Eine Publikation der Abteilung Forschung & Entwicklung der Hochschule für Musik Basel (http://musikforschungbasel.ch) mit freundlicher Unterstützung der Maja Sacher-Stiftung
Satz und Layout: Agnetha Elsdörfer, Breitkopf & Härtel
Druck: Medienhaus Plump GmbH, Rheinbreitbach
Printed in Germany
DVD-Video:
Konzeption: Peter Knodt, Peter-Christian Miest
Produktion: Hochschule für Musik Basel FHNW, Benjamin Federer, Marco Theus
Postproduktion: Tobias Witzgall, Amberg
326 Minuten Film
Sprache: Deutsch
Ländercode: O/PAL
Bildformat: 16:9
Dolby® Digital
Herstellung: B&B Media Service GmbH & Co. KG, Olpe
LEHRProgramm gemäß § 14 JuSchG
Geleitwort von Ulrich Mahlert
Seit Johann Amos Comenius, der im 17. Jahrhundert die neuzeitliche Pädagogik begründete, gilt Anschaulichkeit als unverzichtbares Prinzip guter, einsichtsvoller Lehre. Das Wort „Einsicht“ verweist auf das Sehen. Gleichwohl wird „Einsicht“ immer wieder vom sehenden Wahrnehmen entkoppelt und auf intellektuelles, primär begrifflich bewirktes Erkennen reduziert.
Im Instrumental- und Gesangsunterricht scheint es anders zu sein. Hier findet Lehren und Lernen vielfach durch Vor- und Nachmachen statt. Plastisches Demonstrieren von Bewegungsabläufen und von interpretatorischen Optionen gehört zu den Grundtechniken des Musizierenlehrens. Das Prinzip der Anschaulichkeit kommt hier ausgiebig zur Geltung.
Weniger selbstverständlich ist Anschauungsunterricht in der Ausbildung von Instrumental- und Vokallehrkräften. In den Hochschulfächern Musikpädagogik sowie Didaktik und Methodik des Hauptfachs dominiert neben Lehrproben, die zum Pflichtprogramm von Studierenden gehören, die wortgebundene Vermittlung. Aus dem Nachdenken über den eigenen Unterricht als Schüler, Student und möglicherweise bereits Lehrender, dem Austausch unterschiedlicher Erfahrungen, Lernweisen und Bedürfnisse, dem Lernen und Anwenden didaktischer Prinzipien und methodischer Möglichkeiten erwächst nach und nach ein persönliches pädagogisches Handlungsrepertoire.
Um darüber hinaus das Lernen durch Anschauung zu fördern, leistet die Einbeziehung von Videomaterial in die Ausbildung gute Dienste. Mitschnitte von Unterricht ermöglichen Einblicke in verschiedene Arten und Stile pädagogischen Handelns. Das vorliegende Buch bietet erstmals ein differenziert und vielseitig ausgearbeitetes didaktisches Lehrwerk für einen videobasierten Musizierunterricht. Einblicke – Perspektiven enthält wertvolle Materialien, mit denen grundlegende pädagogische Fähigkeiten für den Instrumental- und Gesangsunterricht im genauen Anschauen und Reflektieren von Unterrichtsstunden zu erwerben sind.
Die zum Buch gehörende DVD mit Aufzeichnungen von elf Unterrichtsstunden versammelt wohl erwogene, modellhafte Beispiele der Unterrichtspraxis mit verschiedenen Instrumenten (Klavier, Akkordeon, Violine, Cello, Querflöte, Klarinette, Oboe, Trompete), sowie im Gesang. In dieser Viefalt liegt ein großes Lernpotential: Unterricht auf einem bestimmten Instrument ist nicht nur für dessen Lehrende interessant. Einblicke in Praktiken anderer Instrumente lassen neue Ideen entstehen und regen dazu an, mit deren Arbeitsweisen zu experimentieren.
Gezeigt werden diverse Unterrichtsformen (Einzel-, Gruppen-, Kombi-, Partner- und Ensembleunterricht) und unterschiedliche Arbeitsgebiete (Interpretation, Improvisation, Körperschulung, Spieltechnik, Ensemblemusizieren, Gehörschulung u. a.). Dies ist ein enormes Spektrum von Instrumental- und Gesangsunterricht.
Zu erleben sind durchaus unterschiedliche Lehrstile. Sie animieren dazu, sich bestimmte überzeugend wirkende Qualitäten „abzuschauen“. Die musikpädagogischen und psychologischen Kommentare, die parallel zum Betrachten der Stunden gehört werden können, üben zudem die Fähigkeit, das Unterrichtsgeschehen aus verschiedenen Perspektiven wahrzunehmen. Der Buchtext leitet zu einer noch weitergehenden, vertiefenden Beschäftigung mit den gefilmten Stunden an.
So bietet Einblicke – Perspektiven in der Tat eine „Sehschule“, die das Postulat anschaulicher Lehre aufs Beste verwirklicht. Berlin, Sommer 2017
2.3
Video 4: Violin-Einzelunterricht (M.
Video 5: Violin-Einzelunterricht (C. Siedel)
Video 6: Cello-Großgruppenunterricht
Video 7: Querflöten-Kleingruppenunterricht
Exkurs: MIO – Von der Improvisation im Instrumentalunterricht zum dirigierten Improvisationsorchester. Ein Erfahrungsbericht von Angelika
Video 8: Klarinetten-Ensembleunterricht ..............................................................................
Video 9: Oboen-Kombiunterricht ..........................................................................................
3.2.1 „Weniger kann mehr sein“ – Übersicht der Videoausschnitte für die folgenden Aufgaben .......
3.3 Der bewusste Umgang mit der Beschreibung und Bewertung von Musikunterricht im Prozess von Beobachtung und Reflexion .............................................................................. 54
3.4 Der bewusste Umgang mit der Beschreibung und Bewertung von Musikunterricht im fachlich-kollegialen Gespräch ............................................................................................. 55
3.5 „Weißt du nicht eine gute LehrerIn für meine Tochter?“ – Die Empfehlung von KollegInnen für den Instrumentalunterricht ......................................................................... 55
3.6 Nur sehen oder nur hören – mehr wahrnehmen durch Einschränkung ................................... 56
3.7 Empathie – Übung zur Vertiefung der Wahrnehmungsfähigkeit ............................................
3.8 Empathische Antizipation – Was geschieht als Nächstes? ....................................................
3.9 (Empathische) Eigenplanung – Was würden Sie tun? ............................................................
3.10
4.3 Übersicht: 7 Fragen und 22 Aspekte zur gezielten Betrachtung von Musikunterricht mit Instrument und Stimme ......................................................................................................
4.5 Reflexionsaufgaben im 23 Tafeln .........................................................................................
Frage 1 – Wer lernt?
Frage 2 – Was wird gelernt?
Didaktische Frage 3 – Mit wem wird gelernt? ......................................................................... 67
Didaktische Frage 4 – Wo wird gelernt? ................................................................................
Didaktische Frage 5 – Wie wird gelernt? ................................................................................
Didaktische Frage 6 – Womit wird gelernt? ............................................................................
Didaktische Frage 7 – Wozu wird gelernt? ..............................................................................
5. Kollegiale Kooperation – Wege der Reflexionsarbeit 2 ................................................... 75
5.1 Videobasierte Lehre an der Hochschule für Musik FHNW (Peter-Christian Miest) ................... 75
5.2 Kommentargestützte Videoreflexion im künstlerischen Einzelunterricht (Marianne Heiden) .. 80
6.1 Fragebögen der LehrerInnen ...............................................................................................
Fragebogen zu Video 1 (Maria Bittel, Klavier)
Fragebogen zu Video 2 (Eveline Vinh-Marinelli, Klavier)
Fragebogen zu Video 3 (Ruth Wiesenthaner, Akkordeon)
Fragebogen zu Video 4 (Miriam Henzel, Violine) ..................................................................
Fragebogen zu Video 5 (Constanze Siedel, Violine) ..............................................................
Fragebogen zu Video 6 (Kilian Balzer, Violoncello) ...............................................................
Fragebogen zu Video 7 (Angelika Sheridan, Querflöte) .........................................................
Fragebogen zu Video 8 (Gerd Greis, Klarinette) ....................................................................
Fragebogen zu Video 9 (Dorothea Baier, Oboe) ....................................................................
Fragebogen zu Video 10 (Andreas Meier, Trompete)
Fragebogen zu Video 11 (Denise Bregnard, Gesang)
Gespräch zu Video 1 (M. Bittel, Klavier)
Gespräch zu Video 2 (E. Vinh-Marinelli, Klavier) ...................................................................
Gespräch zu Video 3 (R. Wiesenthaner, Akkordeon) .............................................................
Gespräch zu Video 4 (M. Henzel, Violine)
Gespräch zu Video 5 (C. Siedel, Violine)
Gespräch zu Video 6 (K. Balzer, Violoncello)
Gespräch zu Video 7 (A. Sheridan, Querflöte)
Gespräch zu Video 8 (G. Greis, Klarinette, und Schülerinnen) ...............................................
Gespräch zu Video 9 (D. Baier, Oboe) ..................................................................................
Gespräch zu Video 10 (A. Meier, Trompete) ..........................................................................
Gespräch zu Video 11 (D. Bregnard, Gesang) ........................................................................
Einblicke – Perspektiven II. Vertiefung & Multiperspektivität (EPII) nannte sich ein musikpädagogisches Forschungsprojekt der Hochschule für Musik der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) in Basel (im Folgenden Hochschule für Musik FHNW). Es wurde als Folgeprojekt von Einblicke – Perspektiven I (EPI) konzipiert, das 2006 als DVD-Box mit 21 Videodokumentationen von Instrumentalunterricht der Pädagogen Heiner Krause, Stefan Ruf-Lenzin und Peter Knodt in den Fächern Horn und Trompete für Lehre, Forschung und Weiterbildung veröffentlicht wurde.1 Im Projekt EPI hat das Projektteam den Unterricht gemeinsam geplant, durchgeführt und besprochen. Ein professionelles Aufnahmeteam filmte die Unterrichtsstunden, die in Anwesenheit der Kollegen abgehalten wurden. Das kollegiale Miteinander und der – teilweise auch kontroverse – Meinungsaustausch über den Unterricht brachten wesentliche Impulse für die pädagogische Arbeit und viele Momente der Selbsterkenntnis. Außerdem wurde mit viel Freude und großer Motivation zusammengearbeitet. In der Auswertungsphase des Projekts kam es dann zu weiteren persönlich bedeutsamen Erfahrungen. Die Notwendigkeit, aus einer großen Fülle von Videomaterial eine Auswahl für eine Publikation zu treffen, erforderte eine intensive Reflexion über Qualitätsmaßstäbe für den Instrumentalunterricht, über persönliche Idealvorstellungen und Projektziele. Dieser Reflexionsprozess, die Diskussionen mit den Kollegen und die wiederholte Betrachtung der auf Video aufgezeichneten gemeinsamen Unterrichtsstunden ermöglichten wichtige Einblicke in die eigene Arbeit und in die Lehr- und Lernbiografie. Dabei offenbarten sich auch unbewusste Aspekte des Musikpädagogischen Selbstkonzepts (vgl. Abschnitt 5.5, S. 92), ein langwieriger Vorgang, der allerdings zu größerer Freiheit in der Gestaltung des Unterrichts führte. Selbstbeobachtung, intensives Nachdenken und Gespräche mit KollegInnen sind und waren die wesentlichen Bestandteile dieses Prozesses. Diese von mir als besonders wertvoll erlebten Erfahrungen der Weiterbildung mittels videogestützer kollegialer Kooperation stellten den thematischen Kern und die zentrale Motivation für das nun abgeschlossene EPII-Projekt dar. Dessen Ziel war es, Videodokumentationen von Instrumental- und Gesangsunterricht als Grundlage für persönliche und kollegiale Weiterbildung anzubieten. Im EPII-Projektteam haben der Psychologe Peter-Christian Miest und – bis Oktober 2012 – der Musiker und Musikpädagoge Dr. Martin Losert mit mir zusammengearbeitet. Es entstanden elf Videodokumentationen instrumentalen und vokalen Unterrichts aus der Schweiz, Österreich und Deutschland. Gespräche mit den LehrerInnen und Kommentare wurden als Ergänzung hinzugefügt. Zudem wurde ein Handbuch zur videobasierten Unterrichtsreflexion erarbeitet, welches eine Sehschule, einen Didaktischen Analyse-Leitfaden und Sachtexte von GastautorInnen beinhaltet und Grundlage der vorliegenden Publikation ist.2
1 Die DVD-Box des Projekts EPI kann über die Abteilung Forschung & Entwicklung der Hochschule für Musik FHNW gegen eine Gebühr erworben werden (http://musikforschungbasel.ch).
