BV 443 - Von Bach zu Mendelssohn und Schumann

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ie Bach-Rezeption im Zeitalter Mendelssohns und Schumanns wird im vorliegenden Band unter dem Aspekt institutioneller und aufführungspraktischer Kontinuitäten und Umbrüche betrachtet. Dabei tritt in der Einschätzung der historischen Gegebenheiten an die Stelle der verbreiteten Hypothese einer schroffen Epochenzäsur zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert ein neues Verständnis von der Lebendigkeit und Langlebigkeit barocker Ensembletraditionen und Darbietungsweisen im 19. Jahrhundert.

Von Bach zu Mendelssohn und Schumann

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Aufführungspraxis und Musiklandschaft zwischen Kontinuität und Wandel

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Von Bach zu Mendelssohn und Schumann Aufführungspraxis und Musiklandschaft zwischen Kontinuität und Wandel

ISBN 978-3-7651-0443-5

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Breitkopf & Härtel


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Von Bach zu Mendelssohn und Schumann Aufführungspraxis und Musiklandschaft zwischen Kontinuität und Wandel

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Von Bach zu Mendelssohn und Schumann Aufführungspraxis und Musiklandschaft zwischen Kontinuität und Wandel

herausgegeben von

Anselm Hartinger, Christoph Wolff und Peter Wollny

Breitkopf & Härtel Wiesbaden · Leipzig · Paris

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Beiträge zur Geschichte der Bach-Rezeption herausgegeben vom Bach-Archiv Leipzig Band 4

Dieser Band entstand im Rahmen des Kooperationsprojekts „Bach – Mendelssohn – Schumann“ der Leipziger Komponistenhäuser Bach-Archiv, Mendelssohn-Haus und Schumann-Haus, unterstützt vom Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien aufgrund eines Beschlusses des deutschen Bundestages und vom Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst. Umschlagabbildung: Altes Gewandhaus zu Leipzig. Aquarell von Felix Mendelssohn Bartholdy, 1836 (Ausschnitt). Henriette Grabau Album, Gertrude Clarke Whittall Foundation Collection, Library of Congress, Music Division, Washington

BV 443 ISBN 978-3-7651-0443-5 © 2012 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Marion Schröder, Wiesbaden Satz und Notensatz: Kontrapunkt Satzstudio Bautzen Redaktion: Stephanie Wollny Druck: Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany

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Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     9 Abkürzungen  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    13 Bibliotheken  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    17 I. Vom Barock zur Romantik Zugänge und Befunde Jürgen Osterhammel Übergänge ins 19. Jahrhundert – Anmerkungen eines Historikers . . . . . . .    21 Clive Brown Zum konzeptionellen Wandel von Notation und Aufführungspraxis in der klassischen und romantischen Epoche – Untersuchung und Deutung des Quellenmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    41 II. Instrumentarium und Spielweisen Eszter Fontana Leipziger Klaviere und Klavierbauer der Mendelssohn-Zeit . . . . . . . . . . . .    81 Eszter Fontana, Thomas Kauba, Cornelia Thierbach Klaviere und Klavierbauer in Mendelssohns Briefen . . . . . . . . . . . . . . . . .   111 Edward Tarr Friedrich Benjamin Queisser, Julius Kosleck und der Übergang von Natur- zu Ventiltrompeten im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . .   125 Sören Friis Die Violoncellosuiten von Bach in neuem Licht – Beobachtungen anhand der Scordatur der 5. Suite (BWV 1011). . . . . . . . .   145

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III. Aufführungskontexte und Institutionen Anselm Hartinger „Wenn nicht meine Obrigkeit mir zu reden geboten hätte“ – Eine gescheiterte Aufführung als Quelle zur Direktionsund Probenpraxis im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert . . . . . . . . . .   169 Barbara Wiermann Lehranstalt und Kultureinrichtung: Das Leipziger Konservatorium als Aufführungsstätte der Mendelssohn-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   199 Mirjam Gerber „Der Musiker, schien es, war Herr im Haus, die Musik die oberste Göttin“ – Leipziger Bürgerhäuser des Vormärz und ihre Musikpraxis am Beispiel von Henriette Voigt . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Martina Wohlthat „In einem erneuten, ihm so innig sich anschmiegenden Gewande“ – Zu Aufführungen von Händels Judas Maccabaeus in der Instrumentierung von Peter Joseph von Lindpaintner in Deutschland, Österreich und der Schweiz, 1832 –1847. . . . . . . . . . . . . .   237 Isabell Tentler „Die Anzahl der Bach’schen Werke geht in’s Erstaunliche“ – Zur Auswahl und Aufführungspraxis der Werke von Johann Sebastian Bach durch den Leipziger Chorverein Carl Riedels . . . . . . . . . .   253 IV. Geistliches Komponieren nach 1750 Uwe Wolf Zur Kirchenkantate in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . .   273 Peter Wollny Gattungs- und Stilprobleme in Mendelssohns Choralkantaten . . . . . . . . .   289 Martin Geck Von Händel bis Schumann – die Idee des Volksoratoriums . . . . . . . . . . . .   297

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Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   305 Register Namen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Werke (J. S. Bach, F. Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann) . . . . . . . . . . . . .   322

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Vorwort Die Beschäftigung mit der Bach-Rezeption im Zeitalter Felix Mendelssohn Bartholdys und Robert Schumanns schloss von Beginn an die Untersuchung von aufführungspraktischen Gegebenheiten und vor allem Wandlungsprozessen mit ein. Insbesondere die weitreichenden Eingriffe, die Bachs Werke im Zuge ihrer partiellen Wiederentdeckung und Reintegration in die Konzertlandschaft der Romantik hinnehmen mussten, schienen auf eine gegenüber der Bach-Zeit völlig veränderte Klangwelt zu deuten und damit die Hypothese einer eher schroffen Epochenzäsur zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert zu stützen. Das Ausgreifen einer historisch informierten Aufführungspraxis bis weit in das genuin romantische Repertoire hinein und zahlreiche wissenschaftliche Einzelbefunde insbesondere in den Bereichen der Instrumentenkunde und Spieltechnik haben in den letzten Jahren aber den Blick für die Lebendigkeit und Langlebigkeit barocker Ensembletraditionen und Darbietungsgewohnheiten geschärft, was zu einem neuen Verständnis der Musik des 19. Jahrhunderts und ihrer Verwurzelung in der älteren Tradition beigetragen hat. Auch im Bereich der musikbezogenen Institutionen und Aufführungskontexte überlagerten und verbanden sich Neugründungen von Laienchören, Konservatorien und professionell verwalteten bürgerlichen Konzertorchestern mit zahlreichen Kontinuitäten etwa hinsichtlich der kirchenmusikalischen Dienstensembles und Repertoireprofile. Nachdem sich das Kooperationsprojekt BMS auf zwei internationalen Symposien 2005 und 2007 zunächst den kompositorischen Verbindungslinien zwischen Bach, Mendelssohn und Schumann sowie der besonderen Bedeutung der Orgel in diesem Kontext angenommen hatte, war es nur natürlich, als nächstes die Frage aufführungspraktischer und institutioneller Traditionen und Umbrüche an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert in den Mittelpunkt des Interesses zu stellen. Zu diesem Zweck trafen sich im November 2009 Musikwissenschaftler und Historiker aus Deutschland, England und der Schweiz, um zum ersten Mal überhaupt organologische, quellenkundliche, institutionsgeschichtliche, sozialhistorische und kompositionstechnische Zugänge und Befunde zu diesem Themenkreis zu erörtern. Dabei konnten anhand neuer Überlegungen und detaillierter Quellenstudien tradierte Vorurteile und Fehlannahmen hinsichtlich eines alle Bereiche der Musiklandschaft erfassenden Umbruchs um 1800 korrigiert oder zumindest relativiert werden, wohingegen sich eher das spätere 19. oder gar frühe 20. Jahrhundert als Ausgangspunkt einer vom barock-klassischen Usus fundamental verschiedenen Aufführungspraxis herauskristallisierte. Im Schatten langfristiger Kontinuitäten ließen sich jedoch tatsächlich auch echte Neuansätze im Bereich der Instrumente und Ensembles ausmachen, was vor allem mit den veränderten Darbietungskontexten und Trägerinstitutionen der öffentlichen und privaten Musikausübung zusammenhing. Die ungebrochene Pflege traditionsgesättigter Gattungen vor allem im Bereich der geistlichen Musik sollte dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass unter der Oberfläche eines weitgehend

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Vorwort

beibehaltenen formalen Gewandes teils völlig veränderte musikalische Konzeptionen entwickelt wurden. Zwei einleitende Beiträge beschäftigen sich mit grundsätzlichen Fragen sowohl der untersuchten Epoche als auch der Methodologie und Geschichte ihrer wissenschaftlichen Erschließung. Jürgen Osterhammel (Konstanz) widmet sich dabei aus der Sicht des Historikers der Frage von Kontinuitäten und Neuaufbrüchen an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert. Er problematisiert einerseits gängige Konzepte einer vermeintlichen Epochengrenze um 1800 und arbeitet andererseits anhand konkreter Fragestellungen und Kategorien einige für das Gesellschafts- und Kulturverständnis der Zeit in der Tat fundamentale Entwicklungslinien heraus. Clive Brown (Birmingham) beschäftigt sich anhand zahlreicher Details der Notations- und Aufführungsgewohnheiten in Klassik und Romantik mit der Frage, welche Quellen für eine solche Untersuchung überhaupt zur Verfügung stehen und wie sie sachgerecht interpretiert werden können. Beide Beiträge stecken damit das historische und organologische Terrain ab, auf dem die folgenden Einzelstudien angesiedelt sind. Es entspricht der empirischen Ausrichtung des Forschungsprojekts Bach – Mendelssohn – Schumann, kompositionsgeschichtliche und ästhetische Verbindungslinien stets im Kontext des für den Epochenklang verantwortlichen, jedoch selbst in stetiger Entwicklung begriffenen Instrumentariums sowie der jeweils gängigen Spielweisen zu diskutieren, zugleich jedoch die institutionellen und soziokulturellen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, unter denen sich die Produktion und Reproduktion auch der Musik Bachs, Mendelssohns und Schumanns vollzog. Drei Beiträge widmen sich dabei bestimmten Instrumentengruppen, die für die Aufführungspraxis des 19. Jahrhunderts eine essentielle, aufgrund tiefgreifender Veränderungen in Bau und Handhabung für die Wiedergabe Bachscher Musik jedoch zugleich höchst problematische Rolle spielten. Eszter Fontana (Leipzig) rehabilitiert mit dem Leipziger Klavierbau der MendelssohnZeit eine bisher kaum gebührend gewürdigte Traditionsschicht der örtlichen Musikpflege. Die Untersuchung der baulichen Eigenheiten und Klangideale der einzelnen Herstellerfirmen lässt dabei auf ein vielgestaltiges pianistisches Klangbild schließen, das den Musikern je nach Vorliebe, Repertoire und Kontext viel Spielraum für eine individuelle Tonästhetik ließ. Edward Tarr (Rheinfelden) widmet sich mit dem Übergang von Naturinstrumenten zu Ventiltrompeten im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts einer wesentlichen Weichenstellung in der Geschichte der Blechbläser. Anhand der Biographien und bevorzugten Instrumente wichtiger Trompeter des 19. Jahrhunderts werden dabei höchst unterschiedliche Annäherungsweisen an die seinerzeit kaum ausführbaren Clarinpartien Bachs vorgestellt. Weiter zurück ins 18. Jahrhundert führt der Beitrag von Sören Friis (Odense), der sich mit Bachs Suiten für Violoncello solo beschäftigt und dabei mit der Skordatur eine Stimm- und Notationsgewohnheit in den Vordergrund stellt, die sich in der Musikpraxis des Nachbarock kaum noch behaupten konnte. Die aus der Analyse der Notation

