denen die Jammer ihre Produkte aus dem Verkehr ziehen und/oder Schadensersatz zahlen müssen. Einen legendären Erfolg gegen ihre Gegner erzielte die Netzkunstgruppe Etoy im »Toywar«, bei dem der OnlineSpielzeugverkäufer etoys die Copyrightklagen angesichts des Drucks von Etoy fallen lassen musste. Doch damit nicht genug. Die fatalste Folge der über einen Monat fortwährenden virtuellen Blockadeaktionen von Etoy war, dass die zeitgleich über eToys hereinstürzende Lawine des New-Economy-Absturzes beschleunigt wurde und dem Kurswert des Unternehmens einen dramatischen Wertverfall bescherte. Kurze Zeit später ging eToys Pleite. F O R M + Z W E C K Woher kommen heute Culture Jammer? Welche Motive leiten ihr Engagement? TSOMOU

Heute haben Culture Jammer sehr unterschiedliche soziale Herkünfte. Ungefähr seit Anfang der acht-

ziger Jahre begann die Formierung einer Culture Jamming-Szene, die sich auf kulturellen Guerillaaktivismus spezialisierte und damals noch vornehmlich auf Aktivisten aus subkulturellen und radikal-politischen Kreisen, wie zum Beispiel der anarchistischen Bewegung, beschränkt war. In den neunziger Jahren ist jedoch, wie bereits erwähnt, eine Popularisierung der Praxis abseits der »professionalisierten« Culture Jamming-Szene zu beobachten. Immer mehr politisierte Kreative, Gestalter und auch Künstler im engeren Sinne bedienen sich der Techniken des Culture Jamming zur Artikulation von politischer Kritik. Im Gegenzug sind heute die unterschiedlichsten politischen Aktivisten - Autonome und Gewerkschafter, Dritte-Welt-Aktivisten und Umweltschützer - mehr oder weniger intensiv als Culture Jammer tätig. Aus meiner Sicht sind sie alle ein Teil gegenwärtiger Widerstandsbewegungen. Und darin sind sie Produzenten und Rezipienten von Culture Jamming zugleich. Hinsichtlich des Stellenwerts von Culture Jamming für die sozialen Bewegungen wiederum existieren in der Culture Jamming-Szene unterschiedliche und widersprüchliche Positionen. Das liegt natürlich auch daran, dass sich die Szene mit der steigenden Popularität von Culture Jamming stark vergrößert hat. Während ein Teil der Jammer ihre Praxis als medienwirksames, aber begleitendes und ergänzendes Instrument zur politischen Arbeit begreifen, betrachten große Teile der Culture Jamming-Szene die mediale Subversionstechnik als die neue und viel versprechende politische Strategie. Sie benutzen Culture Jamming als Negativfolie zu so genannten »herkömmlichen«, »traditionellen« Praxen, wie etwa Diskussionsveranstaltungen und Demonstrationen. Sie grenzen sich damit von denjenigen politischen Kontexten innerhalb der sozialen Bewegungen ab, die gemeinhin keine Übung im Einsatz von medialen und spektakulären Mitteln haben und nach wie vor schwerpunktmäßig auf die Vermittlung von Inhalten mittels eines rational geführten politischen Diskurses konzentriert sind.

>>> _37_


F O R M + Z W E C K Wo liegt die Wiege der künstlerischen, gestalterischen, politischen Praxis des Culture Jamming? TSOMOU

Die Methode der symbolischen Subversion kommt aus der Kunst: Künstler arbeiten schließlich

seit eh und je mit Repräsentationen und Mediatisierungen. Einen Bezugspunkt im engeren Sinne würde ich bei denjenigen künstlerischen Strömungen im 20. Jahrhundert suchen, die nicht ausschließlich Kunst sein wollten. Die sehr öffentlichkeitsrelevante Symbole wählten, um mit ihrer künstlerischen Tätigkeit für ein politisches Ziel zu arbeiten, die mit den Massenmedien operierten, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen und Aufklärung zu betreiben; die Dadaisten, die Situationisten und alle anderen, die aus der »l‘art pour l‘art« herauswollten ins Leben hinein und sich folglich mit der Wahrnehmung der Massen beschäftigt haben. Aus diesem Grund haben die Situationisten Comic Strips verfremdet und die Dadaisten mit dem Foto gearbeitet, weil sie glaubten, diese Medien seien zugänglicher als die Malerei. Beide Gruppen sind einerseits Referenzen wegen ihrer genuinen Produktionsweisen und Techniken, auf der anderen Seite wegen ihrer Haltung, Politik mit Bildern zu betreiben – und weil sie versucht haben, Gegenkultur zu gestalten. Das wollen Culture Jammer auch. In der Tradition der Politik ist Culture Jamming weniger verbreitet... deshalb ist es gegenwärtig interessant zu beobachten, dass es immer mehr auch von Seiten der Politik betrieben wird. Früher waren in erster Linie Künstler die Akteure, heute aber kommt CJ immer mehr aus der Politik und wird zu einer Praxis für Nichtkünstler, sogar für explizite Nichtkünstler. F O R M + Z W E C K Wie ist aktuell das Verhältnis von Culture Jamming und Kunstfeld zu bewerten? TSOMOU

Einige Akteure aus der Kunst, das heißt Theoretiker, Kuratoren und Künstler, erkennen natürlich die

Geschichte ihres Felds in den Praktiken des Culture Jamming wieder und binden es verstärkt in ihre Diskurse um die (Re-)Politisierung der Kunst ein, die insbesondere in den neunziger Jahren weite Verbreitung erfahren haben. Im Zuge dessen gibt es einen regelrechten Import von Culture Jamming-Aktivisten in das Kunstfeld und zwar auch von solchen, die nie die Absicht gehegt haben, sich darin zu etablieren – dazu gehören etwa die Yes Men oder das Netzwerk Rtmark, die ohne jegliches Bemühen als radikale (künstlerische) Positionen von den Teilen der Kunstwelt gefeiert werden, die sich als kritisch und engagiert begreifen. Über die Bewertung solcher Einbindungsversuche seitens der Kunst gehen die Meinungen im Culture Jamming-Lager auseinander. Viele distanzieren sich explizit von der Betitelung als »Künstler«. Die autonome a.f.r.i.k.a. gruppe warnt sogar davor, sich in den Kunstkontext zu begeben – zu groß sei die Gefahr, nur ästhetisch gewürdigt und damit politisch entwertet zu werden. Außerdem widerspricht das Vorgehen der Jammer von seinem Prinzip her dem Konzept des geistigen Eigentums. Die meisten Aktivisten verzichten auf den Status der Autorschaft. Gängig ist die Nutzung von „multiplen Namen“, das sind Namen oder Labels, die jeder zur Unterzeichnung seiner Aktionen nutzen kann und somit immer für ein unbestimmtes Kollektiv stehen. Diese Praxis lässt sich auf die Kunstwelt nicht ohne weiteres übertragen, da dort ja nach wie vor ein eindeutig benennbarer Autor mit »geistigem Eigentum« an seinem Werk gefragt ist. Andere wiederum bezeichnen ihre Praktiken selbst als Kunst. Vielleicht schielen einige auch auf die Möglichkeit, eine künstlerische Karriere einzuschlagen, und orientieren sich da an Culture Jammern, die tatsächlich Künstler im engeren (ausgebildeten) Sinne sind, und die durch die Platzierung und Präsentation ihrer Jams in den Stätten der Hochkultur sogar Geld mit politischer Aktivität verdienen können. F O R M + Z W E C K Dann ist da noch der Culture Jammer als Alter Ego des »Creative Professionals« in der Kreativbranche: der Missing Link zwischen künstlerischer und politischer Praxis? TSOMOU

In gewisser Weise schon. Es gibt ja auch immer mehr Leute, die im gestalterischen Feld arbeiten. Die

haben logischerweise eine Affinität dazu, sich mit Bildern zu artikulieren, wenn sie sich politisch einbringen wollen. Da wären zum Beispiel die »Intermettents« zu nennen, eine Organisation der prekär arbeitenden »Cultural Producer« in Frankreich, die immer, wenn sie auf die Straße gehen oder sich in der Öffentlichkeit zeigen, auf Methoden des Culture Jamming zurückgreifen. Sie haben die nötigen Mittel sowieso in der Hand, das Know How ebenso wie die Mikrofone und die Scanner.


Schließlich ist da der professionelle Kreativarbeiter, der zwar Ideen hat, aber keine Entscheidungsbefugnis darüber, wie diese Ideen eingesetzt werden. In diesem Fall ist Culture Jamming ein Ventil, um Kreativität im eigenen Sinne ausleben zu können. Das ist im Prinzip die Rache des Knechts. Wenn ich eigenständig kreativ arbeite, dann liegt es nahe, dass ich dieses Emanzipationsmoment genau gegen die Dinge einsetze, die mich üblicherweise in meiner Kreativität beschneiden. Manche sagen, Culture Jamming habe seine Ausdrucksmittel zum Teil auch dem schlechten Gewissen der Werbetreibenden zu verdanken. Dieselben Leute, die die Plakate tagsüber aufhängen, sabotieren diese am Abend oder betreiben Decollage. F O R M + Z W E C K Ein interessanter Aspekt des Culture Jamming ist seine Rolle im Kreislauf zwischen subkultureller und hegemonialer Bildproduktion. Läuft das Culture Jamming nicht oft Gefahr, zum Ideenlieferant für die Werbung zu werden? TSOMOU

Wenn eine Vereinnahmung der Widerstandsästhetik durch die Werbung passiert, dann findet eine

qualitative Veränderung statt. Das kann gar keine Eins-zu-Eins-Übernahme sein, allein weil die Werbung mit ihren Motiven in erster Linie verkaufen will. Andererseits diktieren die Kommunikationsstrategien der Mainstream-Werbung oft die Bedingungen für Kommunikation, auf die sich die Widerstandsbewegungen zumindest teilweise einlassen müssen. F O R M + Z W E C K Im Culture Jamming-Diskurs hört man oft auch Resignation, was die Problematik der Vereinnahmung der ästhetischen Strategien angeht. Ein prominentes Beispiel ist die Band Negativland, denen die Prägung des Begriffs Culture Jamming zugeschrieben wird. Mitte der neunziger Jahre wurde ein Stück von ihnen für eine Sprite-Werbekampagne benutzt. Negativland haben das folgendermaßen interpretiert: Ästhetischer Widerstand ist zwecklos, denn die hegemoniale Kultur ist in der Lage, seinen Kern, das heißt seinen genuinen Stil zu absorbieren. Aber was ist das für eine Argumentation und was impliziert sie für einen Anspruch? Heißt das, man darf keine Bilder mehr produzieren, weil die Gegenseite in der Lage ist, diese zu verwerten? T S O M O U Eine von den Massenmedien geprägte Gesellschaft verfügt eben über bestimmte technische Standards und gängige Ästhetiken, die prinzipiell von allen Seiten genutzt werden können. Ästhetische Waffen sind nicht davor gewappnet, kopiert zu werden. Aber sie können trotzdem ganz verschiedenartig eingesetzt werden, in ganz verschiedenen Kontexten. Deshalb ist es auch zu begrüßen, dass Widerstandsbewegungen überhaupt so weit sind, an dieser Front zu agieren. Sie müssen auf die Macht und die Allgegenwart der Zeichen reagieren, sonst hätten sie von vornherein verloren. Man muss aber wohl einräumen, dass die Bilderfabrik der Hegemonie viel größer ist als die Manufakturen der Subkultur. F O R M + Z W E C K Wo siehst du weitere Grenzen der Wirksamkeit von Interventionen in den symbolischen Raum? TSOMOU

Ein Sachverhalt, über den sich das Culture Jamming bewusst sein muss, ist der, dass die Ausbreitung

der »Corporate Culture« auf der Grundlage der Inbesitznahme des Öffentlichen durch die Privatwirtschaft stattfindet. Durch das GATS zum Beispiel werden Bildung, öffentliche Dienstleistungen, Gesundheit privatisiert. Die Logos in den Vorlesungssälen kann man jammen, aber das ändert nichts daran, dass die Konzerne rechtlich und ökonomisch dazu in der Lage sind, sich in Vorlesungssäle einzukaufen. Wenn man der Corporate Culture wirklich Einhalt gebieten will, muss man auch über anderes sprechen als nur über den ästhetischen Kampf. Ein Beispiel: Microsoft hat letztens einen Jam durchgeführt, zur Einführung eines neuen Computerspiels. Da platzt in eine BMW-Fernsehwerbung ein gröhlendes Monster herein. Es gab dazu begleitende Aktionen im öffentlichen Raum, mit demselben Monster. Bei der Hamburger Morgenpost rufen also irritierte Leser an, die nicht wissen, was ihnen da passiert ist. Die MOPO hat dann eine Titelseite dazu gebracht und einen langen Artikel. Die MOPO hat meines Wissens noch nie mit Etoy getitelt oder mit den Adbusters, obwohl die praktisch täglich ähnliche Sachen machen. Microsoft kann sich die Zeit kaufen, um im Fernsehen aufzutreten, sie haben die Kanäle, die Netzwerke und das Geld, eine ganz andere Öffentlichkeit herzustellen. Das soll aber nicht heißen, dass Culture Jamming keine Macht hat. Es ist eine Form, um Widerstand zu artikulieren, es kann Anlass zur Organisation von Widerstand sein, es ist eine Art und Weise, die Ästhetik des Widerstands zu überdenken, und all das brauchen wir heute.