2 Dass das vorliegende Buch Einblicke – Perspektiven erst jetzt, also sechs Jahre nach Abschluss der Videoaufnahmen, erscheint, ist privaten Umständen geschuldet. Der zeitliche Abstand steht einer sinnvollen Nutzung jedoch in keiner Weise entgegen, da die Videomaterialien nach wie vor Gültigkeit beanspruchen können.
Instrumental- und Gesangsunterricht findet zumeist in der Beziehungsform Schüler-Lehrer und hinter geschlossenen Türen statt, wodurch die Interaktionen beider Beteiligter über weite Strecken für andere unsichtbar bleiben. Dort, wo Einblick fehlt, füllen Annahmen und Fantasien die Leerstellen auf; an die Stelle von nachvollziehbaren und dadurch auch grundsätzlich vermittel- und lernbaren didaktischen Kompetenzen treten nebulöse Vorstellungen eines Nimbus. Videografierter Unterricht mit dem Angebot der Reflexion hingegen öffnet die Türen und ermöglicht uns, konkrete Unterrichtsszenen wahrzunehmen, die Beobachtung zu schärfen, Vergleiche und Unterscheidungen zu treffen. Die beigefügten Kommentare sind als Anregungen für eigene Ansätze gedacht – und als Ermutigung, die eigene Kompetenz ins Spiel zu bringen. Mit Einblicke – Perspektiven möchte ich Sie inspirieren und dazu animieren, im eigenen Unterricht mit Ihren SchülerInnen3 Neues zu erproben und zu reflektieren. Oftmals hat die persönliche Weiterbildung und -entwicklung ihren Anfang in einer zunächst veränderten und dann reflektierten Unterrichtspraxis. Das vorliegende Buch kann Sie dabei in folgenden Bereichen unterstützen:
• Sie reflektieren kontinuierlich Ihre Arbeit und erweitern dadurch Ihre didaktische Kompetenz.4
• Sie bilden sich selbstständig und in kollegialer Zusammenarbeit weiter.
• Sie entwickeln eine stimmige Balance zwischen konstruktiver Selbstreflexion und lebendiger Unterrichtsroutine.5
• Sie gewinnen größere Klarheit über Ihr Musikpädagogisches Selbstkonzept 6
• Sie erfahren mehr Zufriedenheit und Glück im Beruf.7
Nicht zuletzt durch die Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit EPII sehe ich mich auf dem Weg zu diesen langfristigen Zielen. In ihnen kommen einige der schönsten Seiten unseres Berufs besonders zur Geltung.8
3 Der Autor hat sich im Hinblick auf die Genderfrage für die Schreibweise mit großem Binnen-I entschieden. Die GastautorInnen haben zum Teil einen anderen Weg gewählt. Selbstverständlich sind stets beide Geschlechter gemeint.
5 „Reflexion und Routinebildung müssen versöhnt werden, um dysfunktional gewordene Reflexions- und Handlungsroutinen bewusst zu machen, sie abzubauen und so die Voraussetzungen für die fantasievolle Weiterentwicklung des didaktisch-methodischen Handlungsrepertoires zu schaffen.“ Jank, Werner; Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle Berlin: Cornelsen 2002, S. 97.
6 „Unter Selbstkonzept (self-concept) versteht man das mentale Modell einer Person über ihre Fähigkeiten und Eigenschaften.“ […] „Selbstbezogene Kognitionen können potentiell in allen Phasen des Handlungsprozesses (Handlungsantizipation, Handlungsrealisation und Handlungsevaluation) bedeutsam werden.“ Moschner, Barbara; Dickhäuser, Oliver: Selbstkonzept. In: Rost, D. H. (Hrsg.): Handwörterbuch Pädagogische Psychologie. Weinheim: Beltz-PVU 2006, S. 685–686.
7 Vgl. Mahlert, Ulrich: Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Vokalunterricht. Mainz: Schott 2011, S. 255–281.
8 Dirk Bechtel beschreibt in seiner Studie über die Rolle von Fortbildungen aus der Sicht von MusiklehrerInnen Wie Lehrer lieber lernen maßgebliche „Bedürfnisse von MusiklehrerInnen im Zusammenhang mit Fortbildungen“. Zentral nennt er das unterrichtsbezogene Lernen (Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten), das für den eigenen Unterricht wirksam werden kann. Weiter werden das Lernen um des Lernens willen, Lernen im Hinblick auf die Motivation für das eigene pädagogische Handeln und die Berufszufriedenheit, der Wunsch nach vielfältiger Auseinandersetzung mit Musik, der Erlebnisaspekt, der Austausch mit FachkollegInnen, Partizipation, Anerkennung und Bestätigung
1. Zur Einführung
1.1
Zum Aufbau dieses Buches
Einblicke – Perspektiven beinhaltet Materialien und Texte aus der Praxis für die Praxis der Instrumental- und Gesangspädagogik, und zwar im doppelten Sinne: Einerseits bieten die vielfältigen Videodokumentationen direkte Unterrichtseinblicke, andererseits entspringen die Texte und Aufgaben zu großen Teilen dem Praxiswissen9 der am Projekt Beteiligten. Gleichzeitig ist das Buch das Ergebnis interdisziplinärer Teamarbeit und des Studiums wissenschaftlich fundierter allgemein-, musik- und instrumentalpädagogischer Fachliteratur. Durch die Mitwirkung des Psychologen Peter-Christian Miest (eines Dozenten an der Hochschule für Musik FHNW in Basel) wird der besonderen Bedeutung von Kommunikation und Interaktion mit ihrer Auswirkung auf die Beziehungsgestaltung im Instrumental- und Gesangsunterricht Rechnung getragen.
Im Anschluss an diese Einführung (Kapitel 1) finden Sie in Kapitel 2 die Videodokumentationen von elf Instrumental- und Gesangsunterrichtsstunden, die das Kernstück dieser Publikation bilden. Die Videos werden von mir aus didaktischer Perspektive und von Peter-Christian Miest aus psychologischer Perspektive kommentiert. Nach Video 7 folgt der Erfahrungsbericht von Angelika Sheridan über die Entwicklung Von der Improvisation im Instrumentalunterricht zum dirigierten Improvisationsorchester. Hinzu kommen Aufgaben, die Sie anhand des Videomaterials selbstständig bearbeiten können.
Für eine Erweiterung der Betrachtungsperspektiven und die Vertiefung der Reflexion bietet die Sehschule in Kapitel 3 Texte zur Wahrnehmung sowie Aufgaben zum differenzierten Beobachten und Beschreiben von Unterricht.
Der Didaktische Analyse-Leitfaden in Kapitel 4 stellt ein flexibles Werkzeug dar, mit dem Sie der Komplexität von Unterricht strukturierend und ordnend begegnen können. Es kann für die Planung und Reflexion von eigenem sowie kollegialem Unterricht genutzt werden. Außerdem werden zahlreiche Beobachtungs- und Reflexionsaufgaben angeboten.
Kapitel 5 Kollegiale Kooperation – Wege der Reflexionsarbeit 2 setzt das Angebot zur vertieften Reflexionsarbeit mit den Beiträgen von Peter-Christian Miest über Videobasierte Lehre an der Hochschule für Musik FHNW und von Marianne Heiden zur Kommentargestützten Videoreflexion im künstlerischen Einzelunterricht fort. Hier finden Sie auch einen Beitrag von Dorothea Baier mit dem Titel genannt. Ebenso der Wunsch nach Entlastung, persönlicher Weiter- und Unterrichtsentwicklung und Mut zu machen, sich in neue Themen einzuarbeiten und diese in den eigenen Unterricht einzubeziehen. Der Verfasser stellt die grundsätzliche Frage nach Formen der Fortbildungen, die inhaltliche Partizipation, (begleitete) kontinuierliche Lernprozesse und individuelle Passung ermöglichen. Bechtel, Dirk: Wie Lehrer lieber lernen. Eine qualitative Studie über die Rolle von Fortbildungen aus der Sicht von Musiklehrerinnen und -lehrern. In: Knolle, Nils (Hrsg.): Evaluationsforschung in der Musikpädagogik Essen: Verlag Die Blaue Eule 2010, S. 179–199.
Kollegiale Zusammenarbeit in der Musikschule. Ergänzt und abgeschlossen wird das Kapitel mit Texten des Verfassers zum Kollegialen Unterrichtscoaching, zum Musikpädagogischen Selbstkonzept, mit Einigen Überlegungen zu klarer, wertschätzender Feedback- und Gesprächskultur sowie einem Ausblick.
Im Anhang sind die Transkriptionen der Gespräche des Autors mit den LehrerInnen sowie die von ihnen ausgefüllten Fragebögen zusammengestellt.
1.2 Zur Nutzung dieses Buches
Während der Arbeit an EPII hat mich eine Frage immer wieder beschäftigt: Für wen ist dieses Projekt überhaupt interessant? Welche KollegInnen werden die Zeit und Energie aufbringen für eine über das gewohnte Maß hinausgehende Beschäftigung mit sich selbst, mit ihren SchülerInnen und ihrem Unterricht? Was könnte sie dazu anspornen? Die Bedingungen, unter welchen vielerorts gearbeitet wird, sind ja für einen Großteil der KollegInnen nicht gerade geeignet, die notwendige Motivation für zusätzliche Arbeit zu fördern.
Aber vielleicht ist es ja gerade bei schwierigen oder schlechten Arbeitsbedingungen hilfreich, das eigene Handeln genauer zu betrachten und zu reflektieren, um die Zufriedenheit im Beruf zu steigern. Darum möchte ich Ihnen vier Szenarien der Nutzung dieser Publikation beschreiben, die mir effektiv und effizient erscheinen.
1.2.1 Sich inspirieren lassen
Falls Sie an neuen Impulsen für Ihren Unterricht interessiert sind, bieten Ihnen die Videodokumentationen vielfältige Anregungen: Übungen, kleine Stücke, Spiele mit der Musik, besondere Arten der Begrüßung, das freundliche Miteinander und die lebendige Vielfalt im Unterricht. Die genannten Punkte lassen sich drei übergeordneten Aspekten des Unterrichtens zuordnen: Musik, Beziehung/ Atmosphäre sowie stimmige Vermittlung und Rhythmisierung der Inhalte. Diese Kategorien sind vor allem unseren SchülerInnen besonders wichtig. In einer Studie10 wurden auf die Frage nach den „Elementen einer idealen Unterrichtsstunde“ diese Aspekte mit großem Abstand zuerst genannt. Viele SchülerInnen wünschen sich einen spannenden Unterricht, in dem sie in positiver Atmosphäre für sie interessante Musik lernen. Wenn man bereit ist, diese Einschätzung der befragten SchülerInnen als eine maßgebliche Expertise anzuerkennen, lassen sich daraus wertvolle Impulse für den Unterricht ableiten.
10 Vgl. Schade, Claudia: Interdisziplinäre Instrumentalpädagogik für Blechbläser. Eine Studie zu Theorie, Empirie und Didaktik modernen Instrumentalunterrichts. Band 1. Frankfurt am Main: Univ., Diss. 2010, Band 1, S. 205.
1.2.2 Sich bestätigen lassen
Ebenso wertvoll ist es, sich durch den videodokumentierten Unterricht einer Kollegin oder eines Kollegen im eigenen Handeln bestätigt zu fühlen, besonders wenn man sich im eigenen Unterricht unsicher fühlt und dadurch in der Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird. Falls man zu destruktiver Selbstkritik neigt, kann es hilfreich sein, sich in gelungenen Unterrichtsphasen der Videodokumentationen selbst zu erkennen und sich dadurch besser wertzuschätzen. Die Gedanken könnten lauten: „Das wäre mir auch so gelungen.“ Oder: „In dieser Weise habe ich das mit meinen SchülerInnen auch geschafft.“
Das folgende, in Anlehnung an das von Friedemann Schulz von Thun formulierte Werte- und Entwicklungsquadrat11 soll die Zusammenhänge verdeutlichen und Entwicklungspotenziale aufzeigen: Wer in seiner destruktiven Selbstkritik das Gute sucht, könnte es in der Bereitschaft zur Selbstkritik finden. Sich selbst kritisch zu hinterfragen, ist eine durchaus förderliche Grundhaltung. Von dieser aus liegt eine Entwicklungschance hin zu einem gesünderen Selbstbewusstsein in diagonaler Richtung im Werte- und Entwicklungsquadrat.
