Paradiso - Erstfassung

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Der längste Tag [Allererste

computerschriftliche

Komplettfassung

des

ersten

Kapitels,

September 2007, frühes Bearbeitungsstadium]

1 Heute ist der 1. August 2007, und ich stehe an einer Autobahnraststätte gleich bei Potsdam und warte darauf, hier wegzukommen. Obwohl ich im Schatten stehe und nur eine kurze Hose und ein peinliches T-Shirt anhabe, schwitze ich wie verrückt. Das T-Shirt klebt mir im Nacken und weil es ganz neu ist und ich vergessen habe, es zu waschen, juckt es oben am Kragen ganz schlimm. Schräg über mir schnarrt ein Gebläse, das den Benzingeruch mit warmer Toilettenluft mischt, und wegen der Hitze, dem Gestank und dem Jucken habe ich ein ganz flaues Gefühl im Magen. Als bekäme ich bald eine Grippe oder Durchfall vielleicht. Neben mir am Boden steht mein Rucksack, breit wie ein Turm sieht der aus, und ich muß dauernd daran denken, daß mich die Leute, die hier alle ihre Autos volltanken, bestimmt für einen Tramper halten. Wie ich so neben dem Rucksack an der Wand von dem Tankstellenshop lehne und immerzu in Richtung der Zapfsäulen schaue, muß das auch so wirken, – als würde ich gerade eine Pause machen und im nächsten Moment schon wieder mein bemaltes Pappschild raus strecken und an alle möglichen Scheiben klopfen und fragen, ob ich denn bitte mitgenommen werde. Das macht mich ganz unruhig, ich habe überhaupt keine Lust, für einen Tramper gehalten zu werden. Früher bin ich oft getrampt, sogar gerne, und weil das Trampen ja eine völlig legale Sache ist, gibt es eigentlich gar keinen Grund für meine Unruhe, nur geht die davon nicht weg. Würde ich mich nicht so matt fühlen, ich glaube, ich würde jedem, der mich so mißtrauisch anguckt, ganz schneidig ins Gesicht sagen, daß ich hier ganz ordentlich auf meine Mitfahrgelegenheit warte und übrigens selbst ein Auto habe, das momentan bloß in der Werkstatt ist. Das wäre nicht einmal gelogen, meine Eltern haben mir vor kurzem eines geschenkt, so ein kleines Rotes mit Schiebedach, und vor ein paar Tagen hat es meine Freundin dann zu Schrott gefahren. Ihr selbst ist nichts passiert dabei, nicht einmal eine


Schramme hat sie abgekriegt, nur das Auto war hinüber. Sie ist gegen einen Baum gefahren oder vielleicht war es auch ein Laternenmast. Ich bin mir nicht ganz sicher, weil ich nicht nachgefragt habe. Ich wollte nicht den Anschein erwecken, als ginge es mir ums Blech, wo sie doch andauernd geweint und sich immerzu entschuldigt und mir dabei ein ganz schlechtes Gewissen gemacht hat, als sei ich ein Tyrann oder so. Wahrscheinlich war es aber nur der Schock. Ehrlich gesagt war es mir aber tatsächlich egal, daß das Auto kaputt war und jetzt Reparaturkosten anfallen und die Versicherungsgebühren höher werden und so weiter. Mein Vater kümmert sich um diese Sachen, er kennt da alle Tricks, und zweitens habe ich sowieso keinerlei Beziehung zu meinem Eigentum oder zum Geld im allgemeinen. Ich warte auf den Stumpel, einen alten Bekannten aus meiner Heimatstadt, deshalb lehne ich mich extra unbeteiligt gegen die Wand und sehe dabei konsequent zu Boden, so daß auch wirklich niemand auf den Gedanken kommen kann, ich wollte was von ihm. Nur ab und zu schaue ich hoch, nämlich wenn so Frauen und Mädchen in kurzen Kleidern und Röcken vorbei gehen, was recht häufig vorkommt, ich stehe nämlich ganz nah bei den Toiletteneingängen. Diesbezüglich ist der Sommer die höllischste Jahreszeit von allen, im Sommer habe ich immer den Eindruck, daß die Frauen und Mädchen wie die Pilzen aus dem Boden schießen. Wie in dem Björk-Lied, wo die ganzen Autos und Maschinen schon immer tief drunten in dem Berg geschlummert und nur darauf gewartet haben, endlich herauszukommen. Ich lege jedenfalls meine Hand dafür ins Feuer, daß es im Sommer viel mehr Frauen gibt als im Herbst oder Winter, und weil die Mode von Jahr zu Jahr immer raffinierter wird, sehen die Frauen auch immer attraktiver aus. Selbst wenn man wollte, man könnte gar nicht weg schauen. Aus der Ferne oder von hinten kann man nicht einmal mehr unterscheiden, welche hübsch und welche häßlich ist, und das Geheimnis dabei ist wohl, daß die Körper insgesamt mehr hergeben als die Gesichter. Ich könnte sofort mindestens fünfzig Frauen mit unglaublichen Beinen aufzählen, schon auf diesem Rastplatz hier bekäme ich die Hälfte voll, aber keine fünf mit einem wirklich hübschen Gesicht.