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Vorwort

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gewonnenen Erkenntnisse zur Spieltechnik erlauben weitreichende Rückschlüsse auf den von Bach bevorzugten Instrumententyp. Dem Zusammenhang von Aufführungspraxis, Darbietungskontext und Institutionsgeschichte widmen sich die folgenden fünf Beiträge. Anselm Hartinger (Würzburg / Basel) rekonstruiert anhand einer gescheiterten Leipziger Aufführung des Jahres 1833 und ihres aktenmäßig überlieferten dienstlichen Nachspiels Grundzüge der kirchenmusikalischen Direktions- und Probenpraxis der Zeit und widmet sich dabei den komplexen Zusammenhängen von Ensembletyp, Repertoireentwicklung und gewandelter Hörerwartung. Barbara Wiermann (Leipzig) untersucht mit der Aufführungstätigkeit des 1843 gegründeten Leipziger Conservatorium der Musik die Praxis einer für Jahrzehnte als vorbildlich angesehenen Lehranstalt. Dabei geht es anhand der Durchsicht von Prüfungsprotokollen und Examenskonzerten unter anderem um die Frage, welche Rolle die Kompositionen der institutseigenen Leitfigur Mendelssohn im Repertoire des Hauses tatsächlich spielten. Die private Musikpflege in den Leipziger Bürgerhäusern gehört zu den zweifellos interessantesten und vermutlich experimentellsten, dabei jedoch besonders schwer erschließbaren Segmenten des Musiklebens früherer Epochen. Mirjam Gerber (Hannover) hat sich anhand der Tagebuchaufzeichnungen von Henriette Voigt mit diesem Phänomen beschäftigt, wobei zugleich diskutiert wird, inwieweit Konzepte und Erscheinungen einer Salonkultur auch für das Leipzig der Zeit Mendelssohns und Schumanns namhaft gemacht werden können und welche Kreise als Träger derartiger Darbietungskontexte in Frage kamen. Zwei weitere Beiträge beschäftigen sich mit der für das neuzeitliche Musikleben so folgenreichen Begegnung der großen Laienchöre des 19. Jahrhunderts mit der Musik Händels und Bachs und diskutieren anhand erstmals erschlossener historischer Aufführungsmaterialien den Zusammenhang von zur Verfügung stehender Ensemblebesetzung und bearbeiteter Darbietungsfassung. An die Stelle einer lange dominierenden Abwertung vermeintlich romantischer „Verfälschungen“ tritt dabei das Verständnis für durchaus wohlmeinende Annäherungen der Aufführungsleiter des 19. Jahrhunderts an die verehrten barocken Vorbilder. Denn letztlich hatten diese Dirigenten in ihrer Tätigkeit auf unabweisbare aufführungspraktische Zwänge – etwa im Bereich der Generalbassausführung – und auf veränderte ästhetische Leitlinien zu reagieren. Martina Wohlthat (Basel) untersucht Peter Joseph von Lindpaintners Bearbeitungen von Händels auch im 19. Jahrhundert vielgespieltem Oratorium „Judas Maccabaeus“ in den Jahren 1832 –1847. Isabell Tentler (Leipzig) stellt mit dem 1854 gegründeten Riedel-Verein eine für die oratorische Bach-Pflege in Leipzig zentrale Institution vor, die sich vor allem durch eine sorgfältige Programmkonzeption und geschichtsdidaktische Begleitung der Konzerttätigkeit auszeichnete. Der Bereich der geistlichen Musik bietet sich für eine Suche nach Kontinuität und Neuanfang in der Kompositionspraxis nach 1750 vor allem deshalb an, weil bei weitreichender Umgestaltung der liturgischen und textlichen Grundlagen hier gattungsmäßige und satztechnische Traditionen besonders wirksam waren und insbesondere das

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Vorwort

Œuvre Bachs beständig als inspirierendes, aber auch übermächtiges Vorbild im Raum stand. Uwe Wolff (Stuttgart) geht in seinem Beitrag anhand kontrastierender formaler Konzepte den veränderten Erscheinungsformen der protestantischen Kirchenkantate in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach. Peter Wollny (Leipzig) untersucht Gattungs- und Stilprobleme in Mendelssohns frühen Choralkantaten, einer Werkgruppe, die Traditionen der vokal-instrumentalen Choralbearbeitung des späten 18. Jahrhunderts auf verschiedenen Ebenen aufgreift. Martin Geck (Dortmund) schließlich wendet sich mit dem Oratorium der bei weitem populärsten, wiewohl nicht liturgischen Gattung geistlicher Musik im 18. und 19. Jahrhundert zu. Zwischen Händel und Schumann geht er dabei insbesondere den Wandlungen des Konzepts eines „Volksoratoriums“ mit national-patriotischen Konnotationen nach. Die Entstehung des vorliegenden Bandes wäre ohne die Unterstützung zahlreicher Personen und Institutionen nicht möglich gewesen. Zu danken ist zunächst den Autoren, die unsere Einladung annahmen und bereit waren, an diesem Buchprojekt mitzuwirken. Sodann gebührt besonderer Dank dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die durch ihre Förderung die Vorbereitung und Realisierung von Symposion und Aufsatzsammlung ermöglichten. Die mit dem Bach-Archiv und dem Gemeinschaftprojekt verbundenen Leipziger Institutionen Mendelssohn-Haus, Schumann-Haus und Musikinstrumenten-Museum sowie das Institut für Musikwissenschaft der Universität leisteten wertvolle Unterstützung bei der Vorbereitung und Durchführung des Symposions. Die Übersetzung des Beitrags von Clive Brown und die redaktionelle Bearbeitung lagen in den Händen von Stephanie Wollny. Manuel Bärwald überprüfte gewissenhaft sämtliche Zitate und bibliographischen Angaben. Frank Litterscheid übernahm den Notensatz. Ihnen allen schulden wir herzlichen Dank. Ganz besonders sei schließlich auch dem Verlag Breitkopf & Härtel für die Unterstützung des Vorhabens gedankt. Leipzig, im November 2011

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Edward Tarr Friedrich Benjamin Queisser, Julius Kosleck und der Übergang von Natur- zu Ventiltrompeten im 19. Jahrhundert Bachs Trompetenstimmen und die Clarinblaskunst des 18. Jahrhunderts Wer die Trompeter waren, die die erste Stimme in Bachs Leipziger Kompositionen für Trompetenensemble ausführten, ist ebenso bekannt wie die außerordentliche Schwierigkeit, die diese Partien auszeichnet; dass Gottfried Reiche (1667–1734) und Ulrich Heinrich Christoph Ruhe (1706 –1787) elf bzw. sechzehn Jahre lang für Bach spielten, spricht in dieser Hinsicht für sich. Auch die Trompeter, die für Wilhelm Friedemann Bach in Halle spielten, müssen sehr gut gewesen sein. Sie hatten dort unter anderem zwei Kantaten seines Vaters auszuführen: BWV 80, zu der Friedemann drei anspruchsvolle Trompetenstimmen hinzufügte, sowie BWV 51, zu der er eine zweite Trompetenstimme komponierte, die sogar den Ton d''' verlangt und damit höher hinaufreicht, als Johann Sebastian je für diese Stimme schrieb. Allerdings sind nur die Namen der entsprechenden Hallenser Stadtpfeifer überliefert, nicht aber – mit Ausnahmen – die von ihnen gespielten Instrumente. 1 Zu Bachs Zeiten war die Trompete ein Naturinstrument ohne chromatische Spielhilfen. (Die tromba da tirarsi oder „Zugtrompete“, die in Leipzig – nicht aber in Weimar oder Köthen – Verwendung fand, steht außerhalb unserer Diskussion.) Damalige Trompeter waren von daher auf die Naturtonreihe angewiesen, die eine komplette Skala erst ab der vierten Oktave, in der sogenannten Clarinlage zwischen c'' und c''' und sogar noch höher, ermöglicht. Etwas tiefer – etwa vom 3. bis zum 8. Naturton – war die sogenannte Prinzipallage angesiedelt, die Michael Praetorius 1619 als „schmetternd“ charakterisierte. In der Nähe des „hohen C“ (c''', 16. Naturton) zu spielen, ist riskant, da der Abstand zu diesem Ton in beiden Richtungen nur einen Halbtonschritt beträgt. Außerdem bereiten sowohl der 11. als auch der 13. Naturton (f'' oder fis'' und a'' bzw. ein Ton höher, wenn die Trompete in D steht) Intonationsprobleme. Im Laufe mehrerer Generationen hatten Trompeter eine besondere Art entwickelt, mit Leichtigkeit im Clarinregister zu spielen, die oft mit dem Gesang verglichen wurde. Johann Ernst Altenburg (1734 –1801) beschrieb diesen Stil 1795 wie folgt:

1 Für die Namen der Stadtpfeifer siehe W. Serauky, Musikgeschichte der Stadt Halle, Bd. 2/2, Halle 1942, S. 69.

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126 Edward Tarr Wir verstehn unter Clarin oder unter einer Clarinstimme ungefähr das, was unter den Singstimmen der Discant ist, nemlich eine gewisse Melodie, welche größtentheils in der zweygestrichenen Oktave, mithin hoch und hell geblasen wird. 2