Werte- und Entwicklungsquadrat für LehrerInnen
Konstruktive Selbstkritik
Destruktive Selbstkritik
1 Balance 2 Vom Regen in die Traufe
Ausgehaltene Spannung1
Entwicklung
Überkompensation2
Gesundes Selbstbewusstsein
Maßlose Selbstüberschätzung
Abb. 1: Werte- und Entwicklungsquadrat für LehrerInnen
11 Vgl. Schultz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 2 Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Differentielle Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 212002, S. 38–53.
Die Entwicklung kann in den positiven Bereich einer ausgehaltenen Spannung zwischen konstruktiver Selbstkritik und gesundem Selbstbewusstsein hinein gelingen. Wichtig ist, dass der Wert der Bereitschaft, sich zu hinterfragen geschätzt und erhalten wird. Würde er verloren gehen, könnte ein Abgleiten in maßlose Selbstüberschätzung die Folge sein. Man käme gewissermaßen durch eine Überkompensation vom Regen in die Traufe.
Die Essenz der beschriebenen Szenarien möchte die folgende Grafik auf einfache Art und Weise veranschaulichen:
Zwei Schwesterntugenden in Balance
Konstruktive Selbstkritik
Gesundes Selbstbewusstsein
Abb. 2: Zwei Schwesterntugenden in Balance 1.2.3 Sich irritieren lassen
Auch eine Irritation im Sinne einer Krise des Pädagogischen Selbstkonzepts12 kann fruchtbare Auswirkungen haben. Möglicherweise arbeitet die „Video-KollegIn“ im Rahmen eines Gruppenunterrichts mit einem Improvisationskonzept mit und aus der Musik heraus. Man selbst hat wiederum spontan das spieltechnische Defizit einer SchülerIn erkannt und hätte eine von der Musik losgelöste Vorgehensweise gewählt. Gleichwohl gefallen das gemeinsame Sprechen und Nachdenken über die Musik, das Musizieren und die sich wie nebenbei einstellende Leichtigkeit im Spiel der SchülerInnen sehr gut. Man gerät ins Grübeln über den eigenen Unterricht, die SchülerInnen, die Unterrichtsliteratur und -ziele sowie das methodische Vorgehen. Man überlegt, ob und wie ein gemeinsames Durchdringen der musikalischen Substanz gelingen könnte. Unversehens befindet man sich mitten in der Reflexion, Vorbereitung und Planung des eigenen Unterrichts. Das ist wertvoll und kann sich positiv auswirken.
12 Das chinesische Schriftzeichen für Krise bedeutet gleichermaßen Chance und Gefahr.
1.2.4 Sich provozieren lassen
Es kann auch passieren, dass etwas im Unterricht der Videodokumentationen einen vehementen Widerspruch hervorruft. Unmittelbar nach dem Anschauen ist man sich völlig sicher, dass man es so nun wirklich überhaupt nicht machen darf.13 Wenn man sich die Zeit nimmt, die entsprechende Situation erneut und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten, offenbaren sich möglicherweise Einblicke in die Hintergründe dieser schroffen Ablehnung. Auf welcher Grundlage wurde so schnell und emotional reagiert? Welche pädagogischen Grundüberzeugungen waren leitend, und wie bewusst und aktuell gültig sind diese? Der Wert dieses Nachdenkens liegt vor allem in der Selbsterkenntnis, aber auch in der Übung des Einfühlens in die Motive des pädagogischen Handelns von KollegInnen mit ihren SchülerInnen. Die spontane Bewertung des Unterrichts kann dabei in den Hintergrund treten.
Falls das Selbstbewusstsein durch solche Prozesse der Selbstklärung leidet, kann es stützend sein, die Leistung besonders zu würdigen, sich der eigenen Persönlichkeit ehrlich und selbstoffen gestellt zu haben. Unehrliche Selbstkonzepte, vielleicht auf Kosten anderer, werden möglicherweise entlarvt. Bis etwas Neues an die Stelle dieser alten, das Selbstwertgefühl stabilisierenden Konstrukte treten kann, brauchen wir Geduld.
13 Vgl. Knodt, Peter: Mit dem Video sieht man anders. Über die Verwendung von Videoaufnahmem im Unterricht. In: Üben & Musizieren 29 (2012), Nr. 5, S. 31–34.
2. Videodokumentationen von Instrumentalund Gesangsunterricht
2.1 Methodik
Das Projektteam hat die Erfahrungsberichte der externen NutzerInnen der EPI-Materialien ausgewertet und daraus folgende Schlüsse für die EPII-Videodokumentationen gezogen: Um die durch die Videoaufnahmen entstehenden Veränderungen der Unterrichtssituation so gering wie möglich zu halten, sollten die Schüler- und LehrerInnen an dem für sie gewohnten Ort gefilmt werden. Zu diesem Zweck wurde eine Schulung durchgeführt, damit jeweils vor Ort eine diskrete Videoaufnahmetechnik installiert werden konnte, die ohne Bedienung im Unterrichtsraum selbstständig aufzeichnet. Außerdem wurden alle für das Projekt angefragten und interessierten Instrumental- und GesangskollegInnen zunächst in persönlichen Gesprächen und bei Unterrichtshospitationen vor Ort kennengelernt, sodass eine Projektteilnahme in beiderseitigem Einverständnis vereinbart werden konnte. Die LehrerInnen haben dann in der Zeit bis zu den Videoaufnahmen sich selbst und ihre SchülerInnen mit eigenen Probeaufnahmen an die zu erwartende Situation gewöhnt. Durch den Prozess der Gewöhnung sollte die Veränderung gegenüber dem normalen, unbeobachteten Unterricht minimiert werden. Aufbauend auf den Erfahrungen aus EPI wurde eine größere Vielfalt angestrebt, was die unterrichteten Instrumentalfächer (inklusive Gesang), Unterrichtssozialformen, Alters-, Entwicklungs- und Ausbildungsstufen sowie Lebensumfelder der SchülerInnen und LehrerInnen anging. Die Videodokumentationen sind zwischen März und Juni 2011 in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland entstanden, sowohl in städtischen als auch in ländlichen Regionen. Es wurden KollegInnen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Berufserfahrung beider Geschlechter berücksichtigt. Vorwiegend fand der Unterricht in Musikschulen statt. Bezüglich der Unterrichtsinhalte und Persönlichkeiten der SchülerInnen und LehrerInnen bot sich ebenfalls eine große Vielfalt. Es gab einige Privatunterrichtsstunden, aber auch je ein Beispiel aus der Musikschulabteilung eines Konservatoriums und eines Musikgymnasiums.
Mit allen KollegInnen wurde im Anschluss an die Videoaufnahme ein offenes Gespräch über den Unterricht, die SchülerInnen und sie selbst geführt. Darüber hinaus wurden die LehrerInnen um das Ausfüllen eines Fragebogens gebeten, der weitere Hintergrundinformationen zur Unterrichtssituation erschließt. Musikpädagogische und psychologische Kommentare zu fast jedem Video vervollständigen das Angebot.14 Die Mitschnitte der Gespräche und die Kommentare stehen auch als Audiospuren auf der DVD zur Verfügung. Die durch die verschiedenen Medien entstandene Vielfalt der Materialien ermöglicht vertiefte Einblicke und unterschiedliche Perspektiven der Betrachtung.
14 Leider konnten aus projektinternen Gründen der musikpädagogische Kommentar zu Video 6 und die psychologischen Kommentare zu den Videos 2 und 3 nicht erstellt werden.
In den Transkriptionen der Gespräche, Kommentare und Fragebögen wurden der besseren Lesbarkeit willen sprachliche Glättungen vorgenommen. Einzelne, je nach Zusammenhang erklärende Hinzufügungen sind durch eckige Klammern gekennzeichnet.
Der Unterricht wird in seinem originalen Zeitmaß gezeigt. Innerhalb der ausgewählten Sequenzen werden Längen nicht kaschiert. Es entfaltet sich eine ruhige Echtzeit, die Raum für reflektorische Prozesse lässt. Insofern unterscheiden sich die Videos dieser Publikation von Lehrvideos, anhand derer vordefinierte Inhalte vermittelt werden. Solche Videos sind deutlich kürzer, um ein Abschweifen zu verhindern. Im Gegensatz dazu will die vorliegende Publikation gerade ein erforschendes Umherschweifen fördern.
In den Menüs der vollständigen Videomitschnitte stehen Audiospuren mit dem Originalton und den Kommentaren aus didaktischer sowie psychologischer Perspektive zur Auswahl. Außerdem bietet sich die Möglichkeit, die Gespräche zu hören, die der Autor mit den unterrichtenden LehrerInnen direkt nach den Unterrichtseinheiten aufgezeichnet hat (nur Audio).
Die für die Sehschule in Kapitel 3 ausgewählten Ausschnitte (s. die Übersicht auf Seite 53f.) können sowohl über das entsprechende Auswahlmenü „Sehschule“ als auch über das jeweilige Untermenü des einzelnen Videos angewählt werden.
Die Nutzung der Kommentare kann die Perspektive der Betrachtung erweitern und die Reflexion vertiefen. Sie sind, bezogen auf den zeitlichen Unterrichtsverlauf, im Sinne einer zusammenfassenden Analyse konzipiert. Daher gibt es hier keinen durchgängig direkten Bezug zwischen Bild und Kommentarton. Am Ende der Tonspur springt die DVD zum Originalton zurück.
Es empfiehlt sich, die Unterrichtseinheiten zunächst mit Originalton zu studieren und erst in einem nächsten Schritt auf die Kommentare und Gespräche zuzugreifen.
Die Nennung der vollständigen Namen der LehrerInnen erfolgt mit deren vertrauensvollem Einverständnis. Dadurch können die videografierten Unterrichtsstunden persönlicher erlebt werden, was dem Geist der kollegialen Interaktion und Zusammenarbeit entgegenkommt. Ebenso erlaubten die SchülerInnen bzw. deren Eltern die Nennung ihrer Vornamen. Dafür sei ihnen an dieser Stelle nochmals ausdrücklich gedankt!
2.1.1 Zur DVD
Video Fach
GS LK
SchülerInnen (Anz.)
Geschlecht Alter (Jahre)
2.2 Tabellarische Übersicht
Unterrichtssozialform15 Stufe
Institutioneller Rahmen Aufnahmeort
1 KlavierW 1 W, Erw. EinzelIIPrivatTraunstein, D
2 KlavierW 1 W, 10/2 M, 9 und 11 KleingruppeI Musikschule Weil am Rhein, D
3 Akkordeon W1 M, 9EinzelI Musikschule Trofaiach, A
4 ViolineW1 M, 15EinzelI–IIPrivatBerlin, D
5 ViolineW 1 W, 7 EinzelI–IIPrivat Freiburg, D
6 CelloM3 W/3 M, 6– 8GroßgruppeI Musikschule Mainz, D
7 QuerflöteW 4 W, 9–10 KleingruppeII Musikschule Monheim, D
8 KlarinetteM 4 W, 15–18 EnsembleIII Musikschule Alzey, D
9 OboeW2 W, 9 und 19 Kombi III/I Musikschule Leverkusen, D
10 TrompeteM2 M, beide 11PartnerII Musikschule Hellikon, CH
Legende: GS = Geschlecht; LK = Lehrkraft; W = Weiblich; M = Männlich; I = Unterstufe; II = Mittelstufe; III = Oberstufe
15 Partnerunterricht meint einen regelmäßig durchgeführten Unterricht mit zwei SchülerInnen; bei drei Lernenden wird von einer Kleingruppe, ab sechs von einer Großgruppe gesprochen; Kombiunterricht meint ein Modell aufeinanderfolgender Unterrichtsphasen, bei dem zwei oder mehr SchülerInnen innerhalb eines Unterrichts sowohl Einzel- als auch Partner- oder Gruppenunterricht erhalten.