Das Jucken unter dem T-Shirt-Kragen jedenfalls wird immer schlimmer. Ich muß mich mit aller Kraft darauf konzentrieren, nicht zu kratzen, sonst rubbeln die Fingerspitzen die Polyesterfasern oder was es sonst für ein Kunstgewebe ist noch tiefer in die Haut hinein, und dort fangen sie erst richtig zu brennen an. Das ist dann wirklich unerträglich, so als würde man barfuß in einen Ameisenhaufen steigen oder mit kurzen Hosen durch Brennesselstauden waten. Ich muß daran denken, daß mein Opa das manchmal gemacht hat, gegen sein Rheuma, aber der hat ja auch keine Allergien. Und während ich an meinen Opa denke, wie er mit hochgekrempelten Hosen in einem Ameisenhaufen steht und mich dauernd überreden will, daß ich auch mit rein steige, fällt mir ein, daß der Stumpel und mein Opa genau das gleiche Auto fahren. So einen uralten schwarzen Mercedes mit breiten, arrogant gerillten Rücklichtern und einer unglaublich vornehmen Schnauze. Mein Opa fährt den schon seit ich denken kann, er ist verliebt in den Wagen, weil er damals Bürgermeister von Falkenberg war und sich das Auto kurz nach seiner Wahl gekauft hat, und der Stumpel fährt ihn ebenfalls seit ich ihn kenne, nur meint er es sozusagen als Zitat. Was er damit zitiert, weiß ich gar nicht genau, wahrscheinlich die späten Siebziger oder den Film Noir, ich bin mir sicher, er weiß es selbst nicht, jedenfalls ist er wahnsinnig stolz auf den Wagen und verbringt die Hälfte seiner Zeit damit, ihn am Laufen zu halten. Der Mercedes ist allerdings auch sein einziges Kapital und ich meine das nicht materiell, sondern ganz menschlich. Der Stumpel heißt nämlich wegen seiner Zähne so, außerdem ist er ein bißchen untersetzt und hat eine Haut, wie Ferkel sie haben. Blaß-rosa und ein bißchen borstig. Er ist auch nicht besonders clever, weswegen damals eigentlich niemand etwas mit ihm zu tun haben wollte, bis er eben achtzehn wurde und sich von seinem gesparten Geld dieses alte Schiff gekauft hat. Er ist damit auf alle Parties gefahren, ins Jugendzentrum und in die Diskotheken und hat die ganze Nacht junge Mädchen durch die Stadt kutschiert, von einem Ort zum anderen und wieder zurück. Die Mädchen haben sich dabei betrunken und sich über ihn lustig gemacht, aber er selbst ist immer nur in irgendeiner Ecke gestanden, hat an seiner Cola genippt und ganz ungut gelächelt. So, als würde seine Zeit schon noch kommen. Der hat wirklich eingesteckt damals, aber, und dazu fällt mir jetzt dieses blöde Sprichwort ein, was lange währt wird endlich gut; seine Zeit ist tatsächlich noch gekommen.


