BV 326 - Nonnenmann, Der Gang durch die Klippen

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Rainer Nonnenmann

Der Gang durch die Klippen

Helmut Lachenmanns Begegnungen mit Luigi Nono anhand ihres Briefwechsels und anderer Quellen 1957–1990

Breitkopf & Härtel



Rainer Nonnenmann

Der Gang durch die Klippen Helmut Lachenmanns Begegnung mit Luigi Nono anhand ihres Briefwechsels und anderer Quellen 1957–1990

BREITKOPF & HÄRTEL WIESBADEN · LEIPZIG · PARIS



Inhalt Vorwort Briefe zwischen Schüler und Lehrer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Zur Editionspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Einleitung Musik in direkter Beziehung zum Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Umgang mit den Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Umfang der Korrespondenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Zeitliche Gliederung und Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Gemeinsame Skepsis gegenüber der seriellen Avantgarde . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Streitpunkte und Differenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 I

Erste Begegnungen 1957/58 Darmstädter Ferienkurse Sommer 1957 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Gespräche und erster Brief: Das Schlüsselerlebnis Il canto sospeso . . . . . . . . . . 48 Ein- und Aufbruch: Varianti und die Entscheidung im Herbst 1957 . . . . . . . . . . 52 Praktische und theoretische Reflexe: Der Weg nach Venedig 1957/58 . . . . . . . . . 64 Selbstverpflichtungen und erste Presseberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Analyseversuch der Varianti . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84

II Kompositionsschüler Nonos 1958 – 60 Venedig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Der Sturz in die Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Stuttgart und Darmstadt Sommer 1959: Plädoyer für künstlerische Freiheit und Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Zweite Hälfte des Studiums in Venedig Winter 1959/60: Souvenir und Due Giri . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 III

Kulturelle Realitäten 1960 – 62 Zurück in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Schott-Verlag, Darmstadt 1960 und Tripelsextett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 Einsatz für und von Nono: Vergebliche Kontaktaufnahmen zum Rundfunk . . . . 166 Gescheiterte Bemühungen und Intolleranza 1960 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Wegweiser in die Zukunft: Klangkomposition und konkrete Poesie . . . . . . . . . . 185 Intolleranza 1960 und Lachenmanns erster Aufsatz über Nono . . . . . . . . . . . . . . 193 Politischer Dissens: Bau der Berliner Mauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Leidenszeit mit Fünf Strophen und Echo Andante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

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Geräusch, Zufall, Menschenstimmen 1962 – 64 Neue Orientierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Improvisation und variable Form: Angelion, Wiegenmusik, Introversion I . . . . . 234 Erste Kölner Kurse 1963: Zunehmende Verwerfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249


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Inhalt

Der eigene Weg: Introversion I und zweite Kölner Kurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Abgrenzung und Selbstbestimmung: Ulmer Vorträge und Introversion II . . . . . . 275

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Kurze Fühlungnahme und erneuter Bruch 1970/71 Politische Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Alltagsklänge und „kritisches Komponieren“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293 Frühjahr 1970: Kontroverse über engagierte Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Differenzen und vergebliche Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 München 1971: Krach und Funkstille . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Latente Gemeinsamkeiten und John Cage als radikale Alternative . . . . . . . . . . . 324 Klärung der Autorschaft von Nonos Darmstädter Vorträgen 1959 und 1960 . . . . 329

VI Wiederbegegnung und Freundschaft: 1972 – 90 Veränderte Rahmenbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Zeit des Schweigens und Reifens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Ähnlichkeiten und Unterschiede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354 Das Wiedersehen: Versöhnung und Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Im Umkreis von Prometeo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Gedankenaustausch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Austausch von Büchern: Auseinandersetzung mit der RAF und Musiktheater . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 400 Dank, zweite Streichquartette und Ende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 Lachenmanns Briefe und andere Dokumente Lachenmanns an Nono . . . . . . . 424 Nonos Briefe und andere Dokumente Nonos an Lachenmann . . . . . . . . . . . . . 425 Briefe und ähnliche Dokumente an Dritte und von Dritten . . . . . . . . . . . . . . . 426 Skizzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Sonstige Manuskripte (Semesterberichte, Vorträge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Erwähnte Noten im Besitz von Nono und Lachenmann . . . . . . . . . . . . . . . . . 430 Zwischen Nono und Lachenmann ausgetauschte Bücher sowie andere gedruckte Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 2. Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 432 3. Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 Verzeichnis der Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 Register der erwähnten Werke Lachenmanns und Nonos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Register der erwähnten Personen und Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451


Vorwort Briefe zwischen Schüler und Lehrer

Innerhalb der musikalischen Avantgarde nach dem Zweiten Weltkrieg sind die Begegnungen von Luigi Nono und Helmut Lachenmann nahezu einzigartig. Sie gehören zweifellos zu den ganz großen Lehrer-Schüler-Beziehungen in der Musik des 20. Jahrhunderts und sind nicht zu vergleichen mit den an Konservatorien und Musikhochschulen geregelten und institutionalisierten Studienverhältnissen. Obwohl Nono auch vor und nach Lachenmann Schüler hatte, wenn auch nur wenige, blieb Lachenmann letztlich der einzige, den er kontinuierlich über einen längeren Zeitraum unterrichtete. Die über hundert Briefe, die beide seit September 1957 bis zu Nonos Tod im Mai 1990 wechselten, sind in mehrerer Hinsicht aussagekräftig. Sie belegen, wie wichtig Nono für Lachenmann als Mensch und Kompositionslehrer war und dies über seine venezianischen Lehrjahre 1958–60 hinaus blieb. Sie geben Einblicke in entscheidende Phasen seines kompositorischen Werdegangs, in denen er – Nonos Beispiel vor Ohren und Augen – sein künstlerisches und politisch-humanes Ethos entwickelte, neue musikalische Wege suchte und schließlich zu eigenen Ansätzen gelangte, die später ihrerseits Nachfolger fanden und Vorbildcharakter für mehrere Schülergenerationen gewannen. Vielleicht bergen sie damit für heutige Kompositionsstudenten auch eine Lehre darüber, unter welchen Anstrengungen und Schmerzen ein Komponist sich und seine Musik entwickeln kann und welche inneren und äußeren Verwerfungen damit einhergehen. Die Briefe verdeutlichen Lachenmanns von Anfang an enge Verknüpfung von kompositorischer Praxis mit theoretischer Reflexion und mögliche ästhetische und technische Beeinflussungen sowohl Lachenmanns durch seinen Lehrer als auch umgekehrt des späten Nono durch seinen einstigen Schüler. Die Briefe sind kostbare Belege von Nonos Lehrtätigkeit und Zeugnisse seines lebenslangen Suchens als Mensch und Künstler. Sie werfen erhellende Streiflichter auf sein schwieriges Verhältnis zur BRD während der 1960er und 70er Jahre und geben Hinweise zur besseren Datierung von Ideen, Plänen, Kompositionen, Texten, Vorträgen, Kontakten und Aufführungen. Über die persönlichen Begegnungen der beiden Komponisten hinaus beleuchtet ihre Korrespondenz die zentralen kompositorischen Entwicklungen des Zeitraums der späten 1950er und frühen 60er Jahre. Die musikalischen Paradigmenwechsel und dominierenden technischen, ästhetischen und (musik)politischen Diskussionen der Zeit schlagen sich in ihr nieder. Umgekehrt beleuchtet die Korrespondenz das musikalische Zeitgeschehen aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie wird dadurch zu einem wertvollen Dokument von allgemein musikhistorischem Aussagewert, das hier erstmals ausgewertet und in umfassenden Auszügen zugänglich gemacht wird. Zu interessanten Quellen werden Lachenmanns und Nonos Briefe nicht zuletzt durch ihren subjektiven und ungeschützten Blickwinkel, was ihre Authentizität verbürgt und eine neue Sichtweise auf bekannte oder nur scheinbar bekannte Sachverhalte öffnet. Wie die meisten brieflichen Mitteilungen, die nicht von vorneherein zur Publikation bestimmt sind, nehmen sie einen Status zwischen mündlichen und schriftlichen Äußerungen ein: einerseits sind sie direkter und spontaner als zur Veröffentlichung bestimmte, sorgfältig abgewogene und – wie wir sie vor allem von Lachenmann kennen – geschliffen ausformulierte Texte;


Vorwort

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andererseits sind sie verbindlicher und überlegter als mündliche Mitteilungen. Ihr Charakter besteht in der Verbindung von konzentrierter Selbstreflexion und verbalisierter Mitteilung. Sie sind zugleich private Aussprache eines Absenders und direkte Ansprache eines Adressaten. Obwohl auch briefliche Äußerungen nicht frei von Rücksichtnahmen oder Selbstdarstellungen sind, so sind es hier doch andere Skrupel und Allüren, die auch ein entsprechend anderes Licht auf die verhandelten Gegenstände werfen. An der Schnittstelle von privater Mitteilung und öffentlicher Verlautbarung gestatten Briefe im Idealfall sowohl Einblicke in die insgeheime Sichtweise der Autoren als auch eine vielleicht weniger verstellte, objektivere Beurteilung der verhandelten Dinge. Auch wenn der Briefwechsel zwischen Nono und Lachenmann durch diese Veröffentlichung nun zu einem Bestandteil ihres Werks wird, ist bei der Lektüre in jedem Fall der private Charakter ihrer Korrespondenz mit zu bedenken, der sich im Laufe der langen wechselvollen Beziehung beider Komponisten ebenso oft und stark veränderte wie die beiden Künstler selbst. Der hohe Informationsgehalt und die unterschiedlichen Sichtweisen rechtfertigen das ungewöhnliche Vorgehen, vorbehaltlich der einstweilen in Teilen noch offenen Quellenlage und der sich wandelnden aktuellen Auseinandersetzungen mit Nonos und Lachenmanns Werken und Schriften, bereits zweiundzwanzig Jahre nach dem Tod des einen und noch zu Lebzeiten des anderen diese Korrespondenz in extenso vorzustellen. Immerhin handelt es sich um Begegnungen, die inzwischen zum Teil über fünfzig Jahre zurückliegen und also genügend historische Distanz bieten, was indes nicht von Rücksichtnahmen auf noch lebende Personen enthebt. Während der 33 Jahre ihrer Bekanntschaft nahmen die Begegnungen der beiden Komponisten nicht immer einen harmonischen Verlauf. Mehrfach kam es zu Spannungen, Krisen, Zerwürfnissen, zu Entfremdungen und mehrjährigem Schweigen, dann wieder zu Versöhnungen, herzlichen Wiedersehen und intensivem Gedankenaustausch. Bei zwei derart von Zweifeln und Selbstzweifeln, persönlichen und künstlerischen Krisen geschüttelten Persönlichkeiten konnte ein solches Auf und Ab kaum ausbleiben. Bei aller Fülle an Sachinformationen sind die Briefe damit stets auch bewegende Zeugnisse ihrer menschlichen Qualitäten, Makel und wechselvollen Stellungen zueinander, zunächst im Verhältnis von Lehrer und Schüler, dann als zunehmend ebenbürtige Komponisten, als Kollegen und Gleichgesinnte, Diskutanten und Kontrahenten, Vorbilder und Rivalen, schließlich als sich respektierende Gesprächspartner und beständige Freunde. Seine in all ihrer Wechselhaftigkeit beglückenden und bereichernden Begegnungen mit Nono charakterisierte Lachenmann rückblickend als „Gang durch die Klippen“.1

Zur Editionspraxis Der private und zuweilen intime Charakter von Nonos und Lachenmanns Korrespondenz belegt, dass beide Komponisten keine Publikation vor Augen hatten, als sie ihre Briefe schrieben. Das gilt für die frühen Briefe bis Mitte der 1960er Jahre ebenso wie für die Zeit um 1970

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Helmut Lachenmann, „... und sehen, was ist zu tun ...“. Unterwegs zur „Quelle“: LUIGI NONO, in: Von Kranichstein zur Gegenwart. 50 Jahre Darmstädter Ferienkurse (1946–1996), hrsg. von Rudolf Stephan, Lothar Knessl u. a., Stuttgart: DACO 1996, S. 216.