2.3 Die Videos im Einzelnen mit Aufgaben und Kommentaren
Video 1: Klavier-Einzelunterricht (FB → S. 97; G → S. 132)16
… von Frau Maria Bittel mit einer erwachsenen Schülerin. Der Privatmusikunterricht fand am 30.03.2011 in Traunstein, Bayern (Deutschland), statt. Die Schülerin ist blind.
Aufgaben
• Beschreiben und bewerten Sie, inwieweit der Unterricht der besonderen Bedingung der blinden Schülerin gerecht wird.
• Welche Ziele, Lernfelder und Lehr-/Lernstrategien würden Sie Frau Bittel für den weiteren Unterricht vorschlagen?
• Überlegen Sie sich, welche Ihrer SchülerInnen in einer Unterrichtssequenz durch Schließen oder Verbinden der Augen besser lernen könnte. Planen und erproben Sie einen solchen Unterricht.
Musikpädagogischer Kommentar
In diesem Unterricht erleben wir eine außergewöhnliche Situation. Die erwachsene Schülerin Sabine kann nicht sehen. Frau Bittel beschreibt dies im Gespräch mit dem Autor (s. DVD und S. 133) am Beispiel der Unterrichtssprache. Viele Formulierungen hätten einen starken visuellen Bezug. Für Sabine müsse sie von den gewohnten Wegen abweichen. Ihr Verhalten reflektierend beschreibt Frau Bittel, dass sie bereits Veränderungen in ihrem Unterricht bemerkt habe. So spreche sie weniger und bedachter, wenn auch möglicherweise noch zu viel. Durch gezielte Berührungen mit ihren Händen könne sie ihrer blinden Schülerin Dinge besser zeigen und verdeutlichen.
Im Unterricht können wir beobachten, wie Frau Bittel die Aufmerksamkeit von Sabine über die taktile (berührende) zur haptischen (tastenden) Wahrnehmung und zur Tiefensensibilität für Lage, Kraft und Bewegung des Körpers lenkt. Weiter berichtet sie, dass sie insgesamt weniger in Aktion sei, da visuelle Modelle methodisch wenig Wirkung hätten. In diesem Zusammenhang beschreibt sie das Vermitteln von Fingersätzen als eine schwierige Aufgabe, als einen Prozess, geprägt von gemeinsamem Suchen und Probieren, ein Abwägen zwischen klar gesetzten Vorgaben und dem Zulassen von eigen-sinnigen Lösungen. Dabei müssen vorgegebene Fingersätze so vermittelt werden, dass die Schülerin sie sich zu eigen macht. Von ihr selbst gefundene Fingersätze wiederum sollen
16 FB = Fragebogen, G = Gesprächs-Transkription.
dem musikalischen Ausdruck zumindest nicht entgegenstehen. Das erfordert Einfühlungsvermögen und Geduld. Auf die Frage nach speziell für ihre Schülerin Sabine gefundenen Wegen beschreibt sie Singen und Greifen auf dem Deckel des Flügels als gute Lernstrategien. So könne Sabine sich die Musik und die Fingersätze sicher einprägen. Leider habe sie in diesem Unterricht wegen der eingehenden Arbeit an der linken Hand daran nicht gedacht, diese speziellen Wege zu dokumentieren. Sie habe ihre ursprüngliche Planung verworfen, mit Bällen und Tüchern an der klanglichen Gestaltung der Musik zu arbeiten. Das, bemerkt sie lachend, komme ja öfter mal vor. Sabine hatte den Schluss ihres Stückes zu Hause mit Hilfe eigener Aufzeichnungen selbst wieder erarbeitet. Darüber erfreut, entschied sich Frau Bittel, dies im Unterricht aufzugreifen und ihm genügend Raum zu geben. Begonnen hatte der Unterricht mit der Begrüßung von Sabine und ihrer Mutter, die wie gewohnt während des Unterrichts im Zimmer anwesend war. Dann wurde an der Sitzposition, der Körperhaltung, der Haltung der Arme und Hände gearbeitet. Dabei durfte Maria Bittel ihre Schülerin immer wieder gezielt berühren. Eine Atemübung, bildhafte Beschreibungen und Links-Rechts-Vergleiche dienten der angeleiteten Selbstkontrolle der genannten körperbezogenen Aspekte. Geübt wurde dabei mit einer rhythmisch gleichförmigen in Oktaven geführten Übung in Sequenzen.
Danach konnte Sabine ihr vorbereitetes Stück vorspielen. Als ihr Spielfluss ins Stocken geriet, half ihr Frau Bittel über die schwierige Passage hinweg. Im Gespräch schildert sie später die spürbare Nervosität ihrer Schülerin, die sie der besonderen Situation der Aufnahme zuschreibt. Dann wurden der genaue Rhythmus und die Fingersätze der rechten Hand erarbeitet. Bei der Verabschiedung an der Wohnungstür haben sich Sabine und ihre Mutter für die große Geduld bedankt und ihre ausgesprochene Zufriedenheit mit dem Unterricht zum Ausdruck gebracht. Frau Bittel freute sich über dieses Kompliment und erzählt, dass ihr es leicht falle, die Geduld aufzubringen. Meines Erachtens sind sowohl der Unterricht als auch Frau Bittels Selbstreflexion bemerkenswert. Sie macht sich intensiv Gedanken über guten Unterricht für ihre Schülerin. Sie ist bereit, ihre eigene Unterrichtsroutine zu beobachten und zu hinterfragen. Sowohl Erkenntnisse aus ihrer Reflexionsarbeit als auch intuitive Entscheidungen im Unterricht zeigen ihre Offenheit und Flexibilität, sich situativ an ihrer Schülerin zu orientieren und ihr anzupassen. Ohne sich selbst zu verlieren, versucht sie, sich in die besondere Situation von Sabine einzufühlen. Mit ihrer sicheren und fröhlichen Art kann sie ihrer Schülerin Halt und Mut geben, sich zu vertrauen. Dabei nimmt sie immer den ganzen Menschen wahr. Mir scheint, dass sie während des Unterrichts spüren kann, wie sie die aktive Unterrichtsgestaltung verteilen und die Intensität einer Situation dosieren muss. In einer Phase der intensiven Arbeit an einem Detail erzielen beide ein stabiles Lernergebnis. Der erarbeitete veränderte Fingersatz in der linken Hand gelingt Sabine beim späteren Durchspielen wieder. Mit der beschriebenen Lernstrategie Singen und Greifen ließe sich dieses Ergebnis sicher noch nachhaltiger verankern. Gegen Ende des Unterrichts fordert Frau Bittel häufiger eine aktive Beteiligung an Entscheidungen über geeignete nächste Lernschritte ein. Möglicherweise führt dieser Weg zu weiterer Selbstständigkeit von Sabine. Einen Versuch wert könnte es auch sein, Sabine in die Nutzung eines Tonträger-Mediums einzuarbeiten. Frau Bittel würde ihr Hörmodelle einspielen und besprechen, wie diese beim selbstständigen Üben helfen können. Beide könnten dies als gemeinsames Projekt planen und durchführen. Im Rahmen der medialen Erarbeitung im Unterricht wäre selbstständiges Entscheiden über Vor- und Nachteile unterschiedlicher Fingersätze ein wichti-
ges Ziel. Das schöne Angebot an Sabine, sie könne sich auch telefonische Hilfe bei Frau Bittel holen, könnte ein Hinweis auf die guten Erfolgschancen von eigens angefertigten Aufnahmen zum Üben sein.
Psychologischer Kommentar
Am Ende der Lektion bedankt sich Sabine bei Frau Bittel für deren Geduld. Geduld kommt dann ins Spiel, wenn zwei Zeitmaße nicht übereinstimmen; wenn einer auf dem gemeinsamen Weg schon weiter vorangekommen ist und nun auf den anderen wartet, der noch zurückliegt. Geduld benötigen wir dort, wo es schneller gehen könnte, es aber nicht schneller geht – warum auch immer.
Sabine ist eine erwachsene Frau. Dennoch kommt sie mit ihrer Mutter in die Klavierstunde. Trotz ihrer Blindheit orientiert sie sich selbst mühelos beim Betreten und Verlassen des ihr seit Jahren vertrauten Raumes. Wir erfahren nicht, warum die Mutter beim Unterricht dabei ist; wir bemerken aber, dass Frau Bittel die Mutter nur ein einziges Mal anspricht und auch sonst keinen Blickkontakt zu ihr aufnimmt.
Sabine spricht mit einer leisen und hohen Stimme, fast wie ein Kind. Als sie sich die Nase schnäuzen muss, fragt sie, ob man das während der Aufnahme tun dürfe. Frau Bittel lacht ganz entspannt und hilft Sabine, die Hemmung zu überwinden. Das unterschiedliche Zeitmaß der beiden zeigt sich hier in der Ermutigung von Seiten der Lehrerin und in der Hemmung auf Seiten der Schülerin. Auch als am Ende der Lektion die Mutter mahnt: „Sabine, pass auf!“, fasst Frau Bittel Sabine ganz unkompliziert am Arm und ermuntert sie: „Hier kann nichts passieren!“. Nachträglich wirken dieser Satz und diese Geste geradezu programmatisch für das zuversichtlich-freundliche Klima der gesamten Lektion.
Aber wo Geduld gefragt ist, da ist auch meist die Ungeduld nicht weit. Zweimal hören wir Sabine flüstern, dass das jetzt schön klingt. Hier könnten beide innehalten, es böte sich ein intimer Moment des Miteinander-Schwingens an – wenn man Zeit hätte –, aber Frau Bittel will weiter. Es ist schwerer, einen Marschhalt einzulegen, wenn es schon spät ist und man vorwärtsschreiten will.
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Hatte Sabine anfangs das Stück noch ganz schwungvoll in Gang gesetzt, so gerät später die Arbeit am schwierigen Schlussteil zu einem mühevollen Buchstabieren, bei dem der musikalische Fluss fast zum Erliegen kommt. Ein gemeinsames Erleben, z. B. „dass es jetzt schön klingt“, rückt in weite Ferne. Die beiden unterschiedlichen Zeitmaße, die Ermunterung und die Hemmung, das „vorwärts“ und das „Pass auf!“, versteifen sich. Da kann die Vorstellung helfen, die Lektion nun zu beenden und beim nächsten Mal frisch – und geduldig! – weiterzumachen.
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einer Reihe von gut geplanten, kurzen Aktionen, die er in schneller Folge ohne lange Vorbereitung mit den SchülerInnen und ihren Eltern angeht.
Er ist ganz eindeutig der Chef der Gruppe; seine Autorität wird von allen akzeptiert; wenn er korrigieren oder disziplinieren muss, tut er dies sofort und kurz, sodass sich alle sicher geführt fühlen können. Seine Anweisungen sind klar; wie im Sport hören wir z. B.: „Bereit … Spiel!“ Eingeübte Rituale wie das Verbeugen zu Beginn und am Schluss des eigentlichen Unterrichts spannen einen festen Rahmen, ohne dass dieser starr würde. Mit kleinen humorvollen Bemerkungen lockert Herr Balzer die Atmosphäre auf und zeigt seine eigene Sicherheit. Angst vor Misserfolg oder gar Beschämung kommt nie auf.
Dieser Unterricht vermittelt vor allem, dass die Kinder die gestellten Aufgaben selbstverständlich bewältigen können. Der Fokus ihrer Aufmerksamkeit wird in jedem der kurzen Stücke abwechslungsreich auf einen anderen Aspekt gelegt, wobei – wie beim Spracherwerb des kleinen Kindes – ein gleichzeitiges Beherrschen aller Details gar nicht nötig ist.
7: Querflöten-Kleingruppenunterricht (FB → S. 117; G → S. 167)
… von Frau Angelika Sheridan mit vier Mädchen (Loulou und Johanna, 9 Jahre, sowie Isabel und Leandra, 10 Jahre). Der Musikschulunterricht fand am 11.05.2011 in den Räumen einer Schule in Monheim am Rhein, Nordrhein-Westfalen (Deutschland), statt. Der Unterricht ist Teil des Monheimer Modells23 und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit dem Lernfeld Improvisation.
Aufgaben
• Was können die vier Schülerinnen durch den geführten Wechsel von Phasen des Musizierens/ der musikalischen Interaktion und denen des Sprechens/Nachdenkens über ihre Musik lernen?
• Beschreiben Sie die Stärken und Kompetenzen von Frau Sheridan, auf deren Grundlage dieser Gruppenunterricht gelingt.