In der Epoche der Klassik wurde dieser am virtuosen Gesang orientierte Stil zunehmend als altmodisch empfunden. Typische Orchesterstellen in den Werken Haydns, Mozarts oder Beethovens erstreckten sich mit wenigen Ausnahmen nur vom kleinen g bis g'' und verlangten eine andere Blasart, die eher mit dem früheren Prinzipalblasen zu tun hatte. Instrumentenmacher bauten sogenannte Inventionstrompeten, die mit der Technik des Stopfens durch die Hand chromatisch gespielt wurden und mithilfe entsprechender Auf- oder Einsteckbögen in vielen Tonarten verwendet werden konnten. Die Trompeter verloren somit vor allem deshalb die Fähigkeit, im gesanglichen Barockstil zu spielen, weil dies nicht länger verlangt wurde. Dass Beethoven seinen Trompetern in den Symphonien Nr. 3, 5 und vor allem 9 (mit der „Ode an die Freude“) einige kantable Hauptmelodien anvertraute, ist lediglich eine Ausnahme, die die Regel bestätigt. Zwei Arten späterer Vereinfachung an barocken Trompetenstimmen Bereits in der zweiten Hälfte des 18. und vor allem während des gesamten 19. Jahrhunderts wurden zwei Arten von Vereinfachung an barocken Trompetenstimmen praktiziert. Entweder wurden die höchsten Töne speziell der 1. Trompete nach unten versetzt, oder sie wurden von einem Holzblasinstrument – einer Oboe oder am häufigsten einer Klarinette – übernommen, wobei oft eine chorische Besetzung Verwendung fand. Ein bekanntes Beispiel für die erste Art der Vereinfachung liefern die Änderungen, die Wolfgang Amadeus Mozart an den Trompetenstimmen im Messias und anderen Werken Händels vornahm. 3 In Leipzig nahm August Eberhard Müller (1767–1817), Thomaskantor zwischen 1804 und 1810, ähnliche Vereinfachungen vor. 4 In der obligaten Trompetenstimme zur Bass-Arie (Nr. 5) der Kantate BWV 5 verfuhr er beispielsweise an zwei hochliegenden Stellen (T. 3 – 5 und 67– 69) so, dass der Trompeter Haltetöne übernahm oder

2 J. E. Altenburg, Versuch einer Anleitung zur heroisch-musikalischen Trompeter- und PaukerKunst, Halle 1795 (Faksimileausgabe: Hofheim und Leipzig 1993), S. 95. 3 Mozart brachte die Änderungen am Messias im März 1789 an. Weitere Werke Händels, bei denen Mozart die Instrumentierung änderte oder bestehende Partien umschrieb, sind Acis und Galatea (im November 1788, allerdings ohne Trompeten), Alexander’s Feast und die Ode for St. Cecilia’s Day (beide im Juli 1790). Bereits 1881 verglich H. L. Eichborn die beiden MessiasFassungen; siehe sein Buch Die Trompete in alter und neuer Zeit, Leipzig 1881 (Reprint Wiesbaden 1968), S. 55 – 59. Zu seiner späteren Diskussion des Clarinblasens und der Ausführung älterer Musikwerke (1894) siehe weiter unten im Haupttext. 4 Diese Beobachtung verdanke ich Anselm Hartinger. Siehe dazu A. Hartinger, „Alte Neuigkeiten“ – Bach-Aufführungen und Leipziger Musikleben im Zeitalter Mendelssohns, Schumanns und Hauptmanns 1829 bis 1852. Studien zu Repertoirebildung, Aufführungspraxis, Aufführungsbedingungen und Ästhetik, Diss. Universität Marburg 2010, Kapitel 2.4.2.

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pausierte. 5 Die fehlenden hohen Töne übernahm die erste Oboe. Dies ist das erste uns bekannte Beispiel – wohl um 1802 6 – für die zweite Art der Vereinfachung durch die Mitwirkung eines Holzblasinstruments. Auch Carl Friedrich Zelter (1758 –1832), Leiter der Berliner Sing-Akademie von 1800 bis zu seinem Tod, wählte eine ähnliche Vorgehensweise. Auf einem undatierten Vorsatzblatt zur autographen Partitur der Kantate BWV 147 schrieb er: Die Trompetenstimme zu dieser Musik wird in unsern Zeiten am besten auf der Hoboe können gespielt werden. Will man dennoch gern eine Trompete dabey haben so können die Stellen welche bequem herauszubringen sind, von einer Trompete neben her producirt werden. 7

Im frühen 19. Jahrhundert versuchten neben Müller und Zelter auch andere Aufführungsleiter, die Probleme der hohen Trompetenpartien zu lösen. Hier sei nur auf die entsprechenden Aktivitäten von Raphael Georg Kiesewetter in Wien und Ferdinand Ries in Frankfurt sowie auf die Äußerungen Gottfried Webers in der Zeitschrift Cäcilia verwiesen. 8 Kiesewetter etwa vereinfachte 1818 die Trompetenstimmen in Bachs Magnificat und verstärkte sie durch Oboen. Die Erfindung des Ventils Als um 1815 das Ventil für Blechblasinstrumente erfunden wurde, dominierte also die Spielart in einer tieferen Lage, als es während der Barockzeit üblich gewesen war. Das Ventil machte ein vollchromatisches Spiel möglich: Indem man nacheinander die drei Ventile niederdrückte, allein oder in Kombination, konnte man jeden beliebigen Naturton um sechs Halbtonschritte tiefer machen. Die Komponisten begannen daher, Melodien in der Prinzipallage zu schreiben, ein bis dahin unmögliches Unterfangen. Instrumentenmacher leisteten ebenfalls ihren Beitrag zu diesem veränderten Spielideal: Ähnlich wie bei der Inventionstrompete begünstigten Bohrung und Schallstückform dieser Trompeten die mittlere und tiefere Lage. Die typische Ventiltrompete der Romantik stand in F (eine Terz höher als die barocke D-Trompete), konnte aber auch in tiefere 5 Ähnlich verfuhr Müller 1805 mit dem Oratorium Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu von C. P. E. Bach. Siehe A. Hartinger, Materialien und Überlegungen zu den Bach-Aufführungen August Eberhard Müllers, in: BJ 2006, S. 171 – 203, speziell S. 182 –183 (mit Fußnote 37). 6 Nach Hartinger, Materialien und Überlegungen (wie Fußnote 5), S. 176 –177, Fußnote 19. Der Stimmensatz zu dieser Kantate ist zusammen mit Materialien zur Kantate BWV 115 in einem Umschlag mit dem Vermerk „A. E. Müller 1802“ erhalten, der heute im Archiv der Hochschule für Musik „Franz Liszt“ Weimar (Thüringisches Landesmusikarchiv) verwahrt wird (Signatur: KIMU 1 – 2). Müller war bereits 1800 Assistent von Johann Adam Hiller (1728 – 1804, Thomaskantor ab 1789). Die Einrichtung der Kantate BWV 5 stammt also aus der Zeit, bevor er Hillers Amt übernahm. 7 Siehe Dok VI, E 3. 8 Siehe Hartinger, „Alte Neuigkeiten“ (wie Fußnote 4), Kapitel 2.4.2., mit Berichten über Zelter (Berlin, H-Moll-Messe), Kiesewetter (Wien, Magnificat am 3. 5. 1818, Dok VI, D 75 A), Ries (Frankfurt / Main, Magnificat, Credo aus der H-Moll-Messe und Händels Dettinger Te Deum 1828) und Gottfried Weber (Aufsatz in Cäcilia, 1835).

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Stimmungen gebracht werden. 9 Zu den neuen bläserischen Fähigkeiten, die mit Wagner aufkamen, gehörten die Koordination von Fingern und Zunge, der unhörbare Einsatz, eine große dynamische Bandbreite sowie Ausdauer bei lang ausgedehnten Ritardandi. Trompeter mussten sich also auf diese neuen Möglichkeiten und Anforderungen einstellen. Der Beginn der „Bach-Renaissance“ und die Ausführung von Trompetenstimmen durch Klarinetten Der Beginn der „Bach-Renaissance“ wird gewöhnlich mit Felix Mendelssohns erster öffentlicher Berliner Aufführung der Matthäus-Passion am 11. März 1829 in Verbindung gebracht. Allerdings setzte diese Aufführung eine bereits länger andauernde Berliner Tradition fort, die 1794 mit Carl Friedrich Christian Fasch begann und 1811 –1823 mit nicht-öffentlichen Bach-Darbietungen unter Zelter fortgeschrieben wurde. 10 Bald folgten andere Städte dem Beispiel Berlins. In Frankfurt am Main wurde die Matthäus-Passion nur zweieinhalb Monate nach Mendelssohns Aufführung durch den Cäcilienverein unter der Leitung von Johann Nepomuk Schelble (1789 –1837) dargeboten, und 1830 begründete Johann Theodor Mosewius (1788 –1858) mit diesem Werk eine Breslauer Bach-Tradition, die er in den folgenden Jahrzehnten mit weiteren Werken fortsetzte. Mosewius scheint auch an den Anfängen einer weiteren, damit verbundenen Tradition beteiligt gewesen zu sein: Bei Bach-Werken, in denen Trompeten vorkamen, verstärkte er diese durch Klarinetten. Die Klarinetten übernahmen dabei die höchsten Töne. 11 1844 schrieb er in einem Artikel über Bachs Kirchenmusik rückblickend: Ich habe die Gewohnheit, bei Aufführungen Bach’scher Werke, z. B. des Magnificat in Es, die ersten Trompetenstimmen für Trompeten von höherer Stimmung umzuschreiben, und die ihren Umfang überschreitenden oder von ihnen nicht mit Leichtigkeit auszuführenden Stellen den Clarinetten zu geben, diese aber überhaupt [...] jenen theils ergänzend, theils sie verstärkend hinzuzufügen. Andere mögen’s anders machen. 12

Mit „Trompeten von höherer Stimmung“ meinte Mosewius wohl die heute noch gängige B-Stimmung, die in jener Zeit die tiefere F-Stimmung abzulösen begann. Trom9 Die ausführlichste Darstellung dieser Vorgänge findet sich bei H. Heyde, Das Ventilblasinstrument, Leipzig 1987. Siehe auch meine Studie The Romantic Trumpet [I], in: Historic Brass Society Journal 5 (1993), S. 213 – 261, bzw. in knapper Form E. H. Tarr, Die Trompete. Ihre Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, Mainz 42005, S. 96 –102. 10 1794 hatte Fasch drei Motetten von Bach aufgeführt. Zelter folgte 1811 und 1812 mit einigen Sätzen aus der H-Moll-Messe und der Matthäus-Passion, 1813 mit der vollständigen H-MollMesse und 1822/23 mit der Johannes-Passion. Siehe M. Elste, Meilensteine der Bach-Interpretation 1750 – 2000, Stuttgart 2000, S. 43. 11 R. Dahlqvist und B. Eklund, The Bach Renaissance and the Trumpet, in: Euro-ITG Newsletter, Nr. 1 (1995), S. 12 –17, speziell S. 13. 12 J. T. Mosewius, Über Joh. Seb. Bach’s Kirchengesänge und Cantaten, in: AMZ 46 (1844), Sp. 595. Darin erinnerte er sich an frühere Zeiten: „Ältere Männer werden sich noch erinnern, in ihrer Jugend bei den Trompetenchören [...] die Clarinsolo’s gehört zu haben, welche sich gemeinhin im Umfange von g' bis c''' und d''' bewegten.“