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und nach der Wiederbegegnung der beiden 1983, als auch Lachenmann zu einer Persönlichkeit des öffentlichen Interesses geworden war und immer mehr Publikationen über ihn und Nono entstanden. Die verhältnismäßig wenigen Schreiben während der 1980er Jahre verraten keinerlei Hang zu irgendwelchen Stilisierungen. Nichts in ihnen deutet auf Gedanken an eine spätere Veröffentlichung. Nonos Briefe werden immer lapidarer, fragmentarischer und kommen zuweilen fast ganz ohne Syntax aus. Seine kryptischen letzten Mitteilungen sind an jemanden gerichtet, mit dem er auch sonst in engem Kontakt stand, den er traf und mit dem er oft und ausgiebig telefonierte, während diese Botschaften für dritte eher unverständlich bleiben. Auch Lachenmanns spätere Schreiben verlieren gelegentlich ihren argumentativen, durchformulierten Duktus und nähern sich in Einzelfällen Nonos Telegrammstil an. Gleichwohl haben Nono und Lachenmann die Briefe des jeweils anderen sorgfältig bewahrt. Von einigen eigenen Briefen hat Lachenmann überdies Durchschläge angefertigt und behalten. In jedem Fall musste die vorliegende Dokumentation auf den privaten Charakter der Briefe Rücksicht nehmen, sowohl was die inhaltliche Auswertung als auch was die Auswahl von original wiedergegebenen Textstellen betrifft. Die Publikation ist also keine komplette historisch-kritische Edition des Briefwechsels, die Auslassungen oder Schwärzungen erfordert hätte. Stattdessen handelt es sich um eine nahezu vollständige Auswahl-Veröffentlichung mit dem Schwerpunkt auf ästhetischen und kompositorischen Aspekten, auf Schwierigkeiten der künstlerischen Praxis sowie gesellschaftlichen Fragen und politischen Diskussionen. Äußerungen zu privaten Umständen, Sorgen, Krisen, Familien- und Gesundheitsproblemen oder anderen Glücks- und Wechselfällen des Lebens konnten nur dort aufgenommen wurden, wo sie nicht die Intimsphäre der beiden Autoren und der in ihren Briefen genannten Personen verletzen. Eingebunden sind die Briefe in den durchgehenden Rahmentext des Chronisten, der sie ordnet, kommentiert, ergänzt und ihren Inhalt und Entstehungskontext aufarbeitet. Das Quellenmaterial sollte dabei nicht restlos erschöpfend ausgewertet, sondern primär überhaupt erstmalig vorgestellt werden, um auch anderen die Möglichkeit zu bieten, zwischen den darin angesprochenen Inseln, Atollen und Klippen neue Fährten zu suchen und zu finden. Die versammelten Briefe und Texte bieten dazu reichlich Stoff. Der Verbleib der Briefe ist weitgehend gesichert. Lachenmanns Briefe an Nono gingen aus Nonos Nachlass in das 1993 gegründete Archivio Luigi Nono (ALN) in Venedig über. Zitiert werden sie im Folgenden nach der dortigen Katalogisierung. Die erste Seite von Lachenmanns erstem Brief an Nono vom 10. September 1957 trägt dementsprechend die Signatur (ALN Lachenmann, 1957- 09-10, 1). Die Signatur setzt sich aus dem Namen des Verfassers, dem Datum des Schreibens in der Reihenfolge von Jahr-Monat-Tag zusammen und zeigt nach dem Komma die Seitenzahl der betreffenden Briefstelle. Ende August 2003 kam Lachenmann der Bitte des Chronisten nach und suchte die Briefe Nonos aus seinen sämtlichen Korrespondenz-Ordnern heraus, um sie ihm nebst anderen Briefen, Berichten und Texten in Kopie zur Verfügung zu stellen. Da Lachenmann sein musikalisches Privatarchiv der Sammlung Helmut Lachenmann (SHL) in der Paul Sacher-Stiftung in Basel versprochen hat, ist der Verbleib sämtlicher Schriftstücke aus Lachenmanns Privatarchiv einschließlich der Nono-Briefe an Lachenmann einstweilen noch in Bewegung. Im Folgenden sind sie jedoch bereits vorsorglich als Bestand der SHL gekennzeichnet und mit analogen Signaturen wie die Lachenmann-Briefe im ALN versehen. Danach erhält Nonos erstes sechsseitiges Antwortschreiben an Lachenmann vom 24. Oktober 1957 die Signatur (SHL Nono, 195710-24, 1– 6).


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Vorwort

Die Wiedergabe der Briefzitate folgt diplomatischen Editionspraktiken und in Abstimmung der deutsch-italienischen Gesamtausgabe des Briefwechsels.2 Offensichtliche Schreibund Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert. Die Orthographie der Primärquellen wurde nach den Regeln der alten Rechtschreibung belassen. Die Interpunktion blieb weitgehend unangetastet und wurde lediglich korrigiert, wenn Verständnis und Lesefluss sonst erschwert worden wären. Unangetastet blieben auch Nonos unbeholfenes Deutsch und sein unverwechselbarer, kursorischer Schreibstil. Beides macht ganz wesentlich die eigentümliche Ausdruckskraft seiner Briefe aus. Die aus seinen italienischen Briefen ins Deutsche übersetzten Passagen wurden im Haupttext durch Kursivschreibung gekennzeichnet. Umgekehrt konnte aber Lachenmanns rudimentäres Italienisch nicht getreu ins Deutsche übersetzt werden. Die lexikalischen, syntaktischen und orthographischen Fehler seiner häufig von Latinismen durchzogenen italienischen Briefe finden sich in der deutschen, ebenfalls durch Kursivschreibung gekennzeichneten Übersetzung stillschweigend korrigiert. Um dennoch einen Eindruck seines Ausdrucksvermögens in der fremden Sprache zu vermitteln, sollten ursprünglich zumindest einige ausgewählte italienische Originalbriefe in Fußnoten wiedergegeben werden. Das Vorhaben wurde jedoch Ende 2008 nach Bekanntwerden der geplanten Gesamtausgabe des Briefwechsels aufgegeben. Neben den Briefen aus dem ALN und der SHL bzw. Lachenmanns Privatarchiv wurden zahlreiche weitere Quellen herangezogen: Bücher, Partituren, Vortragsmanuskripte, Aufzeichnungen, Notizbücher, Kompositionsskizzen, Semesterberichte und Briefe an und von Dritten. Die hier erstmals zugänglich gemachten Primärquellen bestätigen einerseits manche zum Teil erst Jahre später in Vorträgen und Aufsätzen bezogene Position oder lassen sie andererseits durch den jeweils anderen musikgeschichtlich-biographischen Zusammenhang in verändertem Licht erscheinen. Um die Briefe von und an Dritte deutlich von der Nono-Lachenmann-Korrespondenz zu unterscheiden, gibt ihre Signatur stets die Namen von Verfasser und Adressat an. Lachenmanns zehnseitiger Brief über seinen ersten Besuch der Darmstädter Ferienkurse im Sommer 1957 an Johann Nepomuk David, seinen Lehrer an der Stuttgarter Musikhochschule, erhält daher die Signatur (SHL Lachenmann/David, 195707-17, 1–10). Eine weitere wichtige Quelle sind Lachenmanns insgesamt zehn, teils recht umfangreiche Semesterberichte an die Studienstiftung des deutschen Volkes, die sich als Schreibmaschinen-Durchschläge in Lachenmanns Privatarchiv und dem Archiv der Studienstiftung in Bad Godesberg erhalten haben. Wegen guter Studienleistungen und der angespannten finanziellen Situation seiner Familie erhielt Lachenmann seit Mai 1957 ein Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes, zunächst in Höhe einer monatlichen Rate von 50,– DM, ab dem zweiten Fördersemester 1957/58 mit leichtem Zuschlag. Als evangelischer Geistlicher verfügte sein Vater Ernst Lachenmann (1897–1966) – obgleich Dekan im gehobenen Kirchendienst – nur über ein bescheidenes Einkommen. Davon waren die kinderreiche Familie sowie eine Haushaltskraft und hohe Arztkosten zu bezahlen, da die Mutter Gertrud (1903–1963, geb. Zeller) seit den Entbehrungen des Krieges unter schwerer Arthritis litt. Die Lebensführung der Familie war dadurch eingeschränkt. Von den insgesamt acht Kindern lebte 1957 neben Helmut Lachenmann noch die jüngste Schwester Elisabeth (*1940) zu Hause. Der älteste Bruder Ulrich 2

Alla ricerca di luce e chiarezza: l’epistolario Helmut Lachenmann – Luigi Nono (1957 – 1990), hrsg. von Angela Ida De Benedictis und Ulrich Mosch (= Archivio Luigi Nono, Studi 4), Florenz: Olschki 2012.


Zur Editionspraxis

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(*1926) war mit achtzehn Jahren im Zweiten Weltkrieg gefallen. Die anderen Geschwister waren bereits mehr oder minder selbständig: Der zweitälteste Bruder Hans (*1927) war Vikar, die älteste Schwester Gertrud (*1929) Studienreferendarin, die zweitälteste Hanna (*1930) Diakonisse und die nächste Schwester Margarete (*1931) Arzthelferin in London. Der jüngere Bruder Walter (*1937) interessierte sich von Jugend auf für Jazz, war nach der mittleren Reife als Lehrling in den Buchhandel gegangen und sollte ab 1982 im eigenen Oreos-Verlag die umfangreiche Buchreihe Collection Jazz herausbringen. Der Vater brachte den Studien seines Sohnes Helmut auf dem Gebiet der neuen Musik kaum Verständnis entgegen und war froh, nicht dessen finanzielle Unterstützung tragen zu müssen. Als Stipendiat der Studienstiftung war Lachenmann verpflichtet, am Ende eines jeden Semesters, so erstmals nach dem Sommersemester 1957, einen Bericht über seine Tätigkeiten, Studien, Lehrinhalte, Ziele und Projekte zu schreiben. In der Zeit von Lachenmanns Aufenthalten bei Nono in Venedig während der Wintersemester 1958/59 und 1959/60 ruhte verständlicherweise der schriftliche Gedankenaustausch zwischen beiden. Auch während Lachenmanns Weihnachtsaufenthalten zu Hause bei den Eltern sowie während der Sommersemester an der Stuttgarter Musikhochschule oder während Nonos vieler Reisen korrespondierten beide nur selten. Diese Lücken im Briefwechsel schließen Lachenmanns Semesterberichte über die beiden Winterhalbjahre bei Nono in Venedig und die in Stuttgart verbrachten Sommersemester. Seine Berichte für die Studienstiftung geben Einblicke in das Leben des jungen Studenten auf der Giudecca, seine Erlebnisse mit den Kunstschätzen Venedigs, über Nonos Lehrmethoden und Positionen, Lachenmanns Übungen und Experimente mit seriellen Verfahren, kompositorische Studien, Lektüren, Werkanalysen, Gedanken, Vorträge, die Arbeit an eigenen Stücken und sonstige Ereignisse. Wegen ihres großen Informationsgehalts und ihres eigenen Blickwinkels wurden diese zehn Berichte komplett in die Dokumentation aufgenommen, obwohl sie teilweise inhaltlich mit Lachenmanns Briefen übereinstimmen. Die sich zuweilen daraus ergebenden Redundanzen wurden in Kauf genommen, um sowohl mögliche inhaltliche Varianten zwischen Briefen und Berichten zu dokumentieren als auch die Bedeutung kenntlich werden zu lassen, die das gleich mehrfach Mitgeteilte für Lachenmann hatte. In anderen Fällen werden Briefe nur auszugsweise im Original wiedergegeben und ihr Inhalt lediglich zusammengefasst. Insgesamt wurde einer komprimierten Darstellung des Geschehens der Vorzug vor bloßer Vollständigkeit bei der Wiedergabe der Quellen gegeben. Letzteres blieb der vollständigen Edition des Briefwechsels vorbehalten. Berücksichtigt wurden in der vorliegenden Dokumentation auch Veröffentlichungen der beiden Komponisten, insbesondere ihre Äußerungen über den anderen, welche die inoffiziell artikulierte Sichtweise ihrer Briefe ergänzen. Während von Nono nur wenige Texte über Lachenmann existieren, hat sich Lachenmann frühzeitig, regelmäßig und ausgiebig schriftlich über Nono und dessen Musik geäußert. Im Sinne einer oral history wurden auch Gespräche einbezogen, die der Verfasser im Sommer 2003 mit Nuria Schoenberg Nono und Ende 2004 mit Helmut Lachenmann führte. Ausgewertet wurden auch einige E-Mails und das fast dreistündige Videointerview von Bettina Ehrhardt mit Lachenmann, das im November 2003 im Vorfeld der Produktion ihres Films Intolleranza 2004 entstand, der im Auftrag der MusikTriennale Köln und des WDR Köln gedreht und bei der MusikTriennale Köln 2004 gezeigt wurde. Als wichtige Ergänzungen und Klarstellungen sind auch zahlreiche Kommentare eingeflossen, die Lachenmann im Zuge seiner gründlichen Lektüre des Manuskripts der


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Vorwort

vorliegenden Dokumentation im Laufe des Jahres 2005 schriftlich abgegeben hat. Auf die zu beiden Komponisten existierende umfangreiche Sekundärliteratur wurde nur zum Zweck der Kommentierung des zeitlich-gedanklichen Horizonts der Originalquellen zurückgegriffen.