• Auf welchen Werten und Normen baut dieser Unterricht auf?24
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• Unter welchen Bedingungen können Sie sich vorstellen, mit Ihren SchülerInnen einen ähnlichen Improvisations- und Musizierunterricht zu halten?
24 Zum Einstieg und zur Vertiefung der Thematik vgl. Feurich, Hans-Jürgen: Werte und Normen in der Musik. Theoretische Grundlagen und Unterrichtsbeispiele. Wilhelmshaven: Noetzel 1999.
Video
Musikpädagogischer Kommentar
Mit ihrer Aussage ganz zu Beginn des Unterrichts beschreibt Frau Sheridan vieles von dem, was nun kommen wird, äußerst treffend: „Da können wir schön alleine zusammen [nachdem der Autor die Aufnahmetechnik überprüft und den Unterrichtsraum verlassen hat] Musik machen.“ Alle machen tatsächlich viel Musik und das durchaus auch zusammen und alleine. Aus dem Gespräch mit Frau Sheridan erfahren wir, dass die Schülerinnen nach der Stunde gesagt haben: „Wir haben wirklich Musik gemacht!“ (s. DVD und S. 167) Weiter beschreibt sie ihre Faszination darüber, dass ihre Schülerinnen mit dem angebotenen Material selbstständig musizieren. Wir können dies von Beginn an beobachten. Ausgehend von einer musikalischen Idee von Leandra, die genau in eins der Mikrofone spielt, verwickelt Frau Sheridan diese mit den Worten: „Spiel zu mir!“ sowie mit gestenreicher Körper- und Musizier-Sprache in einen musikalischen Dialog. Isabel stößt musizierend hinzu. Leandra schweift ab und gewöhnt sich weiter an die durch die Aufnahme veränderte Situation. Die Atmosphäre ist geprägt von positiver Zuwendung. Freiräume für individuelles Erzählen und Zuhören sowie forschendes Entdecken und Erfinden sind mit klar angeleiteten Phasen des Unterrichts gut ausbalanciert. Dabei hört Frau Sheridan ihren Schülerinnen aufmerksam zu, gibt ihnen persönliche Feedbacks und greift deren Impulse immer wieder für flüssige Überleitungen auf.
In einer variantenreichen Folge von Einton-Übungen agiert Frau Sheridan beispielsweise besonders klar und ausdrucksstark in Sprache, Körpersprache und Musik sowie ermutigend im Feedback. Die Schülerinnen kennen die Übungen bereits gut und sind engagiert bei der Sache. Dies besitzt sicher Modellcharakter für das Üben zu Hause. Auf dieser Basis könnte nun ein Rollenwechsel ein sinnvoller nächster Schritt sein.
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Nach einer kurzen Einführung in die Begriffe Akkord und Melodie bringen sich alle kreativ ein und leiten die Gruppe jeweils mit ihrer musikalischen Idee an. Frau Sheridan hat dabei die Kraft und die Geduld, für 15 Sekunden eine positive Erwartungsspannung zu erzeugen, bis Loulou ihren Akkord erfunden hat. Dabei lässt sie Leandras Lebendigkeit in klaren Grenzen ebenso zu, wie sie Isabels Neugier auf den Ton Cis zu stillen vermag. Frau Sheridan gelingt es, den Schülerinnen sowohl individuell als auch in unterschiedlichen Gruppenkonstellationen gerecht zu werden. Wie nebenbei entdecken, erkennen und benennen die vier Schülerinnen eine Tonleiter und spielen diese spontan im Kreis durch eine ganze Oktave. Über den überleitenden Kommentar voll anerkennender Wertschätzung freuen sich die vier. Sicher werden diese Entdeckung und die fantasievolle Spielidee an anderer Stelle eine Fortführung erfahren können.
Eine weitere wichtige Information aus dem Gespräch mit Frau Sheridan betrifft das Wuppertaler Improvisations Orchester. Dort waren Johanna, Loulou und Isabel zu Gast und durften sowohl mitspielen als auch dirigieren – ein Erlebnis, von dem sie so begeistert sind, dass sie seitdem immer wieder improvisieren möchten. Frau Sheridan ist es dabei wichtig, das Sprechen über Musik und das Musizieren an sich jeweils klar zu trennen, den Schülerinnen aber in beiden Bereichen Raum zu geben und sie zu fördern. Sie formuliert als Ziele: zuhören können, nicht immer aktiv sein, nicht immer sofort aktiv sein, ein Gespür für die Erfordernisse einer Situation entwickeln. Dies bezieht sie meines Erachtens gleichermaßen auf die Kommunikation mit Musik wie mit Sprache.
Nach der gemeinsamen Vorbesprechung taucht Leandras Soloidee vom Beginn der Stunde wieder auf. Sie wird von ihr selbst vorgestellt, von Frau Sheridan und Loulou auf deren spontane Assoziation hin mit der Stimme interpretiert und dann von allen auf der Querflöte gespielt. Mit diesem ersten Beispiel wird das Dirigierzeichen für Solo wiederholt, und alle können ihre Hausaufgaben oder spontane Ideen präsentieren. Zwischen Gespräch und Musizieren wechselt Frau Sheridan ihre Sitzposition und Körperhaltung. Alle Schülerinnen folgen ihrem Beispiel. Danach beschreibt sie ihre Beobachtungen vom gemeinsamen Musizieren, ordnet und benennt diese und zeigt direkt die jeweiligen Dirigierzeichen dazu. Das Lob von Frau Sheridan, die selbstbewusste Antwort Loulous sowie das ehrliche Eingeständnis des Vergessens sind Ausdruck des freudigen gemeinsamen Tuns sowie einer intakten Lerngruppe und Beziehung.
Alle Schülerinnen außer Loulou, die nicht dirigieren wollte, leiten eine Improvisation an. Bei Johanna und Leandra werden diese auch jeweils im Nachhinein besprochen. Bei Isabels Dirigat vermischt Leandra, die ein gemeinsames Musizieren mit dem Wuppertaler Improvisations Orchester nicht miterleben konnte, Musizieren, Sprechen, Fußstampfen und Lauthals-Lachen miteinander. Frau Sheridan erlebt diese Nichteinhaltung der vereinbarten Regel als eine Störung und unterbricht die Improvisation. Nach einem persönlichen Feedback und einem kurzen Gespräch leitet sie eine nächste Lernstufe der Reduktion bei größerer Differenzierung des gewählten Materials modellhaft an. Sowohl die Improvisation als auch die anschließende Besprechung gelingen mit neuer Konzentration und Intensität. Eine feine Überleitung von Isabels neuer Brille zum gleichnamigen Dirigierzeichen, ein Wechsel der Raumsituation und Johannas Ad-hoc-Umsetzung des neuen Dirigierzeichens, eines plötzlichen Wechsels, sind weitere Zeugnisse des lebendig musizierenden Lehrens und Lernens in der Gruppe.
Psychologischer Kommentar
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Man spricht in der Psychoanalyse der Geschwisterbeziehungen von einer reziproken Anerkennung, die jedem einzelnen der Kinder eine angemessene Entfaltung zuspricht und gleichzeitig von jedem Kind verlangt, die ebenso berechtigte Entfaltung der Geschwister anzuerkennen. Alle haben das Recht, sich zu zeigen und wahrgenommen zu werden. Frau Sheridans Unterricht illustriert dieses Prinzip in mehrfacher Hinsicht. Da ist zunächst die Struktur des Gruppenunterrichts, an dem die anderen mit ihren jeweils unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen ganz real teilnehmen. Dann bietet das Thema des Improvisationsorchesters Gelegenheit für gemeinsames geführtes Musizieren mit solistischen Elementen, d. h. es bietet also jeder Musikerin eine individuelle Entfaltungsmöglichkeit. Gleichzeitig verlangt es von jeder, sich dem jeweiligen Dirigat unterzuordnen. Und schließlich vertritt Frau Sheridan mit Nachdruck die Auffassung, dass Musik nicht nur aus „schönen Tönen“, sondern aus jedwedem Geräusch bestehen könne; nicht nur die lieblichen, angepassten, braven Töne (Kinder) dürfen sich hervortun, sondern auch die schroffen, garstigen, eigenwilligen.
Loulou, die einige Male betont, nicht dirigieren zu wollen, wird mit ihrem Widerstand ohne weiteres respektiert. Vielleicht gerade aufgrund ihrer Eigenwilligkeit entsteht zwischen ihr und Frau Sheridan eine ganz eigene dialogische Beziehung. Ihre Frage, ob sich die Querflöten eigentlich
auch unterhalten können, wird zunächst durch ein staunendes Innehalten („wow!“) der Lehrerin beantwortet, dann entwickelt sich zwischen den beiden tatsächlich ein Duo, und am Schluss, als Loulou aufdringlich die Aufmerksamkeit der Lehrerin fordert, bekommt sie als Antwort eine ablehnende und doch liebevoll-spielerische Geste, die ungefähr heißen könnte: „Gib Ruhe! Ich habe wahrgenommen, was du willst, aber jetzt musst du einen Moment warten!“ – und ringt damit ihrer Lehrerin zwei der raren Körperkontakte ab.
Alle möchten gesehen werden, genießen ihre Auftritte und winken aufgekratzt in die Kamera. Wir erleben eine begeistert übersprudelnde Gruppe und können manchmal den gleichzeitigen Einwürfen gar nicht mehr recht folgen. Da muss Frau Sheridan zuweilen richtig aufdrehen, um die Führung zu behalten. Sie reguliert dann kurzfristig Tonhöhe, Lautstärke und Klang in Richtung höherer Präsenz, um aber sofort wieder zu ruhigerer Stimmlage zurückzukehren. Ebenso variiert sie schnell und virtuos ihre Position gegenüber der Gruppe: Einmal ist sie Lehrerin, dann Dirigentin, dann Orchestermitglied und – mit den vier Mädchen am Boden sitzend – die erfahrenere Gefährtin eines Erkundungsspiels.
Es ist eine Gratwanderung, eine so kreative, lebendige und aufgeweckte Kinderschar immer wieder zum Thema des Unterrichts zurückzuführen, ohne ihre Einfälle abzuwürgen. Es droht nämlich einerseits die Gefahr, in der Menge von immer noch mehr Ideen unterzugehen, andererseits könnte ein zu festes Strukturieren die Beiträge der Schülerinnen entwerten und ihre Begeisterung zum Versiegen bringen. Frau Sheridan löst dieses Dilemma durch eine zeitliche Trennung von Musizieren und „Quatschen“, und meint mit „Quatschen“ das Sprechen im Allgemeinen und das Sprechen über Unwichtiges im Besonderen. Loulous Einwurf, dass Isabel eine neue Brille habe, ist in diesem Sinne „gequatscht“; die Lehrerin nimmt ihn kurz und sehr freundlich auf, kehrt dann aber sofort wieder zum Unterricht zurück und findet mit einer geistesgegenwärtigen Assoziation zum Dirigierzeichen Brille wechseln.
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Die reziproke Anerkennung lässt die anderen Geschwister zurücktreten, wenn eines gerade im Zentrum der Aufmerksamkeit steht. Der Gruppe und ihrer ausgelassenen Kreativität wird zeitweise ein Platz im Hintergrund zugewiesen, ein Einzelner tritt in den Vordergrund und kommt zu Wort. Einer ähnlichen Regel könnte auch das Hervor- und Zurücktreten musikalischer Gedanken beim Improvisieren unterworfen sein. Damit einer der Gedanken (eines der Kinder) möglichst prägnant zu Gehör kommen kann, müssen die anderen (Gedanken/Kinder) für einen Moment schweigen. Es ist dieser Übergang von der puren Funktionslust zur Audiation25, den wir in dieser Sternstunde miterleben können.
25 Der Begriff Audiation wurde von dem amerikanischen Musikpädagogen und Forscher Edwin E. Gordon geprägt und meint aus meiner Sicht das innere Gewahr-Werden, die innere Repräsentanz des (musikalischen) Gedankens, die ich hier analog zu einer psychischen Repräsentanz des Anderen denke (P-CM). Gordon, Edwin E.: Learning Sequences in Music. A Contemporary Learning Theory. Chicago: GIA Publications 2007.