<<<

_39_


: Text Timo Meisel .

und der neue geist Mit der Studie »Der Neue Geist des Kapitalismus« (Konstanz 2003/Paris 1999) haben der französische Soziologe Luc Boltanski und die Ökonomin Eve Chiapello eine detaillierte Untersuchung des dynamischen Verhältnisses von Kapitalismus und Kapitalismuskritik vor allem der letzten vierzig Jahre vorgelegt. Ausgangspunkt ihrer Analyse sind die Jahre um 1968 in Frankreich, in der sich die zwei teilweise antagonistischen Hauptströmungen der Kapitalismuskritik – die »Sozial-« und die »Künstlerkritik« – zu einer Allianz verbündeten. Forderungen der Sozialkritik nach mehr Gleichheit und Gerechtigkeit wurden Seite an Seite mit Forderungen der Künstlerkritik nach mehr Autonomie, Kreativität, Authentizität und Befreiung formuliert. Anhand eines Korpus von Managementliteratur aus den 1960er und 1990er Jahren arbeiten Boltanski und Chiapello heraus, wie die Vereinnahmung der Kritik zu einer netzförmigen Organisation avancierter ökonomischen Felder und zu einer projektorientierten Produktions-, aber auch Rechtfertigungslogik beigetragen hat.


:marcelduchamp.tif.>

des kapitalismus... Dem Idealbild des Neomanagers, wie es Boltanski und Chiapello aus der Managementliteratur herauslesen – ein »kreativer, intuitiv handelnder, erfindungsreicher Mensch mit Visionen, Kontakten, zufälligen Bekanntschaften« (S. 359) – entsprechen heute durchaus die Anforderungsprofile an professionelle GestalterInnen und legen die Vermutung nahe, dass zu den neuen Helden des Kapitalismus auch DesignerInnen zählen. Timo Meisel sprach für form+zweck mit Ulf Wuggenig, Dozent für Kunst- und Kultursoziologie, Direktor des Instituts für Kulturtheorie an der Universität Lüneburg und Ko-Leiter des »Kunstraum der Universität Lüneburg«, der sich in einer Reihe von Publikationen mit Boltanski und Chiapello, den heutigen Arbeitsbedingungen im Kulturbereich und den »Creative Industries« auseinandergesetzt hat.

>>> _41_


: u l r i kemeinhoff.tif.<

F O R M + Z W E C K Boltanski und Chiapello leiten Forderungen nach Autonomie, Kreativität, Authentizität und Befreiung aus einem Künstler(selbst)bild des 19. Jahrhunderts ab. Was hat der Lebensstil der Bohème mit den heutigen Selbstentwürfen in den »kreativen« Berufen gemeinsam? WUGGENING

Boltanski und Chiapello vertreten eine Diffusionsthese. Bestimmte Lebensstile werden in kleinen

Zirkeln von Künstlern und Intellektuellen entwickelt und verbreiten sich dann nicht nur in Feldern der kulturellen Produktion, sondern unter bestimmten Bedingungen auch in der Gesamtgesellschaft, zum Teil mit erheblicher zeitlicher Verzögerung. Studien von Daniel Bell bis zu Richard Florida1 lassen keinen Zweifel an einer Kontinuität der antibürgerlichen Boheme-Kritik des 19. Jahrhunderts und den Werten der im Aufstieg befindlichen »kreativen Klasse«. Zu dem »super-kreativen Kern« dieser neuen »kreativen Klasse«, wie es in Floridas euphemisierendem Jargon heißt, werden neben Künstler(inne)n, Architekt(inn)en, Wissenschaftler(inne)n und Softwareproduzent(inn)en u. a. auch Designer(innen) gezählt. Die gesamten Berufsgruppen der »professionellen Künstler(innen), Schriftsteller(innen) und Performer(innen)«, deren Anteil in den USA von 250 bezogen auf 100 000 Einwohner(inne)n zu Anfang des 20. Jahrhunderts auf 900 zu dessen Ende angestiegen ist, werden dabei von Florida kurzerhand unter den Begriff der »Bohemians« subsumiert. Historisch war mit diesem Begriff zunächst lediglich eine junge Avantgarde verbunden, mit selbstbestimmtem und freizügigem Lebensstil, wobei der künstlerische Erfolg noch nicht absehbar war. In einem Interview mit Boutang verwies Boltanski auf die soziale Basis der gegenwärtigen Künstlerkritik und hob zugleich eine Differenz von Sozialkritik und Künstlerkritik hervor, nämlich die Indifferenz letzterer gegenüber Fragen wie Armut, Prekarisierung et cetera: »Es ist zu beachten, dass die Künstlerkritik heute vor allem von Personen getragen wird, die im oberen Teil der sozio-kulturellen Hierarchie platziert sind, die über eine Hochschulausbildung verfügen, die häufig in kreativen Sektoren arbeiten (dem Marketing, der Öffentlichkeitsarbeit, den Medien, der Mode, dem Internet etc.), oder auch in den Finanzmärkten oder in Beratungsgesellschaften, und dass ihre Sensibilisierung für das, was am anderen Ende der sozialen Leiter vor sich geht, (...) nicht weit von Null entfernt ist.« 2


F O R M + Z W E C K Künstlerkritik findet in mehreren Spielarten statt. Welche Unterscheidungen haben Boltanski und Chiapello dafür getroffen? W U G G E N I N G Von der im Wesentlichen gegen Ungleichheit, Ausbeutung, Ungerechtigkeit und den Egoismus der Kapitalinhaber und Besitzenden gerichteten Sozialkritik, die ihre Basis in der Arbeiterklasse und deren organischen Intellektuellen hat, unterscheiden Boltanski und Chiapello zunächst zwei Hauptspielarten der Künstlerkritik. Beide sind bereits im frühen 19. Jahrhundert präsent, also zur Zeit des »ersten Geistes des Kapitalismus«, der sich auf ein Akkumulationsregime bezieht, das sich durch eine Mischung aus marktorientierten und patriarchalisch-familienweltlichen Strukturen auszeichnet. Zum einen ist dies die Kritik, die um Freiheit, Emanzipation, Selbstverwirklichung und Befreiung der Kreativität und ähnliches kreist, zum anderen die Inauthentizitätskritik. Erstere gründet in Wünschen, nicht determiniert zu sein oder zu werden, sich vom sozialen Erbe und den Plänen von Eltern, Verwandten und Lehrern zu befreien, von sozialer und regionaler Herkunft, nichts mit dem Kleinbürgertum beziehungsweise einem profan und materialistisch orientierten Bürgertum zu tun haben zu wollen, plurale Identitäten zu realisieren. Es handelt sich ursprünglich um die Verarbeitung von Ängsten angesichts des Verlusts der mäzenatischen Unterstützung durch eine im Abstieg befindliche Aristokratie und der Auslieferung an ein an banalen und profanen ökonomischen Angelegenheiten orientiertes Bürgertum, das kaum Interesse an den Künsten zeigt. Wertorientierungen dieser Art bleiben auch unter heutigen Künstler(inne)n und Designer(inne)n lebendig und darüber hinaus in weiten Kreisen, die eine akademische Ausbildung durchlaufen haben, auch wenn sie im Westen – außer in den provinziellsten Kontexten – nichts wirklich Oppositionelles mehr an sich haben. Gesellschaftliche Breitenwirkung erzielten diese individualistischen Forderungen dann insbesondere ab den 1970er Jahren, als in Frankreich und anderswo die »antiautoritäre Revolte« der 1960er Jahre im Effekt auf die Legitimierung solcher Impulse und Interessen auf breiter Basis hinauslief. Sowohl das Bildungssystem als auch – etwas später – das Beschäftigungssystem öffneten sich Freiheits- und Selbstverwirklichungsforderungen und endogenisierten damit diese Art von Kritik.

»Es ist zu beachten, dass die Künstlerkritik heute vor allem von Personen getragen wird, die im oberen Teil der sozio-kulturellen Hierarchie platziert sind ...»

Die Endogenisierung der zweiten Spielart der Künstlerkritik, der Kritik an der Inauthentizität, vollzog sich nicht so glatt. Die Inauthentizitätskritik machte sich zunächst in Gestalt einer Kritik an den heuchlerischen bürgerlichen Konventionen und Sitten bemerkbar beziehungsweise in Form der Forderung nach einer Öffnung für die »wahren Gefühle« und für »aufrichtige Beziehungen«. Zur Zeit des »zweiten Geistes des Kapitalismus« unter Bedingungen fordistischer Massenproduktion beziehungsweise im Rahmen des Wohlfahrtsstaates, der in Reaktion teils auf sozialistische, teils auf faschistische Sozialkritik eingeführt wurde, trat dieser Typus dann in Form einer Kritik an Standardisierung, Vermassung und Homogenisierung auf, insbesondere auch durch die neuen Massenmedien, wie den Rundfunk. Sie wird im Sinne der Einleitung einer Metamorphose des Kapitalismus wirksam, aber durch eine Art Metakritik der Inauthentizitätskritik durchkreuzt, die sich aus der Sicht von Boltanski/Chiapello als funktional insbesondere für die »konnexionistische« Welt der Gegenwart erweist. Boltanski und Chiapello machen als die Wortführer der Radikalkritik an der Vermassung und Standardisierung vor allem Adorno, Horkheimer und Marcuse aus, deren Kritik an der Konsumgesellschaft und an der Kulturindustrie auch in Frankreich außerordentliche Popularität gewann.

_43_


: w a l tergropius.tif.<

Obwohl Adorno auch als Künstler in Erscheinung trat, können wir an diesem Beispiel gut die Ausdehnung des Begriffs der Künstlerkritik auf philosophische Kritik erkennen, denn die »Dialektik der Aufklärung« ist zweifellos ein Werk von philosophischem Gewicht. Die Endogenisierung der Forderungen nach Differenzierung und Entmassung, die von den Frankfurtern, aber auch von anderen Autoren aus dem linken wie dem rechten Spektrum (zum Beispiel Ortega Y Gasset oder den New Yorker Intellektuellen Dwight McDonald und Clement Greenberg) ausgingen, vollzog sich nach Boltanski/Chiapello über den Weg der Ökonomisierung. Güter und Praktiken, die außerhalb des Marktes stehen, werden in Produkte umgewandelt, die über Preise am Markt erworben werden können. Um den Eindruck der Vermassung abzuschwächen, wurden den Konsumenten sich stark voneinander unterscheidende Produkte angeboten. Bei dieser Reaktion auf die gegen die Homogenisierung gerichtete Künstlerkritik kommt also eine Strategie ins Spiel, in der das Design, die formale Differenzierung und die bewusste Distinktion große Bedeutung gewinnen. Es ist dies die Phase ab den späten 1960er Jahren, in der das neue kulturorientierte Kleinbürgertum seinen Aufstieg erlebt, aber auch eine Schicht von »neuen Bourgeois« sich herauszubilden beginnt, die, wie Bourdieu dies ausdrückte, »nicht länger Banausen sind«, sondern über ein breites kulturelles Kapital verfügen. Es ist dies die Zeit, in der die statistischen Kurven des Anteils der »kreativen Klasse« beziehungsweise ihres »super-kreativen Kerns« in den USA, aber auch in anderen Ländern noch deutlicher nach oben zu weisen beginnen. Die Massenfertigung wurde unter


forciertem Einsatz des Design so verändert, dass ein differenziertes Warenangebot mit kürzerem Produktlebenszyklus offeriert werden konnte. Die »flexible Akkumulation« und die »flexible Spezialisierung« wurden eingeführt, neue und diversifizierte Formen des Begehrens durch gigantische Investitionen in Werbung, Marketing und Warenästhetik geweckt. Zugleich wurden die unterschiedlichsten Authentizitätsreserven erschlossen, zum Beispiel unberührte Landschaften durch »Abenteuertourismus«. Diese forcierten Bemühungen, Differenz zu vermarkten, leiten aus der Sicht von Boltanski und Chiapello jedoch eine neue Ära des Verdachts und der Kritik ein. Es wird zum Beispiel zunehmend unklar, ob ein freundliches Lächeln etwa eines Anbieters »echt« ist oder lediglich Teil einer Verkaufsstrategie, die subversive Attitüde eines Künstlers oder Designers ernsthaft oder lediglich eine Pose oder Teil eines zynischen Spiels. Die Dialektik der Ökonomisierung sorgt für eine Problematisierung der Authentizität von Dingen und Menschen. Dies führt zu einer Neubestimmung von Inauthentizität, die nun zunehmend mit der strategischen Erzeugung von Differenzen zu reinen Verkaufszwecken identifiziert wird. Es gibt allerdings noch eine dritte Spielart der Künstlerkritik. Diese Kritik, die unter Rückgriff auf Nietzsche und Bataille zur Zeit der Hochkonjunktur der Kritik an der Massengesellschaft in den 1960er Jahren entstand, versuchte, die ältere Vorstellung von Authentizität, wie sie etwa auch die Kritische Theorie zu verbreiten suchte, als Illusion und Einbildung zu denunzieren, als naiven Glauben an das Ursprüngliche, an Originalität, Autorschaft oder auch Schöpfung und Kreativität. Einerseits verringert diese dritte Spielart die Wirksamkeit der emanzipatorischen Variante der Künstlerkritik, andererseits schafft sie kognitive und mentale Voraussetzungen für die neueste Metamorphose des Kapitalismus. Während die authentizitätsorientierte Künstlerkritik der Frankfurter Schule aus der Sicht von Boltanski und Chiapello letztlich im Sinne eines perversen Effekts der Produktdifferenzierung und der Nischenmarktorientierung der dritten Phase des Kapitalismus zuarbeitete, wird die dritte Variante, die man als »dekonstruktive Künstlerkritik« bezeichnen kann, von ihnen in engen Zusammenhang mit der jüngsten netzförmigen Reorganisation des Kapitalismus gerückt.