Danksagung Ermöglicht wurde die vorliegende Dokumentation durch ein – dank Fürsprache von Dietrich Kämper (Köln) – zweimonatiges Forschungsstipendium des Centro Tedesco di Studi Veneziani in Venedig, während dessen der Verfasser in den Monaten Juli/August 2003 im Archivio Luigi Nono Lachenmanns Briefe und andere Quellen einsehen konnte. Ein Förderpreis der Ernst von Siemens Musikstiftung München 2004 ermöglichte dem Autor einen zweiwöchigen Studienaufenthalt in der Paul Sacher-Stiftung in Basel sowie einen Teil der Transkriptionen, Übersetzungen, Recherchen und redaktionellen Arbeiten. Zu danken ist dem Archivio Luigi Nono in Venedig für die freundliche Bereitstellung der Lachenmann-Briefe, von Fotographien und anderer Quellen sowie die Genehmigung zu deren Abdruck, namentlich der Präsidentin der Stiftung Fondazione Archivio Luigi Nono ONLUS Nuria Schoenberg Nono (Venedig), die die Dokumentation gelesen sowie gemeinsam mit Angela Ida De Benedictis durch Anmerkungen bereichert und schließlich in der vorliegenden Form für den Druck freigegeben hat. Der damaligen Archivarin des Nono-Archivs Erika Schaller (Gerode) ist neben Entzifferungshilfen, Hinweisen und Anregungen auch die Bereitstellung von Druckvorlagen für Fotos und Autographen zu danken. Der Paul SacherStiftung und insbesondere den dort für die Sammlung Helmut Lachenmann verantwortlichen Mitarbeitern Evelyn Diendorf und Ulrich Mosch (Basel) verdankt der Verfasser umfassende Einblicke in Lachenmanns Skizzenmaterial, die Überlassung von Kopien der LachenmannBriefe und die Genehmigung zum Abdruck einzelner Autographe. Dem Verlag Breitkopf & Härtel und dort insbesondere Frank Reinisch (Wiesbaden) zu danken sind das unermüdliche Interesse an der vorliegenden Publikation, kritische Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge sowie die Langmut beim Warten auf das Manuskript, ferner die Einsichtnahme in Lachenmanns Verlagskorrespondenz und das Fotomaterial des Verlags, Hilfe beim Erstellen des Personen- und Werkregisters sowie das sorgfältige Lektorat. Dem Archiv des Internationalen Musikinstituts Darmstadt, dort insbesondere Jürgen Krebber und Claudia Meyer-Vogt, ist die Einsicht in Nonos und Lachenmanns Korrespondenz mit den Leitern der Darmstädter Ferienkurse Wolfgang Steinecke und Ernst Thomas zu danken. Das Historische Archiv des WDR und seine Mitarbeiterinnen Petra Witting-Nöthen und Andrea Schmidt (Köln) gewährten Einblicke in Akten und Korrespondenzen der Redakteure für Neue Musik am WDR während der 1950er bis 70er Jahre. Einsicht und Abdruckgenehmigungen von Briefen und anderen Texten gestatteten dankenswerterweise auch Mariano Etkin (Buenos Aires), Nicolaus A. Huber (Essen), Hartmut Lück (Bremen), Heinz-Klaus Metzger (Berlin), Giacomina da Re (Vascon) und Otto Tomek (Schwetzingen). Bettina Ehrhardt (München) verdankt der Verfasser die Einsicht in ihr fast dreistündiges Video-Interview mit Lachenmann. Hilfestellung bei der Übersetzung der italienischen Schriftstücke gaben Rosa Weingarten (Bologna), Barbara Kuhn (Konstanz), Magdalena Tkocz (Köln) und vor allem Birgit Bruhn (Köln). Dank für Auskünfte gebürt neben den bereits genannten Personen ferner Josef Häusler (Freiburg/Breisgau), Evelyn Hansen, Werner Grünzweig und Gudrun


Danksagung

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Schneider von der Akademie der Künste Berlin, Hans-Peter Jahn vom SWR-Stuttgart, Lydia Jeschke vom SWR-Baden-Baden und Freiburg sowie Michael W. Ranta (Köln). Dem Ehepaar Renate Liesmann-Baum und BMdI a. D. Gerhart Baum (Köln) verdanke ich über Jahre hinweg viele interessierte Erkundigungen nach der Publikation bei verschiedenen Treffen in Konzertpausen. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich auch bei meiner Frau Kathrin Bongartz (Köln), die mich mehrmals längere Zeit nach Venedig und Basel hat ziehen lassen, meine Arbeit aus der Nähe und Ferne mit Interesse begleitet und mir hier und dort schöne Wiedersehen bereitet hat. Besonders zu danken ist schließlich Helmut Lachenmann (Höfingen), der sich von Anfang an aufgeschlossen zeigte gegenüber der vorliegenden Dokumentation, der die entsprechenden Briefe und viele weitere Textmanuskripte aus seinen Unterlagen herausgesucht, kopiert, dem Verfasser zur Verfügung gestellt und Informationslücken im Quellenmaterial geschlossen, Unklarheiten aufgeklärt und eine Fülle an Fragen bereitwillig beantwortet hat, in E-Mails, Briefen, langen Gesprächen bis in die frühen Morgenstunden sowie mit zahllosen Anmerkungen und Kommentaren zu einer ersten Fassung des Manuskripts der vorliegenden Publikation. Die Dokumentation verdankt ihm wichtige Aufschlüsse, Ergänzungen, Richtigstellungen und zahlreiche Hintergrundinformationen. Sie wäre ohne ihn in dieser Form nicht zustande gekommen. Köln, März 2012

Rainer Nonnenmann



I Erste Begegnungen 1957 / 58 Darmstädter Ferienkurse Sommer 1957

Ich respektiere das Gegebene. Daneben aber freilich auch das Werdende, denn eben dies Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein. Alles Alte, soweit es Anspruch darauf hat, sollen wir lieben, aber für das Neue sollen wir recht eigentlich leben. Theodor Fontane1

Mit einem Stipendium des Magistrats der Stadt Darmstadt kann Lachenmann vom 16. bis 28. Juli 1957 erstmalig die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik Darmstadt besuchen. Während des zwölften Jahrgangs der vierzehntägigen Kurse nimmt er an Stockhausens Seminar über das Zeitkontinuum teil, zu dessen Beginn er Stockhausens Referat Musik und Sprache hört sowie die Tonbandvorführungen von im Vorjahr uraufgeführten Werken: Stockhausens Gesang der Jünglinge, den er zusammen mit den Studien I und II bereits selbst auf einer Langspielplatte der Deutschen Grammophongesellschaft besitzt, Boulez’ Marteau sans Maître und Nonos Il canto sospeso. Im Seminar von Hermann Scherchen lernt er ihm bislang unbekannte Werke Anton Weberns kennen, nicht zuletzt unter Aspekten der Interpretation.2 Henri Pousseur – dem Heinz-Klaus Metzger als Übersetzer assistiert – spricht über serielle Verfahren, Metzger selbst verliest seine deutsche Übersetzung von Boulez’ Vortrag Alea – der Zufall in der Musik. Von Theodor W. Adorno hört Lachenmann die vierteilige Vortragsreihe Kriterien der neuen Musik. In der von Adorno eingerichteten Sprechstunde hält er dem Frankfurter Philosophen vor, dessen Forderung, Musik müsse das Erlebnis des Schocks mit sich führen, um nicht unwahr zu sein, sei ebenso ein „neudeutsches Relikt“ wie die Rolle der Dissonanz als Zeichen des Unheils und der Konsonanz als Zeichen der Versöhnung, wie sie Adorno am Beispiel von Alban Bergs Violinkonzert erörtert hatte. Von Nono hört Lachenmann den Vortrag Die Entwicklung der Reihentechnik3 und das Seminar zu Schönbergs Variationen für Orchester op. 31, die bei den Ferienkursen 1955 vom Südwestfunk-Sinfonieorchester Baden-Baden unter Leitung von Hans Rosbaud aufgeführt worden waren. In seinem Schönberg-Seminar stützt sich Nono auf ein Kolloquium mit Hermann Scherchen in Gravesano und auf René Leibowitz’ Analyse der Orchestervariationen in dessen Introduction à la musique de douze sons (1949). Lachenmann fasst zu Nono ­Vertrauen,

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Theodor Fontane, Der Stechlin (= Romane und Erzählungen, Band 8), hrsg. von Gotthard Erler, Berlin: Aufbau 31993, S. 278. Hermann Scherchen begiff Nonos Musik im Kontext der Zweiten Wiener Schule. Als Dirigent hatte er die Uraufführung von Il canto sospeso im Rahmen der Kölner Reihe „Musik der Zeit“ am 24. Oktober 1956 nicht zufällig zwischen früh-atonal expressionistische Werke Weberns und Schönbergs gesetzt und eben nicht zwischen jene späteren Zwölftonkonstruktionen Weberns, auf welche sich die seriell komponierenden Komponisten damals beriefen. Luigi Nono, Die Entwicklung der Reihentechnik, in: Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Band 1, hrsg. von Wolfgang Steinecke, Mainz: Schott 1958, S. 25–37.


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Erste Begegnungen

Luigi Nono während seiner Analyse der Variationen für Orchester op. 31 von Arnold Schönberg bei den Darmstädter Ferienkursen 1957

weil dieser aus Schönbergs Komponieren die Forderung ableitet, dass der Komponist das Verfahren beherrschen müsse und nicht das Verfahren den Komponisten. Nono selbst besucht während der Kurse auch die Seminare und Vorträge von Stockhausen – umgekehrt nimmt Stockhausen auch an Nonos Veranstaltungen teil. Zwei Tage vor seinem ersten Besuch der Darmstädter Ferienkurse beginnt Lachenmann Mitte Juli damit, seinen Bericht über das vergangene Sommersemester an die Studienstiftung des deutschen Volkes abzufassen. Da er wegen der Ferienkurse die Arbeit an seinem Report unterbrechen muss und erst direkt nach den Kursen am 31. Juli beenden kann, gliedert sich der Bericht in zwei Teile. Wegen der Fülle der Ereignisse und Erfahrungen fällt der Text entsprechend umfangreich aus. Bemerkenswert ist, dass Lachenmann bereits vor seinen ersten persönlichen Begegnungen mit Nono, Scherchen, Pousseur und Stockhausen gewisse Vorstellungen über die Versuche zur Objektivierung von Musik anhand serieller Mechanismen hatte und diese skeptisch beurteilt. 1954 hatte er Adornos wirkungsmächtigen Vortrag Das Altern der Neuen Musik in Stuttgart gehört und im selben Jahr bei den Donaueschinger Musiktagen die legendäre Matinee mit John Cage und David Tudor erlebt. Die umstrittenen Aspekte des Darmstädter „Avantgarde-Betriebs“ waren ihm daher nicht ganz unbekannt. Zudem hatte Lachenmann im Harmonielehre- und Kontrapunktunterricht bei David im Sommersemester 1957 Werke von Anton Webern analysiert und Studien mit Zwölftonreihen betrieben. Als Hausarbeit für den Unterricht bei David waren damals die Introduktion und vier Fugen auf der Grundlage der Zwölftontechnik entstanden. Unabhängig von seinem Lehrer hatte er die Arbeit am Rondo für zwei Klaviere begonnen und ebenfalls auf eigene Faust da-


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mit angefangen, die gleichbesetzte Partitur von Boulez’ seriell durchorganisierten Structures I für zwei Klaviere zu studieren. Außerdem hatte er an einen Hochschulwechsel gedacht und überlegt, zu Olivier Messiaen oder René Leibowitz nach Paris zu gehen. Mit einem Empfehlungsschreiben an den Leiter der Darmstädter Ferienkurse Wolfgang Steinecke hatte David schließlich Lachenmanns Antrag auf ein Teilnahmestipendium bei den Kursen unterstützt. Der legendäre Nimbus der Ferienkurse als Brutstätte neuer ästhetischer und kompositorischer Entwürfe und Diskussionen wirft für Lachenmann seinen Schatten voraus. Zugleich erfüllt von „Interesse und Mißtrauen“ kann er den Beginn der Kurse kaum erwarten. Er ahnt voraus, dass sein Besuch dort für ihn entscheidend werden wird, wofür er sich vorsorglich mit den Schriften von Thomas von Aquin zu „wappnen“ gedenkt. Erstaunlich an seinem Semesterbericht ist die kritische Selbsteinschätzung und skrupulöse Strenge des damals gerade 21-jährigen gegen sich selbst, auch sein Misstrauen gegenüber dem ersten Erfolg, den er am 5. Juni 1957 mit der Aufführung seiner Variationen über ein Thema von Franz Schubert für Klavier durch seinen Studienfreund, den Pianisten Jost Cramer, in einem Konzert in Stuttgart erzielt hatte.4 Der Teil seines Berichts über seine Erlebnisse bei den Ferienkursen zeigt ihn zugleich schockiert, neugierig, fasziniert und beunruhigt. Helmut Lachenmann stud. mus. Leonberg, Pfarrstr. 15

Leonberg, im Juli 1957

An die Studienstiftung des deutschen Volkes Bad Godesberg Semesterbericht über das Sommersemester 1957 Im vergangenen Semester habe ich neben den Hauptfächern und Komposition und dem obligaten „großen Chor“ wieder die musikgeschichtlichen Vorlesungen von Dr. Karl Michael Komma besucht; dazu kam aber diesmal der Eintritt ins Privatmusiklehrerseminar, wo es mir gelang, in einen Kurs genommen zu werden, der schon ein Jahr früher begonnen hatte, so daß ich die Prüfung im nächsten Jahr ablegen kann. Ich weiß nicht, ob und wie diese Abkürzung sich im Zeugnis auswirken wird, aber ich möchte mit diesen Dingen möglichst rasch zu Ende kommen, um mich ganz dem widmen zu können, wozu ich mich eher berufen fühle. – Ich denke zur Zeit sehr oft an einen Hochschulwechsel, an eine Fortsetzung vor allem meiner kompositorischen Studien in Paris bei Messiaen oder Leibowitz. Aber damit hat es noch Zeit. Es begann in diesem – sehr kurzen – Semester für mich mit Vorbereitungen auf einen Vortragsabend in der Musikhochschule, an dem ich die Sonate op. 1 von Berg spielen und ein junger Pianist, Jost Cramer, „Variationen über ein Thema von Schubert “ von mir aufführen sollte. Es ergaben sich Terminschwierigkeiten, der Abend mußte einige Male verschoben werden und fand schließlich erst am 5. Juni statt. Es war ein

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Vgl. Rainer Nonnenmann, Melancholie in Franz Schuberts Walzer in cis-Moll D 643 und Helmut Lachen­ manns Schubert-Variationen (1956), in: Archiv für Musikwissenschaft 54 (1997), S. 247–268.