Plötzlich hatte er eine Freundin, so eine kleine Blonde, die gar nicht übel aussah, zugegebenermaßen war sie sogar recht hübsch, und dieses Mädchen hatte er ganz ohne Frage nur seinem penetranten Chauffieren zu verdanken. Ich weiß noch genau, daß mich das damals richtig beunruhigt hat, ihn mit so einem hübschen Mädchen am Arm durch die Stadt laufen zu sehen. Eine Zeit lang war ich dann richtig freundlich zu ihm, nur so aus Vorsicht, weil ich dachte, ihn vielleicht unterschätzt zu haben. Es ist nämlich keine geringe Leistung, irgendwann mit fünfzehn anzufangen, auf einen alten Mercedes zu sparen und fünf sechs Jahre später deswegen eine Freundin zu bekommen. Da muß man diszipliniert sein und strategisch denken, und genau davon wird ja immer gesprochen, daß das so Schlüsselqualifikationen sind für den beruflichen Erfolg. Jedenfalls nehme ich mir vor, den Stumpel nachher zu fragen, was eigentlich aus seiner Freundin geworden ist, ob er die immer noch hat oder inzwischen eine andere, und wenn mich mein Zeitgefühl nicht täuscht, müßte er eigentlich schon längst da sein. Ich habe keine Uhr und auch kein Mobiltelefon, deshalb muß ich die Zeit immer schätzen, und weil ich ganz gut in Übung bin, liege ich selten mehr als fünf Minuten daneben. Fünf Minuten sind wirklich das äußerste. Und jetzt schätze ich, daß es fünf nach halb drei ist und um halb drei waren wir verabredet. Aber so lange ich auch in Richtung der Rastplatzeinfahrt schaue, sehe ich nur VW Golfs und Opels und Audis und weiter hinten, wo die Autobahn hinter einer Kuppe verschwindet, flimmert die Hitze über dem Teer, so daß man denken könnte man sei in Spanien oder Portugal und gar nicht in Deutschland. Meinem Gefühl nach muß es jetzt schon mindestens halb drei sein, und um zu prüfen, ob ich Recht habe, gehe ich auf ein silbernes Cabriolet zu, ein Audi TT-Modell mit diesen kompakten, silbernen Tankdeckeln an der Seite, und frage die blonde Frau darin nach der Uhrzeit. Das heißt, ich will sie danach fragen, komme aber überhaupt nicht dazu, weil sie mich ja für einen Tramper hält und direkt vor meiner Nase den automatischen Fensteröffner betätigt. Mit einem leisen Surren fährt die Scheibe hoch und darin spiegelt sich erst mein Körper und dann mein Gesicht. Die Frau im Cabriolet schaut jetzt in die


andere Richtung, als würde sie mich überhaupt nicht bemerken und als sei die Sache mit der Scheibe reiner Zufall. Sie sieht wirklich außergewöhnlich gut aus, beinahe wie ein Model. Erst bin ich noch von meinem eigenen Gesicht irritiert, ob das wirklich so unangenehm breit ist, aber dann werde ich wütend. Ich kenne das schon von mir, so eine plötzliche, abgrundtiefe Wut, so daß ich mich zu allem fähig fühle, und ich denke mir, daß es sehr traurig ist, daß die Natur so absolut widerliche Menschen hervorbringt, die leider auch noch gut aussehen und viel Geld haben, weil sie sich dieses Cabriolet sonst ja gar nicht leisten könnten. Die guten Menschen, denke ich, sollten hübsch sein und Glück haben mit allem und die Schlechten häßlich und bei ihnen sollte alles schief gehen im Leben. Was ja leider nicht der Fall ist, wie man weiß, aber ich wünsche es mir trotzdem, und vor allem wünsche ich mir, daß ich den Mut hätte, das dieser blonden Frau zu sagen, aber natürlich tue ich es nicht. Ich drehe mich einfach um, als wäre gar nichts passiert, und dabei murmele ich das Wort Schlampe in mich hinein, das ich eigentlich überhaupt nicht mag. Genau gesagt, murmele ich das Wort Schlampe erst in mich hinein, nachdem ich mich umgedreht habe, so daß die Frau es auch ganz bestimmt nicht hören kann, und das ist eigentlich das Furchtbarste an der ganzen Sache, daß ich das Wort erst murmele, nachdem ich schon zwei Schritte weg bin. Ohne mich nochmals umzublicken gehe ich jetzt auf einen älteren Mann zu, der gerade von den Toiletten kommt und sich sein braunes Polohemd in die Shorts stopft, und mich ein bißchen an meinen Vater erinnert. Wie spät ist es, bitte, frage ich ganz höflich, aber er sieht mich nur so mißtrauisch an und antwortet auch gar nicht auf meine Frage, sondern dreht bloß sein dünnes Handgelenk so, daß ich das Zifferblatt seiner Armbanduhr lesen kann. Es ist eine sehr schmale Uhr mit ganz kurzen goldenen Zeigern, eigentlich eine Damenuhr, jedenfalls sehe ich, daß es auf dem Zifferblatt zehn nach halb drei ist. Ich bin jetzt eigentlich davon überzeugt, daß der Stumpel mich vergessen hat, und daß ich auf keinen Fall mehr hier weg komme, wenn ich nicht trampe, aber dafür bin ich überhaupt nicht in der Stimmung. Nicht nur wegen der Frau, sondern insgesamt. Fürs Trampen muß man aber in Stimmung sein, weil es sonst die erniedrigendste Sache auf der ganzen Welt ist.