Exkurs: MIO – Von der Improvisation im Instrumentalunterricht zum dirigierten Improvisationsorchester
Ein Erfahrungsbericht von Angelika Sheridan26
Es begann mit einer offenen Probe des WIO, des Wuppertaler Improvisations Orchesters, zu der Orchestermitglieder eigene Schüler und Schülerinnen einladen konnten.
Ich brachte drei meiner Querflötenschülerinnen von der Monheimer Musikschule mit. Nach der Probe waren sie vollkommen begeistert und berichteten zu Hause und in der Schule detailliert von den Improvisationen nach Handzeichen. Sie konnten alle Zeichen auswendig erklären und waren Feuer und Flamme, diese Erfahrungen in ihrem Instrumentalunterricht zu vertiefen.
In einer der nächsten Unterrichtsstunden führte ich die Dirigierzeichen ein. Diese Stunde wurde im Rahmen des EPII-Projekts mit Video aufgezeichnet. Von da an konnte ich den Unterricht unmöglich wie gewohnt fortsetzen, denn meine Schülerinnen verlangten jede Stunde nach Improvisation unter Verwendung der Handzeichen. Ganz natürlich folgte daraus der Wunsch nach Gründung eines Improvisationsorchesters mit heterogener Besetzung. Ich trat in Verhandlungen mit der Musikschule, an deren Ende die Genehmigung eines Pilotprojekts stand: des MIO, des Monheimer Improvisations Orchesters
Der erste öffentliche Auftritt des MIO fand bei dem alljährlichen Ensemble-Konzert der Musikschule Monheim statt. Auf der Bühne improvisierten zwölf Schülerinnen und Schüler ohne Noten. Die Musik entstand ausschließlich im Moment. Nicht nur das beeindruckte das Publikum, sondern auch, dass die Kinder einander gegenseitig dirigierten und dass ich als Lehrerin die Gruppe nicht führte, sondern im Orchester mitspielte. Die begeisterten Rückmeldungen des Publikums, unter anderem des Bürgermeisters, des Musikschulleiters und des Fördervereinsvorsitzenden, hatten die Konsequenz, dass die Schulleitung das MIO als festes Ensemble der Musikschule genehmigte.
Die Altersstruktur des MIO ist heterogen, derzeit spielen Kinder vom 2. bis zum 8. Schuljahr regelmäßig mit, aber auch der Vater einer Schülerin. Der große Altersunterschied ist nicht problematisch, sondern wirkt sich bereichernd auf die Arbeit aus. Die Älteren sind erfahrener und technisch versierter auf ihrem Instrument, die Jüngeren zeichnen sich durch ihre große Offenheit gegenüber experimentellen Spielweisen und Klangerfahrungen aus.
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Das Orchester probt einmal wöchentlich während einer Stunde. Wir arbeiten mit den Dirigierzeichen, die in Improvisationsorchestern wie dem Wuppertaler Improvisations Orchester oder dem
26 Mit der Videodokumentation des Querflöten-Kleingruppenunterrichts bietet sich die besondere Gelegenheit, gelungenes Lehren und Lernen von Improvisation im Musikschulunterricht zu erleben. Da wir annehmen, dass viele LehrerInnen mit dem großen Feld der Improvisation wenig oder nicht vertraut sind, möchten wir mit dem nachfolgenden Erfahrungsbericht Mut machen und einen Weg aufzeigen, sich dem Thema anzunähren.
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Video 11: Gesangs-Einzelunterricht (FB → S. 130; G → S. 181)
… von Frau Denise Bregnard mit einer jungen Frau (Michelle, 16 Jahre). Der Unterricht fand am 06.05.2011 im Musikgymnasium in Münchenbuchsee bei Bern (Schweiz) statt.
Aufgaben
• Welche Ziele verfolgt der Unterricht von Frau Bregnard mit Michelle? Begründen Sie Ihre Einschätzung.
• Mit welchen Mitteln gelingt Frau Bregnard die angeleitete Selbstbildung von Michelle?
• Beschreiben Sie Frau Bregnards Beobachtungsleistung im Hinblick auf Michelles Musizieren, Üben und Kommunikationsverhalten. Welche Rückschlüsse können für die unmittelbare Gestaltung des Unterrichts gewonnen werden?
Musikpädagogischer Kommentar
Frau Bregnard sorgt für einen Einstieg in die ungewohnte Situation. Sie erklärt den Grund der Verspätung, schafft Anknüpfungspunkte für die Schülerinnen [ihrer Klasse] untereinander, erzählt etwas von sich selbst und hilft Michelle, von sich zu erzählen und mit ihr in Kontakt zu treten.
Michelle reagiert ausgesprochen mutig auf die Kamera, worüber Frau Bregnard sich in der Nachbesprechung sehr erfreut zeigt. Ebenso können wir erfahren, dass es ihr besonders wichtig ist, für Michelle im Unterricht eine gute Atmosphäre zu schaffen. Sie soll sich wohlfühlen können, am besten nach dem Unterricht aufgestellter sein als zu Beginn. Auch möchte sie ihr über das Singen hinaus kulturelle Bildung und Wissen vermitteln.
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Das ordnungsgemäße Aufsagen der Check-Punkte zur optimalen Körperhaltung bringt Frau Bregnard zu einem entspannenden Lachen. Auf lustige Art und Weise zeigt sie Michelle, dass diese die wichtigen Inhalte gut kennt. Kurz erwähnt sie eine Haltungsschwierigkeit von Michelle, der sehr fortgeschrittenen Schülerin, aus der vorangegangenen Stunde. Gleichwohl wünscht sie sich einen lebendigeren Vortrag von Michelle.
Aus dem Angebot zweier Lockerungsübungen wählt Michelle eine aus, worauf Frau Bregnard ihre Schultern nach oben zieht und sie kreisen lässt. Michelle steigt darauf ein, indem sie die Bewegungen von Frau Bregnard imitiert. Als diese mit dem Bild einer Morgenstimmung ihre offensichtliche Aufmerksamkeit mehr sich selbst zuwendet, verändert auch Michelle ihren Fokus. Nun lässt Frau Bregnard Michelle die Übung selbstständig weitermachen, wofür sie eine pragmatische Begründung gibt. Mit Gesten genüsslichen Streckens und gedehntem Seufzen bietet sie Michelle ein Modell für Entspannung und Wohlsein. Auf eine persönliche Nachfrage hin erzählt Michelle ein Detail aus ihrem Schulalltag. Beim Knacksen in ihrer Schulter ertappt, lacht sie spontan, was eine Überleitung ermöglicht.
Die folgende Atemübung wird wieder von Michelle ausgewählt. Sie macht sie einmal vollständig allein vor. Dann erhält sie ein konkretes Feedback mit drei stimmigen Lernschritten: Modell zur Beobachtung, begleitetes Üben mit Körperkontakt und Anleitung zu selbsttätiger Ausführung. Frau Bregnard begleitet Michelle zu einer klaren Verbesserung im angesprochenen Aspekt der Übung. Ein abschließendes Lob, zunächst situationsgerecht leise gesprochen, unterstützt den Lernerfolg. Mit diesem Ergebnis und dem Prädikat „super“ sind beide einverstanden.
Dem Einsingen ging eine Übung zur physischen und mentalen Vorbereitung auf das Singen voraus. Erarbeitet wurde eine Klangvorstellung für den klassischen Gesang mit der sogenannten Sängerschnute. Die Inhalte wurden ausführlich geübt, erklärt und von Frau Bregnard in Michelles Aufgabenheft notiert. Während der Überleitung zum Einsingen blättert Frau Bregnard im Aufgabenheft und sucht nach etwas. In diesem unbeobachteten Moment blickt Michelle kurz zur Kamera.
Die offensichtlich neue Übung mit einer Bewegungsgeste gelingt Michelle auf Anhieb gut. Sie scheint gut darauf vorbereitet – sowohl durch diese Stunde als auch durch ihr eigenes Üben. Schon nach den ersten Arpeggien verändert sie selbstständig die Höhe der zuvor gezeigten Armbewegung. Ihre flachere Bewegung nimmt eine später gefundene vorweg, wie wenn sie mit beiden Armen eine leichte Kommode schiebt. Situationsgerecht erwähnt Frau Bregnard nach dem geforderten Positionswechsel die Kamera und fokussiert Michelle wieder auf die bewusste mentale Vorbereitung.
Aus dem Gespräch erhält Frau Bregnard wichtige Rückmeldungen über Michelles momentane Wahrnehmung beim Singen. Sie reagiert mit einer Darstellung der physiologischen Zusammenhänge. Dabei lässt sie Michelle das Bild der Vorgänge beim Singen im Körper selbst mitentwickeln. Michelle kann ihre Wahrnehmung schärfen und erhält durch Feedback und Fachwissen einen präziseren Maßstab für ihr selbstständiges Üben. Nach aufmerksamer Beobachtung verwirft Frau Bregnard das zuvor eingeführte Telefon-Bild. Dabei vergisst sie nicht, ihr Handeln zu erklären. Mit dem Bild der geschobenen Kommode kann Michelle einen großen Schritt nach vorne machen. Körpergefühl und Klang werden ihr nun bewusster. Ihre Geste der Freude und Begeisterung ist bemerkenswert und stimmig mit Frau Bregnards Lob für ihr wunderschönes Singen und Strahlen der Obertöne.
Frau Bregnard sorgt für den Raum und das Klima, in dem Michelle wachsen und lernen kann. Dabei achtet sie genügend auf sich selbst und behält die Entwicklung Michelles zu einer autonom handelnden Persönlichkeit fest im Blick. All dies hat meinen größten Respekt.
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In der Zwischenzeit29 wurde weiter mit Bewegungsgesten geübt, probiert und verglichen. Zusätzlich sollte sich Michelle die Bewegungsgeste Kommode beim Singen nur vorstellen. Abschließend wurde die Kommode als Partnerübung gegeneinanderdrückend geschoben, sodass der Widerstand erspürt werden konnte.
Auf die Frage nach den Komponisten klären beide kurz die Lebensdaten von Mozart und Schubert. Fragend entwickelt Frau Bregnard ein Bild der damaligen Lebensbedingungen. Michelle ist zunächst erstaunt, beginnt dann, sich eigene Gedanken zu machen. Spannende Darstellungen und Informationen nimmt sie zunächst größtenteils einfach nur auf. Die Aufgabe, selbst im Internet weiter zu recherchieren, ist sinnvoll für das Initiieren einer eigenständigeren Auseinandersetzung mit
29 Der Kontext, der durch einen im Video vorhandenen Zeitsprung unter Umständen nicht nachvollziehbar ist, wird durch den musikpädagogischen Kommentar wiederhergestellt.
den angesprochenen Themen. Damit kann der Grundstein für eine bewusste und einfühlsame Liedinterpretation gelegt werden.
Das auf Nachfrage eingebrachte Problem mit den Vorschlägen wird direkt bearbeitet. Die Lernschritte sind maßgeschneidert und knüpfen an die Inhalte der Stunde an. Beim ersten Singen des Liedes liegt der Fokus erneut auf der bewussten Vorbereitung des Singens. Der gerade erarbeitete Vorschlag gelingt Michelle bereits erfreulich gut.
Dieser Unterricht orientiert sich an den individuellen Möglichkeiten der Schülerin. Er ist menschlich wie fachlich beeindruckend, wobei Frau Bregnard aus einer großen Palette pädagogischer Handlungsoptionen gekonnt auswählt.
Psychologischer Kommentar
Schon die Begrüßung spannt den großen Bogen über die gesamte Lektion auf: „Wie geht es dir?“ soll nicht als leere Floskel verstanden werden, sondern als echt gemeinte Frage, die in Frau Bregnards Interesse am Befinden ihrer Schülerin Michelle gründet. Schnell wird spürbar, dass es Michelle nicht leicht fällt, eine authentische Antwort zu finden.
Wir erleben in der Folge einen ergreifenden Prozess der Befragung des Subjekts Michelle auf seine eigenen Empfindungen. Das Singen wird zum Ausgangspunkt für neue sinnliche Erfahrungen, vor allem auf der Achse Anspannung – Lockerung. In kleinen enggeführten Schritten entwickelt Frau Bregnard ihre Übungselemente und findet hierfür immer wieder neue Bilder, mithilfe derer Michelle körperlich-seelische Vorgänge imaginieren könnte. Das fällt ihr nicht leicht, aber im Laufe der Lektion weitet sich allmählich der emotionale Spielraum. Außerordentlich subtile Beobachtung und stetes Nachjustieren sind nötig, um mit den pädagogischen Interventionen genügend sinnliche Resonanz bei Michelle zu bewirken.