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Erste Begegnungen ziemlicher Erfolg nach außen hin. Nun sind die Variationen ein so wirkungsvolles Stück, daß ich mich durch den Anklang, den es gefunden hat, keineswegs als Komponist – jedenfalls, was das Wesentliche betrifft – bestätigt sehen darf, und sei es in noch so engem Kreise. Zwar trug ich die Illusion einer wirklichen Bestätigung meiner Musik von außen, wonach ich mich natürlich immer sehne, eine Zeitlang mit mir herum und war sehr glücklich dabei; aber ich glaube, das war eine Täuschung. Die Arbeit an einer neuen Komposition, bei welcher ich versuchen will, mehr als bisher zu mir selbst zu finden, hat mich wieder ernüchtert, zumal seit ich das Gefühl habe, daß die Auseinandersetzung mit dem Thema eines Schubert bei allen Ansprüchen an den Komponisten, die eine solche Aufgabe mit sich bringt, ihm doch eine gewisse Selbstentblößung erspart, und ich frage mich gegenwärtig oft, ob das, was viele Leute im Zusammenhang mit meinen Variationen Z u c h t nannten, nicht einfach demütige F e i g h e i t war –, ob nicht jede b e w u s s t e Objektivierung beim Komponieren zumindest zu dem Verdacht berechtigt, es handle sich um Feigheit, vor allem da, wo diese Objektivierung auf Kosten der künstlerischen Spontaneität vollzogen wird. Von solchen Problemen – belästigt – möchte ich wohl sagen, denn sie sind nicht gerade dazu angetan, meine Produktivität zu steigern – aber das ist wohl gut so – so innerlich beschäftigt und beunruhigt also sehe ich den „Ferienkursen für neue Musik“ in Darmstadt mit Interesse und Mißtrauen entgegen: dort werde ich die Leute finden, deren wagemutigen Avantgardismus ich heute noch Feigheit zu nennen versucht bin, Feigheit in dem soeben genannten Sinne des sich Berufens auf mathematisch definierte serielle Formeln, auf „Objektives“ also, auf ein Komponieren, das dem menschlichen Geist nur die Funktion des Auslösens eines Vorgangs zugesteht, der selber, soviel ich sehe, mit Geist herzlich wenig zu tun hat. Heute ist der 14. Juli; übermorgen beginnen die „Ferienkurse“, ich weiß also im Augenblick noch nicht, wie der Schluß dieses Berichts und meine aufgeklärte Stellungnahme zu den dortigen Bestrebungen aussehen wird. Bei Prof. Uhde habe ich – durch jene Vorbereitungen aufs Vorspiel von der intensiven Beschäftigung mit einem andern Werk einen ganzen Monat lang abgehalten – vor allem an den Paganini‑Variationen op. 35 von Brahms gearbeitet, allerdings ohne Hoffnung auf eine konzertreife Bewältigung der technischen Schwierigkeiten. Immerhin hat mich die Arbeit daran und die gleichzeitige Beschäftigung mit Cortots „Grundbegriffe der Klaviertechnik“ pianistisch viel selbständiger gemacht, so daß ich es sogar gewagt habe, eine Aufforderung zu einem Klavierabend in der evangelischen Akademie Bad Boll nicht zurückzuweisen, wie ich es vor zwei Monaten noch unverzüglich getan hätte. Das endgültige Zustandekommen ist allerdings noch nicht entschieden. Zu dieser Ehre bin ich übrigens durch jenen erwähnten Vortragsabend an der Stuttgarter Musikhochschule gekommen: Pfarrer Stroh, der Leiter der Akademie, hatte damals mein Spiel gehört. Inzwischen habe ich mit dem Studium der Bagatellen op. 119 von Beethoven begonnen und erlebe täglich mehr Freude damit, muß jetzt allerdings wegen der Ferienkurse vorläufig die Arbeit daran abbrechen. Ein weiterer Teil meiner pianistischen Studien galt einem eigenen Werk, das ich inzwischen bei Professor David beendet hatte; es hat den Titel „Introduktion und vier Fugen“ und stellt eine – für mich vielleicht abschließende – Auseinandersetzung mit der Fuge dar. Es handelt sich um vier Fugen, die je einen der vier Modi einer (nebenbei: zwölftöni-


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gen) Reihe zum Thema haben und auch sonst motivisch vielfältig miteinander zusammenhängen, wobei dennoch jede Fuge ihr eigenes Gesicht hat. Alle vier Fugen sind in ihren wesentlichen Bestandteilen vorgeformt in der Introduktion, die – keineswegs atonal – nur aus Tönen der Reihe besteht und zwar aus viermal den vier Modi dieser Reihe (Grundgestalt, Umkehrung, Krebs und Umkehrungskrebs), nämlich nacheinander von es, b und c aus (Grundtonart: C) mit vier verschiedenen Anordnungen der Modi. Das Ganze (gemeint ist die Introduktion) ist eine dynamische Studie eines Diminuendos vom ff ins pp; so lautete auch die von David gestellte Aufgabe. Der ganze Zyklus ist, handwerklich und formal gesehen, ziemlich gut geworden und hat die Anerkennung von Professor David. In den letzten Wochen habe ich bei David vor allem Studien im Hinblick auf die kommenden Darmstädter Ferienkurse betrieben, habe Werke von Webern analysiert, vor allem die Klaviervariationen op. 27, „Das Augenlicht“ op. 26 und die erste Kantate op. 29, außerdem, habe ich mich mit dem ersten Stück der „Structures“ von Boulez beschäftigt. Aber andere analytische Studien galten den vier Duetten von Bach und den Präludien und Fugen Fis‑Dur und fis-Moll aus dem ersten Teil des „Wohltemperierten Klaviers“. Über meine Freude an der Arbeit bei Professor David brauche ich keine Worte zu verlieren, ich habe seinerzeit in meinem Lebenslauf für die Studienstiftung viel davon erzählt. Ich habe vorhin schon von einer Arbeit an einer neuen Komposition gesprochen; es handelt sich um ein Stück für zwei Klaviere, das ich schon im Herbst des letzten Jahres zu skizzieren begonnen hatte, dessen weitere Ausarbeitung aber hauptsächlich in diesem Semester stattfand. Ich hoffe, nach meiner Rückkehr von den Ferienkursen endgültig damit fertig zu werden, und will es in den Ferien ins Reine schreiben. Gewiß, ich bin relativ langsam damit vorwärts gekommen, aber das kommt daher, daß ich es neben meiner ganzen übrigen Arbeit schreiben mußte; meistens kam ich erst übers Wochenende dazu, mich ganz darauf zu konzentrieren, und es soll doch gut werden. Zum Lesen kam ich verhältnismäßig wenig in diesem Semester: ein Büchlein von Bernhard Blume „Thomas Mann und Goethe“, die „Betrachtungen eines Unpolitischen“ von Thomas Mann, Scherchens „Vom Wesen der Musik“, „Musik unserer Zeit“ von Antoine Goléa und Schönbergs „Structural Functions of Harmony“ waren – glaube ich – alles (während der Darmstäter Ferienkurse möchte ich die Ausgabe der Fischerbücher „Thomas von Aquin“ dabei haben; ich hoffe mich gleichsam damit zu „wappnen“). Was die Lektüre der genannten Bücher betrifft, so hat mich vor allem der Dilettantismus des Buches „Musik unserer Zeit“ von Goléa entsetzt; es ist schlecht um die Überzeugungskraft der Avantgarde bestellt, wenn sie nur solche polemischen Schwätzer (m. E.) literarisch ins Feld zu führen haben. Umso aktueller fand ich das im ersten Weltkrieg entstandene und scheinbar so überholte Buch von Thomas Mann, die „Betrachtungen eines Unpolitischen“. Es ging mir nicht darum, ob Mann im einzelnen recht hatte oder nicht, wichtig war mir der Geist, der dies Buch erfüllt, nämlich der immer um die Stellung der Kunst besorgte Geist Manns. Gewiß, viele Sätze ließen sich von jenen finsteren Elementen auskaufen, die später Deutschland und andere Nationen ins Unglück brachten: das Verdienst, die Gefahr des „Phänomens Demokratie“ für die Kunst erkannt und aufgezeigt zu haben, scheint mir gerade heute, wo uns die Demokratie ehrlich am Herzen liegt, dennoch wertvoller als je zu sein.


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Erste Begegnungen Ein vorläufiger Abschluß dieses Berichts sei mit der Erwähnung eines Vortrags getan, den ich vorgestern, am 12. Juli, in Tübingen über Alban Bergs „Wozzeck“ gehalten habe, wozu mich eine studentische Verbindung eingeladen hatte. 31. Juli. Die Tage in Darmstadt sind vorüber. Es ist unmöglich, alle Eindrücke zu schildern. Eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Zeit wird darin bestehen, daß ich meine dort gemachten Notizen über das Erlebte ordne und an Hand dieser Notizen mich schriftlich mit all dem auseinandersetze, was ich dort gehört und gesehen habe. Im Mittelpunkt standen zweifellos die täglichen Seminare von Karlheinz Stockhausen, in denen die ganze Problematik, um die es den Leuten geht, mit einer Wucht zutage trat, die den Hörenden – und seien seine musikalischen Anschauungen auch noch so gefestigt – gleichzeitig mitreißen, begeistern und verwirren, abstoßen mußte. Der Gedanke der totalen Durchorganisation des musikalischen Materials – der mir theoretisch schon bekannt war – fordert Konsequenzen, die ich mir in dem Maße nie vorgestellt habe. Gleichzeitig müssen Auswege gefunden werden, um den immer wieder drohenden Sackgassen auszuweichen. Interessant zum Beispiel, wie die Einsicht, daß die Durchorganisation aller musikalischen Elemente nur durch elektronische Mittel akustisch verwirklicht weren kann, in den Ausweg vor solcher Sackgasse führte, daß die menschliche Unberechenbarkeit des Interpreten bewußt als kompositorisches Element mit hereingenommen wurde, daß also dem Zufall innerhalb der Grenzen der menschlichen Ausführungsmöglichkeiten Spielraum gelassen wird, zum Beispiel durch die immer häufiger vorkommende Spielanweisung „So schnell wie möglich“, wobei die Betonung keinesfalls auf „schnell“ liegt, sondern auf „möglich“! Ich habe ziemlich weite Einblicke in die Arbeitsmethoden sowohl Stockhausens wie auch Pousseurs und Nonos erhalten dadurch, daß ich mich so oft als möglich persönlich an sie gewandt und Fragen gestellt habe, Fragen sehr oft aber auch, die das ideologische ihrer Musik berührten. Dabei war der Eindruck, den ich in solchen Gesprächen von Stockhausen bekam, ein äußerst radikaler: einmal in sehr negativem Sinne – das Moment der G l e i c h g ü l t i g k e i t in der Musik als künstlerische Errungenschaft: alles soll gleich gültig sein! – ein andermal in positivem Sinne insofern, als er wirklich aus der Musik ein Erlebnis machen will, das eben in seiner Eigenschaft als Gleich-Gültiges nicht mehr nur Sache des Intellekts ist, sondern allgemein verständliche – ja menschliche – Sprache; Sprache natürlich nur in Bezug auf sich selbst. Wichtig war mir unter anderem auch die ehrliche Aussage, daß die Musik Schönbergs auf Grund gewisser (von Stockhausen genau dargelegter) Diskrepanzen einen zwiespältigen Eindruck immer hinterlasse, der zwar unablöslich sei von ihrer Größe und künstlerischen Bedeutung, der uns Jungen aber nicht die Aufgabe erspare, diese Diskrepanzen in unserer Musik zu beseitigen. Daß Stockhausen, so radikal und umstürzlerisch sein Benehmen erscheint, in voller Ehrlichkeit und Redlichkeit nach Wegen gesucht hat und noch sucht, das wird wohl keiner bezweifeln wollen, der in seinen Seminaren war. Aber trotz wirklich guter und überzeugender Ergebnisse („Zeitmaße“, „Gesang der Jünglinge“) ist – glaube ich – eine gewisse Skepsis gegenüber der Sache als solcher sehr wohl angebracht, allerdings unter der Voraussetzung, daß man sich vor b e q u e m e n Gegenargumenten, die sich auf den Tauschwert solcher Musik zum Beispiel beziehen, freimacht und sich eine grundsätzlich Aufge-