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peten und Klarinetten klanglich miteinander zu verbinden wurde die normale Praxis bis weit in die 1890er Jahre hinein, als die meisten Trompeter nicht mehr bzw. noch nicht wieder fähig waren, Bachs höchste Töne zu erreichen. 13 Die Anfänge der Klarinetten-Tradition – allerdings gänzlich ohne Trompeten – scheinen allerdings auf das Jahr 1828 zurückzureichen, als Spontini in Berlin die ersten sechs Teile des Credo aus der H-Moll-Messe am 30. April aufführte, wobei er die Trompetenstimmen durch Klarinetten und Hörner ersetzte. 14 Exkurs: Eine frühe partielle Vereinfachung einer Bachschen Trompetenstimme Eine partielle Vereinfachung einer Trompetenstimme ist in einem Manuskript der dritten Orchestersuite BWV 1068 in der Staatsbibliothek zu Berlin zu sehen, wo die 1. Trompetenstimme für eine (Ventil-)Trompete in G (also einen Ton höher als die damalige F-Trompete der Romantik) transponiert wurde. 15 Immerhin blieb rund die Hälfte der hohen Töne (klingend d''') originalgetreu erhalten. Der damalige Trompeter muss also prinzipiell im Stande gewesen sein, diese Tonhöhe auf einem solchen Instrument zu erreichen. Diese Berliner Partitur von einer unbekannten Aufführung dürfte recht früh geschrieben worden sein (wahrscheinlich in den 1830er Jahren), da bereits zehn Jahre später, wie gerade erwähnt, in einem solchen Fall B-Trompeten zu erwarten gewesen wären. 16 Mendelssohns „Erleichterung“ der Trompetenstimmen Bachs Dass Mendelssohn Änderungen an den Trompetenstimmen verschiedener Bach-Werke einschließlich der dritten Orchestersuite 17 vornahm, ist bekannt. 18 Sie wurden ausgiebig von Anselm Hartinger kommentiert, dem ich für einen Einblick in seine im Druck 13 Siehe dazu eine aus dem Jahr 1879 stammende und im Manuskript überlieferte Einrichtung der Trompetenstimmen zu BWV 50 aus Leeds. 14 F. Smend schrieb im Krit. Bericht der NBA II/1 zur H-Moll-Messe, S. 44: „Der Bläserpart war völlig modernisiert. Anstatt der originalen Tromben und Timpani, Flöten und Oboen wurden 2 Klarinetten, 3 Hörner und 2 Fagotte, alle diese aber in solistischer Besetzung, verwendet.“ 15 D-B, H. 702. Das Manuskript gehört der Berliner Akademie für Kirchen- und Schulmusik, allerdings ist nicht bekannt, woher es stammt. Siehe R. Dahlqvist, Bidrag till trumpeten och trumpetspelets historia från 1500-talet till mitten av 1800-talet med särskild hänsyn till perioden 1740 –1830, 2 Bde., Diss. Göteborg 1988. Bd. II, Fußnote 1315 und 1316. 16 Mitteilung von Dahlqvist (E-Mails vom 12. und 14. 9. 2009). 17 Mitteilung von Dahlqvist (E-Mail vom 14. 9. 2009): Mendelssohns autographe Partitur liegt heute in Dresden, aber Dahlqvist erhielt seinen Mikrofilm von einem Warschauer Exemplar, das früher Mosewius gehört haben soll. 18 Außerdem arrangierte Mendelssohn früher – ungefähr zu der Zeit, als er die Aufführung der Matthäus-Passion vorbereitete – Händels Acis und Galatea und Dettinger Te Deum für Zelter. Siehe R. L. Todd, Artikel Mendelssohn, in: New Grove 2001, Bd. 16, S. 394. Auch diese Trompetenpartien wird er wohl vereinfacht haben, ebenso wie er auch in einem weiteren Werk Händels verfuhr, dem Krönungsanthem Zadok the Priest (freundliche Mitteilung von A. Hartinger, 1. 11. 2009).

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befindliche Dissertation herzlich danke. 19 Nach dessen auf Mendelssohns Leipziger Dienstzeit bezogener Zusammenstellung handelt es sich um folgende Werke Bachs, die Trompetenstimmen enthalten: Dritte Orchestersuite BWV 1068: Kantate BWV 119, Satz 1 und 4: H-Moll-Messe, Sanctus: H-Moll-Messe, Et resurrexit:

15. 2. 1838, 23. 4. 1843 23. 4. 1843 21. 1. 1841, 23. 4. 1843 21. 1. 1841 20

Wie Mendelssohn mit den Trompetenstimmen von BWV 119 verfuhr, ist nicht bekannt, weil nur die von ihm ansatzweise eingerichtete Partitur, 21 nicht aber das zur Aufführung benutzte Stimmenmaterial erhalten ist. Bei der dritten Orchestersuite ging Mendelssohn 1838 nach Maßgabe der beiden oben beschriebenen Einrichtungsvarianten vor, indem er die Trompetenpartien durchgängig bearbeitete, während der Einsatz zusätzlicher Klarinetten auf einen Satz beschränkt blieb. So vermied er im Falle der Ouvertüre, der Gavotten und der Bourrée in den beiden oberen Trompetenstimmen alle Tonhöhen über dem klingenden a'', indem er Alternativfassungen in tieferer Lage konzipierte. Diese Änderungen hatten nur gelegentlich Auswirkungen auf die dritte Trompetenstimme. Den Tonvorrat der geänderten Stimmen entnahm er der Naturtonreihe (bis auf ein viermal wiederholtes cis'' in T. 18 der 2. Stimme in der Ouvertüre, das jedoch durch die bekannte Technik des „Fallenlassens“ des 8. Naturtons ausführbar wäre). Möglicherweise bliesen die Trompeter dieser Aufführungen (noch) nicht auf Ventil-, sondern weiterhin auf Naturtrompeten. Diese Ansicht wird dadurch unterstützt, dass Mendelssohn den 13. Partialton konsequent vermied, der auf einer Naturtrompete zu tief erklingt – es sei denn, der Spieler kannte die barocke Technik, diese Tonhöhe durch Treiben nach oben zu korrigieren. Die zweite Lösung mit der Verstärkung durch Klarinetten wählte Mendelssohn für die Gigue, deren erste Trompetenstimme besonders viele hohe Töne enthält: Zu den drei Trompeten fügte er eine neue Stimme für zwei C-Klarinetten hinzu, die im 19 Für unseren Zusammenhang siehe Kapitel 4 („Bearbeitungpraxis und Darbietungsweise der Kompositionen Bachs in Leipzig vor dem Hintergrund aufführungspraktischer Kontinuitäten und Wandlungen“), vor allem den Abschnitt 2.4. („‚Erleichterte‘ Trompetenpartien in Bachs Orchesterwerken und Kirchenkompositionen“). 20 Zusätzlich stellte Mendelssohn für das Kölner Musikfest 1838 ein als „Cantate zum Himmelfahrtstage“ bezeichnetes Pasticcio zusammen, zu dem unter anderem der Eingangschor aus BWV 43 und der doppelchörige Satz BWV 50 gehörten. Beide Sätze wurden einschließlich der Trompetenpartien nachweislich massiv bearbeitet. Vgl. zur Quellenlage und den Aufführungsbedingungen: A. Hartinger, Felix Mendelssohn Bartholdy und die Aufführung der „Himmelfahrtskantate“ auf dem Kölner Musikfest 1838. Aufführungspraktische, quellenkundliche und ästhetische Konnotationen, in: Konferenzbericht BMS 2005, S. 281 – 314. 21 GB-Ob, MS . Don c. 151, Nr. 9. Vgl. A. Hartinger, „... lauter Vocal- und Instrumentalcompositionen dieses unsterblichen Meisters“. Felix Mendelssohn Bartholdy und das Konzert zur Enthüllung des Leipziger Bach-Denkmals am 23. April 1843, in: Mendelssohn-Studien 14 (2005), S. 221 – 257.

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Unisono die Töne der ersten Trompete übernahmen. Die erste Trompete spielte dafür meist die originale zweite Stimme. Zwischen dieser und der kaum veränderten dritten Stimme richtete er eine neue zweite Trompetenpartie ein. Bereits 1838 also übernahm Mendelssohn die verbreitete Gewohnheit, Trompeten und Klarinetten zu kombinieren. Die beschriebenen Änderungen übernahm Ferdinand David dann in seine 1866 erschienene Edition dieser Leipziger Mendelssohn-Fassung des Stückes. 22 Bei den Umarbeitungen von „Et resurrexit“ und „Sanctus“ aus der H-Moll-Messe kehrte Mendelssohn drei Jahre später zur ersten Art der Vereinfachung ohne ergänzende Klarinetten zurück. Er begnügte sich damit, die hohen Trompetenpartien wie oben beschrieben zu erleichtern, wobei er manches klingende h'' (13. Partialton) stehen ließ. 23 Die skizzenhafte Überlieferung von Mendelssohns Vorlage erlaubt allerdings keine abschließende Einschätzung, ob die Trompeter zu diesem Zeitpunkt bereits zu Ventilinstrumenten griffen. Spätere Beispiele für die Mitwirkung von Klarinetten Als Beispiel aus späterer Zeit für das Zusammenspiel von Klarinetten und Trompeten kann die Aufführung der H-Moll-Messe 1892 unter Theodore Thomas in Cincinnati dienen: The Mass will be played by an orchestra consisting of twenty four first violins and having a woodwind choir consisting of twelve flutes, twelve oboes, eight bassoons and two oboi d’amore. Six trumpets shall be used and six clarinets, it being by the introduction of these latter and their combination with the trumpets that Mr. Thomas has solved the perplexing „trumpet problem“ in what promises to be the most satisfactory and rational manner yet hit upon by any of the Bach conductors. [... It] can be said without fear of any possible contradiction that the performance of the Bach Mass next Friday in Cincinnati will be the most complete the world has ever known, with the Festival chorus of 500 voices. 24 22 SUITE | in D-dur | [...] | für Orchester | componirt | von | JOH. SEB. BACH. | NEUE AUSGABE . | Für die Aufführungen im Gewandhause zu Leipzig genau bezeichnet u. herausgegeben von | FERDINAND DAVID, Leipzig 1866. Vgl. P. Krause, Originalausgaben und ältere Drucke der Werke Johann Sebastian Bachs in der Musikbibliothek der Stadt Leipzig, Leipzig 1975 (Bibliographische Veröffentlichungen der Musikbibliothek der Stadt Leipzig. 5.), S. 106 (Nr. 225). 23 Allerdings weist Hartinger in seiner Dissertation darauf hin, dass das skizzenhaft erhaltene Material Mendelssohns für diese beiden veränderten Sätze vielleicht nicht den letzten Stand der Aufführung widerspiegelt. Dort kommen Töne, die außerhalb der Naturtonreihe stehen, häufiger vor als in der dritten Orchestersuite. Dies sind im „Et resurrexit“: T. 20 (2. Tr. unvorbereitetes cis''), T. 89 (2. Tr. gis'); im „Sanctus“: T. 7, 8, 11, 35, 74, 75 (3. Tr. unvorbereitetes cis''), T. 12 (3. Tr. cis'' nach Terzsprung von oben), T. 19, 21 (3. Tr. h') und T. 133 –139 (1. Tr. Oktavierung einer hohen Stelle nach unten mit vielen Tönen, die eigentlich nur auf einem Ventilinstrument ausgeführt werden könnten: g' dreimal, h' sechsmal). Weiterhin scheint er in T. 4 – 5 des „Et resurrexit“ die hohen Töne h'' und a'' in der zweiten Trompete stehen gelassen zu haben, während er sie an der Parallelstelle im T. 89 – 90 eine Oktave nach unten versetzte. Trompeten-Einzelstimmen sind nicht erhalten. 24 Chicago Tribune, 30. März 1892, zitiert nach T. Crown, Christian Rodenkirchen and the First Chicago Symphony Orchestra Trumpet Section, in: International Trumpet Guild Journal 34/4 (Juni 2010), S. 21. Rodenkirchen war Gründungsmitglied des Orchesters im Jahre 1891.