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Da bieten sich die Lebensdaten Mozarts und Schuberts geradezu als Ausgangspunkt für einen Exkurs in Empathie an: Wie muss es sich damals angefühlt haben, nach einem entbehrungsreichen Winter den Frühling herbeizusehnen, wie muss es sich angefühlt haben, ständig von Krankheit und Mangel bedroht zu sein, früh sterben zu müssen … Frau Bregnard stellt ihre Berufs- und Lebenserfahrung als Ältere, als Lehrerin, als Sängerin, als Frau zur Verfügung. Sie zeigt Michelle ein breites Spektrum emotional-sinnlicher Empfindungen und ermutigt sie, sich selbst zu entfalten. Dies wird selbstverständlich über Michelles musikalische Entwicklung hinausgehen.
3. Sehschule – Wege der Reflexionsarbeit 1
3.1 Kurzer Leitfaden zum Gebrauch der videobasierten Sehschule
Neben den Grundsätzlichen Überlegungen steht eine Fülle von Aufgaben und Vorschlägen zum Gebrauch der Videomaterialen bereit. Diese beinhalten Anregungen für die Einzelarbeit, die kollegiale PartnerInnenarbeit, die Beschäftigung mit Videoaufzeichnungen des eigenen Unterrichts und Formen der kollegialen Zusammenarbeit und Weiterbildung. Man kann diese der Reihe nach durcharbeiten, man kann sich aber auch Kapitel gezielt herausgreifen. Grundsätzlich ist es im Sinne von EPII, wenn man das Angebot zum Gebrauch der Videomaterialien selbst weiterentwickelt und den eigenen Bedürfnissen anpasst.
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3.2 Grundsätzliche Überlegungen
Beobachtet man Musikunterricht, neigt man schnell dazu, diesen zu bewerten und einzuordnen. Dabei orientiert man sich für seine Einschätzungen mehr oder weniger bewusst an den eigenen pädagogischen Grundüberzeugungen. Sobald ein Unterricht als grundsätzlich positiv erachtet wird, tendiert man dazu, Aspekte, die diese positive Bewertung untermauern, verstärkt wahrzunehmen.30 Umgekehrt kann es sein, dass man vermehrt Hinweise für schlechten Unterricht wahrnimmt, wenn man den Unterricht bereits als eher misslungen eingeordnet hat. Menschen haben ein Bedürfnis nach Bestätigung ihrer persönlichen Überzeugungen. Je stärker man sich diesen verpflichtet fühlt, desto mehr tendiert man zu selektiver Wahrnehmung. Dabei wird die Auswahl der Sinneseindrücke von den eigenen Erfahrungen, Erwartungen, Einstellungen und Interessen beeinflusst. Die Folge dessen kann sein, dass man bestimmte Aspekte meist unbewusst gar nicht oder verzerrt wahrnimmt. Man nennt diese kognitiven Verzerrungen auch „Bestätigungsfehler“.31 Dadurch lässt sich die Spannung der Nichtübereinstimmung vermeiden oder wenigstens besser aushalten. Auch wird der Druck gering gehalten, die eigene Einstellung zu betrachten, zu überprüfen und möglicherweise ändern zu müssen. Deshalb besteht ein Teil der Sehschule darin, kurze Ausschnitte der Videodokumentationen aufmerksam zu beobachten und sorgfältig zu beschreiben. Dadurch soll trainiert werden, zwischen Beschreibungen und Bewertungen zu unterscheiden. Schon beim Beobachten des Unterrichts ist es wichtig zu erkennen, wann Einschätzungen vorgenommen und Urteile gefällt
30 Vgl. Bohner, Gerd: Einstellungen, Konsequenzen von Einstellungen. In: Stroebe, Wolfgang; Jonas, Klaus; Hewstone, Miles (Hrsg.): Sozialpsychologie. Eine Einführung. Berlin: Springer 2001, S. 297–300.
31 Ebd., 5.4.2 Selbstbestätigungsprozesse, S. 152–155.
werden. Dies soll eine bewusstere Wahrnehmung beim Betrachten von Unterricht fördern. Die eigene Reflexion und das fachliche Gespräch über Musikunterricht werden inhaltlich breiter abgestützt. Man lernt, die Standpunkte der GesprächspartnerInnen besser zu verstehen, auch wenn man nicht mit ihnen einverstanden ist. GesprächspartnerInnen können KollegInnen, SchülerInnen, Eltern und SchulleiterInnen sein.
Ziel der Sehschule ist es, mit Hilfe gelenkter Aufmerksamkeit, bewussterer Wahrnehmung und Reflexion mehr Information aufzunehmen. Dadurch soll einerseits Lehren und Lernen verbessert und anderseits Offenheit für sich selbst und die Standpunkte und Überzeugungen der InteraktionspartnerInnen gewonnen werden.
Man erlebt beispielsweise das Vorspiel einer Schülerin im Unterricht als schön und rundum gelungen. Deshalb möchte man es mit dem Prädikat „sehr gut“ bewerten. Sicher wäre die Schülerin froh über das ehrliche und anerkennende Lob. Es würde ihr aber auch weiterhelfen, wenn ihr Spiel zunächst „nur“ beschrieben würde. Sie brächte Wichtiges über die vielfältigen Kriterien zur Beurteilung der Qualität des Instrumentalspiels in Erfahrung und könnte die professionellen Beobachtungen mit den eigenen vergleichen. Dabei würde sie sowohl von Übereinstimmungen als auch von Unterschieden lernen. Eine Beschreibung der wichtigsten Merkmale und Qualitäten des musikalischen Vortrags der Schülerin ist also zunächst sehr wertvoll für sie. Erst danach würde entschieden, ob eine auf dieser Grundlage wohlbegründete lobende Anerkennung noch ausgesprochen werden soll.
3.2.1 „Weniger kann mehr sein“ – Übersicht der Videoausschnitte für die folgenden Aufgaben32
1 KlavierEinzelIIW15:27–18:19
LK: Ist es dir ein bisschen klarer geworden …
2 KlavierGruppeIW07:01–10:29LK: Pass auf, …
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3 AkkordeonEinzelIW00:00–03:10Tür schließen.
4 ViolineEinzelI–IIW07:05–10:01
LK: Warte, ich stelle mal den Notenständer …
LK: … mehr die beiden Schlüsse noch mal mit.
LK: Probieren wir es noch einmal.
S: … vergess’ ich den Bass
LK: OK – OK
LK: … Lob für die Regelmäßigkeit.
5 ViolineEinzelI–IIW04:30–08:02 LK spielt vor LK: Das klingt so toll, weiter!
Legende: GS = Geschlecht; LK = Lehrkraft; S = Schüler; W = Weiblich; M = Männlich; I = Unterstufe; II = Mittelstufe; III = Oberstufe; zu den Sozialformen s. Fußnote 15, S. 18.
32 Auf der DVD über die „Sehschule“ und das Untermenü des jeweiligen Videos direkt zu erreichen.
6 CelloGruppeIM04:50–08:28
LK: OK, lasst uns noch mal schauen …
7 QuerflöteGruppeIIW00:00–01:45 Die Tür schließt sich.
LK: Der Ton klingt viel, viel schöner … aber, …
LK: Alle zusammen einatmen – und …
8 KlarinetteEnsembleIIIM01:30–04:45LK: Im Forte, 1 2 3 4. LK: … Extreme in der Dynamik.
9 Oboe Kombi III/IW04:12–07:14
10 TrompetePartnerIIM07:01–10:58
11 GesangEinzelIIW06:51–10:30
LK gibt einen Einsatz.
LK: Es ist sehr gut, das funktioniert gut, bei …
LK: Versuch immer, wenn du beginnst (s. Untertitel)
LK: OK, jetzt fangen…
S: … wegen dem Mundstück. (s. Untertitel)33
LK: Also jetzt staunst du vorher. (s. Untertitel)
Legende: GS = Geschlecht; LK = Lehrkraft; S = Schüler; W = Weiblich; M = Männlich; I = Unterstufe; II = Mittelstufe; III = Oberstufe; zu den Sozialformen s. Fußnote 15, S. 18.
3.3 Der bewusste Umgang mit der Beschreibung und Bewertung von Musikunterricht im Prozess von Beobachtung und Reflexion
Wählen Sie aus der oben dargestellten Übersicht einen der Videoausschnitte aus und betrachten Sie diesen sorgfältig, um ihn dann ausführlich zu beschreiben. Stellen Sie sich dabei vor, Sie würden wie das Objektiv einer Videokamera unvoreingenommen schauen. Überprüfen Sie danach Ihren Text auf mögliche Einschätzungen und Bewertungen hin und formulieren Sie diese Stellen in nicht wertende Beschreibungen um.
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In einem nächsten Schritt stellen Sie sich vor, Sie hätten als Fachkraft für Musikpädagogik die Aufgabe, ein Gutachten für eine Kommission anzufertigen. Die in der Videodokumentation unterrichtende KollegIn sei für eine pädagogische Auszeichnung vorgeschlagen worden und man wolle die Bewertung mit einer externen Expertise abstützen. Wenn Sie nun also zu konkreten Einschätzungen und Beurteilungen aufgefordert sind, begründen Sie diese mit Hilfe Ihrer Beobachtungen und Überzeugungen. Formulieren Sie stets so, dass die Beurteilte daraus einen Nutzen in Form von Erkenntnisgewinn hätte.
33 Die Videos 10 und 11 haben Untertitel zur Unterstützung der Verständlichkeit.
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4. Didaktischer Analyse-Leitfaden
4.1 Grundsätzliche Überlegungen
Ziel der Sehschule war es, unser Bewusstsein für Zusammenhänge bei der Wahrnehmung und Einschätzung von beobachteten Unterrichtsverläufen zu schärfen und die Bedeutung einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen Beschreibung und Bewertung darzulegen. Mit den 22 Aspekten des Musikunterrichts mit Instrument und Stimme soll nun ein multifunktionaler Didaktischer Analyse-Leitfaden für die Beobachtung, Beschreibung, Reflexion, Diskussion, Bewertung, Vorbereitung, Planung und Imagination von Instrumental- und Gesangsunterricht vorgestellt werden.
Die Auswahl und Ordnung der 22 Aspekte basieren auf den neun (in unserem Fall sieben) W-Fragen der Didaktik34 und einem Strukturmodell des Unterrichts.35 Sie orientieren sich des Weiteren an Texten zur Beobachtung und Bewertung sowie zur Qualität von Unterricht bzw. Instrumentalunterricht.36, 37, 38 Außerdem sind sie Ausdruck meines instrumentalpädagogischen Praxiswissens.
Die Aufgaben zur Beobachtung (Abschnitt 4.4) sowie die Fragen zur Unterrichtsreflexion (Abschnitt 4.5) habe ich jeweils zu den 22 Aspekten formuliert. Erstere dienen der Beobachtung und Beschreibung des Unterrichts. Die Fragen zur Unterrichtsreflexion sind so formuliert, dass sich durch sie Wertmaßstäbe anbieten, denen meine Pädagogischen Grundüberzeugungen zugrunde liegen (vgl. S. 95f.). Durch sie sollen vertieftes Nachdenken und Diskutieren über die Qualität des Unterrichts angeregt werden.
Häufig verwende ich dabei den Begriff Angemessenheit. Ich meine damit, dass für die Frage nach der Qualität des Unterrichts die Stimmigkeit der Anwendung der einzelnen Aspekte (z. B. Unterrichtssozialform) gleichermaßen auf die SchülerInnen, die LehrerInnen und die konkrete Situation hin betrachtet und eingeschätzt werden soll. Mein Anliegen ist es, eine positive Routine der Wahrnehmungsvertiefung, der Reflexion und des Erkenntnisgewinns über das eigene Handeln und die eigenen pädagogischen Überzeugungen zu ermöglichen.
Eine permanente Herausforderung für alle Instrumental- und GesangslehrerInnen ist es, eine produktive Balance zwischen einer selbstbewussten pädagogischen Grundhaltung und der Offen-
36 Meyer, Hilbert: Was ist guter Unterricht? Berlin: Cornelsen 102014, S. 23ff.
37Ernst, Anselm: Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht. Ein pädagogisches Handbuch für die Praxis. Mainz: Schott 1991, S. 209ff.