F O R M + Z W E C K Könnten Sie auf die Besonderheiten des gegenwärtigen Kapitalismus, wie sie von Chiapello und Boltanski beschrieben werden, vielleicht etwas näher eingehen? WUGGENING

Auf der Ebene der Kapitalakkumulation zeichnet sich das System des gegenwärtigen Kapita-

lismus durch Produktvariation und -differenzierung aus sowie durch den großen Stellenwert, den ein globalisiertes Finanzsystem, das Internet, die Biotechnologie und Netzwerkfirmen gewinnen. Die spezifischen Anreize beziehungsweise die Attraktivität des Systems für dessen Führungskräfte liegen in der Beseitigung von steilen Hierarchien und autoritären Führungsfiguren, in der Verbreitung von »fusseligen« (fuzzy) Organisationen, in der Betonung von Innovation, Kreativität und permanenter Veränderung. Die für den »dritten Geist des Kapitalismus« charakteristischen Rechtfertigungs- und Gerechtigkeitsprinzipien beruhen auf einer neuen Form von Meritokratie, die sich insbesondere auf folgende Bewährungsproben beziehen: Hoch bewertet wird insbesondere Mobilität, und zwar nicht nur geographische, sondern auch soziale und mentale sowie damit zusammenhängend auch die Fähigkeit, Netzwerke zu generieren beziehungsweise sich in ihnen zu bewegen. Dabei stellen »Projekte«, welche die phasentypische Form der Arbeit in den avancierteren ökonomischen Sektoren charakterisieren, Gelegenheiten dar, »Beschäftigungsfähigkeit« zu entwickeln und durch beständige Generierung von neuen Projekten oder Integration in neue Projekte unter Beweis zu stellen. Dies ist die paradigmatische Bewährungsprobe in der neuen konnexionistischen Welt. »Größe« im Sinne der »économies de grandeur« von Boltanski und Thevenot3 wird in der neuen »cité par projets« dabei jenen Akteuren zugesprochen, welche Netzwerke nicht nur egozentrisch und ausbeuterisch nutzen, sondern ihre Vernetzungen und Kontakte auch anderen zur Verfügung stellen, welche Enthusiasmus erzeugen können und sich durch Adaptabilität, Mobilität und Polyvalenz auszeichnen. »Große« Personen verbessern die Beschäftigungsfähigkeit von »kleinen«, als Gegenleistung für deren Vertrauen und den Enthusiasmus, den diese in Projekte investieren. Der Weg zu einem minderen Status führt hingegen über die Internalisierung von Vorurteilen, von Intoleranz und Autoritarismus, über starke Bindungen an die eigenen Wurzeln, über Rigidität, Unfähigkeit, sich zu involvieren, Vertrauen in andere auszubilden sowie über den Mangel an kommunikativen Kompetenzen. Das System bietet schließlich Sicherheiten in erster Linie für Mobile und zur Anpassung Fähige an, wobei die Firmen Ressourcen zur Selbst-Hilfe zur Verfügung stellen und das »Selbstmanagement« zu einem zentralen Leitbild wird.

>>> _45_


>>>

Im Unterschied zu anderen Gegenwartsdiagnosen wird die Herausbildung der netzförmigen und projekt-

orientierten Produktions- bzw. Arbeitsweise als eine Reaktion auf »Marktversagen« interpretiert, auf den mit der Ausbreitung von Marktbeziehungen einhergehenden zunehmenden interpersonellen Vertrauensverlust. Dies sind Gedanken, die nicht nur im Gegensatz zu der im politischen Bezugsrahmen letztlich marktfixierten Gouvernementalitätstheorie im Anschluss an den späten Foucault stehen, sondern auch zur neoliberalen Doxa selbst.

»Die romantische Repräsentation des Künstlers wie auch die entsprechende Spielart der Künstlerkritik geraten im Wesentlichen durch die Untergrabung ihrer Autorität in die Krise.» : j a n tschichold.tif.<


F O R M + Z W E C K Warum ist angesichts dieser Bedingungen die Künstlerkritik in der Krise und warum erscheint sie nachgerade funktional zu sein für den netzwerkartigen, den »konnexionistischen« Kapitalismus? W U G G E N I N G Der dekonstruktiven Kritik ist gemeinsam, dass mit dem verantwortlichen Subjekt gebrochen wird. Gemäß den älteren Theorien – auch Sartres Existenzialismus wäre in diesem Zusammenhang noch zu nennen – steht das Subjekt vor der Alternative zwischen Authentizität und Inauthentizität. Die romantische Repräsentation des Künstlers wie auch die entsprechende Spielart der Künstlerkritik geraten im Wesentlichen durch die Untergrabung ihrer Autorität in die Krise. Roland Barthes und Michel Foucault verkündeten noch in den 1960er Jahren zur Zeit des Höhepunkts des Einflusses von Adorno den »Tod des Autors«. Zugleich wurde der mythifizierende, stark religiös konnotierte Gebrauch der Begriffe des »Schaffens« oder der »Schöpfung« denunziert. Sie machten aus dem Künstler eine Art ex nihilo schaffenden Gott und verliehen seinen Rollen und Werken – in denen sich das Sein schlechthin offenbaren sollte – einen sakralen Charakter. Kritisiert wurde darüber hinaus der verschwommene und obskure Charakter von damit eng zusammenhängenden Konzepten wie »Inspiration« und »Kreativität«. Diese Kritik gewann in bestimmten künstlerischen Feldern außerordentlichen Einfluss. im Feld der Bildenden Kunst wurden – sicherlich auch über Walter Benjamin vermittelt (»Der Autor als Produzent«) – etwa Konzepte wie »Schaffen«, »Schöpfung« oder »Werk« durch »Herstellen«, »Produzieren« oder »Arbeit« ersetzt, wodurch die Arbeit hervorgehoben werden sollte, die mit künstlerischer Praxis verbunden ist, auf Kosten von angeblicher Kreativität oder Inspiration. Soziologen enthüllten in ihren Varianten der These vom Tod des Autors das künstlerische Schaffen als einen sozialen Prozess und sprachen dem Künstler seine Zentralität ab, indem sie aufzeigten, dass selbst die individuellste, künstlerische Tätigkeit der Vermittlung und Einwirkung einer Vielzahl von Akteuren bedarf. Der in Paris stark rezipierte Howard S. Becker, ein symbolischer Interaktionist und selbst Künstler, versuchte in seinem Hauptwerk »Art Worlds« (Berkeley 1982) den Nachweis zu führen, dass die auch von jüngeren Autoren der Frankfurter Schule4 gerne als höchst individuelle Angelegenheit verstandene Produktion von Kunst nichts anderes als eine Form des kollektiven Handelns ist. Pierre Bourdieu wiederum warf die Frage auf, wer denn den »Schöpfer geschaffen« habe und unternahm es, zu zeigen, dass der Wert des künstlerischen Werkes nicht vom Künstler, sondern vom künstlerischen Feld insgesamt erzeugt wird. Die romantische Definition des Künstlers geriet auf diese Weise ins Wanken. Mit der Dezentrierung wurde die Autorität des Künstlers untergraben und bot folglich eine wesentlich schwächere Basis, um Kritik zu üben, als in jener Zeit, in der er als »Genie« und »Schöpfer« verstanden wurde. Von Roland Barthes wurde der Leser und Rezipient zu Lasten des Autors gefeiert, ein weiterer Aspekt von dessen Dezentrierung und Autoritätsverlust. Der ältere Authentizätsbegriff implizierte noch ein Sich-Treubleiben, einen Widerstand des Subjekts gegen den Druck von Anderen und ein Verständnis von Wahrheit im Sinne einer Konformität gegenüber einem Ideal. Die Forderung nach Authentizität wurde von der dekonstruktiven Kritik in ihren alltäglichen Erscheinungsformen in einer Weise diskreditiert, dass sie anachronistisch und lächerlich wirkte. In den intellektuellen Subfeldern der Bildenden Kunst, in welche der Jargon des Poststrukturalismus und der kritischen Feldtheorie von Bourdieu mit Macht eindrang, werden aus solchen Gründen zum Beispiel Begriffe wie »Kreativität«, »Werk« oder »Schöpfung« bereits seit langem nicht mehr gebraucht. Vor dem Hintergrund der Radikalkritik am Ursprünglichen, Authentischen und Originellen wirken sie lächerlich, genauso wie die Begriffe der »Kreativität«, der »kreativen Klasse«, der »kreativen Ökonomie« oder der »kreativen Industrien« , wie sie von Richard Florida und anderen Ökonomen wie Richard E. Caves oder John Howkins heute in einer naiven Weise gebraucht werden. Wie eine unfreiwillige Parodie muss der dekonstruktiven Künstlerkritik etwa folgender Satz aus einer aktuellen ökonomischen Studie über Design und Creative Industries erscheinen, zumal er sich gleich einer Serie der verspotteten Begriffe bedient: »Im kulturellen Kontext ist das Ergebnis der Kreativität ein Original, das durch die Anstrengungen des Kreativen selbst erzeugt wurde und welches sich grundsätzlich von bereits vorhandenen Schöpfungen unterscheidet.«5 Durch seine Tabuisierung im Feld der Kunst erhielt ein Konzept wie das der Kreativität die Konnotation eines Begriffs der Felder von Design und Werbung. Der Verzicht auf ihn dient im künstlerischen Feld im engeren Sinn somit auch der Distinktion gegenüber Feldern der kulturellen Produktion, die als heteronom und kommerziell betrachtet werden. Bekräftigt wird auf diese Weise die symbolische Hierarchie zwischen kommerziell orientierten Künstler(inne)n, die beanspruchen »kreativ«, »schöpferisch« und »originell« zu sein, und den »eigentlichen« Künstler(inne)n, die vom »Herstellen« und »Produzieren« beziehungsweise dem »Arrangieren« von Artefakten sprechen, oder auch von künstlerischer oder kultureller »Praxis«.

>>> _47_


Boltanski und Chiapello nehmen derartige Dekonstruktionen einer älteren romantischen Künstlerkritik wie auch die Verherrlichung von Differenz und von Nomadentum etwa bei Deleuze auf und bringen diese schließlich in engen Zusammenhang mit den mentalen und habituellen Voraussetzungen der Behauptung in einer vernetzten Welt. In dieser konnexionistischen Welt erscheint ein sich und anderen Treu-Bleiben als geistige Unbeweglichkeit, Immobilität als eine Grundlage für Marginalisierung, und Wahrheit, definiert als Identität zwischen Repräsentation und Original, als ein Verkennen der endlosen Variabilität der Netzeinheiten, die sich im Kontakt mit Anderen unablässig verändern. Diese neue netzförmige und projektförmige Welt wird von Boltanski und Chiapello keineswegs gefeiert, sondern mit größten Vorbehalten betrachtet, zumal sie aus ihrer Sicht mit neuen Formen von Ausbeutung verbunden ist, die noch kaum durchschaut werden. Sie nehmen einen Kapitalismus wahr, der zwar ökonomisch funktioniert und einen Aufschwung erlebt, in sozialer Perspektive jedoch Prekarisierung, Armut und eine soziale Ungleichheit forciert, welche nicht nur intranational, sondern insbesondere auch im Weltmaßstab beständig zunimmt, und der auch ganz neue Formen der Ausbeutung mit sich bringt. Darauf wie auch auf die Zerstörung der gesellschaftlichen Vertrauensgrundlagen durch die voranschreitende Ökonomisierung wird von Boltanski und Chiapello keineswegs fatalistisch reagiert. Sie fordern vielmehr eine Erneuerung sowohl der Sozial- als auch der Künstlerkritik.