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Zwei Jahre später brachte der frühe Trompetenforscher Hermann Ludwig Eichborn (1847–1918) ein kleines Buch heraus, Das alte Clarin-Blasen auf Trompeten. Er berichtete darin, dass in der hohen Lage bei der damals vorherrschenden Blastechnik „sehr häufig nur mit großer Anstrengung und zu stark geblasen wird“. 25 Noch zu diesem späten Zeitpunkt schlug Eichborn wie früher Mosewius vor, dass Holzblasinstrumente die höchsten Töne von Bachs Trompetenstimmen übernehmen sollten, weil sie „Stellen in der höchsten Tonlage unvergleichlich sicherer, besser und geschmackvoller [...] bringen, als es dem besten Trompeter möglich wäre“. 26 Im übrigen war er der Ansicht, dass es „überhaupt nicht möglich und auch gänzlich zwecklos“ sei, „Alte Musik heute so auszuführen, wie dies vor 100 oder 200 Jahren zur Zeit ihrer Entstehung geschah“, und er zog mit dem Ausruf: „ist es nicht überhaupt eine Lächerlichkeit, eine historisch genaue Aufführung älterer Musik bis in alle Einzelheiten zu verlangen!“ sogar generell die Sinnhaftigkeit derartiger Bemühungen in Zweifel. 27 Queisser betritt die Bühne Kehren wir zum „Bach-Jahr“ 1850 zurück. Am 28.Oktober jenes Jahres wurde die H-Moll-Messe zum ersten Mal in Dresden aufgeführt. Der erste Trompeter, Friedrich Benjamin Queisser, und seine Kollegen führten ihre Stimmen auf doppelt gefalteten Naturtrompeten aus, auf denen sie durch Stopfen mit der Hand nicht stimmende Töne korrigierten, wie sie es von Messen-Aufführungen in der Hofkirche her gewohnt waren. Ein Zeitzeuge hielt dazu fest: [D]ie großen Schwierigkeiten der hohen Trompetenlage wurden mit Glück und Virtuosität durch die Herren Queisser, Dietrich [recte: Dittrich] und Kunze übernommen. 28 25 Eichborn, Das alte Clarin-Blasen auf Trompeten, Leipzig 1894, neu hrsg. von E. H. Tarr, Köln 1998 (Kölner Musikbeiträge. 7.), S. 43. 26 Ebenda, S. 44. 27 Ebenda, S. 44 – 45. 28 Zit. nach G. Haußwald, Johann Sebastian Bach 1750 –1950, Dresden 1950, S. 31. Die Trompeter Eduard Dittrich (gest. 20. 6. 1882) und Carl Gottfried Kunze gehörten der Staatskapelle von 1844 bis 1861 bzw. von 1823 bis 1855 an. Siehe dazu A. Schreiber, Von der Churfürstlichen Cantorey zur Sächsischen Staatskapelle Dresden. Ein biographisches Mitgliederverzeichnis 1548 – 2003, Possendorf o. J. (Privatdruck), S. 26 und 75. Dass Queisser und seine Kollegen auf Naturtrompeten spielten, wird zweifelsfrei bestätigt in einem Brief, den P. F. Richter, ein ehemaliger Schüler Queissers, später in den Monatsheften für Musikgeschichte veröffentlichte. Der betreffende Passus über die H-Moll-Messe lautet: „Der Einsender, viele Jahre lang Schüler des am 12. April 1893 zur Ruhe bestatteten, unvergeßlichen ersten Trompeters und wirklichen Clarin-Bläsers der kgl. Musik-Kapelle in Dresden, Frdr. Benj. Queissers, bei dem sich seinerzeit Rich. Wagner über schwierige Trompetenstellen Rat holte, und der in der katholischen Hofkirche in Dresden die Messen nur auf einer der dort eingeführten, jetzt natürlich nur noch von der 3. – 6. Stimme bei den sogenannten Intraden verwendeten kurzen, leicht stopfbaren blanken Trompeten blies, kann aus jahrelanger Erfahrung das Urteil des Herrn Verfassers vollständig bestätigen.“ Mit „blanken Trompeten“ sind Naturtrompeten gemeint. Sie sind „kurz“, weil sie doppelt gefaltet sind, um das Stopfen mit der Hand zu ermöglichen. Siehe P. F. Richter, Das alte Clarin-Blasen auf Trompeten (Rezension des Buchs von Eichborn), in: Monatshefte für Musikgeschichte 27 (1895), S. 75 – 76, hier S. 76.

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Soviel wir wissen, handelte es sich bei dieser Aufführung um das letzte Mal, dass Naturtrompeten für dieses Werk verwendet wurden, bis es mehr als ein Jahrhundert später zur Wiederentdeckung der historischen Aufführungspraktiken kam. Wer war dieser Friedrich Benjamin Queisser? In der Fachliteratur suchte man seinen Namen im Gegensatz zu dem seines Bruders, des Posaunisten Carl Traugott Queisser, bisher vergeblich. Friedel Keim ist es jedoch gelungen, seine wichtigsten Lebensstationen aus Mitteilungen in älteren Zeitschriften zusammenzutragen. Dabei kristallisierte sich folgendes Biogramm heraus: 29 Friedrich Benjamin Queisser (* 27. 5. 1817 in Döben bei Grimma, † 8. 4. 1893 in Dresden) war der Sohn des Döbener Gastwirts Carl Traugott Benjamin Queisser, dessen Vater Türmer in Löbau in der Oberlausitz war. Er erlernte das Trompetenspiel in der aus der Leipziger Stadtpfeiferei hervorgegangenen Lehrlingskapelle des Stadtmusikus Wilhelm Leberecht Barth, kam 1834 nach Dresden und erhielt dort eine Anstellung als Trompeter im Musikkorps der Artillerie. Als diese Militärkapelle aufgelöst wurde, berief man ihn zum Signalisten der 2. Brigade. 1842 trat Queisser in die Königlich Sächsische Hofkapelle Dresden ein, in der er bis zu seiner 1885 erfolgten Pensionierung „ruhmvoll und zur größten Zufriedenheit seiner Vorgesetzten“ tätig war. Am 28. Oktober 1850 wurde in Dresden die H-Moll-Messe von Johann Sebastian Bach aufgeführt, wobei die Instrumentalsoli offenbar „sehr gut executiert“ wurden. In zeitgenössischen Zeugnissen hieß es, „selbst die fabelhaften Trompetenpassagen gelangen so ziemlich“. Der Leiter der Aufführung, Johann Schneider, schrieb auf eine Originalstimme der H-Moll-Messe: „Dem braven und trefflichen Primarius, Herrn Kammerm[usikus] Queißer, zur Erinnerung an den 28. Oktober 1850“. Dieser blies die undankbare, schwierige Stimme als vielleicht letzter echter Clarinbläser auf der tiefen D-Naturtrompete. 30

29 Die folgenden Passagen über Queisser wurden leicht verkürzt dem Kompendium von F. Keim entnommen (Das Große Buch der Trompete, Bd. 2, Mainz 2009, S. 299). Ich danke dem Autor für die Mitteilung seiner Daten noch vor deren Veröffentlichung. 30 Dieser Absatz ist eine Paraphrase der Ausführungen P. F. Richters im oben erwähnten Brief von 1895 an die Redaktion der Monatshefte für Musikgeschichte (siehe Fußnote 28). Darüber hinaus ist der erste Satz eine Kondensierung des Berichts Aus Dresden, in: NZfM 33, Nr. 48 (13. Dezember 1850), S. 262; dort heißt es: „Am 28ten October führte die Dreyßig’sche Singacademie die grosse Messe in H-Moll von Joh. Seb. Bach auf, unter Leitung ihres Directors, des Hoforganisten Joh. Schneider und mit Unterstützung der königl. Kapelle. Das Werk wurde unverkürzt gegeben (Kyrie, Gloria, Credo, Sanctus und Agnus) und dauerte beinahe drei Stunden. Die Aufführung war eine nur zum Theil gelungene: die Solosänger der Academie schienen ihren allerdings sehr schwierigen Aufgaben nicht vollständig gewachsen, dagegen wurden die Instrumentalsoli sehr gut executirt, selbst die fabelhaften Trompetenpassagen gelangen so ziemlich. Die Singacademie gedenkt, öfter dergleichen Concerte zu veranstalten: dieser lobenswerthe Entschluß eröffnet uns die angenehme Aussicht auf die Vorführung von Werken einer Gattung, welche in Dresden bisher nur sehr selten vor die Oeffentlichkeit gelangte.“