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schlossenheit und eine Bereitschaft zur Hingabe an die Probleme selbst bewahrt. Bei allem Mißtrauen gegenüber den Bemühungen Stockhausens, was ihren wesentlichen Sinn betrifft, weiß ich doch, daß ich entscheidend beeinflußt worden bin; eine ganz neue Welt der der Kom-Positionsmöglichkeiten hat sich mir geöffnet, der ich aber natürlich umso vorsichtiger entgegen gehe, als mich ihr Reichtum lockt. Man konnte von der bisherigen Musik sagen: daß sie k l i n g e, sei nur eine ihrer vielen Eigenschaften (vielleicht nicht einmal die wichtigste), diese neue Musik aber wird nicht gedacht, oder im Geist mitvollzogen, sie wird gehört, und sie ist nur als gehörte. Es gehört eine große innere Bereitschaft und gerade für den „Intellektuellen“ eine schwer anerziehbare Unbefangenheit und innere Gelöstheit dazu, um diese Musik als das zu hören, was sie sein will. Und oft wird man enttäuscht. Sei dem allem, wie es wolle: Gedanken, wie sie in den Kursen von Stockhausen, Nono oder Pousseur (Boulez war ja leider nicht da) einmal ausgesprochen worden sind, kann man als Komponist nicht einfach übergehen; man kann danach nicht mehr in alter Unschuld weiter komponieren („Wer sich immer noch seine Unschuld bewahrt hat, der soll sie schleunigst verlieren“, sagte Adorno in einer seiner Vorlesungen über „Kriterien der neuen Musik“). Die Darmstädter Bewegung ist deshalb so wichtig, weil sie eine Exposition grundlegender Probleme mit sich bringt, mit denen sich jeder Komponist von heute auseinandersetzen muß; wie dann nach solcher reflekiven „Durchführung“ die „Reprise“ bei dem Einzelnen aussieht, ist seine eigene Sache. Das stärkste Erlebnis innerhalb dieser neuen Musik war für mich der „Canto sospeso“ von Luigi Nono. Obwohl dieses Werk nur auf Band vorgeführt werden konnte, hat es mich beim ersten Anhören vollkommen überzeugt. Das Besondere an Nono, und was ihn vor allen andern auszeichnet, ist seine Toleranz gegenüber der Forderung nach „logischer“ Behandlung des Materials, die sich aber dafür mit einer um so radikaleren Verlagerung des Gewichts auf künstlerische Aufrichtigkeit und innere Notwendigkeit verbindet: „Ich weiß, ,XY‘ sagt, beim Komponieren muß man ..., aber ich meine: ,man‘ m u ß nichts; j e d e r m u ß s i c h p r ü f e n “. Das war einer der erfreulichsten Sätze in der ganzen Zeit, gesprochen von einem, der mit der Problematik der vollständigen Durchstrukturierung dennoch vollkommen vertraut ist: das zeigt seine radikale Durchkonstruktion im „Canto sospeso“, die sich auf Tonhöhe, Tondauer, Tonintensität, Klangfarbe und im zweiten Chor sogar auf die Anordnung der Vokale erstreckt, und die – dennoch oder gerade dadurch? – eine wirklich von Herzen kommende und zu Herzen gehende Aussage, ja ein Bekenntnis vermittelt, wie man es allenfalls noch im „Gesang der Jünglinge“ oder in den „Zeitmaßen“ von Stockhausen – wahrscheinlich mit weniger Erfolg – suchen darf, vielleicht auch noch im „Marteau sans Maître“ von Boulez. Fast nebenbei habe ich in Darmstadt fast das ganze Œuvre von Webern kennengelernt, natürlich vor allem durch Tonbandwiedergaben, dafür aber mit vielen Wiederholungen. Webern ist der größte von allen – . Ein wichtiger Beitrag waren natürlich die Vorlesungen Adornos über „Kriterien der neuen Musik“. Sie brachten aber – abgesehen von einer überraschenden Aufgeschlossenheit für die Avantgarde – nicht allzu viel Neues. Ich glaube, daß Adorno – was seine positive wie auch seine negative Stellungnahme betrifft – dadurch, daß er den Maßstab Schönberg nicht nur in künstlerischem Sinne, sondern auch in ideologisch-


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philosophischem Sinne überall anlegt, dieser neuen Musik so oder so nicht gerecht wird. Die Forderung Adornos von der neuen Musik, ausgesprochen mit dem Zitat Grabbes, worin sich dieser an die Verzweiflung als letzter rettender Instanz wendet (im Hinblick auf die moralische und physische Gefahr der Zeit), diese Forderung ist doch zu vordergründig literarisch, als daß sie künstlerische Beherzigung verdiente. Daß sich Musik in solchem Sinn als aktuell erweist, ist doch nie ihr unmittelbarer Zweck, sondern allenfalls ein Symptom ihrer Größe (Joh. Seb. Bach). Ich habe Ador­no in einer Sprechstunde aufgesucht und ihm diese Frage gestellt, nämlich was das von ihm geforderte Moment des Schocks in der Musik betrifft. Er hat mir unter gewissen Vorbehalten recht gegeben, allerdings ohne die Grundsätzlichkeit meines Zweifels an solchen Postulaten zu durchschauen oder gar zu billigen. Zu allem habe ich eine Menge neuer Werke von ganz jungen Komponisten kennengelernt. Drei Namen habe ich mir vor allem gemerkt: Claude Ballif, dessen Streichtrio uraufgeführt wurde, Luc Ferrari mit „Visage I “ für Klavier und Bo Nilsson. Vor allem bei Bo Nilsson glaube ich, daß seine Musik einmal die Fähigkeit haben wird, den Hörer von der neuen musikalischen Welt zu überzeugen und zu „be‑Geist‑ern“. Zwar stellt dieser Bericht über die Ferienkurse nur eine ganz oberflächliche Zusammenfassung einer Unzahl von wichtigen Erlebnissen dar, aber mehr läßt sich jetzt auch noch nicht verbindlich sagen, als daß mich diese Tage ganz entscheidend bereichert haben; ich möchte keinesfalls den Anschluß an diese Bewegung wieder verlieren, nicht um, nach Adornos treffendem Zitat, „one of the boys“ zu sein, sondern um zu kennen und um das Recht zu haben, abzulehnen oder zuzustimmen, nachdem ich vor allem auch mich selbst geprüft habe (siehe oben Nonos Ausspruch). Ob man ins Fahrwasser der anderen gerät, oder ob man die Kraft hat, sein Schifflein selbst zwischen den Klippen durch zu steuern, ist eine Frage der Persönlichkeit und wird nicht in Darmstadt entschieden. Aber die Ferienkurse sind Stimulans und Hemmschuh zugleich, nicht so, daß dieses durch jenes neutralisiert würde: beides zusammen stellt den Komponisten (oder den, der einer werden will) auf eine Kraftprobe, der er sich nicht entziehen sollte, wenn er sich über seine Daseinsberechtigung nicht im Unklaren lassen will. Ich glaube, daß das vergangene Semester, vor allem durch diesen aufrüttelnden Abschluß in Darmstadt, für mich großen Gewinn gebracht hat, und ich möchte der Studienstiftung vielmals für ihre Unterstützung danken, die mir die finanziellen Probleme so leicht gemacht hat. Ich weiß wirklich nicht, wie ich mich dessen würdig erweisen könnte. Es war dies mein erster Semesterbericht für die Studienstiftung, und ich habe keine Ahnung, ob ich das rechte Maß an Ausführlichkeit getroffen habe. Ich bitte höflich, alle Unzulänglichkeiten zu entschuldigen und verbleibe nochmals aufs herzlichste dankend Ihr ergebener Helmut Lachenmann5

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SHL Semesterbericht, 1957-07-14/31, 1–8.


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In die in Darmstadt erworbene Partitur der Zeitmaße schreibt Stockhausen am 22. Juli 1957 für Lachenmann die kleine Widmung: „Gute Arbeit wünsche ich Ihnen von Herzen. Karlheinz Stockhausen“. Bei aller Begeisterung für Stockhausens intellektuelle Brillanz, technische Konsequenz und persönliche Aufrichtigkeit machen Nonos Persönlichkeit, Ausstrahlung und Musik auf Lachenmann den stärkeren Eindruck. Obwohl noch nicht mit dem Darmstädter Kreis und den sich hier abzeichnenden Differenzen vertraut, spürt er sofort, was Nono von den anderen Kompositionsdozenten unterscheidet. Mit seiner Einschätzung reagiert er frühzeitig auf die in den Seminaren und anschließenden Diskussionen sich andeutenden Differenzen und Spannungen. Lachenmann erkennt sofort die Diskrepanz zwischen dem Geist der expressiv geladenen Musik Weberns und der objektivistisch sich gebärdenden Haltung des seriellen Denkens, dessen Vertreter sich auf Webern berufen. Er nimmt dies zum Anlass, über die prinzipielle Alternative nachzudenken zwischen einer Musik, die sich direkt an den Menschen und sein Wahrnehmungs- und Empfindungsvermögen wendet, und einer Musik, die ohne den Menschen auskommt und sich mit der Radikalität der eigenen Integralität und Stimmigkeit begnügt. Als Künstler und werdender Komponist mag er sich keinem der Lager anschließen. Während der Darmstädter Ferienkurse hat Lachenmann als Zimmergenossen den gleichaltrigen Kurt Schwertsik und den Münchner Flötisten Hans Dostthaler, dessen Bekanntschaft schicksalhaft für ihn werden sollte. Schon am zweiten Tag der Kurse beginnt er an seinen Stuttgarter Lehrer David einen Brief zu schreiben, der sich unter dem Eindruck der Masse an Vorträgen, Gesprächen und musikalischen Erlebnissen in den folgenden Tagen zu einem zehnseitigen Bericht auswächst und die Erschütterungen, Begeisterungen und Irritationen des Neulings widerspiegelt, der sich zuweilen mit studentischer Altklugheit gegen die eigene fundamentale Verunsicherung zu schützen sucht und mit allzu kritischen Äußerungen über Darmstadt und die dortigen Protagonisten vielleicht auch seinen Lehrer nicht so stark merken lassen will, wie weit er sich mit seinen Gedanken und Absichten bereits von dessen polyphonem musikalischen Weltbild und traditionellem Formdenken entfernt hat.6

Sehr geehrter Herr Professor,

Darmstadt, den 17. Juli 1957

Wenn ich Ihnen auch nur halbwegs ausführlich von meinen hiesigen Eindrücken berichten soll, ist es notwendig, daß ich schon am ersten Tag zu schreiben anfange, sonst sitze ich am Schluß zwei ganze Tage ununterbrochen über diesem Brief, und die vielen Eindrücke, die ich noch bekommen werde, haben sich bis dahin sicher gegenseitig verwischt. Gestern Abend begann es mit einem Orchesterkonzert mit Hermann Scherchen; „Das Augenlicht“ op. 26 von Webern war der Mittelpunkt, ich fand es in der Tat ganz herrlich vom Klanglichen her, aber ich stellte fest, daß diese Musik, da, wo sie mir so schön und vor allem so wesentlich erscheint, überhaupt nichts mit dem zu tun hat, was hier als „der neue Weg“ verkündet wird. Die „Symphonies de timbres“ von Haubenstock-Ramati haben mich sehr enttäuscht (ich hab früher ein anderes Werk in Donaueschingen gehört); mir scheint, der Mann spielt mit klanglichen Errungenschaften 6

Lachenmann im Gespräch mit dem Verfasser am 28. Dezember 2004.