F O R M + Z W E C K Worin bestehen Ansatzmöglichkeiten für eine Erneuerung von Sozial- und Künstlerkritik? WUGGENING

Ich kann darauf nur in allgemeiner Form eingehen. Zunächst ist zu betonen, dass eine Allianz

zwischen den beiden Kritikformen für wichtig gehalten wird, weil jede die Exzesse der anderen mäßigen kann. Die Sozialkritik tendiert zu einer Überbewertung der Gleichheit, die Künstlerkritik, welche keine Probleme mit der Differenz hat, ist tendenziell elitär und sozial indifferent. Was die Organisationsformen der Kritik im Rahmen sozialer Bewegungen betrifft, wird das Vorbild des avancierten Kapitalismus, also eine netzförmige Organisation und punktuelle Projektorientierung, wie sie in der Bewegung für eine alternative Globalisierung teilweise sichtbar wurde, durchaus als Referenzpunkt und als neues Modell anerkannt. Was die inhaltliche Seite der Kritik betrifft, so sind in den Arbeiten von Boltanski und Chiapello gewisse Differenzen zu erkennen. Chiapello setzt meines Erachtens auf eine Erneuerung eines wichtigen Aspekts der romantischen Künstlerkritik, nämlich auf die Idee, dass das Kunstwerk als ein Gut mit intrinsischem Wert zu begreifen ist. Durch die Stärkung und Generalisierung dieser Art von – um mit Weber zu sprechen – »Wertrationalität« erhofft sich die Ökonomin die Schaffung einer wichtigen Grundlage für die Bekämpfung der um sich greifenden Ökonomisierung und Kommodifizierung. Boltanski unterstreicht die neuen Formen von Ausbeutung, Exklusion und Marginalisierung in der konnexionistischen Welt, die er vor allem über die Verherrlichung der Mobilität und entsprechender Leitbilder vermittelt sieht. Dabei sind Mobilität und Flexibilität eng verbunden, wofür Chiapello eine einprägsame Formel gefunden hat: »Das Gegenstück der Mobilität des Ausbeuters ist die Flexibilität des Ausgebeuteten«. Angesichts der Bedeutung der Mobilität schlägt Boltanski in einem mit Cécile Blondeau und Jean-Christophe Sevin 2004 geführten Gespräch vor, die Künstlerkritik von der Forderung nach Mobilität zu entkoppeln, mit der sie seit dem 19. Jahrhundert aufgetreten ist. Daraus würde ich gerne ein paar Sätze zitieren, weil sie Boltanskis Position auf den Punkt bringen. Der erste lautet: »Die Verbindung der Befreiung vom Kapitalismus und der Mobilität ist nicht mehr möglich in einer Epoche, in der die Forderung der Mobilität eines der favorisierten »mots d’ordre« bildet und wo die neuen Helden der Herstellung von Profit sich selbst als »Nomaden« präsentieren und die Merkmale verkörpern, die sonst von den Künstlern beansprucht wurden.« Dies wird vor dem Hintergrund eines Modells der Ausbeutung ausgesprochen, zu deren zentralen Achsen Eigentumsdifferentiale, aber auch Differentiale der Mobilität gehören. Die Regel des Spiels besteht gemäß der vertretenen Netzwerk-Theorie darin, für jeden Akteur in der Kette, die zur Akkumulation führt, die Kosten und Handicaps auf die weniger Mobilen zu übertragen. Auf dieser Grundlage entwickelt sich heute eine neue privilegierte Klasse, die sich wesentlich auf Mobilität stützt, nicht nur geographisch, sondern auch im Bereich der Beziehungen und der Ideen, eine Klasse, die Meisterschaft entwickelt hat in der Kunst, Profite aus einer Netzwelt zu ziehen. Sie stellt zugleich eine ausbeuterische Klasse dar, welche neue Möglichkeiten der Zerstörung des Gemeinwohls nutzt. Unter die beruflichen Leitbilder dieses mutierten Kapitalismus reiht Boltanski im übrigen auch ausdrücklich das des Designers ein, was vielleicht zu denken geben sollte: »Man sollte (…) aufhören, den jungen befreiten und mobilen Designer, der seine Zeit zwischen London, New York und Paris verbringt, als einen subversiven Helden im Gegensatz zum ländlichen Handwerker anzusehen


oder zum kleinen Kader aus der Provinz. (…) Jener ist im Effekt der erste, der am stärksten in den Kapitalismus von heute eingebunden ist, während sich letzterer im Abstieg befindet und bedroht ist, was schreckliche Reaktionen auslösen kann, wie Nationalismus oder Rassismus.«6 Ausgangspunkt ihrer Analyse sind die Jahre um 1968 in Frankreich, in der sich die zwei teilweise antagonistischen Hauptströmungen der Kapitalismuskritik – die »Sozial-« und die »Künstlerkritik« – zu einer Allianz verbündeten. Forderungen der Sozialkritik nach mehr Gleichheit und Gerechtigkeit wurden Seite an Seite mit Forderungen der Künstlerkritik nach mehr Autonomie, Kreativität, Authentizität und Befreiung formuliert. Anhand eines Korpus von Managementliteratur aus den 1960er und 1990er Jahren arbeiten Boltanski und Chiapello heraus, wie die Vereinnahmung der Kritik zu einer netzförmigen Organisation avancierter ökonomischen Felder und zu einer projektorientierten Produktions-, aber auch Rechtfertigungslogik beigetragen hat. Dem Idealbild des Neomanagers, wie es Boltanski und Chiapello aus der Managementliteratur herauslesen – ein »kreativer, intuitiv handelnder, erfindungsreicher Mensch mit Visionen, Kontakten, zufälligen Bekanntschaften« (S. 359) – entsprechen heute durchaus die Anforderungsprofile an professionelle GestalterInnen und legen die Vermutung nahe, dass zu den neuen Helden des Kapitalismus auch DesignerInnen zählen.

<<<

1

Daniel Bell vertrat eine solche, gegen die Gegenkultur der 1960er Jahre gerichtete Diffusionsthese aus neo-konservativer Perspektive in »The Cultural Contradictions of Capitalism«, NYC 1974. Heute findet man die Diffusionsthese mit konträrer Bewertung zum Beispiel in der Studie des neoliberalen Ökonomen Richard Florida »The Rise of the Creative Class«, NYC 2004, die in den USA zu einem Bestseller aufstieg. 2 Vgl. Der Ökonom Yann Moulier Boutang, der über das von Marion von Osten herausgegebene Buch »Norm der Abweichung«, Zürich 2003 auch im deutschsprachigen Raum mit einer Zusammenfassung seiner Studie über den an immaterieller und affektiver Arbeit orientierten »kognitiven Kapitalismus« hervorgetreten ist, führte in der von ihm herausgegebenen französischen Zeitschrift »Multitudes« (Nr. 3, 11/2000) ein ausführliches Interview mit Boltanski und Chiapello. 3 Vgl. Luc Boltanski und Laurent Thévenot, De la justification, Paris 1991. 4 wie etwa Peter Bürger in seiner »Theorie der Avantgarde«, Fft. / Main 1974. 5 Petra Schleich, »Creative Industries und regionale Innovationssysteme«, Graz 2005. 6 Cécile Blondeau und Jean-Christophe Sevin (Hg.), Entretien avec Luc Boltanski: Une sociologie toujours mise à l’lépreuve. In: ethnographiques org, Nr. 5, April 2004.

: l eniriefenstahl.tif.v

_49_


In den fünfziger Jahren musste der Rasen auf dem Hof der Berliner Kunsthochschule noch mit der Sense geschnitten werden. Obwohl der Hausmeister sich mühte, blieb die Sense immer wieder in der Erde, einmal sogar in einem Baum stecken. Selmanagic kam, wie immer im Flanellanzug, mit weitem Mantel und Hut, dazu. Er sah sich das an, zog den Mantel aus, schob den Hut zurück, sagte »Hast Du nicht gelernt, mit der Hand arbeiten?« und mähte das Stück mit Leichtigkeit und großer Eleganz. Selman Selmanagic hatte das Hochschulgebäude entworfen und war ebendort Professor für Architektur. Nach dem Studium am Bauhaus und einer Zeit der Wanderschaft durch Länder des Mittelmeeres, machte er sich einen Namen durch seine im Einfluss oft unterschätzte Mitarbeit im Kollektiv »Berlin plant«, das viele heute nur noch mit dem Namen Scharoun in Verbindung bringen. Man könnte meinen, aus diesen frühen Zeiten sind bestenfalls Anekdoten geblieben. Beginnt man jedoch, sich mit Selmanagic zu beschäftigen, den Geschichten seiner Schüler über ihn zuzuhören, seine Zeichnungen zu lesen, die wenigen, von ihm entworfenen und erhalten gebliebenen Bauwerke genauer anzusehen, gewinnt man nicht nur den Blick auf eine charismatische Persönlichkeit. In allem, was Selmanagic tat, schwingt die Vorstellung von einer Gemeinschaft, in der sich jeder verantwortlich und vorausschauend verhalten kann und muss. Simone Hain, Inhaberin der GropiusProfessur an der Bauhaus-Universität in Weimar, beschreibt in ihrem Aufsatz die Entwurfshaltung eines Architekten, der sich zutiefst dem Ideal der Gemeinschaft verpflichtet fühlte.

GEGENDIE D I K TAT U R D E S AU G E S


: Studentenausweis von Selman Samanagic, schon schon aus der Berliner Zeit des Bauhauses.tif.>

_51_


Wann wird der Mensch begreifen, dass mit privat überhaupt nichts weiter geht? Alles schlecht verteilt. Klassenkampf ist eben mehr, als die Kapitalisten enteignen ... >>>

Der Markt muss aus den Köpfen, diese ganzen

Da gab es keine Hierarchien an der Schule. Alle wussten

konservativen Ideen von ‚Mein‘ und ‚Dein‘ und die ste-

was. Wie überhaupt jeder Mensch eine Idee hat und

te Verführung über das Auge. Tausend Jahre schon lässt

Spezialist für irgend eine Frage ist, zum Beispiel die Putz-

sich der Mensch betrügen, weil er den Kopf nicht ein-

frau. Mies hat die Putzfrau einbezogen. Du musst als Ar-

schaltet, bevor er kauft. Wir haben auf den Kopf gesetzt.

chitekt nur aufpassen, dass du die Machtfrage nicht aus

Das hat uns der Teige aus Prag beigebracht. Grundsätz-

den Augen verlierst. Du musst in allem Spezialisten be-

lich alles in Frage stellen und erst mal gründlich unter-

fragen. Aber am Ende hast du den Hut auf. Das darfst du

suchen. Architektur als Umprogrammierung - das war

dir nicht nehmen lassen. Du musst unterschreiben, dass

unser Klassenkampf. Die ganzen Unterschiede in der

die Sache gründlich geprüft ist. Natürlich müssen die

Welt. An welcher Stelle kann man Verallgemeinern, wo

Raumprogramme vor Ort entwickelt werden, das musst

geht es nicht? Glaub mir, das war oft ein Herumgeschreie,

du mit denen dort klären, nur sie können dir sagen, wie

damals am Bauhaus. Die Entwürfe wurden mit Kreide

sie das haben wollen. Nicht die im Ministerium. Hast du

auf den Fußboden gezeichnet und dann musste man sei-

das Programm, hast du die halbe Architektur.

ne Sache verteidigen. Die Meister haben dabei von den

Kompilation aus aufgezeichneten Gesprächen zwischen

Schülern gelernt. Es entstand immer alles in Rede und

Selman Selmanagic und Siegfried Zoels durch die

Widerrede.

Autorin.

:TISCHLER, ARCHITEKT UND REVOLUTIONÄR. Als Selman Selmanagic Ende der siebziger Jahre den

Er stand in dem hohen Ansehen, ganz und gar ein Bau-

Vaterländischen Verdienstorden der DDR in Gold erhielt,

häusler zu sein und lebte seinen Studenten einen un-

hatte der antragstellende Kulturminister das mit um-

kompromittierbaren Kommunismus vor - er war KPD-

fassenden »revolutionären, künstlerischen und päda-

Mitglied seit 1930 -, den selbst Gegner nur bewundern

gogischen Verdiensten« begründet. Für Selmanagic,

konnten. Als Problematisierer blieb Selmanagic- in Wei-

der den gesunden Menschenverstand zur wichtigsten

ßensee ohnehin peripher zum bau- und designpoliti-

Gestaltungsgrundlage erhoben hatte und selber ohne

schen Hauptgeschehen - eine Herausforderung für alle,

Schnörkel sprach, sind die einfachsten Worte die besten:

die sich irgendwann angekommen wähnten. Von seiner

»Seine Arbeit hat Geschichte gemacht und orientierte

künstlerischen Prägekraft zeugen vor allem die Möbel,

auf allen Gebieten auf eine kommunistische Zukunft«.

die in einem umfassenden Sinne unausweichlich waren

Was ihn vor seinen Fachkollegen auszeichnete, was

und über vier Jahrzehnte das semantische System der

ihn in der DDR Architekturgeschichte gar zur Ausnah-

DDR wesentlich mit bestimmten. Allen Widerständen

meerscheinung werden ließ, ist sein unideologischer

zum Trotz hat er als Hausarchitekt der Hellerauer Werk-

Radikalismus, seine geistige Unabhängigkeit und sein

stättenden sächsischen Traditionsbetrieb gemeinsam

impulsiver Widerspruchsgeist. Selmanagic war ein Ar-

mit Franz Ehrlich langfristig zur - ebenso Beispiel

chitekt mit revolutionären Ideen, er strebte beharrlich

gebenden wie massenhaft angenommenen - ästheti-

nach Kooperationen mit den Nutzern und den betei-

schen Instanz der ostdeutschen Moderne gemacht. Als

ligten Gewerken und erklärte Gestaltung zu einer An-

kaum bewusst gemachter Gruß vom Bauhaus zogen

gelegenheit, über die grundsätzlich jeder kompetent

seine Möbel zur Wende der fünfziger Jahre in fast jede

mitreden könne - und müsse. Das sprengte nicht allein

Wohnung ein. Auch gibt es wohl keinen Studenten in

das bürgerliche Selbstverständnis, sondern war auch ein

dieser Zeit, der nicht irgendwann einmal auf einem

Kontrastprogramm zu den staatlich hochdotierten Meis-

Selmanagic-Seminarstuhl gesessen hätte und kaum

terarchitekten und Industrialisierungstechnokraten an

ein Forschungsinstitut, das nicht mit der markanten

der Deutschen Bauakademie, denen Stefan Heym und

Chefzimmergarnitur des Architekten ausgestattet gewe-

Brigitte Reimann literarische Denkmale gesetzt haben.

sen wäre. Von seinen Bauten ist wenig geblieben.