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Richard Wagner hielt Queisser für den Größten in seinem Fach. Über schwierige Trompetenstellen holte er sich Rat bei ihm. 31 Als Mitbegründer des Dresdner Tonkünstler-Vereins von 1854 verwaltete Queisser die ersten zwei Jahre das Amt des Schatzmeisters, dazu unterrichtete er am Konservatorium für Musik seit dessen Gründung im Jahr 1856. Queissers ältester Bruder Carl Traugott (* 11. 1. 1800 in Döben, † 12. 6. 1846 in Leipzig) war ein exzellenter Posaunist; Robert Schumann nannte ihn den „Posaunengott“. 1821 trat er ins Gewandhausorchester ein. Die von Ferdinand David und Christian Gottlieb Müller für ihn komponierten Posaunenkonzerte gehören zur Standardliteratur. 32 Ein Bild von Friedrich Benjamin Queisser im Alter von etwa 60 Jahren ist erhalten (siehe Abbildung 1). 33 Die Einführung von Ventiltrompeten in noch höheren Stimmungen Etwa zehn Jahre nach Queissers bemerkenswertem Auftritt in der H-Moll-Messe erhalten wir erste spärliche Informationen über die Verwendung höher gestimmter Ventiltrompeten bei Aufführungen von Werken Bachs und Händels. Bis heute ist es Brauch geblieben, solche Werke auf Trompeten auszuführen, die in D oder noch höher stehen. Zu dieser Tradition hier in aller Kürze ein paar Namen und Daten. Der Breslauer Trompeter Adolf Scholz (1823 –1884), der um 1850 als einer der Ersten die moderne B-Stimmung für den Orchestergebrauch einführte, blies Bachs hohe Stimmen auf einem Kornett oder Flügelhorn in hoch-F. 34

31 A. Kohut, Das Dresdner Hoftheater in der Gegenwart, Dresden und Leipzig 1888, S. 471. 32 Bis heute steht unser Queisser im Schatten seines älteren Bruders. Ab 1824 spielte C. T. Queisser auch Violine und konzertierte in Dresden, Frankfurt am Main und anderen deutschen Städten. Vom 13. 4. 1827 an spielte er im Orchester Bassposaune und 1. Viola, 1827–1846 war er sogar Mitglied des Gewandhausquartetts. David (1810 –1873) war Konzertmeister des Gewandhausorchesters ab 1836 und Leiter der Streicherabteilung am Leipziger Konservatorium seit der Gründung im Jahre 1843; auch er war Mitglied des Gewandhausquartetts (als Primarius). Sein Concertino Es-dur für Bassposaune op. 4 wird noch heute häufig bei Orchester-Probespielen eingesetzt. Müller (1800 –1863) stammte aus der Oberlausitz und war Bratscher im Gewandhausorchester. Sein Concertino für Bassposaune op. 5 wurde bis in die 1950er Jahre gespielt. Siehe H.-R. Jung und C. Böhm, Das Gewandhaus-Orchester. Seine Mitglieder und seine Geschichte seit 1743, Leipzig 2006, S. 79 und 84; M. Fürstenau, Karl Traugott Queißer, in: ADB, Bd. 27 (1888), S. 33; und S. Krause, Der Posaunengott: Zum 200. Geburtstag von Carl Traugott Queisser am 11. Januar 2000, in: Das Orchester 48/12 (2000), S. 21 – 25. Ein weiterer Bruder, Johann Theophil bzw. Johann Gottlieb Queisser (je nach Quelle, * 17. 12. 1807 in Döben), erlernte ebenfalls das Posaunenspiel – auch bei Barth in Leipzig – und war von 1839 bis Ende 1874 Soloposaunist in der Königlichen Dresdner Hofkapelle. 33 Mein Dank gilt Reine Dahlqvist, der das Bild gefunden und mir davon berichtet hat. 34 Vgl. Eichborn, Das alte Clarin-Blasen (wie Fußnote 25). Eichborn hatte bei Scholz Trompete gelernt. Wir wissen nicht, ob Scholz vielleicht bei späteren Bach-Aufführungen von Mosewius (gest. 1858) mitgewirkt hat; es könnte jedoch sein. Siehe H. L. Eichborn, Ein Trompeter des neunzehnten Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Instrumentenbau 7 (1886/87), S. 14 –16 und 38 – 40, sowie Dahlqvist, Bidrag (wie Fußnote 15), Bd. I, S. 423f.

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Abbildung 1: Friedrich Benjamin Queisser im Jahr 1877. Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, Deutsche Fotothek, Signatur: MB. 4. 2790. Aus dem „Fotoalbum. Herrn Friedrich August Kummer am 80. Geburtstage gewidmet von seinen Kunstgenossen und Schülern. Der Tonkünstlerverein zu Dresden den 5. August 1877“. Aufnahme: Franz Koebcke, 1877 oder kurz davor.

1861 ließ der Belgier Hippolyte Duhem (1828 –1911) die Pariser Firma Courtois eine D-Trompete für sich bauen, eine Oktave höher als die Naturtrompete gleicher Tonart. 35 Bald zogen andere Instrumentenmacher nach: Charles Mahillon (Brüssel) um 1870, 36 F. Besson (Paris) 1874, 37 schließlich Alexander (Mainz) 1885. 38 In dieser Zeit begann wohl auch Friedrich Alwin Heckel aus Dresden mit der Produktion von D-Trompeten; 39 Heckel-Trompeten gehören zu den begehrtesten des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. 35 Dahlqvist und Eklund, The Bach Renaissance (wie Fußnote 11), S. 15. 36 Ebenda. 37 Für eine Aufführung von Händels Messias durch Xavier (Napoléon Aimé) Teste (1833 – 1905/06). Ebenda, S. 16. 38 Alexander baute zwei D-Trompeten für den Dirigenten Fritz Volbach, der auch den Messias aufführen wollte. Ebenda, S. 15. 39 Es gab drei Heckel-Generationen: Johann Adam (1809 –1866, 1836 niedergelassen), Friedrich Alwin (1845 –1915, 1866 Meister) und Theodor Alwin Heckel (1883 –1954, 1913 Nachfolger von Friedrich Alwin). Eine C-Trompete, die Theodor Alwin für den großen deutschen Virtuosen A. Scherbaum (1909 – 2000) baute, befindet sich heute im Trompetenmuseum Bad Säckingen (Inv.-Nr. 14132x).

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Ferdinand Weinschenk (1831 –1910), Erster Trompeter des Gewandhausorchesters (1861 –1899) und Professor am Leipziger Konservatorium (1882 –1907), wurde für die Ausführung hoher Barockstimmen in Rezensionen von 1874, 40 1881 41 und 1884 42 besonders gelobt. Dass er dafür eine D-Trompete verwendete, wird zuerst im Februar 1890 und nochmals im April 1895 erwähnt, beide Male bezüglich der Darbietung der H-Moll-Messe. 43 Weitere führende hohe Trompeter in Deutschland waren Heinz Petzold (Weinschenks Assistent und späterer Nachfolger zwischen 1881 und 1908) und Adolf Meichelt (1850 –1914), Erster Trompeter im Münchner Hoforchester zwischen 1885 und 1912. 44 In Belgien wären Théo Charlier (1868 –1944), Professor am Lütticher Kon-

40 Händel, Arie „Let the Bright Seraphim“: „[...] in der Tat gebührt genanntem Herrn vollste Anerkennung für die grosse Decenz, mit welcher er, trotz seines sehr hochgelegenen, schwierigen Partes, der Sängerin secundirte.“ Siehe AMZ 44, Nr. 9 (4. November 1874), S. 698, zitiert nach E. H. Tarr, Ferdinand Weinschenk (1831 –1910), Pivotal Figure in German Trumpet History, in: Historic Brass Society Journal 11 (1999), S. 10 – 36, speziell S. 12 und 14 (mit Fußnote 13). R. Dahlqvist sei für den Hinweis auf dieses Zitat herzlich gedankt. 41 Zum einen Kantaten BWV 63 und 19: „[...] Weinschenk, dessen Trompetenton manchmal ganz ätherisch verklang!“; siehe Musikalisches Wochenblatt 12, Nr. 10 (3. März 1881), S. 120; zum anderen zweimal die H-Moll-Messe; siehe Musikalisches Wochenblatt 12, Nr. 49 (1. Dezember 1881), S. 582; siehe auch Tarr, Ferdinand Weinschenk (wie Fußnote 40), S. 14 (mit Fußnoten 14 und 16). 42 Weihnachts-Oratorium, Teil I: „Mit größter Auszeichnung sei vor Allem der excellenten Ausführung der wegen der hohen Tonlage schwierigen Trompetenstimme durch Hrn. Weinschenk gedacht!“; siehe Musikalisches Wochenblatt 15, Nr. 50 (4. Dezember 1884), S. 616; siehe auch Tarr, Ferdinand Weinschenk (wie Fußnote 40), S. 14 (mit Fußnote 17). 43 Zu 1890: Bei einer Aufführung der H-Moll-Messe mit dem Riedel-Verein: „Hohes Lob haben sich auch der erste Hornist und erste Trompeter durch vortreffliche Ausführung ihrer schwierigen Soli erworben. Sie hatten auf dem D Horn und der D Trompete bis hoch C zu blasen, was bekanntlich nicht immer jedem Bläser sicher gelingt. Dabei entlockten sie ihren Instrumenten schönes, gesangvolles Toncolorit“; siehe NZfM 86, Nr. 11 (12. März 1890), S. 125, zitiert nach Dahlqvist, Bidrag (wie Fußnote 15), Bd. II, S. 464. Siehe auch Dahlqvist und Eklund, The Bach Renaissance (wie Fußnote 11), S. 15, und Tarr, Ferdinand Weinschenk (wie Fußnote 40), S. 14 (mit Fußnote 21). Zu 1895: P. F. Richter, Das alte Clarin-Blasen (wie Fußnote 28), S. 76: „Und auch Ferdinand Weinschenk, der vorzügliche Trompeter des Leipziger Stadt-Theaters, blies am 12. April d. J. in der Kreuzkirche in Dresden virtuos in Bach’s H-Moll-Messe die bis ins d der D-Trompete, also bis e''' gehende Stimme mit ihren für blanke Trompete ganz unnatürlichen b und fis auf einer hohen Ventil-D-Trompete“. Siehe auch Dahlqvist, Bidrag (wie Fußnote 15), Bd. II, S. 464, sowie Dahlqvist und Eklund, The Bach Renaissance (wie Fußnote 11), S. 15; beide schreiben den Monat Dezember statt des korrekten Monats April. Dies ist die letzte Erwähnung Weinschenks mit einer D-Trompete. Vier Jahre später ließ er sich pensionieren. 44 Siehe H.-J. Nosselt, Das Gewandhaus-Orchester, Leipzig 1943, S. 261. Meichelt erhielt 1889 ein Sonderlob, zusammen mit seinen Kollegen, für eine Aufführung der H-Moll-Messe auf speziellen Instrumenten, die vermutlich in D standen: „Von den Instrumentalsoli müssen [...] die zur Bewältigung der abnorm hohen Lage der drei Trompetenparte nach Angabe des Hrn. Hofmusikers Meichelt, unseren ersten Trompeters, besonders gebauten originellen Instrumente hervorgehoben werden, welche, vortrefflich geblasen, der eigenartigen Aufgabe [...] in eminenter Weise gerecht wurden.“ Siehe Musikalisches Wochenblatt 20, Nr. 20 (9. Mai 1889), S. 244.