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Erste Begegnungen herum, ohne sich zu einer Aussage verleiten zu lassen, die ihm einen Standort in dem oder dem anderen „Lager“ zuweisen würde, er entlarvt sich allenfalls als Opportunist, aber das ist ja auch etwas. – Das Klavierkonzert von Leibowitz unterschied sich fast gar nicht von der Sprache der Musik Schönbergs, machte also wenigstens einen soliden Eindruck. – Über die Webern-Vorlesungen ist nicht viel zu erzählen; Professor Scherchen macht kein Hehl daraus, daß er nur widerwillig eingesprungen ist, und daß er uns Hörer für völlig inkompetent hält (... „ich weiß, daß Sie diese Musik nicht richtig hören, noch den guten Willen haben, sie richtig zu hören.“) Vor allem führt er Tonbänder vor und erzählt von persönlichen Erlebnissen mit Webern. Bei seiner Deutung der Klangwelt Weberns, die er völlig subjektiv empfunden verstanden haben will, ist dauernd eine Abneigung gegen die so objektivistisch gesinnte Webern-Nachfolge zu spüren; und die Gegensätzlichkeit der Eindrücke bei Scherchen und bei Stockhausen, dessen Seminar sich unmittelbar an Scherchens Vorlesungen anschließt, könnte nicht größer sein. – Eben fand wieder eine Scherchen-Vorlesung statt. Scherchen will die ganze Musik gehört wissen als eine Erschütterung oder Bewegung unseres Nervensystems auf dem Wege über das Ohr. Er hat (noch) nicht gesagt, ob es das Wesen der Musik ist, den Menschen auf dem Wege übers Ohr zu erreichen (so wie ein Wort gesprochen wird, um gehört zu werden), oder ob nicht die Kunst wie z. B. eine Sonne ist, die wir brauchen, und von der wir aber nur insofern profitieren, als wir die notwendigen Aufnahmeorgane dafür haben, und die so oder so auch ohne die Menschen da sein kann. Hier liegt doch sicher das Problem für einen Komponisten, ob er ganz direkt sich an den Menschen (wer ist denn „der Mensch“) und dessen musikalische Sinne wenden soll, oder ob er im Hörer nicht eher einen Weggenossen auf seiner Suche nach einer formalen Vollkommenheit sehen soll.7

In seinem Brief an David berichtet Lachenmann weiter, dass er ungeheuer viel Neues erfahre, ein ganzes Buch mit Notizen fülle und kaum im Stande sei, das Gehörte zu verarbeiten und alles mit der nötigen Präzision zu erläutern: „Hier wird einem musikalisch soviel ins Maul gestopft, und das jeden Tag, daß man nicht zum Kauen kommt, geschweige denn zum Wiederkäuen.“ Beeindruckt zeigt er sich von Stockhausens Ausführungen über das Zeitkontinuum bzw. die mikro- und makrozeitlichen Strukturen der Musik von der Frequenzordnung bis zur Großform, die Stockhausen später in seinem bekannten Aufsatz ... wie die Zeit vergeht ... veröffentlichen sollte.8 In seiner brieflichen Zusammenfassung versucht Lachenmann seinem Lehrer hierüber zu berichten. Im Übrigen fühle er sich abgestoßen von der sensationslüsternen Art, mit der ältere Teilnehmer der Kurse eine falsche Aufgeschlossenheit gegenüber den neuen Theorien und Modellen zur Schau tragen. Da halte er es lieber mit dem soliden Metier seines Lehrers David. Sie haben mir einmal gesagt, Sie halten diese neuen Bestrebungen im Wesentlichen für ein „Theater“. Es ist aber nicht so. Nur die älteren Teilnehmer machen daraus 7 8

SHL Lachenmann/David, 1957-07-17, 1f. Karlheinz Stockhausen, ... wie die Zeit vergeht ..., in: Ders., Texte zur elektronischen und instrumentalen Musik, Band 1, hrsg. von Dieter Schnebel, Köln: DuMont 1963, S. 99–139.


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ein Theater. Während Stockhausen seine Sache mit innerster Überzeugung verficht, und während die Jugend sehr skeptisch, sehr aufgeschlossen und sehr hellhörig für alles Unwahrhaftige zuhört, sitzen in der ersten Reihe so ein paar ältere Esel, die sich wohlig im Sessel räkeln bei jeder musikalischen Anstößigkeit, wahrscheinlich mit wehmütiger Erinnerung an ihre eigene Jugend, wo sie mit Hilfe ihrer Hausschlüssel und ihres modernistischen „Epatez les bourgeois“-Gebrülls der „fortschrittlichen“ Sache zum Siege verhelfen durften. Diese Kindsköpfe meinen, in Stockhausen einen würdigen Fortsetzer der von ihnen begründeten Tradition des skandalösen Betriebs gefunden zu haben. Sie kriechen um den Stockhausen herum und benehmen sich so widerwärtig „aufgeschlossen“, daß einem ganz übel wird. Sagt Stockhausen: „Wie war das denn bisher bei der dualistischen Musik? Fängt irgendwie an, dann dreht sie so allmählich alle Hahnen auf, schließlich gibt es einen Mordskladderadatsch wie bei einem erotischen Akt, und dann ...“ „Bravo!! Bravo!!!“ Getrampel, Applaus. Die alten Gauner in der ersten Reihe sind ganz aus dem Häuschen: „wie anno 1921“! (Man sollte sie zu Ihnen in die Tonsatzstunde schicken ...) Was Stockhausen verkündet, ist nicht nur eine neue Art, Musik anzuschauen bzw. zu produzieren, sondern auch eine neue Art der Lebenshaltung.9 Lachenmann wird bewusst, dass die Alternative zwischen einer am emphatisch-menschlichen Ausdruck orientierten Musik und einer konsequenten Musik ohne Rücksicht auf menschliche Belange sich konkret personifiziert findet in den Werken und Konzeptionen von Nono und Stockhausen. Von beiden Denkweisen fühlt er sich angezogen. Außerdem weiß er sich immer noch als Schüler von David und kauft sich in Darmstadt die soeben erschienene Partitur von dessen Requiem chorale. Inzwischen habe ich einige Unterhaltungen mit Nono und vor allem Stockhausen gehabt. Der gründlichere und in einem ganz radikalen Sinn konsequenteste ist Stockhausen. Nono ist entschieden der sympathischere, der zugunsten der künstlerischen Aussage auf die „Konsequenz an sich“ verzichtet. Ich habe hier seinen „Canto sospeso“ gehört und bin davon ganz begeistert. Von Stockhausen habe ich hier das „Kreuzspiel“, „Kontrapunkte“ [Kontra-Punkte], „Zeitmaße“, Klavierstücke, „Gesang der Jünglinge“ und das Klavierstück XI gehört. Ich muß gestehen, daß seine Musik eine „elementare“ Kraft ausübt, ebenso wie er selbst – so jung er ist – sehr suggestiv wirkt. Der „Marteau sans maître“ ist auch noch etliche Male vorgeführt worden, ebenso Structures I und II. Ich glaube, daß die hier vermittelten Eindrücke durch die Anwesenheit von Boulez entscheidend beeinflußt würden. Sein Stellvertreter Pousseur ist sehr geschickt und macht die Webernanalysen sehr fesselnd, aber er ist doch eine ziemlich blasse Persönlichkeit. Auch ist seine Musik nicht gerade eine Offenbarung. Inzwischen hat ein Vortrag über elektronische Musik von Eimert stattgefunden und zwar im Zusammenhang mit der menschlichen Sprache. Gestern sprach Nono über die Entwicklung der Reihentechnik und heute wird H. K. Metzger den Vortrag von Boulez „Alea – der Zufall in der Musik“ in deutscher Spache verlesen. Das hatte ich noch gar

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SHL Lachenmann/David, 1957-07-17, 3.


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nicht erzählt, wie man hier versucht, den Zufall mit in die Musik einzubeziehen. Ich werde Ihnen einige Partituren zeigen, wo gerade der Zufall nicht nur berücksichtigt, sondern geradezu herausgefordert wird, natürlich innerhalb gewisser geregelter Bahnen. Heute morgen hat Stockhausen angedeutet, daß es gar nicht außerhalb des Bereichs der Konsequenz liege, daß man wieder ganz zurückkehrt in die Tonalität. Es ist überhaupt wieder soviel geschehen und gesagt worden inzwischen, was dem bisherigen zwar nicht widerspricht, aber es ganz klar neu beleuchtet. Ich möchte jetzt aufhören und Ihnen dann meine endgültigen Eindrücke erzählen, wenn ich mehr Abstand von diesen Dingen habe, und wenn ich mein Kollegheft daheim so durchgearbeitet habe, daß das Wesentliche klar zutage liegt. Entschuldigen Sie bitte, wenn dieser Bericht Sie in Bezug auf Vollständigkeit enttäuscht, aber die Aufgabe, die ich mir damit aufgeladen habe, war sehr schwer. Von Adorno habe ich z. B. gar nichts erzählt. Aber das geht später mündlich viel besser.10

Gespräche und erster Brief: Das Schlüsselerlebnis Il canto sospeso Während der Darmstädter Ferienkurse 1957 kommen sich Lachenmann und Nono schnell näher. Aus späterer Erinnerung war Nono für ihn damals eine Art „Lichtgestalt“ inmitten des Darmstädter „Rummels“.11 Lachenmann sucht wiederholt das Gespräch mit Nono, um mit ihm – wie er diesem später schreibt – über seine Irritationen zu reden: über „unvorsichtige“ und „gewissenlose“ Äußerungen Stockhausens oder über die „äußerst törichten und ehrfurchtslosen Behauptungen“ von Pousseur und Heinz-Klaus Metzger, der Pousseurs Vortrag aus dem Französischen übersetzt hatte.12 Von Anfang an erkennt Lachenmann in Nono ein Vorbild und einen Ansprechpartner, bei dem er, aufgewühlt von den Darmstädter Verwirrungen, Rat holen kann. Nono geht immer freundlich auf ihn ein und ermuntert ihn zum Abschied, ihm zu schreiben und ihm eigene Arbeiten zu schicken. Im Anschluss an die Ferienkurse verbringt Lachenmann drei Wochen an der holländischen Küste und nutzt seine restlichen Semesterferien zur Fertigstellung der Reinschrift seines Rondo für zwei Klaviere. Erst am 10. September, sechs Wochen nach dem Ende der Ferienkurse, greift er Nonos Angebot auf, und schreibt diesem einen elfseitigen Brief, in dem er bekennt, dass für ihn die Begegnung mit diesem „zum wertvollsten gehört, was mir als Musiker wie als Mensch widerfahren könnte“.13

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SHL Lachenmann/David, 1957-07-17, 8–9. Lachenmann im Gespräch mit dem Verfasser am 28. Dezember 2004. ALN Lachenmann, 1957-09-10, 7. ALN Lachenmann, 1957-09-10, 3.


Gespräche und erster Brief: Das Schlüsselerlebnis Il canto sospeso

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Anfang von Lachenmanns erstem Brief an Nono

stud. mus. Helmut Lachenmann Leonberg b. Stuttgart Pfarrstraße 15

Leonberg, 10. September 1957

Verehrter Herr Doktor Nono, Ich weiß nicht, ob Sie sich zufällig an mich erinnern. In den letzten Darmstädter Ferienkursen hat sich unter anderen auch ein ziemlich langer Mensch einigemale an Sie herangemacht und einige seiner Fragen und Sorgen angesichts der gegenwärtigen Musik-Entwicklung vor Sie gebracht, auf die Sie sehr freundlich eingegangen sind. Nach Ihrer letzten Vorlesung haben Sie ihm auf seine Bitte hin einige Worte in die neuerworbene Partitur des „Canto sospeso“ geschrieben, und als er in der Pause des letzten Konzertes in der Orangerie (am Sonntag) sich Ihnen geschwind in den Weg stellte, um sich zu verabschieden und vor allem zu danken, da ermunterten Sie ihn: ob er Ihnen nicht schreiben wolle, oder vielleicht eine Komposition von sich schicken wolle?