:SELMAN SELMANAGIC. 1905 geboren in Srebrenica/ Bosnien

1919-29 Tischlerausbildung, Bau- und Möbeltischlermeister in Jugoslawien

1929-33 Architekturstudium am Bauhaus in Dessau und Berlin bei Ludwig Hilberseimer und Mies van der Rohe

1933-39 Reisen in verschiedene Länder Europas, Nordafrikas und Vorderasiens, als Architekt in Konstantinopel, Jaffa und Jerusalem

1939-45 Kinobau und Filmarchitekt bei der Ufa, aktive Teilnahme am Widerstandskampf in Berlin

1945-50 Mitglied des Stadtplanungskollektivs beim Magistrat von Groß-Berlin, gleichzeitig architektonische Entwurfsarbeit

seit 1945 Hausarchitekt des VEB Deutsche Werkstätten Hellerau

seit 1946 wiederholt im Ausland als Messearchitekt

1950 Professur 1950-70 Leiter der Architekturabteilung an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee, gleichzeitig städtebauliche und architektonische Entwurfsarbeit

1985 Designpreis der DDR

198.. Vaterländischer Verdienstorden in Gold

>>> _53_


>>>

Ein Kino am Bahnhof Zoo hat nur einen einzi-

Reorganisation und Neuordnung der Kultur und der Erho-

gen Tag gestanden, ehe es während des Krieges durch

lung im zentralen Bereich, in den Wohngebieten und an

Bomben zerstört wurde. Ein Stadion wurde nach der

den Arbeitsstätten sowie die raumplanerische Analyse

deutschen Wiedervereinigung abgebrochen, ein Plan

der stadtnahen Landschaften im Umkreis von 60 Kilo-

für eine neue Stadt ist Rudiment geblieben. Andere

metern. Weit über den Pragmatismus der unmittelbaren

Arbeiten, wie seine Entwürfe zum Wiederaufbau des

Existenzsicherung der in Trümmern liegenden Metropole

Brandenburger Tores und zahlreicher Gebäude der

hinaus bedeutete der »Kollektivplan« einen Versuch, in

Humboldt-Universität aus den ersten Jahren nach dem

die Zukunft einer hoch produktiven Volkswirtschaft zu

Krieg sowie die Pläne für die Pionierrepublik am Wer-

sehen, die als wichtigste Ressource über Räume voller

bellinsee harren noch einer sicheren baugeschichtlichen

Zeit verfügen kann. Die Zukunft, die Selmanagic vorweg

Überprüfung und Zuordnung. Dies alles beiseite, wird

nahm und - buchstäblich - plastisch ausmalte, war eine

man von Selmanagic, vor allem wegen jener Planung

Gesellschaft, in der in großem Umfang Arbeitskräfte aus

sprechen, die als »Kollektivplan« Geschichte geschrieben

der industriellen Warenproduktion freigesetzt würden,

hat. Dieser von sieben Bearbeitern unter Protektion

um in die Sphäre der kulturellen Werteproduktion ein-

und partieller Mitwirkung von Hans Scharoun erarbei-

treten zu können. Zeitlebens beschäftigte Selmanagic

tete Plan für den radikal stadtverändernden Wieder-

die damit verbundene Frage, welchen gesellschaftlichen

aufbau der vormaligen Reichshauptstadt Berlin ist ein

Gewinn und welche Freuden die Menschen daraus zu zie-

wichtiger Schlüssel für das Verständnis der deutschen

hen vermöchten, dass sie bei hoher Arbeitsproduktivität

Architekturgeschichte im 20. Jahrhundert - und kann als

mehr freie Zeit zur Verfügung hätten. Die gute Seite der

eine der großen sozialräumlichen Utopien der Moderne

Maschine - für Selmanagic bedeutete sie in einem sehr

betrachtet werden. Selmanagics Beitrag dazu war die

umfassenden wie greifbaren Sinne Emanzipation.

:Mies van der Rohe mit Studenten am Bauhaus, ganz rechts Selmanagic.tif.<


»Die Bauhausleute ignorieren nicht die gesellschaftlichen Umgestaltungen unserer Zeit, sondern sie leben und kämpfen mit diesen Problemen, sie haben ein soziales Gewissen. Das ist ihre Stärke.«1

:VON SREBRENICA ANS BAUHAUS. Selman Selmanagic wurde - dem Papier nach - am 25. April

Bildungsversprechen für die Allgemeinheit. »Das Groß-

1905 in Srebrenica (tatsächlich aber in Konstantinopel)

artige am Bauhaus ist, dass der pädagogische Aufbau

in eine alte bosnische Adelsfamilie mit namhaften os-

dieser Lehranstalt einen solch fähigen und schöpferi-

manischen Repräsentanten hinein geboren. Nach der

schen Geist erkennen lässt. Schüler und Lehrer sind ein

Enteignung durch den serbischen Staat lebte die ver-

Kollektiv, eine Arbeitsgemeinschaft schönster Art. Das

armte Familie von der Landwirtschaft und bewirtschaf-

dialektische Streiten in der Politik findet am Bauhaus

tete das verbliebene Land selber. Selmanagic erlernte

eine Parallele im Experimentieren der Gestalter. Dem

vom 14. Lebensjahr an das Tischlerhandwerk und arbei-

Schüler wird nicht das Brett »Spezialist« vor die Stirn

tete auf dem Feld mit.

genagelt, sondern er wird gezwungen, von großen Gesichtspunkten aus, den Sinn seiner Arbeit zu studieren.«

Das bedeutete schwere körperliche Arbeit, denn Ma-

schrieb zum Beispiel der Hallesche Architekt und kom-

schinen kannte man in dem rückständigen Landstrich

munistische Abgeordnete Martin Knauthe im Jahr 1926

nicht. Der Wunsch, sich aus der kraftraubenden Arbeit

in der Zeitschrift Klassenkampf über das neu eingeweih-

zu befreien, wurde zur Sehnsucht seiner Jugendjahre.

te Dessauer Bauhaus. Und weiter: »Die Bauhausleute

Etwa zur selben Zeit als Charlie Chaplin mit einem mehr

ignorieren nicht die gesellschaftlichen Umgestaltungen

als besorgten Blick auf die Folgen der Automatisierung

unserer Zeit, sondern sie leben und kämpfen mit diesen

Modern Times dreht, träumte sich der junge Mann in

Problemen, sie haben ein soziales Gewissen. Das ist

eine der großen mechanisierten Möbelfabriken und

ihre Stärke.« Schon nach kurzer Zeit hatte auch Selma-

brach schließlich auf, um der Zukunft entgegen zu gehen.

nagic jene soziale, kulturelle und erzieherische Missi-

Auf der Bahnfahrt nach Berlin hatte ihm ein Mitreisen-

on verinnerlicht. Für ihn persönlich verband sich schon

der von der Fortschrittlichkeit und Technikorientierung

bald die Frage nach der Neuordnung des Lebens mit

des Dessauer Bauhauses erzählt. So ist es nicht verwun-

dem Ziel der planvollen Entlastung von schwerer Ar-

derlich, dass ihn sein präzise benennbares Interesse

beit und gegenständlichem Ballast sowie allgemeiner

dorthin führte. Während der kulturkritische Fordismus-

Teilhabe am Gesellschaftlichen. Die völlig neuen, freien

diskurs unserer Tage meist ignoriert, dass die Arbei-

Lebensweisen städtebaulich und raumkonzeptionell

tenden selbst ein Interesse an der fortschreitenden

zu antizipieren, erschien ihm als schwierigste und reiz-

Industrialisierung hatten, dass sie die Mechanisierung

vollste Zukunftsfrage. Wozu werden die Menschen auf

als Mittel der Wahl betrachteten und sich künstlerisch-

dem Gipfel der industriellen Entwicklung befreit?

technischen Modernisierungsbewegungen wie dem

Welchen menschlichen Sinn hat die stete Rationalisie-

Neuen Bauen anschlossen, wurde das Bauhaus seiner-

rung, welchen kulturellen Wert die technische Moder-

zeit gerade auch in der mitteldeutschen Arbeiterschaft

nisierung? Vor allem: Was wäre ein Raumprogramm

willkommen geheißen. Vor allem das zugrunde liegen-

für jene Zeit, in der - etwa ein halbes Jahrhundert vor-

de Schulmodell der sogenannten Arbeitsschule mit

aus - die Rolle der Arbeit im Leben der Menschen

Werk- und Formunterricht galt als ein zukunftsfähiges

nachlässt?

>>> _55_


:VOLKSBEDARF, PLANWIRTSCHAFT UND DIE HEILSAME WIRKUNG DER SINNE. >>>

Die Jahre am Bauhaus, das Selmangic 1933 bei

gesehenen 20 000 Einwohner sollten in Kommunen und

Mies van der Rohe mit dem Bauhausdiplom Nr. 100 ab-

Boardinghäusern zusammenleben. Im Mittelpunkt der

schloss, haben ihn nachhaltig geprägt. Er erlebte Hannes

Anlage - Raum der freien Zeit gewissermaßen - standen,

Meyers programmatische Wende von der elitären Stilarchi-

noch ergänzt durch dezentrale Klubhäuser, die vielfäl-

tektur der Meisterhäuser hin zum ebenso fabrikmäßig

tigsten Gemeinschaftseinrichtungen: Sportanlagen,

wie regionalistisch anmutenden Mauerwerksbau und die

darunter eine Schwimmhalle und ein Freibad, ein The-

nahezu expotentielle Erweiterung der Grundlagenfächer,

ater- und Kinogebäude, ein Versammlungssaal und ein

zu denen nun auch Botanik, Geologie und Gestaltpsy-

kleineres Cafe. Der Plan wies mit einer separierten

chologie gehörten. Hermann Duncker unterrichtete

Kinderstadt auch im pädagogischen Bereich ein sozial-

Grundlagen des Marxismus und gab eine Einführung in

räumlich experimentelles Element aus. Das Privatleben

Planwirtschaft, was die kommunistischen Studenten am

und die Pflege der Kinder waren von belastenden Repro-

Bauhaus zu weiterreichenden Studien anregte. Betreut

duktionsarbeiten befreit, die größeren Kinder sollten in-

durch Ludwig Hilberseimer erarbeitete Selman Selma-

nerhalb der Siedlung in eigenen Internaten leben. Diese

nagic 1932 im studentischen Kollektiv Sozialistischer

auf soziologischen Studien und Befragungen in Arbei-

Architekten eine Planung für die Junkerssiedlung in

terhaushalten beruhende Planung, die Selmanagic (im

Dessau »unter sozialistischen Bedingungen«. Die vor-

Bezug auf den traditionellen Familienverband weniger


: Wohnhaus in Jerusalem für 17 Familien, 1937.tif.<

radikal) später immer wieder - zuletzt für den Entwurf

seiner Gastkurse am Bauhaus eines Besseren beleh-

der Neustadt Schwedt - aktualisieren sollte, gilt heute

ren durfte. »Es war ein herrliches Ringen« erinnerte

als die letzte große soziale Utopie aus dem Bauhaus und

sich Dürckheim später gern an den stärksten Triumph

zeigt das damalige Ideal des kollektiven Entwurfes am

seines Lebens, »bei dem ich lernte, dass das Anklingen-

deutlichsten. Auch in der Berliner Zeit des Bauhauses

lassen qualitativer Erlebnisse letztlich eine rein rationale

setzte die Gruppe ihre empirischen Untersuchungen in

Argumentation aus dem Felde schlägt.« Aufgrund dieser

Berliner Arbeitervierteln wie dem Prenzlauer Berg fort,

Begegnung und dank seines großen Interesses an den

womit sich Selmanagic ohne es noch zu ahnen eine

Malern Kandinsky, Klee und Muche, war Selmanagic`s

gewisse Grundlage für die Nachkriegsplanung erwarb.

Funktionalismus kein einseitig utilitaristisches Programm, sondern eine Methode, die gerade den synäs-

Besonders stark beeinflusst wurde Selmanagic von

thetischen Elementarerlebnissen bei der Gestaltwahr-

dem tschechischen Gastdozenten Karel Teige, von dem

nehmung eine Schlüsselfunktion zuwies. Dass man

er nicht nur das Wissenschaftsparadigma und die For-

gleichzeitig hört, riecht, auf der Haut Wärme oder Luft-

derung nach Kollektivierung der Entwurfsarbeit über-

bewegung spürt, wenn man durch einen Raum navi-

nahm. Nachhaltig hat ihn vor allem Teiges vehemente

giert und nacheinander verschiedene Objekte optisch

Stellungnahme gegen die Architektur als primär visuell

fixiert - und wie man dies alles zu einer metaphysi-

rezipiertes Phänomen geprägt. Teige hatte sich 1929/30

schen Erlebniseinheit verbindet - das hatte Selmanagic

in einer heftigen Polemik mit Le Corbusier gegen dessen

gelernt.

augenwirksame Monumentalisierungsbestrebungen gewandt und statt der künstlerisch-intuitiven Poetisierung

Wenn alles ineinander fließt, möglichst alle Sinne an-

des Entwurfes kognitiv streng kontrollierte Entscheidun-

gesprochen sind, so würde man nach Dürckheim`s

gen für eine instrumentell verstandene Architektur ge-

überzeugender Darstellung in einer Weise befriedigt,

fordert. Mit ihm ging Selmanagic davon aus, dass die

die man als wirkliche und heilsame Befreiung, als

demiurgische Rolle des großen Meisterarchitekten, der

Selbstentdeckung erleben könne. Durch Dürckheim`s

sich Kraft seiner Inspiration eben mal eine neue Form

Unterweisung auf seine eigene Empfindsamkeit hinge-

ausdenkt, völlig anachronistisch sei. Vielmehr sei alles

wiesen, konnte Selmanagic schließlich voller Überzeu-

Entwerfen ein lang andauernder zivilisatorischer Pro-

gung die Auffassung vertreten, jeder, buchstäblich jeder

zess, in den sich kollektive Erfahrungen, gesicherte

Mensch habe eine Idee von der Gestaltung der Welt.