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servatorium von 1901 bis 1933, und Alphonse Goeyens (1867–1950), Professor am Brüsseler Konservatorium seit 1890, zu nennen. Charlier gebührt die Ehre, am 17. April 1898 als Erster in der Neuzeit Bachs Zweites Brandenburgisches Konzert in der vom Komponisten beabsichtigten hohen Lage ausgeführt zu haben; Goeyens folgte ihm 1902 nach. Goeyens hatte 1893 eingeführt, dass Studenten bei ihrer Schlussprüfung für einen degré supérieur Ausschnitte aus Werken Bachs und Händels auf der D-Trompete zu spielen hatten. 45 Die erste Hoch-F-Trompete soll 1904 von den Gebrüdern Alexander (Mainz) gebaut worden sein. 46 Eine Hoch-G-Trompete wurde bereits im Bach-Jahr 1885 von Besson gebaut. 47 Um 1905/06 48 scheint Mahillon mit dem Bau von Trompeten in hoch-B begonnen zu haben, eine volle Oktave höher als die gängige B-Trompete. 49 Diese Stimmung ist heute am weitesten verbreitet. 50 Eine individuelle Lösung: Julius Kosleck und die sogenannte Bach-Trompete Julius Kosleck (1825 –1905) aus Berlin ist einer der bekanntesten Trompeter überhaupt (siehe Abbildung 2). Sein Ruf gründet sich vor allem auf die Ausführung der hohen Stimmen von J. S. Bach. Er war Erster Trompeter in der Königlichen Kapelle (1853 –  1893) und unterrichtete Trompete und Posaune am Dresdner Konservatorium (1872 – 1903, ab 1893 als Professor). Seine Schule für tiefe F-Trompete und Kornett erschien 45 Dahlqvist und Eklund, The Bach Renaissance (wie Fußnote 11), S. 15. 46 Allerdings ist bekannt, dass der erwähnte Goeyens das Zweite Brandenburgische Konzert am 23. 2. 1902 bereits auf einer Trompete in hoch-F spielte. Siehe B. Eklund und R. Dahlqvist, The Brandenburg Concerto No. 2, in: Euro-ITG Newsletter, Nr. 2 (1995), S. 4 –12, speziell S. 4 – 5. Vielleicht war das Instrument eine Sonderanfertigung für ihn, während die fabrikationsmäßige Anfertigung erst später einsetzte. Charlier hatte das Werk auf einer Hoch-GTrompete ausgeführt. 47 Für den Pariser Trompeter Teste (siehe auch Fußnote 37), der das Magnificat mit der Pariser Choralsocietät Concordia ausführte, siehe C. Pierre, La facture instrumentale à l’Exposition universelle de 1889, Paris 1890, S. 116 (mit Abbildung auf S. 115). Die Rohrlänge einer HochG-Trompete beträgt nur 79,4 cm. Noch heute ziehen viele Trompeter solche Instrumente für Partien in D-Dur vor, die darauf in G-Dur zu spielen sind, einer griffmäßig leicht auszuführenden Tonart. 48 Eklund und Dahlqvist, The Brandenburg Concerto No. 2 (wie Fußnote 46), S. 4 – 5. 49 Als der englische Musikhistoriker Blandford davon hörte, war er entsetzt. Er schrieb: „Es muss wie ein Koenig-Posthorn geklungen haben.“ Siehe W. F. H. Blandford, The „Bach Trumpet“ II, in: Monthly Musical Record 65, Nr. 766 (Mai 1935), S. 73 – 76, speziell S. 76. 50 Oft wird der Stimmzug einen halben Ton ausgezogen, damit die Trompete in A steht, womit D-Dur auf dem Instrument in der leicht zu greifenden Tonart F-Dur realisiert wird. Das Vorbild für Instrumente dieser Stimmung könnte das Sopranino-Saxhorn gewesen sein, das Berlioz bereits 1837 in seinem Requiem verwendet hatte. Ein seltenes Exemplar, das BuffetCrampon (Paris) um 1890 gebaut hat, befindet sich heute im Trompetenmuseum Bad Säckingen (Serien-Nr. 2211, Inv.-Nr. 14239). Die Firma Buffet-Crampon wurde 1839 gegründet und existiert noch heute. Sie ist vor allem für exzellente Holzblasinstrumente bekannt, aber während einer kurzen Zeit um 1890 scheint sie auch Blechblasinstrumente gebaut (oder nur geplant) zu haben. Das Trompetenmuseum Bad Säckingen besitzt eine Reihe von Prototypen.

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1872. 51 Sein Hauptinteresse scheint dem Kornett und dem Volksmusikrepertoire gegolten zu haben. 52 Kosleck konnte ohne Schwierigkeiten in der hohen Lage spielen. Im Oktober 1871 führte er bei einem Treffen des Berliner Tonkünstlervereins eine gerade Busine vor, die er bei einem Heidelberger Antiquar gefunden hatte. Kosleck verlängerte sie von B nach D und konnte darauf mühelos Skalen und Triller ausführen. 53 Danach experimentierte er weiter, bis er ein gerades zweiventiliges Instrument in A, eine Quinte höher, entwickelt hatte. Das Schallstück der Busine ließ er dafür kopieren. 54 Das Mundstück war aus Messingblech und hatte einen tiefen Kessel. 55 Diese Ausrüstung war Koslecks individuelle Lösung des Problems, wie die hohen Stimmen von Bach zu spielen seien. Mit einer solchen Trompete und vor allem mit dieser Art Mundstück ist es nicht möglich, einen schmetternden Ton zu produzieren, und erhaltene Rezensionen berichten davon, dass Kosleck einen eher leisen Ton hatte. 56 Das

51 Siehe J. Kosleck, Große Schule für Cornet à piston[s] und Trompete, Leipzig 1872. Die erste detaillierte Biographie Koslecks verfaßte B. Garlepp (Die Geschichte der Trompete nebst einer Biographie Julius Koslecks, Hannover 1914). Eine Biographie mit Literaturverzeichnis findet sich bei E. H. Tarr, East Meets West. The Russian Trumpet Tradition from the Time of Peter the Great to the October Revolution, with a Lexicon of Trumpeters Active in Russia from the Seventeenth Century to the Twentieth, Hamilton NY 2004 (Bucina: The Historical Brass Society Series. 4.), S. 320 – 325. Für eine umfassende deutsche Übersetzung mit Ergänzungen siehe E. H. Tarr, Eine blasmusikalische Ausnahmeerscheinung. Julius Kosleck – Leben und Werk [Teil I], in: Mit klingendem Spiel. Zeitschrift der deutschen Gesellschaft für Militärmusik e.V. 32, Nr. 1 (März 2009), S. 5 –10. Siehe auch meinen biographischen Eintrag zu Kosleck in New Grove 2001, Bd. 13, S. 832. 52 Als Leiter eines 1870 gegründeten Kornettquartetts bereiste er ganz Europa. Die Gruppe trat 1872 sogar in den Vereinigten Staaten auf, bei dem World Peace Jubilee und dem International Music Festival. 53 „Herr Kosleck blies den in der Sitzung Anwesenden die Trompete in B- und D-Stimmung vor und Jedermann war erstaunt über die Leichtigkeit der Ansprache selbst bis über die Hälfte der dreigestrichenen Oktave hinaus. [...] Obschon das Instrument ohne jede Spur von technischem Hülfsmittel ist, [...] vermochte Herr Kosleck die ganze diatonische Scala vollendet rein anzublasen, und sowohl in der Cantilene wie in Passagen, ja selbst auch im Triller erwies sich der Fremdling aus alter Zeit dienstwillig den an ihn gestellten Anforderungen.“ Siehe O. Lessmann, Ein interessantes Instrument, in: Neue Berliner Musikzeitung 25, Nr. 43 (25. Oktober 1871), S. 341. Eine Transkription des Originaltextes stellte mir freundlicherweise H. Berke 1999 zur Verfügung. Eine englische Übersetzung ist zu finden in W. F. H. Blandford, The „Bach Trumpet“ I, in: Monthly Musical Record 65, Nr. 765 (März / April 1935), S. 49f., speziell S. 50. 54 „It was based on the buysine he played in 1871 and had the same simple type of bell [...]“; siehe Blandford, The „Bach Trumpet“ II (wie Fußnote 49), S. 74. 55 Eichborn, Das alte Clarin-Blasen (wie Fußnote 25), S. 43. Eine Skizze von Koslecks Mundstück findet sich bei W. Menke, History of the Trumpet of Bach and Handel / Geschichte der Bach- und Händel-Trompete, London 1934 (Neudruck Nashville 1972, nur englische Fassung des ursprünglich zweisprachigen Textes), S. 121. In Menkes Skizze scheint das Mundstück nicht aus Blech zu sein, aber ich neige dazu, Eichborn zu glauben, da er Kosleck persönlich kannte. 56 Eichborn, Das alte Clarin-Blasen (wie Fußnote 25), S. 43; Blandford, The „Bach Trumpet“ II (wie Fußnote 49), S. 74.

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Abbildung 2: Julius Kosleck, zeitgenössische Fotografie mit faksimilierter Unterschrift, aus: NZfM 93, Nr. 48 (1. Dezember 1897), S. 525.

gerade Instrument war übrigens so lang, dass er bei Aufführungen im Stehen spielen musste. 57 Zwei frühe Kritiken über Aufführungen der H-Moll-Messe mit Kosleck sind erhalten: 1881 in der Berliner Garnisonkirche 58 und 1884 bei der Einweihung des BachDenkmals vor der Georgenkirche in Eisenach. 59 57 H. Pietzsch, Eine neue hohe D-C-Trompete, in: Zeitschrift für Instrumentenbau 31 (1910/11), S. 499. 58 Die Aufführung fand am 21. November statt; siehe Dahlqvist und Eklund, The Bach Renaissance (wie Fußnote 11), S. 14. Die beiden Berichterstatter waren geteilter Meinung: der eine fand, dass Koslecks Trompete den Gesamtklang veredelte, der andere war vom Klang der hohen Töne nicht begeistert. 59 Ein Auszug: „Den wärmsten Dank verdiente sich Hr. Paul Wieprecht aus Berlin für die meisterhafte Handhabung der modernen Oboe sowohl, als der wiederauferweckten ungemein süss tönenden Oboe d’amore, die allgemeineren Beifall fand, als die seinem Collegen Hrn. Koslek anvertraute, fast zu weich klingende lange Trompete, die man für eine Berliner Aufführung nach altem Muster hatte bauen lassen.“ Meiner Meinung nach könnte diese kritische Bemerkung ein unbeabsichtigtes Kompliment sein, denn wir wissen, dass die größten Trompeter des 17. und 18. Jahrhunderts vor allem für ihr leises Spiel gelobt wurden. Der Klang von Koslecks langem Instrument kann sehr wohl näher am Originalklang gewesen sein als die kurzen Ventiltrompeten von D bis hoch-B, die von damals bis heute Verwendung fanden und finden. Die Eisenacher Aufführung fand am 28. September statt; siehe Musikalisches Wochenblatt 15, Nr. 42 (9. Oktober 1884), S. 512f. Dahlqvist und Eklund, The Bach Renaissance (wie Fußnote 11), S. 14, meinen, dass die Aufführung in Leipzig stattfand; mir liegt jedoch eine Fotokopie des originalen Konzertprogramms vor, die das Bachhaus Eisenach aus seinen Beständen freundlicherweise zur Verfügung stellte.