VI Wiederbegegnung und Freundschaft 1972 – 90 Veränderte Rahmenbedingungen Ende und Ziel. – Nicht jedes Ende ist das Ziel. Das Ende der Melodie ist nicht deren Ziel; aber trotzdem: hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichnis. Friedrich Nietzsche1

Während der elf Jahre zwischen Anfang 1971 und Ende 1981 wechseln Nono und Lachenmann keinerlei Briefe. Der Kontakt zwischen ihnen scheint definitiv abgebrochen. Lediglich anlässlich der deutschen Erstaufführung von Nonos zweiter szenischer Aktion Al gran sole carico d’amore in Frankfurt am Main kommt es 1978 zu einer flüchtigen Begegnung zwischen beiden, die zwar freundlich verläuft, aber zu keiner Aussprache und Annäherung führt. Beide nehmen aber gleichwohl weiterhin Notiz von der Arbeit des anderen. Als Nono Anfang der 1980er Jahre in Freiburg arbeitet, lässt er sich über den Südwestfunk Baden-Baden Partituren von Lachenmanns Werken kommen, darunter Gran Torso und Tanzsuite mit Deutschlandlied. Umgekehrt taucht Nonos Namen immer wieder in Lachenmanns Notizbüchern, Skizzen und Aufzeichnungen auf. In Vorträgen, Seminaren und Workshops kommt er stets auf Nono zu sprechen, auch in seiner Funktion als Theorielehrer zunächst an der Stuttgarter Musikhochschule, dann als Professor an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, schließlich ab 1976 als Theorie- und Kompositionslehrer an der Musikhochschule Hannover und ab 1982 in Stuttgart. 1971 veröffentlicht Lachenmann seinen ersten Aufsatz über Nono. 1974 und 1979 widmet er ihm zwei große Rundfunksendungen: eine für den Süddeutschen und eine für den Bayerischen Rundfunk. Den Text der ersteren verfasst er zu Nonos fünfzigstem Geburtstag. Er erscheint unter dem Titel Über Luigi Nono in gekürzter Fassung 1978 im Programmheft zur erwähnten Frankfurter Aufführung von Nonos Al gran sole, auf Veranlassung des dort seit 1977 wirkenden Chefdramaturgen Klaus Zehelein.2 Für Nono werden die 1970er Jahre zu einer Phase der Ernüchterung und schweren künstlerischen Krise. Nach der Revolutionsoper Al gran sole verliert er seinen Glauben an eindeutige Frontlinien, an die Richtigkeit des marxistischen Weltbilds, und beginnt die Welt widersprüchlicher und differenzierter zu sehen.3 Für Lachenmann wird dieselbe Dekade zu einer Phase, in der er sich – nicht ohne Genugtuung – zwischen sämtlichen Lagern und von rechts

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Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I (= Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Band 2), hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München / Berlin: DTV / de Gruyter 21988, Aphorismus 204, S. 642. Zehelein hatte in seiner Geburtsstadt Frankfurt Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie studiert und zwischen 1959 und 1966 regelmäßig an den Darmstädter Ferienkursen teilgenommen. Als Intendant der Staatsoper Stuttgart von 1991 bis 2006 sollte er 2001 die Zweitaufführung von Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern in einer Neuinszenierung von Peter Mussbach unter der Leitung von Lothar Zagrosek herausbringen. Vgl. Friedrich Spangemacher, Eine Begegnung mit Luigi Nono, in: MusikTexte, Heft 35, 1990, S. 53.


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wie von links gleichermaßen misstrauisch beobachtet sieht. Die ästhetische Radikalität seiner Musiksprache und seine linksorientierte gesellschaftskritische Haltung verschaffen ihm nicht nur Freunde – echte, die ihn ermutigen, und falsche, die ihn vor ihren ideologischen Karren zu spannen versuchen –, sondern auch Feinde. Seine Unbequemlichkeit, Eigenständigkeit und Widerständigkeit „zahlen“ sich zunächst nicht aus. Durch den Bruch mit dem kaum gewonnen Schott-Verlag, nachdem er sich die gönnerhaften Ratschläge des dortigen Lektors verbeten hatte, verscherzt sich Lachenmann den Zugang zum Schallplatten-Label WERGO, das sich der Verbreitung von Avantgarde-Musik verschrieben hat. Bei den Orchestern hat er den Ruf eines instrumentalfeindlichen Antimusikers, dessen Stücke Skandale und Unfrieden auslösen. Proben und Aufführungen werden torpediert. Zumeist werden seine Werke gar nicht erst in die Programme aufgenommen. Der SDR Stuttgart meidet ihn wegen Lieferungsverzögerungen und zieht seinen Werken Produktionen mit Musik von Kagel, Schnebel, Boulez und Heinz Holliger vor. Bei der für junge Kompositionstalente fast obligatorischen Gewährung eines mindestens zwölfmonatigen Aufenthalts in der Villa Massimo in Rom wird er als Schüler und Freund des erklärten Kommunisten Nono auf Betreiben seines ehemaligen Hochschuldirektors Hermann Reutter bewusst übergangen. Bereits ernstlich erwogene Preisverleihungen und Berufungen an Hochschulen scheitern, zum einen an immer wieder in den Entscheidungsgremien geäußerten Zweifeln an seiner politischen Zuverlässigkeit, zum anderen an seiner suspekten Radikalität, die für viele einen unverantwortlichen Umgang mit der zu pflegenden großen tonalen Musiktradition befürchten lässt. Die glänzenden Zeugnisse, die ihm sein erster Lehrer und Kontrapunktmeister Johann Nepomuk David ausgestellt hatte, helfen da wenig. So verhindert Siegfried Palm die Vergabe des Beethoven-Preises der Stadt Bonn an Lachenmann mit einem Hinweis auf dessen politische Unzuverlässigkeit. Die Bewerbung auf eine Professur für Komposition an der Musikhochschule in München 1976 platzt – obwohl Lachenmann die Nummer eins auf der Kandidatenliste ist – durch eine Intervention von Harald Genzmer zugunsten von Dieter Acker, der hier seit 1972 bereits eine Dozentur für Komposition und Musiktheorie wahrnimmt. Ähnliches ereignet sich in Stuttgart, wo 1973 Milko Kelemen die begehrte Professur erhält, obwohl sich dieser zunächst gar nicht beworben hatte. Lachenmanns Verlag, die Edition Gerig und der dortige Lektor Rudolf Lück, halten ihn mit der Publikation seiner Partituren hin und meinen ständig an deren Verlagswürdigkeit zweifeln zu müssen. Rückblickend jedoch relativierte Lachenmann seine wegen all der genannten Widerstände und Missachtung damals empfundene Isolation: 4

Ich war auch wehleidig, näherte mich immerhin schon dem Schwabenalter, und wollte mich mit der Rolle des bad boy nicht abfinden, konnte auch gar nicht humorvoll damit umgehen. Daß ich „von allen isoliert“ gewesen sein soll, stimmt einfach nicht. Das ist Quatsch: 1972 bekam ich den Bach-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg (natürlich mit kleinem Eklat, siehe meine Programmnotiz zu Schwankungen am Rand in Donaueschingen,4 aber das gehörte zu meinem „guten schlechten Ruf“). Ich bekam 4

„Der Senator bei der Verleihung des Bach-Preises in Hamburg, als ich ihm für die Aufnahme im Gästehaus des Senats dankte: ,Wenn ich Ihre Musik gekannt hätte, hätte ich Ihnen einen Zeltplatz vor der Stadt angeboten.‘“ Helmut Lachenmann, Selbstporträt 1975. Woher – Wo – Wohin, in: MaeE, S. 153. Wie allen anderen Trägern dieses Preises wurde Lachenmann diese Auszeichnung nicht für ein bestimmtes Werk, sondern für sein bis dato existierendes Gesamtschaffen verliehen.


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Wiederbegegnung und Freundschaft Aufträge von Radio Bremen (Gran Torso, UA 1972), vom NDR (Klangschatten, UA 1972), WDR (Fassade, UA 1973), SWF (Schwankungen am Rand, UA 1975), SR (Accanto, UA 1976), von den Gitarristen Wilhelm Bruck und Theodor Ross (Salut für Caudwell, UA 1977) und vom SDR (Les Consolations, UA 1978). Die Rundfunkredakteure Clytus Gottwald, Hans Otte, Christof Bitter, Josef Häusler, Wolfgang Becker und Otto Tomek schätzten und unterstützten mich, mehr oder weniger. Auch Bernhard Hansen vom WDR und Reinhard Oehlschlägel im Deutschlandfunk Köln. Ernst Thomas von den Darmstädter Ferienkursen war halt nach 1972 sauer auf mich, wegen meiner Darmstadt-Kritik im Anschluß an die Kurse. In Holland interessierte sich Walter Maas von Gaudeamus für meine Musik. Ich hatte meinen Exklusivvertrag mit Gerig. Meine Aufsätze erschienen, auch das Interview mit Ursula Stürzbecher.5 Kontrakadenz wurde 1972 beim IGNM-Fest in Graz gespielt, Fassade 1976 auch in Hamburg, zuvor auch Notturno. Pression und temA machten Furore zum Beispiel beim Allgemeinen Musikfest in Hannover, Accanto wurde mit großem Erfolg in Bonn beim IGNM-Fest 1977 sowie in Hamburg und Warschau gespielt, dort auch Notturno. Ich wurde als Kompositionslehrer nach Basel geholt etc. Ich hatte Kontakte mit der Società Cameristica Italiana in Como mit ihrem Leiter, dem Cellisten Italo Gomez, hatte Dirigenten wie Hans Zender, Lothar Zagrosek, Michael Gielen, Ernest Bour, Gianpiero Taverna, den japanischen Dirigenten Kazuyoshi Akiyama und andere. Nonos Schweigen habe ich verkraftet. Es hat mir doch gut getan und nicht geschadet!6

Tatsächlich hat Lachenmann in den 1970er Jahren seine ersten wichtigen Erfolge und er steht am Beginn seiner Laufbahn als Kompositionslehrer. Nachdem er während des Studiums selbst mehrere Semester lang eine – damals ungeliebte und als überflüssig verachtete – pädagogische Ausbildung als angehender Privatmusiklehrer erhalten hatte, ist er seit Mitte der 1960er Jahre kontinuierlich als Lehrer tätig. Seit 1970 unterrichtet er an der Pädagogischen Hochschule in Ludwigsburg, 1972/73 leitet er an der Akademie in Basel eine Meisterklasse für Komposition, ab 1972 ist er mehrfach Dozent bei den Darmstädter Ferienkursen, 1976 wird er Professor für Theorie und Gehörbildung an der Musikhochschule Hannover und schließlich 1981 bis zu seiner Emeritierung 1998 Professor für Komposition – bis 1988 auch für Musiktheorie – an der Musikhochschule in Stuttgart. Und wie Nono hält Lachenmann seit Anfang der 1970er Jahre zahllose Workshops, Seminare, Vorträge und Einführungsveranstaltungen in aller Welt. Zu diesen Lehrveranstaltungen macht sich Lachenmann in seinen Skizzenbüchern Notizen, aus denen hervorgeht, dass er neben Stücken von Beethoven, Mahler, Schönberg, Berg, Webern, Boulez, Ligeti und Stockhausen immer wieder Werke Nonos behandelt. Im Laufe der 1970er Jahre tauchen in seinen Seminaren regelmäßig auch die Namen von Palestrina, Bach, Mozart, Wagner, Bruckner, Brahms, Cage, Messiaen, Bernd Alois Zimmermann, Busotti, Xenakis, Berio, Kagel, Koenig, Penderecki, Ferneyhough und Nicolaus A. Huber auf. Während der 1980er Jahre kommen jüngere Komponisten hinzu: Wolfgang Rihm, Reinhard Febel, Gérard Zinsstag, Manuel Hidalgo sowie weitere zeitgenössische Komponisten, 5 6

Ursula Stürzbecher, Werkstattgespräche mit Komponisten, Köln: Musikverlage Hans Gerig 1971, S. 95–105, erneut in: MaeE, S. 145–152. Lachenmann in einem Kommentar zum Manuskript dieser Publikation.


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aber auch solche aus der Renaissance, der Romantik, dem Neoklassizismus und der gemäßigten Moderne: Gesualdo, Schubert, Schumann, Liszt, Reger, Strawinsky, Hindemith, Bartók, Leibowitz, Hartmann, Dallapiccola, Schnebel, Henze, Wyttenbach, Sciarrino, Holliger, Zender und andere. Von Nono behandelt Lachenmann im Zusammenhang seiner Lehr- und Vortragstätigkeit zunächst vor allem Werke der 1950er Jahre: Il canto sospeso, Cori di Didone, Incontri, Diario polacco, dann aber auch Per Bastiana – Tai-Yang Cheng (1967), das Streichquartett Fragmente – Stille, an Diotima (1979/80) und Prometeo (1981–84, revidiert 1985), dessen Intervallbehandlung er untersucht und mit seinen Studenten bespricht. Nonos frühe Werke scheinen ihm besonders geeignet, um serielle Techniken und Nonos radikal tonalitätskritische Umgangsweise mit dem Material darzustellen. Als These für einen Beitrag zur Geschichte der Darmstädter Ferienkurse7 notiert er 1996: „Ich bin ein Darmstädter (trotz u. wegen Nono)“.8 Wie Nono unterhält Lachenmann später mehr oder weniger intensive Verbindungen zu seinen zahlreichen Schülern: Zu ihnen gehören der Andalusier Manuel Hidalgo, der nach Studien bei Juan Alfonso García in Granada und Hans Ulrich Lehmann am Konservatorium in Zürich bei Lachenmann zuerst in Hannover und dann 1979–84 in Stuttgart studiert; ferner der Italiener Pierluigi Billone, der nach dem Kompositionsstudium bei Salvatore Sciarrino in Mailand 1991 zu Lachenmann wechselt, bei dem er auch einige Zeit zu Hause wohnt und Arbeiten als Kopist im Zusammenhang mit Das Mädchen mit den Schwefelhölzern übernimmt; nicht zuletzt zu nennen ist der Elsässer Mark André, der zunächst am Pariser Konservatorium und IRCAM Komposition und Analyse bei Claude Ballif und Gérard Grisey studiert und 1994 in Tours über die „Ars subtilior“ promoviert hatte, bevor er mit Hilfe eines Stipendiums des französischen Außenministeriums sowie der Akademie Schloss Solitude 1995/96 zu Lachenmann an die Stuttgarter Hochschule kommt und später seinen Namen zu Andre verdeutscht. Seine Hauptaufgabe als Lehrer sieht Lachenmann – wie Nono – in der Anregung seiner Schüler zur Kontrolle der Mittel und zum Nachdenken über ihre Vorprägungen und Bedingungen. Sein Ziel ist es, Komponieren als Reflexions- und zugleich als kreativ motivierten Überschreitungsprozess in Bezug auf den gesellschaftlich und historisch vorgegebenen Horizont der verwendeten Instrumente, Materialien, Klänge und Techniken zu vermitteln. Aus einem Schülerverhältnis geht auch die Freundschaft zwischen Lachenmann und seinem späteren Kollegen an der Stuttgarter Musikhochschule Matthias Hermann hervor. Der aus Ludwigsburg stammende Komponist und Dirigent – ebenfalls Pfarrerssohn, dessen Vater mit Lachenmanns ältestem, im Krieg gefallenem Bruder eng befreundet war – hatte in Stuttgart an der Universität Germanistik sowie an der Musikhochschule Schulmusik und Dirigieren sowie Tonsatz bei Lachenmann studiert. Seit 1987 unterrichtet Hermann Musiktheorie an der Stuttgarter Musikhochschule, seit 1991 als Professor, und seit 1990 ist er ständiger Gastdirigent des Krakauer Kammerorchesters. Als Komponist eher zurückhaltend, wenn auch durchaus eigenständig, nimmt sich Hermann in seinen Vorlesungen, Seminaren und Publikationen wiederholt Lachenmanns Werken an. Auch als Dirigent und Einstudierender setzt er sich bei Orchestern und Ensembles wirkungsvoll für Lachenmanns Musik ein. Beim Lucerne

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Vgl. Lachenmann, „... und sehen, was ist zu tun ...“, a. a. O., S. 214–216. SHL Skizzenbuch blau; fest; 2.