Ich bin gerade dabei meinen Rucksack zu schultern und mich wieder auf den Weg zum Bahnhof zu machen, als mich jemand von hinten antippt, und als ich mich umdrehe, steht ein gut aussehender, ziemlich großer Typ vor mir, die Sonnenbrille über den Augen, die Haare kurz gescheitelt und die oberen drei Hemdsknöpfe geöffnet, so daß man seine Brust sehen kann. Er riecht nach einem teuren Eau de Toilette, und ich denke, daß ich sicher gleich Ärger und vielleicht sogar ein paar auf’s Maul bekomme – wieso ich das denke, weiß ich aber nicht, ich habe ja nichts getan – und ducke mich schon so ein bißchen, da nimmt der Kerl die Sonnenbrille ab und sagt, He Weigel, was für eine Überraschung. Und tatsächlich: Vor mir steht Marcel, der Drogenmarcel aus der Schule, zwei Jahrgangsstufen über mir, und das verschlägt mir erstmal die Sprache. Felix grinst mich an und dabei sehe ich, daß er sehr weiße Zähne hat, und er sagt, ist ja matt, daß du immer noch trampst. Matt, erinnere ich mich, heißt bei Felix soviel wie cool oder korrekt, und dann sagt er, daß er in den Süden fährt und mich mitnimmt, wenn ich will. Ich gehe also hinter ihm her, und Felix steuert geradewegs auf das silberne Cabriolet zu, wo die blonde drinnen Frau sitzt, und tatsächlich klopft er an die Scheibe und sagt ihr, daß sie aussteigen soll. Er wirft meine Sachen auf die Rückbank und ich lächele die Frau an und sie lächelt mich an, und dann sagt sie, hi, ich bin Verena. Ich gebe ihr die Hand und will hinten einsteigen, aber Felix sagt, daß ich doch vorne sitzen soll, weil wir uns sonst ja gar nicht unterhalten können. Er sagt daß ganz selbstverständlich und Verena klettert auch brav in den Fond, obwohl der Fußraum hinten sehr eng ist und sie wirklich sehr lange Beine hat. Auf den zweiten Blick sieht sie noch besser aus als vorhin und nachdem ich beim Einsteigen auf ihren Hintern geschaut habe, fange ich an nach ihren Brüsten zu schielen, die sich mit Brustwarzen und allem aus dem engen Kleid abdrücken, deswegen drehe ich mich schnell um und schaue in die andere Richtung. Als Felix den Motor startet, werfe ich noch einen Blick in den Rückspiegel, und ganz hinten, bei der Raststätteneinfahrt, taucht gerade ein dunkler Mercedes auf. Es kann aber wirklich sein, daß ich mich täusche, und also sage ich nichts, weil ich ohnehin froh bin, nicht mit diesem peinlichen Stumpel mitfahren zu müssen, sondern hier bei Felix und Verena im Wagen zu sitzen.