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Regelrecht berühmt ist Kosleck geworden, weil er von Joseph Joachim – der die Eisenacher Aufführung dirigiert hatte – nach London eingeladen wurde, um an einer weiteren Aufführung der H-Moll-Messe teilzunehmen. Diese fand am 21. März 1885, im Rahmen der Zweihundertjahrfeier von Bachs Geburt, in der Royal Albert Hall statt. Bei dieser Gelegenheit wurden die Trompetenstimmen zum ersten Mal in England in der Originallage ausgeführt. (Auch die Oboe d’amore erklang dort zum ersten Mal.) Der Historiker Blandford war unter den Zuhörern und berichtete wie folgt über Kosleck: From where I was seated I could not hear a note of the trumpets during most of the choruses, except in the ritornelli, and thereby learned, first, that the trumpet has a certain ‘directional’ effect, and secondly, that, in spite of what the books say, a single trumpet cannot balance the line of Bach’s polyphony against a chorus of six hundred voices [...]. There was, however, no doubt as to the quality of Kosleck’s playing. 60

George Bernard Shaw hatte offenbar einen besseren Sitzplatz, denn er berichtete Genaueres: Herr Julius Kosleck, of Berlin, shewed us on Saturday that the old trumpet parts are as feasible as ever. He brings out the high D with ease, executes shakes, rivals our finest flautists in the purity of the tone he produces in the upper register [...]. 61

In anderen Rezensionen dieses denkwürdigen Konzerts begannen englische Journalisten, Koslecks Instrument einen Namen zu geben, der sich bis heute vor allem im deutschen Sprachbereich hartnäckig gehalten hat: Bach-Trompete. 62 Die Situation in England vor der Ankunft Koslecks: auch hier Trompeten plus Klarinetten Ein im Zusammenhang mit den Aufführungen in der Royal Albert Hall entstandenes vierseitiges Particell der Kantate BWV 50 mit vier Instrumentalstimmen zeigt genau, wie dort eine erste Trompetenstimme vor Koslecks Zeit zwischen einer D-Trompete und zwei im Einklang spielenden A-Klarinetten aufgeteilt wurde. Auf der Titelseite, neben dem Datum „April 79“, heißt es, dass es sich dabei um eine „Neubearbeitung der 3 Trompetenstimmen für 2 spielbare Trompeten und 2 Klarinetten“ handelt. 63 Auch die Oboenstimmen wurden hier und da leicht retuschiert. 60 Blandford, The „Bach Trumpet“ II (wie Fußnote 49), S. 74. 61 G. B. Shaw, The Bach Bicentenary, in: The Dramatic Review (28. März 1885), zitiert in: Shaw’s Music, hrsg. von D. H. Laurence, 3 Bde., London 1981, Bd. I, S. 222f. 62 Wir haben keine Einwände gegen diese Bezeichnung, so lange sie sich auf Koslecks Instrument und ähnliche Instrumente in gerader Bauweise bezieht, die für das Bach-Spiel verwendet werden; aber sie ist wohl nicht korrekt, wenn sie die moderne Piccolo-Trompete bezeichnen soll, die ja sehr kurz und nur in Ausnahmefällen in gerader Form gebaut ist. Außerdem haben ja auch andere Komponisten der Barockzeit außer J. S. Bach wichtige Werke für die Trompete geschrieben. 63 Trompetenmuseum Bad Säckingen (Inv.-Nr. 3019-001), 1988 von Tony Bingham (London) erworben. Originaltext: „re-arrangement of 3 Trumpets for 2 playable Trumpets and 2 Clarionets“.

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Abbildung 3: Seite 1 des Particells von J. S. Bach, „Nun ist das Heil“ BWV 50, neu arrangiert für zwei im Einklang spielende Klarinetten in A, Trompeten I – II in D und Oboe III, datiert London, April 1879. Trompetenmuseum Bad Säckingen, Inv.-Nr. 3019-001.

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Eine weitere Notiz – von April 1906 – besagt, dass diese Bearbeitung nur „in den Aufführungen [...] bis 1885 benutzt wurde (als Herr Kosleck aus Berlin kam und die lange [...] Bach-Trompete einführte)“. 64 Abbildung 3 zeigt, wie die 1. Trompete in Takt 29 korrekt einsetzt, aber bereits vier Takte später von den Klarinetten abgelöst wird, die alle Tonhöhen über dem klingenden a'' übernehmen. Vergleichbare Übernahmen kommen während des ganzen einsätzigen Werkes vor. Koslecks sogenannte Bach-Trompete Koslecks Trompete ist nicht erhalten und wir haben keine Fotos davon, doch besitzt das Trompetenmuseum Bad Säckingen ein ähnliches Instrument. Es ist 143 cm lang, gerade, hat drei Drehventile und steht in B, nur einen Halbton höher als Koslecks Instrument (siehe Abbildung 4). Es handelt sich um eine sogenannte Engelstrompete, die der Leipziger Instrumentenbauer Robert Schopper (1859 –1938) zuerst 1894 baute. Solche Instrumente fanden Verwendung in Prozessionen, bei denen die Teilnehmer

Abbildung 4: „Engelstrompete“ von Robert Schopper (Leipzig 1894 oder wenig später). Trompetenmuseum Bad Säckingen, Inv.-Nr. 14119, Geschenk von Arno Windisch, dem Nachfolger von T. A. Heckel, Dresden 1997. Fotografie von Peter Portner, Historisches Museum Basel. 64 Originaltext: „used only at the performances up to March 1885 at the R[oyal] Albert Hall (when Herr Kosleck came from Berlin introducing the long (now called) Bach Trumpet)“.

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mittelalterliche Kostüme trugen; und wir zweifeln nicht daran, dass Kaiser Wilhelm I. (1797–1888) und seine beiden Nachfolger, die historische Inszenierungen mochten und zu Koslecks Gönnern gehörten, solche Klänge zu schätzen wussten. Trompeten in gerader Bauweise mit zwei Périnet-Ventilen, die „Bach-Trompeten“ hießen, baute auf Koslecks Anregung von 1901 an die Berliner Firma von Arthur Sprinz (1872 –1938). Zwei solche Instrumente, in verschiedenen Stimmungen zwischen 8'-C und F darüber und zwischen 114 cm (C) und 83,5 cm (F) lang, befanden sich früher im Besitz des Basler Gesangvereins und gehören heute dem Basler Musikmuseum. 65 Einen größeren baulichen und klanglichen Kontrast zu den heute gebräuchlichen PiccoloTrompeten in Hoch-B/A kann man sich kaum vorstellen. Zusammenfassung Der Übergang von der Natur- zur Ventiltrompete geschah nicht in einer geraden Linie. Wie wir gesehen haben, hatten Friedrich Benjamin Queisser und seine Kollegen J. S.  Bachs H-Moll-Messe 1850 auf Naturtrompeten aufgeführt – zu einem Zeitpunkt also, als andere Trompeter wie z. B. Ferdinand Weinschenk dieses Werk schon längst auf Ventiltrompeten in D spielten, deren Rohrlänge nur halb so lang wie die einer Naturtrompete war. Julius Koslecks Aufführungen Bachscher Werke um 1885 auf einer Ventiltrompete, deren Rohrlänge dazwischen lag, war eine individuelle Lösung. Die heute gebräuchliche Bezeichnung „Bach-Trompete“ für die Piccolo-Trompete in hoch-B geht auf Journalistenberichte über Koslecks Spezialinstrument zurück, obwohl diese kurzen Instrumente – mit Ausnahme der Ventile – mit dessen A-Trompete nichts gemein haben. Es war nicht der Hauptzweck dieses Artikels, auf die Kürzung der Rohrlänge der Ventiltrompete von tief-F auf die heutige B-Trompete und auf die weiteren Kürzungen bis zur heutigen Piccolo-Trompete in hoch-B einzugehen. Vielmehr ging es darum aufzuzeigen, als wie schwierig die Ausführung der Werke J. S. Bachs während des 19. Jahrhunderts erachtet wurde und wie auf der einen Seite Erleichterung in höheren Stimmlagen der Ventilinstrumente gesucht wurde, während auf der anderen Seite mutige Musiker wie Queisser hundert Jahre nach Bachs Tod immer noch Naturtrompete bliesen. Dieser Zwiespalt kennzeichnet die heutige Situation in Bezug auf die Barockmusik allgemein. Seite an Seite existieren Kammerorchester mit modernen Instrumenten und Barockorchester mit Nachbauten von Originalinstrumenten. Die Barockorchester, wie die Ensembles der Alten Musik überhaupt, entstanden im Laufe des 20. Jahrhunderts als Reaktion auf die Erkenntnis, dass der Klang moderner Instrumente sich immer mehr von dem der früheren Instrumente entfernt hatte. Der Trompetenbau reflektiert diese Dichotomie: Während eine Barocktrompete in D (bei a' = 415 Hz) eine 65 Siehe M. Kirnbauer, Erwerbungen des Historischen Museums Basel im Jahre 2004, in: Historisches Museum Basel: Jahresbericht 2004, Basel Museum 2005, S. 80 – 81.

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Rohrlänge von 224 cm hat, ist eine vierventilige Piccolo-Trompete nur 65 cm lang. Eine weltweit führende Rolle in der Renaissance originaler Instrumente und Spieltechniken spielt die 1933 gegründete Schola Cantorum Basiliensis, eine Abteilung der Basler Musik-Akademie. An der Schola kann ein Student lernen, auf einer Naturtrompete zu spielen, während gleichzeitig an der benachbarten Musik-Akademie unter anderem Piccolo-Trompete unterrichtet wird.

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