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Wiederbegegnung und Freundschaft

Festival 2005 dirigiert er mit dem Orchester der von Pierre Boulez geleiteten Orchester-Akademie die Uraufführung von Double (Grido II), Lachenmanns Transkription seines dritten Streichquartetts Grido für großes Orchester. Für die Uraufführung von Lachenmanns Oper Das Mädchen mit den Schwefelhölzern Anfang 1997 an der Hamburgischen Staatsoper fertigt Hermann einen Studienauszug an, auf dessen Grundlage er sich später auch analytisch zu diesem Werk äußerte.9 Die Publikumserfolge von Lachenmanns Oper in Paris und Stuttgart, ebenso in konzertanten Aufführungen in Tokyo, Salzburg, Berlin und Frankfurt sowie die mit hohen Schallplattenpreisen ausgezeichneten Einspielungen des Werks auf CD verdanken sich weithin Hermanns Arbeit mit den Musikern, insbesondere seiner sachkundigen Erarbeitung der in Lachenmanns Musik geforderten ungewohnten Spieltechniken. Gegenwärtig bereitet Hermann eine CD-ROM vor, auf der diese Spieltechniken optisch, akustisch und durch präzise Ausführungsbeschreibungen gezeigt und erklärt werden sollen. Nicht zuletzt unter Berufung auf Nono, dessen Werke er immer wieder heranzieht, verachtet Lachenmann jegliche bequeme, ausbeuterische Nutzung des aus der klassischen Musikpflege überlieferten expressiven Reichtums. Seine öffentliche Kontroverse mit Hans Werner Henze aus dem Jahr 1982 handelt von eben diesem „parasitären Umgang mit der Tradition als einem verführerischen Selbstbedienungsladen“.10 Zugleich wendet sich Lachenmann gegen jene a priori zum Scheitern verurteilten heroisch puristischen Ambitionen, möglichst sämtliche expressiven Vorprägungen und qualitativen Unterschiede der kompositorischen Mittel durch serielle, algorithmische, aleatorische oder sonst wie geartete quantifizierende Organisationsverfahren rücksichtslos zu ignorieren oder gar zu eliminieren, wie es sich die strukturalistischen Ansätze der 1950er Jahre zunächst zugetraut hatten. Der dabei jedoch an den Tag gelegte Purismus und Manierismus musste Lachenmann zufolge jedoch zu einem „bloß avantgardoiden Designertum führen, bei dem die vorsätzlich gemiedenen Expressionismen und Impressionismen durch unbewachte Hintertüren am Ende doch wieder hereinkamen und sich breitmachten.“11 Während sich Nono in seinen späten Texten die Einsicht von Ludwig Wittgensteins Sprachphilosophie zu eigen macht, dass die Bedeutung eines Wortes in seinem sprachlichen Gebrauch liege und sich folglich nur durch einen entsprechend anderen Gebrauch verändern lässt, entwickelt Lachenmann zunächst mit Blick auf Nono, dann auch unabhängig von ihm seine Idee eines „dialektischen Strukturalismus“. Der von ihm immer wieder beschriebene und in die Debatte geworfene Struktur-Begriff zielt nicht auf Zerstörung oder Ausmerzung des Vertrauten, sondern auf die Reflexion und Brechung seines kollektiv wirkenden magischen Zaubers, mithin auf die befreiende Ästhetik der Neubeleuchtung, Neudurchdringung und Beherrschung des Materials durch den kreativen Geist als autonomer innovativer Instanz. In diesem Sinne nimmt Lachenmann das bei Nono Gelernte auf und versucht über die Denk- und Schaffenspraxis des einstigen Lehrers hinauszugehen. Musikalischer Ausdruck wird von ihm nicht gemieden, aber die vertrauten Ausdrucksmittel werden im strukturalistischen Zugriff ihrer alten Suggestionskraft und Magie zugleich entleert und neu geladen. Authentischer, glaubwürdiger Ausdruck ergibt sich dabei erst auf der Rückseite der vom

Vgl. Matthias Hermann, Die Wand – das Gegenüber. Über die Rolle der „Hauswand“ in Helmut Lachenmanns „Das Mädchen mit den Schwefelhölzern“, in: auf (–) und zuhören, a. a. O., S. 119–154. 10 Lachenmann in einem Kommentar zum Manuskript dieser Publikation. 11 Ebd.

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Komponisten überwachten Konstruktion. Nach dem Vorbild seines Landsmannes, des von ihm hochgeschätzten Malers und legendendären Lehrers an der Stuttgarter Kunstakademie Willi Baumeister, der nach konstruktivistischen Mauerbildern im Laufe der 1930er Jahre zu freieren „Wachstumsformen“ überging, um später archaische und exotische Anregungen aufzugreifen und zu einer visionären Bildsprache zu finden, versteht sich der Lehrer Lachenmann als „Leerer“. Von Nonos „Pädagogik“ dagegen grenzt er sich rückblickend ab. Ich war netter als er. Er war manchmal einfach brutal. Ich hatte später auch schwierige Schüler, aber ich dachte daran, dass es mit ihnen in der nächsten Woche weitergeht. [. . .] Nono wollte noch einmal, wie er selber von Scherchen gedrillt wurde, seine Schüler schikanieren. Nuria hat mir später erzählt, dass ihr Nono einmal sagte: „Heute kommt der Helmut, oggi lo distruggo, heute zerstöre ich ihn.“ Also, ich habe noch nie jemanden zerstören wollen. Wobei ich bemerke, dass manchmal die Wirkung doch so ähnlich ist, dass ich bei aller Zuwendung und allen Versuchen, zu verstehen, zu überlegen, mitzudenken, der andere sich in die Enge gedrängt fühlt bei mir. Das ist der Intellekt, der manche Leute nervös macht oder auch ekelt. [...] Nono hat am Anfang versuchsweise einen Intellektualismus zur Schau getragen, durch seine Kritik an Stockhausen etwa, aber am Ende hat er – seine Skizzen sind wie Architekten-Skizzen finde ich – letztlich gesagt: „Du musst schreiben, was herauskommt.“ So hat er dann auch den Rihm geschätzt als einen, der sich zu intuitiver Spontaneität beim Komponieren bekennt. Das war bei mir anders. Auch der Rihm beruft sich da auf Nono. Aber ich habe immer gesagt, bei Nono war das möglich nach Phasen von unglaublicher Selbstdisziplin, als er dann irgendwann sagte, das ist eine andere Variante. Aber mit dieser Art von Vertrauen auf die eigenen Reflexe anzufangen, halte ich für falsch. [...] Manchmal denke ich, Davids Unterricht hat meinen Unterricht mehr geprägt. Einmal gemeinsam eine Struktur genau auszirkeln, sich eine Regel geben, und die erst einmal als Test genau ausführen. Der Nono hat später viel zu viel Ideologie verbreitet.12 Nicht zuletzt in Verbindung mit seiner Lehrtätigkeit werden für Lachenmann die 1970er Jahre zu einer Phase der intensiven theoretischen Reflexion. Trotz des Bruchs mit Nono bleibt ihm dessen Musik weiterhin Vorbild und wichtiger Bezugspunkt. Vor dem Hintergrund seiner Auseinandersetzung mit den Werken der großen Tradition, mit der Musik und dem Musikdenken der Nachkriegsavantgarde in ihren unterschiedlichen Tendenzen sowie mit den gesellschaftskritischen Schriften und ästhetischen Entwürfen vor allem von Adorno, Lukács, Bloch und Herbert Marcuse entwickelt Lachenmann ein eigenständiges ästhetisches Konzept, in dem die immanente Reflexion des musikalischen Materials und die ständige Erneuerung des emphatisch erlebten Kunst- und Schönheitsbegriffs zentrale Bedeutung haben. Sein Mitte der 1970er Jahre im Zusammenhang mit der Arbeit an Accanto formulierter Begriff einer an der Wirklichkeit geläuterten Schönheit enthält einen umso provokanteren gesellschaftskritischen Stachel, als sich dieser gleichsam absichtslos in aller Unschuld einstellt.

12 Lachenmann im Gespräch mit dem Verfasser am 28. Dezember 2004.


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Wiederbegegnung und Freundschaft

Lachenmann 1975 mit seiner Frau, der Pianistin Yukiko Sugawara, und seiner Tochter Akiko

Bei seiner kritischen Diagnose, die Avantgarde der 1950er und 60er Jahre hätte sich „an der Wirklichkeitsferne ihres eigenen materialfixierten Denkens erschöpft“13, nimmt Lachen­ mann Nono ausdrücklich davon aus. Und ganz im Sinne seines einstigen Lehrers formuliert er in den ersten Skizzen zu seinem Klarinettenkonzert Accanto im März 1975 für sich die Aufgabe: „finde heraus aus den technischen Spielerei-Problemen. Engagiere Deine Musik / nicht nur immanent“.14

13 Helmut Lachenmann, Zum Problem des musikalisch Schönen heute, a. a. O., S. 105. 14 SHL Skizzenblöcke.



Luigi Nono (1924–1990) und Helmut Lachenmann (*1935), zwei der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, waren durch ein außergewöhnliches Lehrer-SchülerVerhältnis verbunden. Bei den Darmstädter Ferienkursen 1957 zeigte sich der damals 21jährige Musikstudent Lachenmann vom charismatischen und international bekannten Avantgardisten Nono derart beeindruckt, dass er gleich im folgenden Jahr zu diesem als Schüler nach Venedig ging. Ihre Beziehung erlebte Lachenmann fortan als wechselhaften „Gang durch die Klippen“, mit intensivem Austausch von Ideen, Plänen und Kompositionen, mit persönlichen und künstlerischen Krisen, Zweifeln, Selbstzweifeln und hitzigen Kontroversen, die zu Zerwürfnissen, einer mehrjährigen „Funkstille“ und schließlich zu einer beständigen Freundschaft ebenbürtiger Gesprächspartner führten. Dokumentiert wird diese besondere Künstlerfreundschaft durch Briefe, Postkarten, Widmungen, Skizzen, Notizen, Semesterberichte und Vortragstexte, die hier erstmalig veröffentlicht, kontextualisiert und kommentiert werden. Es sind herausragende Quellen von allgemein musikhistorischem Aussagewert, die Nonos lebenslanges Suchen als Mensch und Künstler ebenso bezeugen wie Lachenmanns von Anfang an enge Verknüpfung von kompositorischer Praxis mit theoretischer Reflexion.

Rainer Nonnenmann (*1968) studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Deutsche Philologie an den Universitäten Tübingen, Köln und Wien. Promotion 1999, Ernennung zum Honorarprofessor 2012. Er ist Dozent an der Hochschule für Musik und Tanz Köln, der Robert Schumann Hochschule Düsseldorf und der Musikhochschule Freiburg, Mit-Herausgeber der Zeitschrift MusikTexte sowie Autor mehrerer Bücher und Aufsätze zur Musik und Musikästhetik des 19., 20. und 21. Jahrhunderts.

ISBN 978‐3‐7651‐0326‐1

9 783765 103261

BV 326‐00


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