Erkenntnisse wie individuelle Erfindungen anonym

Hier vermutlich wurzelte seine ganz eigene Weise,

einschrieben. »Die Architektur hat den Mammutkörper

seinen in Entwurfskrisen fest steckenden Studenten

der Form verlassen und kultiviert ihr Gehirn: Statt Mo-

durch scheinbar abwegige Erzählungen über gar nicht

numente schafft sie Instrumente. Sie kommt mit Plänen

recht zum Problem gehörige Dinge - jenes »Anklingen-

für einen neuen Globus«, hatte Teige aus Prag an Le

lassen qualitativer Erfahrungen« - den Kopf wieder frei

Corbusier geschrieben. Jenem Verständnis, das Gestal-

zu machen. Es spricht einiges dafür, dass Selmanagic

tung als eine kollektiv-anonyme Konstruktion von Kul-

Dürckheims Beispiel vor Augen hatte, wenn er - wie er

turlandschaften begreift, ist Selmanagic zeitlebens treu

oft betonte, sonntags am Weißen See in Berlin »seinen

geblieben. Wie Teige pflegte er unter Verweis auf die

Bauherren studierte«. Wie es scheint, liebte er diese

wesentlich komplexeren Programmierungsfragen die

Deutschen wirklich sehr, besonders ihre fatale Überorga-

Jahrhunderte alte, warenästhetisch begründete »Dik

nisiertheit, ihren todernsten Fleiß und ihre sorgfältig

tatur des Auges« anzugreifen, wenngleich er andererseits

gepflegte Würde. Nicht auszudenken, wenn sie auch

sehr wohl über das »Wesen der Gefühle« und »Kom-

noch Großzügigkeit, Eleganz und Lebensfreude aus

plexqualitäten der Gestalt« informiert war. Schließlich

sich heraus kehren könnten: Sanssouci - im Sinne von

hatte er zu jenen zunächst »völlig materialistisch ein-

unbesorgtem Dasein – hat er dieses emanzipatorische

gestellten« Studenten gehört, die der namhafte Ge-

Zukunftsbild beiläufig genannt. Bedauerlicherweise, so

staltpsychologe und Transzendenzphilosoph Karlfried

eines seiner Bonmots, fehle es der DDR bei allem säch-

Graf Dürckheim, der 1929 für seine Untersuchungen

sischen Fleiß und preußischer Gründlichkeit an jüdischer

zum gelebten Raum bekannt geworden war, während

Phantasie und orientalischer Gelassenheit.

>>> _57_


: EIN BAUHAUSLER ZWISCHEN DEN KULTUREN. >>>

Kaum jemand verstand sich auf Mentalitäts-

salistisch. Der empirische Mensch aber, den zu erkennen

vergleiche so gut wie Selmanagic. Zum einen hatte er in

ihm unendlich wichtig ist, sei ein Produkt einer langen

den dreißiger Jahren von einer Reihe namhafter Archi-

Entwicklung »das ich als Kommunist auch nicht mehr

tekten sehr unterschiedlicher Prägung lernen dürfen.

ändern kann«. Zwar lässt solche Rede keinen Raum für

Abgesehen von der »Lehre« bei Hannes Meyer, Mart

parteiideologisches Pathos, aber wann immer Selmana-

Stam, Mies van der Rohe, Ludwig Hilberseimer, Mar-

gic spricht, ist der Wunsch spürbar, durch gute Gestaltung

cel Breuer und Carl Fieger, war er in den Büros von

könne etwas Latentes ins Leben treten: Genugtuung und

Walter Gropius, Egon Eiermann, Erich Kaufmann und

Freude. Und vermittelt dadurch erst Identität. Auf An-

dem türkischen Poelzig-Schüler Sefdi Halil beschäftigt.

forderung seiner kommunistischen Bauhausgruppe

Weltwirtschaftskrise und Nationalsozialismus hatten ihn

kehrt Selmanagic 1939 nach Deutschland zurück, dessen

bald nach seinem Diplom zu jahrelanger Wanderschaft

faschistischem Regime er eigentlich rechtzeitig und

gezwungen. Seine Wege führten ihn über die Türkei in

beruflich durchaus mit wachsendem Erfolg entkommen

die Länder des Nahen Ostens, wo ihn vor allem Kairo

war, um sich an widerständigen Aktionen zu beteiligen.

mit seinen alten Künsten begeisterte. Er arbeitete in

Was in Deutschland vor sich ging, dürfte damals nirgend-

Konstantinopel, Tel Aviv, Jaffa und Jerusalem. Als freier

wo klarer benannt worden sein als in Jerusalem. Selma-

Architekt sanierte er im Auftrag des Großmuftis von

nagic wußte um seine Gefährdung. Er zögerte die Reise

Jerusalem die Klagemauer und gestaltete zugleich die

nach Deutschland 1938 unentschlossen etliche Wochen

Einrichtung des Emigrantencafes Café Tabor, in das er sich

hinaus, in denen er sich in Italien umsah. Gemessen an

auch seine Post schicken ließ. Darüberhinaus entstanden

dem hohen Risiko, erscheint der von ihm selber überlie-

allein in Jerusalem drei private Wohnhäuser und ein

ferte Inhalt der späteren illegalen Tätigkeit eher gering.

Mehrfamilienhaus für die mohammedanische Gemein-

Musste ein fremdländisch wirkender Mann eigens aus

de nach seinen Plänen, über deren Zustand heute nichts

Jerusalem herbeigerufen werden, um in Deutschland

bekannt ist. »Und gerade jetzt lehne ich alle Theorien

im Verborgenen ausländische Sender abzuhören und

über Rassen und Religionen ab« schreibt er 1935 an Hajo

Flugblätter zu drucken? Es ist bis heute unklar, warum

Rose. Was er immer schon theoretisch gewusst habe,

er gerufen wurde. Eine als Parteiauftrag empfundene,

finde er in all den bereisten Ländern bestätigt, näm-

politisch motivierte Freundespflicht bewirkte, dass

lich dass die Mentalitäten Niederschlag der allgemeinen

Selmanagic im Kampf gegen den Faschismus das höchs-

wirtschaftlichen und konkreten historischen Entwick-

te Risiko einging. Als es dabei in den letzten Kriegs-

lungen seien und die soziale Lage die Menschen tiefer

wochen darum ging, Soldaten zur Verweigerung von

präge als Geburt und Glaube. Bei allem Interesse, das

Sprengungen an stadttechnischer Infrastruktur aufzuru-

Selmanagic in den dreißiger Jahren - übrigens eben-

fen, spricht sich darin schließlich auch der Stadtplaner

so wie Bruno Tautin Japan und der Türkei oder Hannes

aus, der inmitten des Endkampfes bereits konstruktiv

Meyer in Mexiko - der Frage nach kulturellen Diffe-

die Interessen der Zukunft vertritt. Was die kleine kom-

renzen entgegenbringt: Sein Projekt der Moderne hält

munistische Zelle um Alfred Buske und Luise Seitzseit

der skeptischen Überprüfung stand und nimmt allein

der Bauhauszeit zusammengehalten hatte, war die kon-

bauplatzbedingte, klimatische und materiale Anreiche-

krete raumordnerische Vorbereitung der Enteignung des

rungen auf, das Programm bleibt strukturell und univer-

Bodens zugunsten der kommenden Gemeinwirtschaft.

:Stuhl, verformtes Schichtholz 1960 für die Deutschen Werkstätten Hellerau.tif.>

»Und gerade jetzt lehne ich alle Theorien über Rassen und Religionen ab«1


>>> _59_


:DIE SITZEREI UND ANDERE VERHALTENSREGELN. >>>

:Verwaltungsakademie Forst Zinna, Klubraum, 1947.tif.v

Die deutlichste Veränderung der Ära Hannes

Maßstäbe und lapidaren Anmutungsqualitäten prägten

Meyer hatte im Bereich der Tischlerei im triumphalen Auf-

Selmanagics eigene Entwürfe von Schulungsräumen

stieg des preiswerten Sperrholzes als wichtigstem Werk-

und Dienstzimmern verschiedener Einrichtungen der

stoff bestanden, dessen Elastizität die für diese Bauhaus-

Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, der Ge-

phase typischen organischen Formgebungen beförderte.

werkschaften und der Verwaltungen der sowjetisch

Auch erreichten die Schichtholzmöbel und Einrichtungs-

besetzten Zone. Er gestaltete unter anderem das völ-

gegenstände jetzt ein hohes Maß an Spezialisierung.

lig asketische Arbeitszimmer für den Industrieminister

Verstellbare Arbeitsstühle für Bandarbeiter wurden ge-

Fritz Selbmann (3) dessen Schreibtisch er die Anmutung

fertigt und Campinghocker. Sowohl konstruktiv wie

einer Werkzeugbank verleiht und er entwirft die Be-

thematisch steht Selmanagic`s späterer, über eine Mil-

suchersessel im Zimmer des Präsidenten der Republik

lion mal hergestellter Seminarstuhl unmittelbar in der

mit dem Gedanken, dem Gespräch des ersten Mannes,

Nachfolge dieser mit »Volksbedarf statt Luxusbedarf,

idealerweise mit Arbeitern, jegliche Steifheit von vorn-

apostrophierten Bauhausprodukte. Als Mitarbeiter der

herein zu nehmen. Bis in die »Sitzerei« hinein verfolgt

Ausbauwerkstatt des Bauhauses muss er entweder an

ihn dabei seine früh aufgekommene Sorge, die einmal

der Möblierung der Bernauer Schule, an der Ausstat-

zur Macht gelangten Söhne und Töchter der kleinen

tung der »Wohnung für den Volksbedarf«, oder der

Leute könnten ihre Herkunft vergessen und bürgerlicher

Inneneinrichtung des Gropius‘schen Arbeitsamtes in

Repräsentation und bürokratischem Gebaren verfallen.

Dessau beteiligt gewesen sein. Die in den genannten

Man muss diese Inneneinrichtungen für Seminare, Bi-

Produktionen des Jahres 1929 manifesten konstruktiven

bliotheken, Versammlungsstätten oder Wohnheime auf die intendierten Gebrauchsweisen und Sozialisationsformen hin untersuchen, um die Leistung ihres Gestalters wirklich ermessen zu können. Konstruktive Klarheit, haptische Eindrücklichkeit und taktile Beweglichkeit im individuellen Raum paart sich mit ausgesuchter Eleganz und Weichheit in allen Gemeinschaftsräumen. Im selben Maße wie etwa die Ausstattung der Seminarräume nicht allein Konzentration ermöglicht, sondern diese in ihrem Minimalismus gleichzeitig auch zum Ausdruck bringt, verändert sich der gestalterische Gestus in den Räumen der freien Zeit durch die betonte Polsterung und elegante Linienführung schwungvoll und atmend ins körperbetont Behagliche. Geistige Anspannung und genießerische Entspannung werden durch die Lichtführung und Materialwahl unterstützt. Die zeitgenössische Kritik hat den Klubraum der Verwaltungsakademie Forst Zinna wegen seiner ungewöhnlich sinnenfrohen Farbund Materialkontraste mit den großen Raumgestaltungen des Barock verglichen. An einem als Zeichnung anderer Hand überlieferten Entwurf des Kultursaales der Parteihochschule in Klein-Machnow kann man Selmanagics ebenso temperamentvollen wie landschaftlich anmutenden Gestaltungswillen ausmachen. Auch hier dominieren Farb-, Material- und Formkontraste. Vor eine neutrale weiße Wand, die zur Decke sphärisch eingewölbt ist, wurde eine vertikal wellenförmig gebogene Furnierwand mit kräftiger Maserung vorgeblendet. In der dunkel gefärbten, sanft geschwungenen Saaldecke schweben wie große fliegende Untertassen irregulär angeordnet zehn kreisförmige Lichtscheiben (4).


Der durch Neutralisierung aller scharfen Raumgrenzen

völlig offenen, freizügig partizipatorischen Projekt aller

vermittelte Raumeindruck ist leicht und in einem kos-

zu machen. Nie zuvor in der Geschichte ist ein Plan nicht

mischen Sinne transzendent. Im Vergleich etwa zur Ber-

zuerst den gesellschaftlichen Eliten - politischen Gremi-

nauer Gewerkschaftsschule aus der Bauhauszeit wird

en oder Staatspersonen - vorgestellt worden, sondern

im Gemeinschaftsbau hier eine neue Ausdrucksqualität

einer ganzen Stadt. Berlin plant. Erster Bericht hieß der

der Nachkriegsmoderne erkennnbar, in der man durch-

bezeichnende Titel der ersten (schwebend surreal in

aus Selmanagic`s persönliche Vision für jene kommen-

den Trümmern des Berliner Stadtschlosses arrangierten)

de Welt der von Arbeit befreiten Kommune entdecken

Präsentation und damit war der Beginn eines radikal

kann - als Antwort auf den feudalen Müßiggang. Noch

demokratischen Verfahrens gegeben, dass inzwischen

ehe die Forderung nach »Palästen für Arbeiter« auf-

gern mit bottom up beschrieben wird. Heute ist voll-

kam, hatte er seine Antwort auf die damit verbunde-

kommen vergessen, dass diese Planung nach alliier-

ne Frage nach dem Repräsentativen längst gegeben.

tem Recht streng genommen illegal war, dass sich die

Der Klubraum war von solcher Eindrücklichkeit, dass er

Bearbeiter die Grundlagen auf abenteuerlichste Weise

vermittelt über den folgenden Nutzer, die sowjetische

besorgen mussten und dass mehr als Reparaturleistun-

Militäradministration, in den fünfziger Jahren auch di

gen und sogenannte »Befehlsbauten« der Militäradmi-

sowjetische Innenarchitektur beeinflusste, indem er

nistration damals überhaupt nicht statthaft waren. Wie

in der Fachzeitschrift Dekoratiunoje Isskustwo als her-

Selmanagic es darstellte, ist dieser Plan mitten in der

vorragendes Beispiel zeitgenössischer Raumgestaltung

größten Not aus geistiger Unterforderung heraus ent-

analysiert wurde - ohne Autor und Ort der Ausführung

standen. Die durchweg parteipolitisch links gebundenen

zu nennen. Bis zur Formalismusdebatte von 1951 waren

Kollektivrnitglieder hätten als Angestellte des Magist-

es mit Franz Ehrlich, Selman Selmanagic, Mart Stam, Ro-

rats jenseits der alltäglichen Sachzwänge ein Stück Zu-

bert Lenz und der von Oud kommenden Liv Falkenberg

kunft gewinnen, den Berlinern inmitten von Trümmern

im wesentlichen die Bauhäusler, die das Gesicht der neu

den Horizont auf eine Welt ohne Eigentumsgrenzen

gegründeten DDR-Verwaltungen und Bildungseinrich-

öffnen wollen. Die Erarbeitung des Kollektivplans muß

tungen prägten und die ihre ersten internationalen Mes-

SelmanagicS größte Herausforderung gewesen sein.