Schon auf dem Parkplatz beschleunigt Felix wie ein Verrückter und wird dann immer schneller, obwohl man mit so einem Cabriolet ja nur 140 fahren soll, und ich muß daran denken, daß bei diesen TT-Modellen in den Kurven manchmal die Achsen brechen und wir dann keine Chance hätten. Wir sind nämlich nicht angeschnallt. Ich weiß nicht, ob der Felix es nur vergessen hat oder es grundsätzlich nicht tut, und weil ich vor ihm nicht als Spießer dastehen will, habe ich es auch bleiben lassen. Ich sehe ohnehin schon so unvorteilhaft aus mit meiner kurzen Hose und dem schulterfreien T-Shirt, kein Wunder, daß die Verena da das Fenster hat hochfahren lassen. Der Wind pfeift uns nur so um die Ohren, wie wir die Autobahn runter fahren, das mildert den Juckreiz am Kragen und Felix zündet uns zwei Zigaretten an und fängt an zu reden. Er sagt noch ein paarmal, wie matt er es findet, daß wir uns mal wieder sehen, und daß man die Guten immer wieder trifft, und was ich für ein Glück habe, weil er eigentlich immer nur fliegt und so weiter. Er schaut mich dabei selten an, weil er bei der Geschwindigkeit ja auf die Straße achten muß, deswegen kann ich ihn unauffällig von der Seite betrachten, und dabei fällt mir auf, daß er eine eigenartige Hautfarbe hat. Er ist sehr gleichmäßig braun, aber unter der Bräune schimmert es seltsam weiß. Ich weiß nicht, ob es bloß das Licht hier auf der Autobahn ist, aber es sieht aus, als ob der Braunton mit etwas zu dünnen Aquarellfarben auf eine vollkommen weiße Fläche gepinselt ist, eigentlich sieht es sehr ungesund aus. Felix erzählt jetzt auch, daß er ein work-a-holic ist und in einer internationalen Investmentfirma arbeitet, wo er mit lauter matten Hund zu tun hat, mit denen er die Nächte durch säuft und sich dann am nächsten Morgen mit Koks aus dem Bett holt. Er sagt, daß er natürlich eine Spur zu derb unterwegs ist momentan, aber so müsse das eben sein, und den Bettlern gibt er noch immer was, manchmal ganze Scheine, weil er ja kein Arschloch werden will. Irgendwie habe ich den Eindruck, daß mit den Bettlern sagt er nur wegen mir, entweder weil er mich für einen hält oder ich sein Gewissen wäre oder so. Wahrscheinlich klingt das alles wie ein furchtbares Klischee, aber er erzählt es tatsächlich so, und insgesamt kommt mir die Situation nicht besonders realistisch vor: Das Cabriolet, der Felix mit seiner komisch verspiegelten Sonnenbrille, die Verena, deren blonde Haare so wild im Wind wehen und das ganze Gerede von Geld und Drogen, aber gleichzeitig habe ich den Eindruck,


daß der Felix es durchgezogen hat. Genau da, wo er jetzt ist, wollte er immer sein, und das beeindruckt mich. Ich weiß nicht, wie sehr es mich beeindrucken würde, wenn Verena nicht auf dem Rücksitz sitzen würde, aber sie sitzt ja eben da. Das läßt sich ja nicht ignorieren. Im Gegenteil legt sie es gerade im Moment darauf an, mich restlos fertig zu machen. Nämlich berührt sie mich mit ihrer Hand an der Schulter und bittet mich, kurz ihr Tuch zu halten und dann steckt sie mit einer Spange ihrer Haare am Hinterkopf zusammen. Sie benutzt beide Arme dazu, so daß ich aus den Augenwinkeln ihre völlig glatt rasierten Achseln sehen kann, die mit einem Schwung zu ihren Brüsten hin abfallen, dann nimmt sie mir das Tuch wieder ab und bindet es um ihren Kopf, und jetzt sieht sie wirklich aus wie eine Cabrioletbeifahrerin aus den Sechzigern. Beziehungsweise fast. Ich bemerke nämlich, daß dieses Tuch gerade so ein Tuch ist, wie es die arabischen Frauen tragen, um sich zu verschleiern, nur wird es hier gewissermaßen umgekehrt eingesetzt. Welcher Designer sich das auch immer ausgedacht hat, ich wünsche ihm die Intifada an den Hals, weil ich, glaube ich, noch nie so ein Verlangen nach irgend jemanden gehabt habe und dieses Tuch genau den Zweck hat, dieses Verlangen noch zu verstärken. Felix versucht sich jetzt zu erinnern, wann wir uns das letzte Mal gesehen haben, und er erzählt dabei von einer Situation, mit der ich unmöglich gemeint sein kann, aber ich nicke und sage ja, weil die Geschichte ganz schmeichelhaft ist und unser letztes Treffen nicht besonders glücklich war aus meiner Sicht. Er hat damals noch studiert, in München, und weil ich seine Nummer noch hatte, habe ich ihn einmal angerufen, und er hat gesagt, klar können wir was machen und daß ich doch vorbeikommen soll. Ein paar Tage später bin ich auch vorbeigekommen, und zuerst war alles ganz o.k., wir saßen in seiner Wohnung, haben getrunken, uns unterhalten und ziemlich viel gelacht. Aber später wollte er dann unbedingt auf diese Party und hat mit seinem Mobiltelefon dauernd Leute angerufen und gefragt, ob die da auch hinkommen und wer vermutlich alles dort sein wird. Bevor wir gegangen sind, hat er sich noch umgezogen, Jackett und alles und kräftig Koks gezogen und dann sind wir in seinen Golf gestiegen, den er damals noch hatte, und losgefahren. Wir waren gerade auf der Maximillianstraße, da klingelt sein