se- und Ausstellungspräsentationen ebenso erfindrisch

Als er in den 80er Jahren einem Biographen sein Le-

wie traumverloren gestalteten. Ohne visuelle Schulung

ben erzählte, hat er fast ausschließlich über jene ersten

an der surrealistischen Kunst der dreißiger Jahre, an Ty-

Nachkriegsjahre gesprochen, in denen er als Dezernent

pografie und Buchgestaltung, Collagetechnik und expe-

für Kultur und Erholung zusammen mit Universitäts-

rimentellem Film sind diese frühen Gestaltungen nicht

professoren, Ärzten, Wasserspezialisten und unendlich

denkbar. Hier erklärt sich auch Selmanagics - bei seiner

vielen anderen Professionen, dafür lebte - und bei ei-

Kritik an der »Diktatur des Auges« eigentlich paradoxe -

nem Körpergewicht von weit unter 50 Kilogramm auch

Bemerkung, er habe von den Malern für seine Laufbahn

litt - dass Berlin einen wirklichen Neubeginn erfährt und

mehr gelernt als von den Architekten. Bei dieser Art der

dass dieser Neubeginn von Anfang an weitsichtig genug

Schulung ging es allerdings nicht primär um Eindrücke

gedacht sei. Vieles aus dem Dessauer Planspiel für die

auf der Netzhaut, sondern um eine grundsätzliche, er-

Junkerssiedlung lebte damals wieder auf und vor allem

schütternde Erfahrung der Tiefe, um ein Vordringen in

die infrastrukturellen Ausstattungselemente sollten von

die Welt der Interdependenzen, der problematischen

hier aus für die weitere Geschichte der DDR Relevanz

Perspektiven von Welt und der im Alltag verborgen

erlangen: die Idee der Polikliniken, der Dienstleistungs-

bleibenden, geheimen Ordnung der Dinge. Karel Teige

würfel, der dezentralen Klubhäuser. Als besonders ver-

sprach als Theoretiker dieser Kunstrichtung von der Eta-

lässlich erwies sich die früh trainierte funktionalistische

blierung des »Röntgenblickes« auf die wirkliche Welt.

Analysemethode: Sie befähigte das Planungskollektiv

Diese nicht anders als strukturalistisch zu nennende Tie-

dazu, sich in einem Atemzug an der Hochschulstruktur-

fenperspektive macht den Berliner „Kollektivplan“ von

planung zu beteiligen und planwirtschaftliche Elemente

1946 über alle Zeitgebundenheit hinaus so unvergäng-

in den Krankenhausbetrieb einzuführen, Handel- und

lich. Er bezieht seine andauernde provokative Kraft aus

regionale Nahbereichsversorgung zu restrukturieren und

der Energie, grundsätzlich alles im Siedlungssystem und

gleich darauf landschaftsbaulich weitsichtige Konzepte

in der Lebensweise der Menschen in Frage zu stellen

zur Trümmerentsorgung zu entwickeln. Berlins Trümmer-

und die darauf aufbauende Neuordnung zu einem

berge sind das beredte Zeugnis dieser Zeit.

>>> _61_


:GRÜNE WUNDERT, BÜRGERSCHAFTLICHE PARTIZIPATION UND EIN SCHULBAU AM RANDE DER STADT. >>>

:Das Stadion der Weltjugend wurde zum Friedenstreffen der deutschen Jugend, Pfingsten 1950 eröffnet. Selmanagic hatte den Auftrag Ende 1949 erhalten, ihm blieben für die Planung und die Fertigstellung des Stadions vier Monate Zeit. Das Stadion ist für 20000 Sportler und 70000 Besucher gebaut. Der Bauherr, die Freie Deutsche Jugend, stellte eintausend freiwillige Helfer, die vom ersten Tag an auf der Baustelle mitarbeiteten.tif.v

Wo im Jahr 2005 der Bundesnachrichtendienst

erinnern an Selmanagic`s Jerusalemer Bauten. Das Sta-

angesiedelt werden soll, in der Berliner Chausseestraße,

dion ist eines von mehreren, die Selmanagic damals in

hat auf 135 000 Quadratmeter Fläche einmal Selmana-

Zusammenarbeit mit dem Landschaftsplaner Reinhold

gics größtes Bauwerk gestanden - das Stadion der Welt-

Linger ganz im Sinne von dessen Stadtlandschaftsidee

jugend. Anstelle der kriegszerstörten Maikäferkaserne

für den Neuaufbau Berlins entwarf. Bis zu seinem Abriss

errichtet, wurde es nach nur 19 Monaten Bauzeit 1950

für die gescheiterte Olympiabewerbung Berlins am Be-

als ein »grünes Wunder« und großes Geschenk für die

ginn der neunziger Jahre war es neben den Bauten der

überbevölkerte Innenstadt gefeiert. Saftiges Grün, in

Wohnzelle Friedrichshain das einzige realisierte Element

weitläufigen Schwüngen mit feurigen Salvien, Petunien

jenes umfassenden Neugestaltungsplanes (5) von 1946.

und Pelargonien bepflanzte Schmuckbeete und bau-

Seine innovative Sprengkraft beruhte auf dem öffentli-

hausfarbig blau, rot, gelb gestrichene breite Bänke so-

chen Planungsverfahren und dem bodenwirtschaftli-

wie tausend Freilichtrestaurantplätze ließen die begeis-

chen Radikalismus, für alle Liegenschaften einheitlich

terten Berliner an den Kurgarten von Swinemünde oder

den Richtwert von 50 Pfennig pro Quadratmeter festzu-

den alten Krollgarten im Tiergarten denken. Das von

legen. Der auf der Charta von Athen beruhende Plan,

Selmanagic entworfene Casino wies - wie bereits im

mit dem nur die gesellschaftspolitisch ähnlich ambitio-

Junkers-Siedlungs-Plan von 1932 vorgesehen - neben

nierten Wiederaufbauplanungen für Rotterdam und

dem Restaurant außerdem physiotherapeutische Be-

Warschau zu vergleichen sind, wurde bis 1949 ständig

handlungsräume, Spielgeräteausleihe und Gesundheits-

fortgeschrieben, dann fiel er wegen seiner rigorosen

einrichtungen für die Wohnbevölkerung aus. Gemäß

Dezentralität und ahistorischen Landschaftlichkeit dem

seiner Vorstellung von »totaler Architektur« hatte der

»Verdikt des utopischen Sozialismus« anheim: »Das sind

Architekt auch die Lautsprecher, Leuchten und schwenk-

die Träume von Jean-Jacques Rousseau. Ersetzen Sie das

baren Papierkörbe gestaltet. Die nahezu weißen, kräftig

durch sozialistischen Realismus.« Die politische Ableh-

mit dem Grün kontrastierenden Natursteinmauern

nung schlug unmittelbar auf seine Autoren zurück, die


auf Betreiben des Ministeriums für Aufbau 1950 aus

Studenten realisierten Erweiterung der Kunsthochschule

ihren Anstellungen beim Berliner Magistrat entlassen

in Weißensee studieren. Entgegen der bisherigen Ein-

wurden. Selmanagic wurde daraufhin von Mart Stam als

schätzung, es handele sich bei diesem Bau mehr oder

Lehrer an die Kunsthochschule in Weißensee berufen.

weniger um eine Kollektivarbeit der Architekturabtei-

Gemeinsam mussten sie dort die planmäßige und wü-

lung der Hochschule, zeigt sich beim genauen Planstu-

tende Kampagne gegen die Gestaltungstradition des

dium 6, dass dies allenfalls für die bis März 1954 erstell-

Bauhauses erleben, auf deren Höhepunkt im November

ten klassizierenden Vorentwürfe gelten mag, dass aber

1952 ihre Möbel in einer Propagandaschau am Alexan-

die Ausführungsplanung entsprechend Selmanagics

derplatz als abschreckende Beispiele für Funktionalis-

universellem Gestaltungsanspruch bis in die Detaillie-

mus vorgeführt wurden. Von nun an galt im Möbelbau

rung auf seine Hand zurückzuführen ist. Darüber hinaus

wie in der Architektur die »Beachtung der architektoni-

springt die für heutige Verhältnisse unglaublich kurzfris-

schen Gesetze und Übernahme von Formen der klassi-

tige und effiziente Planungsphase - Mai bis September

schen Steinarchitektur« sowie die Beachtung der natio-

1954 - ins Auge. Die in dieser Zeit gefertigten Pläne ma-

nalen Traditionen als richtungsweisendes Programm.

chen - mehr noch als der Bau - vor dem Hintergrund

Hochinquisitorisch befragt, von welchen Anregungen er

zeitgleicher Hochbauund Schulbauprojekte der Baupha-

sich bei dem Entwurf seiner Sitzmöbel habe leiten las-

se der »Nationalen Traditionen« Selmanagics abwei-

sen, strich Selmanagic unbeirrbar seine empirische Ba-

chende und entwerferisch eigensinnige Strategie deut-

sis heraus: »Ich habe mich vom Hintern leiten lassen!«.

lich. Von dem Moment an, an dem bei den überlieferten

Die stalinistische Schmähung, die für Konrad Püschelin

Plänen seine Hand deutlich wird, verschwinden alle im

Weimar sogar zur Aberkennung seines Bauhausdiplo-

Vorentwurf noch erwogenen keramischen Schmuckele-

mes führte, hat zwischen den Architekten, die das Wen-

mente und Fassadengliederungen zugunsten einer bau-

demanöver mitmachten - wie Edmund Collein - und den

gewerklich

standhaften Modernen unüberbrückbare Gräben aufge-

scheint, als ob Selmanagic die üblichen ornamentalen

rissen. Vor allem die kommunistischen Architekten mit

Würdesyrnbole bewusst gegen die konkrete Würde der

Widerstandserfahrungen fanden die Kraft und die inne-

Arbeit eintauscht. Die in der Manier von Walter Gropius

re Freiheit, sich dem Druck zur Anpassung an die gefor-

von außen auf die Laibung gesetzten Fensterkonstruktio-

derten nationalen Traditionen zu entziehen oder - wie

nen und eigenwillig gestalteten Treppenprofile, in beson-

Franz Ehrlich - aus dem Einbruch eines monumentalen

derem Maße aber der zur Strukturierung der Fassade

Gestaltungswillens in ein modernes Repertoire ein ganz

verwendete eingefärbte Putz, erfordern eine überaus

eigenständiges Thema zu machen. Welche Haltung Sel-

sorgfältige handwerkliche Ausführung und sind ohne in-

managic in dieser Phase entwickelte, kann man an sei-

tensive Kontrolle der Ausschreibungen und Ausführun-

nem mittlerweile einzigen noch in Deutschland überlie-

gen, ja ohne Konsultation und besondere Einbeziehung

ferten Bauwerk, der 1954 bis 55 unter Mitwirkung von

der Bauarbeiter kaum vorstellbar.

anspruchsvollen

Detailentwicklung.