Mobiltelefon, er geht ran, nickt ganz hektisch und sagt dauernd einen Straßennamen und plötzlich reißt er das Steuer herum und macht mitten auf der Straße einen U-Turn, daß die Reifen nur so quietschen, und fährt in entgegen gesetzter Richtung weiter. Miese Party, sagt er auf meinen fragenden Blick hin, wir fahren wo anders hin. Im ersten Moment dachte ich, er will mich verarschen, vorhin hat er ja dauernd von dieser Party gesprochen und tausend Leute angerufen, und dann kommt ein Anruf und er fährt nicht mal hin, um sich die Sache selbst abzuschauen. Statt dessen sind wir dann zu einem Club gefahren, der wohl gerade neu aufgemacht hat, und als wir dort waren, und er seine Freunde begrüßt hat, die alle genauso angezogen waren wie er und ich die riesige Schlange gesehen habe, habe ich schon ein ungutes Gefühl gehabt. Die ganze Gruppe ist aber einfach an der Schlange vorbeimarschiert, ich hinten drein, und vorne hat irgendeiner von Felix Freunden den Türsteher mit Handschlag begrüßt und eine Zahl gesagt, und tatsächlich hat der Türsteher alle durch gewinkt, nur bei mir hat er den Kopf geschüttelt. Es war so ein untersetzter Kerl mit kahlrasierten Schädel und fettiger Haut, und ich habe versucht, ihm meine Situation zu erklären, aber er hat nur in die andere Richtung geschaut und gesagt: Abflug, Du Loser, aber dalli. Ja, und dann bin ich an der ganzen Schlange vorbei zurückgegangen, und der Felix war drinnen und ich war draußen, so einfach war das. Und jetzt ist er also wieder da und wir fahren bei dieser unglaublichen Hitze durch die Mark Brandenburg, links und rechts fliegt das ausgetrocknete Land nur so vorbei, und er fragt mich, was ich denn eigentlich mache. Im Rückspiegel sehe ich Verena, die ihre Ellenbogen auf die Vordersitze gestützt hat, damit sie auch was mitbekommt von unserer Unterhaltung und ich erzähle, daß ich Drehbuchschreiben an der Filmhochschule in Potsdam studiere und ohne daß ich es vorher irgendwie beabsichtigt habe, fange ich wie ein Verrückter zu schwindeln an. Ich sage, daß ich vor ein paar Wochen mein erstes Drehbuch verkauft habe und es im nächsten Frühling verfilmt wird, wahrscheinlich mit Yasmin Tabatabai und Ben Becker und daß es auch für einen Preis vorgeschlagen ist und das Drehbudget sich auf circa drei Millionen Euro beläuft und so weiter. Das ist natürlich vollkommener Unsinn, weil ich noch gar kein Drehbuch geschrieben habe und noch nicht einmal eine Idee für


eines habe, vor allem aber auch, weil der Felix ja auf jeden Fall herausbekommen kann, ob das stimmt, spätestens im nächsten Sommer, wenn der Film dann nicht in die Kinos kommt. Der nächste Sommer ist aber noch weit, außerdem habe ich jetzt sowieso schon angefangen, und deswegen erzähle ich eine wilde Geschichte, wovon der Film handelt, und worüber jeder Drehbuchautor den Kopf schütteln würde, aber Felix und Verena finden das matt und spannend und sagen immerzu, daß sie unbedingt zur Premiere kommen wollen. Ich verspreche, ihnen auf jeden Fall zwei Plätze zu reservieren, Loge, sage ich, und Verena holt auch gleich eine Visitenkarte aus ihrem weißen Handtäschchen. Verena Schneider, Wilden Consult steht da drauf, und ich frage mich, ob sie das tut, weil sie davon ausgeht, daß sie und der Felix da ohnehin nichts mehr miteinander zu tun haben werden oder ob das einfach Routine ist. Und dann, ich fasse es nicht, zückt sie einen Kugelschreiber und schreibt ihre Privatnummer dazu, da die Visitenkarte ja nur eine geschäftliche ist, und sagt, ich solle doch mal anrufen, dann könnten wir was abmachen, auf einen Capuccino vielleicht. Das ist so unglaublich, weil ich mit so einer Frau in Wirklichkeit ja niemals auch nur das allergeringste zu tun haben kann. Ich meine, ich finde sie absolut attraktiv und begehrenswert, aber auf einem Abstraktionsniveau, daß jede Skala sprengt, und sie merkt es nicht einmal. Sie glaubt offenbar wirklich, daß wir sozusagen miteinander sprechen können, aber das können wir nicht, auf gar keinen Fall. Natürlich lasse ich mir das alles nicht anmerken, sondern stecke die Karte ganz selbstverständlich in mein Portemonnaie, als würde ich das immer so machen. Und vielleicht rufe ich ja doch mal an, denke ich mir, ein Versuch kann ja nichts schaden.

Wie sie mir ihre Karte gibt, berührt sie mit ihren Fingern kurz meinen Handrücken, und das irritiert mich maßlos, weil das eigentlich gar nicht sein müßte, das hat sie ganz bewußt gemacht, nur verstehe ich den Zweck nicht. Das heißt, ich verstehe ihn schon, so weit er eben zu verstehen ist, aber wenn man es sich genau überlegt, ist ein Rest Unverständliches dabei. Sie hat sich jetzt auch so weit nach vorne gebeugt, daß mich ihre Haare, die so schön im Wind wehen, immer wieder am Hals berühren und das macht mich ganz


unruhig. Ich weiß auch nicht, ob der Felix merkt, was da gerade neben ihm passiert, und wie er eigentlich dazu steht Kurz darauf passiert leider etwas Blödes. Wir sind irgendwo bei Hof und es stehen schon überall diese blauen Hinweistafeln, die anzeigen, daß die Autobahn sich gleich gabelt, und weil wir vorher überhaupt nicht darüber gesprochen haben, erfahre ich erst jetzt, daß die beiden in eine ganz andere Richtung wollen als ich. Sie wollen nach Bamberg und ich möchte nach Weiden, und das eine liegt im Westen und das andere im Süden. Und leider haben sie es sehr eilig und können deshalb beim besten Willen keinen Umweg machen. Das sagen sie zumindest, und zwar sagt der Felix mehrmals hintereinander Supersorry. Supersupersorry mit Betonung auf dem U, so daß es sich wie Ju anhört und das macht mich ganz verrückt, weil es ihm ja überhaupt nicht leid tut und sich dieses Wort wie Säure in meinen Gehörgang ätzt. In dem Moment, wo er es sagt, weiß ich genau, daß mir in Zukunft immer dieses Supersorry einfallen wird, wenn ich an ihn denke, und darauf habe ich überhaupt keine Lust. Dafür hasse ich ihn eigentlich. Dann ist auch schon das Autobahndreieck da, Felix lenkt den Wagen auf den Standstreifen raus, ich nehme meine Sachen von der Rückbank, wir wünschen uns gegenseitig eine gute Reise und im nächsten Moment fahren die beiden davon. Ein paar Sekunden lang sehe ich noch zu wie Verenas rosa Kopftuch im Wind flattert und immer kleiner wird, dann verschwindet das Auto um die Kurve und ich stehe auf diesem gottverlassenen Standstreifen und bin allein. Nur die Autos rauschen vorbei, aber die zählen nicht. Weil ich nichts anderes zu tun habe, schultere ich meinen Rucksack und marschiere einfach los. Auf den ersten hundert Metern drehe ich mich noch ein paarmal um und strecke den Daumen raus, aber weil kein Mensch in Deutschland jemals auf dem Standstreifen hält, gebe ich es bald auf. Stattdessen ziehe ich mein T-Shirt aus, schnalle die Rucksackriemen enger und gehe weiter. Dabei komme ich mir vor wie ein Fremdenlegionär mitten in der Wüste. Dann kommt mir Dennis Hopper in den Sinn, seine Rolle in dem Film Blue Velvet, wo er diesen völlig abgefahrenen Drogenfreak spielt und alle Leute immerzu mit dem Wort Fucker anschreit. Den Film fand ich nicht einmal so gut, aber die Rolle war