Es

>>>

_63_


>>>

Es gelingt Selmanagic an einem auf den ersten

träger aufgezeichnet. Der in seiner dichten Achsreihung

Blick eher konventionellen Schulbau mit Walmdach, ge-

stark zäsierte Flügel mit den Unterrichts räumen verleiht

lochter Putzfassade, mit Sockel und gliedernden Gesim-

dem Komplex perspektivisch eine starke Tiefenwirkung,

sen gewissermaßen ein zweites Thema zu entfalten, in-

die durch die heftigen Richtungskontraste der abstrakt

dem er die Lage der Innenräume an der Fassade in einem

verzierten Simse und weit gespannten Fensteröffnun-

vertikal rhythmisierten Raster betont. In einer energi-

gen der parallel zur Bauflucht liegenden Gebäudeflügel

schen Geste löst er die Wand in diesen Bereichen in aktiv

furios abgefangen wird. Die gewählten - und nur im

erscheinende, in ihrer Rotfärbung unterstrichene Stütze-

Plan als perfekte Komposition nachvollziehbaren - For-

lemente und indifferent leichte, beinahe plane Putz- und

mate und Proportionen der Fenster lassen das Gebäude

Glasflächen auf. Diese diaphane Schichtung ist als gewis-

wie in Kontraktionen und Extraktionen buchstäblich at-

sermaßen umgekehrter Curtainwall ein modernistisches

men und bezeugen eine hohe Musikalität des Gestal-

Motiv und entspricht der für Selmanagic typischen Ent-

ters. Darüber hinaus zeigt sich in den auffallenden Kon-

materialisierung der raumbegrenzenden Wand. Gleich-

struktionen sehr konkret der Nonkonformismus und die

zeitig bewirkt diese vertikale Schraffur, dass man den

Willensstärke des Architekten, der sich selbst im kleins-

Unterrichtstrakt als dominanten, fast solitären Hochbau-

ten Detail nicht bereit zeigt, sich einem Stand der Tech-

körper wahrnimmt, der mit seiner Eignung zum Hoch-

nik oder einer sonst gegebenen Norm zu beugen. Er

haus zu spielen scheint. An der gesamten Anlage kann

platziert zum Beispiel die Fenster ganz leicht vor der

man erleben, wie sehr Selmanagic überall den Wider-

Wand, hebt sie damit etwas hervor, um ihren Eigenwert,

spruch zur herrschenden Doktrin inszeniert. Als wolle

ihre gewerkliche Qualität zu unterstreichen. In dieser

er im Rahmen des vorgegebenen Dogmas zeigen, was

feinen Verbeugung des früheren Tischlers vor seinen

man alles noch aus der Forderung nach Steinbautektonik

Fensterbauern kann man die noble Geste des Dirigenten

und Repräsentation machen kann, fügt er die von der

vor seinen Solisten entdecken. Die Exposition der Quali-

staatlichen »Architekturkontrolle« geforderten Pflicht-

tätsarbeit erinnert an den konstruktiven Perfektionis-

elemente zu einer - mit Ausnahme der monumentali-

mus seines Lehrers Mies van der Rohe. Dass Gestaltung

siert belassenen, etwas archaisch wirkenden Pforte

bei den unsichtbaren Dingen beginne, hat Selmanagic

- asymmetrisch akzentuierten Volumen- und Fassa-

immer proklamiert, wie es gemeint war, kann man an

denkomposition zueinander. Was ihm im vorgegebe-

seinem Weißenseeer Schulbauwerk genauer studieren.

nen Typus und Raumprogramm einer Grundschule nur

Man wird dabei vielfältige Referenzen, Zugehörigkeitser-

bedingt möglich ist, nämlich jene stark freikörperlich,

klärungen an Selmanagic große Vorbilder entdecken. Zu

tiefenräumlich betonte Gliederung, die er bei seinen

ihnen gehört - vermittelt über Toni Maus malerische Inter-

studentischen Arbeiten am Bauhaus gewählt hat und

pretation des klassischen Architravs - nicht zuletzt auch

die ihm bei der idealtypischen Bauaufgabe (ein Schul-

ein künstlerischer Verweis auf das erste große Siedlungs-

bau wie das Bauhaus, die Bundesgewerkschaftsschule

werk der brasilianischen Linksarchitekten: die Zeichnung

oder die Hochschule für Gestaltung in Ulm!) nahe ge-

des Simses variiert das Keramikwandbild von Portinari an

legen haben dürfte, wird durch die plastische Bearbei-

der Aula der Grundschule im Wohnkomplex Pedregulho

tung der Fassade auf den traditionell belassenen Bild-

(1947-1952) in Rio de Janeiro von Alfonso Eduardo Reidy.

»Naiv nahm ich an, ich könnte jedem Studenten genau wie einem Angestellten sagen, wie er Architektur zu machen habe ... mit großem Erstaunen und mit Enttäuschen sowie mit Verzweiflung stellte ich fest, dass es so nicht möglich war.«


In Selmanagic`s OEuvre gibt es später noch einmal ei-

unterzubringen hat. Allgemein will der Architekt den

nen Wohnungsgrundriss, einen Plan, in dem sich seine

erforderlichen Stauraum daher im fensterlosen Teil der

gestalterische Eigenwilligkeit bezeugt. Von außen sieht

Wohnung konzentrieren, um dafür in den Licht durch-

man dem Block seine einmalige funktionale Qualität

fluteten Räumen nur die beweglichen Ausstattungsele-

nicht an - den hat der Auftraggeber in Frankfurt/Oder zu

mente belassen zu können. Dem »Deutschen für sich«

Ende projektiert. Bei diesem Typus für Schwedt gelingt

soll dieser Grundriss nach dem Vorbild der großen Woh-

es dem Architekten, durch die Ausweisung von geräumi-

nung ermöglichen, im Bedarfsfall alle längs laufenden

gen Dielen, die übliche Hierarchisierung der Wohnraum-

Trennwände herauszunehmen und dadurch unter an-

größen und die allgemein dominierende Verkammerung

derem das kleinste Zimmer und die Diele miteinander

der Zimmer aufzuheben und mit diesem kleinen Kunst-

zu einem amerikanischen Wohnzimmer zu verknüpfen.

griff selbst noch den standardisierten Typengrundriss

Dieser eigenwillige Grundriss zeigt die Schulung bei

buchstäblich zum Fließen zu bringen. Wohin das Ganze

Mies van der Rohe und gleichzeitig abermals den un-

will, zeigt die 5-RaumWohnung dieses Typs, deren 33

beirrbaren Charakter des Entwurfsarchitekten. Das ent-

Quadratmeter großes Wohnzimmer in der Mittelachse

scheidende Merkmal, das ihn von den damals durchaus

durch eine Faltwand geteilt werden kann. Nie waren in

experimentellen Grundrissentwicklungen anderer Ar-

der Geschichte des DDR-Wohnungsbaus funktional nicht

chitekten abhebt, ist jener kleine Moment von Freizü-

determinierte Nebenflächen größer bemessen als bei

gigkeit, planerischer Phantasie und raumkünstlerischer

diesem Entwurf, der bei genauer Betrachtung gerade-

Imagination, mit der Selmanagic in der 9-Quadratme-

zu einlädt, sich möglichst ungewöhnliche Nutzungen

ter-Wohnung ohne jede Phrase ein kleines Exempel auf

für diesen unerwarteten Freiraum einfallen zu lassen.

den Kommunismus statuiert: Der Raum kann sich den

Einerseits hatte der Architekt seine Nutzer studiert und

unabsehbaren Bedürfnissen seiner Nutzer sehr entge-

wusste sehr gut, wie viel Kram der »Deutsche an sich«

genkommend öffnen.

>>>

: Kunsthochschule Berlin, Innenhof.tif.>

_65_


:SCHLAFLOS IN WEISSENSEE DER HOCHSCHULLEHRER. Zufällig musste ich mich, nach 1950, fast ausschließlich-

mählich und mit steigender Bewunderung die Bauhaus-

mit dem Lehrerberuf begnügen, so dass ich notwendi-

idee zu begreifen. Ein neues Licht ging für mich auf. Eine

gerweise viele pädagogische und architektonische Pro-

Lehre der ‚totalen Architektur‘ [ ... ] Als ich zum ersten

bleme mit Muße und von vielen Seiten durchdringen

Mal unseren Studienplan niederschrieb, war ich, obwohl

konnte. Dabei wusste ich anfangs weder etwas von

ich doch selbst alle Unterrichte einzeln eingerichtet hat-

Pädagogik, noch wusste ich wie man Architektur lehrt,

te, auch überrascht über die große Anzahl von Fächern.

weil ich überhaupt nicht darauf geachtet hatte, wie

(Selmanagic in einem Brief an Gropius)

meine Lehrer mich zum Architekten entwickelt hatten. Naiv nahm ich an, ich könnte jedem Studenten genau

Selmanagic setzt im Studienprogramm der Kunsthoch-

wie einem Angestellten sagen, wie er Architektur zu

schule Berlin-Weißensee die Akzente auf den Begriff

machen habe; denn ich weiß ja wie man das macht, so-

der Planung und fordert zugleich Hingabe an die gesell-

wohl individuell wie kollektiv. Und mit großem Erstau-

schaftliche Aufgabe. In ausgesprochen betreuungsin-

nen und mit Enttäuschen sowie mit Verzweiflung stellte

tensivem Unterricht sollen 30 Studenten fünf Jahre lang

ich fest, dass es so nicht möglich war. Jetzt erst über-

von fünf Architekten und unterstützt durch weitere tech-

legte ich mir: Wie haben die Bauhausmeister mich zum

nische Lehrbeauftragte aus der Praxis in künstlerischen

Architekten ausgebildet? Ich erschrak über die neue, mir

und in wissenschaftlichen Methoden trainiert werden.

völlig unbekannte Situation, in die ich gestellt war so-

Eine zweijährige Aspirantur kann über das normale

wie über die Verantwortung, einmal für die Entwicklung

Studium hinaus der Vertiefung in eine Spezialaufgabe

der Studenten, zum anderen für die Architektur. Ehrlich

zugute kommen. Besonders betont wird die künstleri-

gesagt: Ich war ratlos. Täglich war ich mindestens acht

sche Analyse der Gegenständlichkeit jeder Art in ihren

Stunden in der Schule, nachts konnte ich nicht schla-

Entwicklungsphasen, die bedingt sind durch Funktion,

fen. So entstand, wie beim ersten Architekturlehrer der

Repräsentation, Material, Technologie, Konstruktion,

Welt, schrittweise der Lehrplan. Nun erst fing ich an, all-

Ökonomie usw. in gegenseitigen Abhängigkeiten.


Jede Aufgabe wird von den Studenten selbst nach den

die bosnischen Felder und den Kibbuz in Palästina: Nach

drei Grundfragen programmiert: Für wen bauen? Was

Selmanagic würden sich die Menschen, in absehbarer

bauen? Wie bauen?, wobei die Zusammenarbeit mit

Zukunft von der Maschine aus der schweren Arbeit be-

den jeweils zuständigen Institutionen der DDR voraus-

freit, zu ihrer großen Freude nichts lieber hingeben als

gesetzt wird. Interessant ist die dreifache Fragestellung,

dem Umgang mit Pflanzen und Tieren. Diese Form des

eine Modifikation auf Mies van der RoheS Leitsatz, der

Zurückfallens in sein kreatürliches Wesen, die Aufhe-

das Verhältnis von ‚was‘ und ‚wie‘ klarstellen soll. Sel-

bung der Entfremdung von der Natur, das existentielle

managic ergänzt natürlich ‚Für wen‘ und fordert, dass

Einswerden des Menschen mit dem Planeten, hatte auch

die Studenten zunächst das Leben der Menschen in der

Karl Marx als den letzten Fluchtpunkt der Weltgeschich-

Gesellschaft untersuchen und es in räumlich statische

te gesehen. Selmanagic hat eine für ihn typische, sehr

wie dynamische Funktionsbereiche übersetzen. Im Üb-

einfache Antwort auf die Frage nach dem Ende der Ar-

rigen stehen Gemeinschaftsarbeit, interdisziplinäre Ver-

beit gefunden: Der zeitlich entlastete Mensch wird nicht

zahnung und kollektiver Meinungsaustausch hoch im

immer nur Fußball spielen, nein sein Wesen verlange

Kurs. Der Autor des Studienprogramms ist überdies der

vielmehr, dass er pflanze. Für diese Erkenntnis hat Sel-

Auffassung, seine Studenten sollten vier Wochen im Jahr

managic eine sehr weite und abenteuerliche Lebensreise

ausdrücklich in landwirtschaftlichen Betrieben arbeiten.

unternommen - und man sollte ihm für sein Beispiel von

Und so schließt sich der Kreis mit einer Reminiszenz an

gelebter Freiheit vielleicht dankbar sein.

:DIE FUSSNOTEN. 1. Dürckheim übrigens ist nach seiner Zeit am Bauhaus

5. Zur Gruppe der Initiatoren hatten neben Wils Ebert

ein äußerst renommierter initiatischer Therapeut ge-

der bereits am Bauhaus als Mitglied des Kollektivs

worde, mit anderen Worten-ein Heiler

für Sozialistische Architektur am Konzept der JunkersSiedlung beteiligt war, Luise Seitz , Ludmilla Her-

2. Möglich, dass er für den ihm zugedachten Einsatz zu

zenstein. Peter Friedrich, Reinhold Lingerer, Herbert

spät kam, oder er nie von seiner Schweigepflicht ent-

Weinberger sowie - als toleranter und großzügiger

bundenworden ist. Es bestand jedenfalls für Selmanagic

Schirmherr und politische Absicherung gegenüber

1939 keine andere Not als die Loyalität gegenüber den

den Alliierten - der Stadtbaurat Hans Scharoun ge-

Genossen.

hört.

3. Mitteilung Selman Selmanagic an Simone Hain 1985.

6. Bedauerlicherweise ist auch das Planarchiv der Hoch-

Zuschreibung von der Familie in Frage gestellt.

schule zu Beginn der 90er Jahre ungeschützt der weitgehenden Vernichtung ausgesetzt gewesen, so dass

4. Diese Form der Saalbeleuchtung ist allerdings unge-

eine lückenlose planungsgeschichtliche Analyse nicht

wöhnlich für Selmanagic.

mehr möglich ist.

_67_



:Impressum. form+zweck 21 / 2005 37. Jahrgang © form+zweck Verlag, 2005 Dorotheenstraße 4 12557 Berlin Telefon +49-30-6555722 Telefax +49-30-65880653 info@formundzweck.com www.formundzweck.com Redaktion Till Bruttel / Chup Friemert / Angelika Petruschat / Jörg Petruschet / Silke Rothkirch Gestaltung Christoph Bruns Druck + Bindung dynamik druck gmbh Essener Strasse 4 22419 Hamburg ISSN 0429-1050 ISBN 3-935053-..-. Autoren Holger Jahn . HTW Dresden und Jahndesign / Glen Oliver Löw . HfBK Hamburg Prof. Dr. Chup Friemert . HfBK Hamburg / Prof. Dr. Jörg Petruschat . HTW Dresden Prof. Dr. Simone Hain . Bauhaus-Universität Weimar / Dr. Ulf Wuggenig / Margarita Tsomou

Fotografen Liane Paetz / Matthias Adrian Dank an Elvira Möser für tägliches Mittagkochen attac Frankfurt für unkomplizierte Hilfe Emira und Selma Selmanagic für ihre großzügige Unterstützung Thomas Fiel für Informationen und Baupläne

_69_



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.