grandios, und so gehe ich über und über schwitzend auf dem Standstreifen entlang, und fange an, laut mit mir selbst zu sprechen. Genau gesagt, schreie ich nur so Wörter in der Gegend herum. Du Fucker, schreie ich, und immer wieder Supersorry mit Betonung auf dem U, und dabei sehe ich den Felix im Sand liegen, und ich stehe mit einem Vorderlader über ihm und schlage mit dem Gewehrkolben auf ihn ein und schreie immerzu Supersorry, du Fucker, supersupersorry. Ich brülle wirklich aus Leibeskräften und schwinge auch mit den Armen kräftig aus, was von der Autobahn aus bestimmt völlig krank aussehen muß, aber das ist mir egal. Das brauche ich jetzt, das brauche ich unbedingt, auch wenn mein Mund vom Brüllen immer trockner wird und ich keinen Tropfen Wasser bei mir habe. Ich weiß auch gar nicht, woher ich die ganze Kraft nehme, aber jedenfalls ist sie da. Ich glaube, das Schreien gibt mir erst Kraft, jeder sollte ab und zu einfach durch die Gegend gehen und aus Leibeskräften schreien, nichts macht mehr Sinn. Simon, das ist ein Freund von mir, macht das auch gelegentlich. Läuft durch die Gegend und schreit was ihm gerade in den Sinn kommt. Meistens zwar obszöne Sachen, aber es hilft trotzdem, an sich ist er nämlich ein gelassener Mensch, nicht wirklich entspannt, aber gelassen. Ich werde auch schon viel gelassener, weil man länger als eine Viertelstunde gar nicht schreien kann und sich zwangsläufig beruhigt, und während ich langsam wieder in einen Rhythmus komme, passieren zwei Dinge gleichzeitig. Erstens sehe ich ein Schild, das so einen kleinen Parkplatz ankündigt, 3 Kilometer lese ich, und das gibt mir Mut. Und genau im selben Moment fährt ein Auto an mir vorbei, und noch in der Kopfbewegung sehe ich, daß es ein uralter schwarzer Mercedes ist. Am Steuer sitzt der Stumpel. Ich winke mit beiden Armen und schreie noch mal aus Leibeskräften und weil wir genau auf gleicher Höhe sind, bemerkt er mich auch und sieht mir mitten ins Gesicht. Ich lächele ganz breit, aber in seinem Gesicht regt sich nicht der kleinste Muskel und auch sonst passiert nichts, sondern der Mercedes fährt einfach an mir vorbei. Ich kann das nicht glauben, weil er mir ja wirklich genau in die Augen gesehen hat, aber es hilft nichts. Er ist einfach weg und kommt nicht wieder.


Reminder Don’t forget: Fabel der Geschichte: Das Ich, typischer Mitläufer, will nach Hause fahren, um seine sterbende Oma zu besuchen, um danach dann mit seiner Freundin in den Urlaub zu fliegen. Erlebt so viele schräge Sachen in der Zwischenzeit und ist so hinüber schlußendlich, daß er unmittelbar vor dem Flughafen einen Rückzieher macht und nicht mitfliegt... Der Vergangenheitsraum wird zum Gegenwartsraum und da geht alles zur Hölle (Vergangenheit und Gegenwart) Don’t forget: Nur ein einziger beschissener Tag (quasi Echtzeit), also da muss dauernd was passieren; die Figuren der Vergangenheit: alle abservieren! Keiner kommt ungeschoren davon, auch nicht er selbst (oder doch? Das amoralische system nur ausstellen nicht werten; das hieße: er käme davon! Ist eigentlich geiler... diese furchtbar drögen epischen gerechtigkeitsstories, diese alberne scheitern, mit denen geschichten andauernd enden, wie albern das eigentlich ist...)



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