38 Barbara Busch hat einen höchst praktikablen Leitfaden v. a. für Studierende der Instrumental- und Gesangspädagogik zusammengestellt, um diesen den gewinnbringenden Einstieg in die Praxis der Hospitation zu ermöglichen. Vgl. Busch, Barbara: Was soll mir das eigentlich bringen? Anregungen für die Beobachtung (und Bewertung) von Instrumentalunterricht. In: Busch, Barbara (Hrsg.): Einfach musizieren!? Studientexte zur Instrumentalpädagogik. Augsburg: Wißner 2008, S. 95–106.
heit für andere Überzeugungen, für Neues und für Veränderungen zu entwickeln.39 Die Herausforderung besteht darin, einerseits mit großer Klarheit, flexibel und auf hohem Niveau, begeistert und begeisternd künstlerischen Unterricht zu gestalten und dann wieder offen zu sein, unsere Arbeit und uns selbst wertschätzend und kritisch zu hinterfragen, um uns dadurch weiterzuentwickeln. Dazu brauchen wir immer wieder Mut und Kraft zu klaren Positionen. Lehren und Lernen im Unterricht ist (zum Glück) vielfältig, komplex und von vielerlei Faktoren abhängig.40, 41 Lebenslanges Lehren und Lernen ist eine Chance, die sich uns Instrumental- und GesangspädagogInnen in besonderem Maße bietet.42
Wenn Ihnen der Didaktische Analyse-Leitfaden Anregung, Orientierung und wegleitende Hilfe sein kann, kontinuierlich, zielgerichtet und strukturiert über Unterricht nachzudenken und zu sprechen, hat er seine Aufgabe gut erfüllt.
39 Vergleiche auch Abb. 1, Werte- und Entwicklungsquadrat für LehrerInnen, und Abb. 2, Zwei Schwestertugenden in Balance, S. 13 bzw. 14.
40 „Didaktische Kompetenz besteht aus der Fähigkeit, Unterricht kritisch zu reflektieren und ihn zielorientiert und kreativ […] zu gestalten.“ Jank, Werner; Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle. Berlin: Cornelsen 52002, S. 160.
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41 „Eine beliebige Unterrichtssituation eröffnet immer eine Vielzahl von Wegen des Fortschreitens. Dieser Pluralität von Wegen muss sich der Lehrende stets bewusst sein, um in der jeweiligen Situation denjenigen zu wählen, der in Abwägung der momentanen Aufnahmefähigkeit des Schülers, der eigenen Motivation und der allgemeinen Unterrichtsatmosphäre der Beste ist. Somit ist eine sinnvolle Arbeit an einzelnen Stücken nie nur ein Verfolgen vorher feststehender Ziele, sondern immer auch ein Begehen von ‚Umwegen‘. Das souveräne Navigieren mit jederzeit möglichen Kurswechseln ist die eigentliche Kunst umfassender Unterrichtspraxis. Instrumentalunterricht, verstanden nicht als das Abschreiten eines vorher festgelegten Weges, sondern als ein Feld von Möglichkeiten, fordert jeden Instrumentalpädagogen heraus, jenseits von standardisierten didaktischen Handlungsplänen persönliche Verantwortung für das Unterrichtsgeschehen zu übernehmen. Die Bereitschaft, ständig hinzuzulernen und Unvorhersehbarkeit nicht als Bedrohung, sondern als positive Herausforderung anzusehen, ist dafür unabdingbar. So wichtig wie das Stärken der Selbstständigkeit des Schülers in Bezug auf sein Lernen ist das Einüben von Flexibilität des Lehrers in Bezug auf das Lehren. Dass Musizieren mehr als ein Handwerk, nämlich eine Kunst ist, muss sich in der Art des Unterrichtens widerspiegeln.“ Doerne, Andreas: Umfassend Musizieren. Grundlagen einer Integralen Instrumentalpädagogik. Wiesbaden: Breitkopf und Härtel 2010, S. 127–128.
42 „Wenn Lernwege individuell sind, dann müssen es auch die Wege des Lehrens sein. Instrumental- und Vokalpädagogen benötigen dann eine Methodenlehre, die ihnen keine starren Anweisungen vorgibt, sondern ihnen ein breites Repertoire methodischer Möglichkeiten vermittelt, ihre methodische Beobachtungs- und Reflexionsfähigkeit entwickelt und vor allem ihre methodische Fantasie weckt. Und was für das Unterrichten gilt, trifft auch für die Vermittlung solcher Fähigkeiten zu. Eine gute Methodenlehre ist bestrebt, dass Lehrende ihre eigenen methodischen Wege finden.“ Mahlert, Ulrich: Wege zum Musizieren. Methoden im Instrumental- und Vokalunterricht. Mainz: Schott 2011, S. 7.
4.2 Zur Nutzung des Didaktischen Analyse-Leitfadens
Der Didaktische Analyse-Leitfaden soll die Komplexität von Unterricht durchschaubarer machen und Zusammenhänge ordnen und klären helfen. Er soll Ihr Hilfsmittel und Werkzeug zum Arbeiten sein, das Sie sich zu eigen machen und Ihren Bedürfnissen anpassen. Bei der kollegialen Zusammenarbeit im Teamteaching, bei einer kollegialen Hospitation und beim Kollegialen Unterrichtscoaching kann der Didaktische Analyse-Leitfaden dafür genutzt werden, sich auf diejenigen Aspekte zu verständigen, die im Meinungsaustausch des fachlichen Gesprächs im Fokus stehen sollen. Erweitern und entwickeln Sie die im Folgenden vorgestellten Aspekte daher nach eigenem Ermessen. Nutzen Sie ihn zum Überprüfen Ihrer Unterrichtsbetrachtungen, -planungen und -handlungen auf Vollständigkeit. Haben Sie die für Sie wesentlichen Aspekte berücksichtigt? Je nach Ihren individuellen Zielsetzungen kann es manchmal auch sinnvoll sein, Unterricht nur im Hinblick auf einzelne oder einige wenige ausgewählte Kriterien zu betrachten.
Ebenso können Sie den Didaktischen Analyse-Leitfaden aber auch im Ganzen nutzen, indem Sie
• die Beobachtungsaufgaben an den elf Videodokumentationen, an Ausschnitten daraus, an eigenem Unterricht oder an beobachtetem Unterricht bearbeiten,
• die Reflexionsaufgaben an demselben Material bearbeiten,
• die didaktischen Kommentare kritisch hinterfragen,
• Ihr eigenes instrumentaldidaktisches Modell entwickeln und sich dabei Ihr Pädagogisches Selbstkonzept43 und Ihr Berufliches Leitbild bewusst machen.44, 45, 46, 47
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43 Vgl. Bäuerle-Uhlig, Dietlind: Professionalisierung in der Instrumentalpädagogik. Essen: Verlag Die Blaue Eule 2003, S. 218–242.
44 Vgl. Schultz von Thun, Friedemann: Miteinander reden 2 Störungen und Klärungen. Allgemeine Psychologie der Kommunikation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 212002, S. 187–198.
46 Vgl. auch das Berufsleitbild des Schweizer Lehrerverbandes (LCH-Berufsleitbild/LCH-Standesregeln) https://www. lch.ch/fileadmin/files/documents/Verlag_LCH/LCH-Berufsleitbild_Standesregeln.pdf (letzter Zugriff: 21.03.2017).
47 Vgl. „Nachträgliches Lautes Denken“, ein videobasiertes Verfahren aus der Supervision zur Erfassung des Persönlichen Selbstkonzepts. In der Variante 2 des Verfahrens sucht die Lehrerin kurze Abschnitte ihres videografierten Unterrichts aus und spricht laut aus, was sie in der konkreten Unterrichtssituation gedacht hat. Diese Gedanken werden notiert und in der Gruppe ausgewertet. In: Pallasch, Waldemar (Hrsg.): Kölln, Detlef; Reimers, Heino; Rottmann, Cornelia: Das Kieler Supervisionsmodell Pädagogisches Training. Weinheim: Beltz Juventa 2001, S. 184–189.
Leseprobe
Didaktische Frage
1 Wer lernt?
2 Was wird gelernt?
Fokussierte(r)
Unterrichtsaspekt(e)
1 SchülerInnen
2 LehrerIn
3 Musik
4a 4b Instrumentalspiel/ Gesang
5 Üben
6 andere Lernfelder
3 Mit wem wird gelernt? 7 Unterrichtssozialform(en)
4 Wo wird gelernt? 8 Raum
Methoden
Unterrichtsaufbau/ Phasierung
4.4 Übersicht: Beobachtungsaufgaben
Beobachtungsaufgabe
Beschreiben Sie die SchülerInnen in ihren äußeren Merkmalen und Charaktereigenschaften und ihrem Verhalten.
Beschreiben Sie die LehrerIn in ihren äußeren Merkmalen und Charaktereigenschaften und ihrem Verhalten.
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Welche Musik wird interpretiert, improvisiert, komponiert, geübt, gehört, imaginiert oder besprochen?
Beschreiben Sie das Instrumentalspiel bzw. den Gesang.
Beschreiben Sie das Üben im Unterricht.
Beschreiben Sie weitere Lehr- und Lerninhalte des Unterrichts, z. B. Interpretation.
Wie viele SchülerInnen nehmen am Unterricht teil und auf welche Art und Weise interagieren sie miteinander?
Beschreiben Sie die Unterrichtsumgebung. 5 Wie wird gelernt?
Beschreiben Sie die Methoden, mit denen im Unterricht gelehrt und gelernt wird.
Beschreiben Sie die einzelnen Phasen des Unterrichts.
11 RhythmisierungBeschreiben Sie die Wechsel der Unterrichtsphasen. 12 Zentrierung
13 Anleitungsstil
Wer ist auf welche Art und Weise am Unterricht beteiligt?
Beschreiben Sie die Anleitungen der LehrerIn an die SchülerInnen. Achten Sie auf verbale und nonverbale Formen.
Beschreiben Sie die Art und Weise, in der die LehrerIn und die SchülerInnen einander Rückmeldungen geben. Achten Sie auf verbale und nonverbale Äußerungen. 15 Atmosphäre
Beschreiben Sie, wie die LehrerIn und die SchülerInnen verbal und nonverbal miteinander kommunizieren. Achten Sie auf den Umgang mit Nähe und Distanz sowie auf Blickkontakte, Raumnutzung, Begrüßung und Verabschiedung.
Didaktische Frage
Fokussierte(r)
Unterrichtsaspekt(e)
16 Beziehungen
5 Wie wird gelernt?
6 Womit wird gelernt?
7 Wozu wird gelernt?
17
Unterrichtsvorbereitung
18 Unterrichtsplanung
19 Literatur
20 Materialien und Hilfsmittel
21 Medien
22 Ziele
Didaktische Frage 1 – Wer lernt?
Unterrichtsaspekt 1 SchülerInnen
Fragen zur Reflexion des Unterrichts
Beobachtungsaufgabe
Beschreiben Sie die Art und Weise, in der die LehrerIn und die SchülerInnen miteinander kommunizieren und interagieren.
Beschreiben Sie, inwieweit die Personen mit den Inhalten und Methoden vertraut sind. Auf welche Beobachtungen stützen Sie Ihre Einschätzung?
Beschreiben Sie, inwieweit auf Vorangegangenes bzw. Zukünftiges eingegangen wird.
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Welche Literatur wird im Unterricht eingesetzt?
Welche Materialien und Hilfsmittel werden wie im Unterricht eingesetzt?
Welche Medien werden wie im Unterricht eingesetzt?
Auf welche Ergebnisse zielen die Lehr- und Lernprozesse des Unterrichts ab? Begründen Sie Ihre Einschätzung anhand Ihrer Beobachtungen. 4.5 Reflexionsaufgaben in 23 Tafeln48
Didaktische Frage 1 – Wer lernt?
Tafel 1
Verfolgen SchülerInnen und LehrerIn gemeinsame Ziele? Erschaffen die SchülerInnen sich ihre eigenen Lerninhalte?
Didaktischer Kommentar Lernen kann jeder Mensch nur selbst, es kann nicht erzwungen werden. Deshalb ist es notwendig, dass alle am Unterricht beteiligten Personen gute Bedingungen vorfinden und die Bereitschaft zum Lernen haben. Im Idealfall gestalten die LehrerIn und die SchülerInnen den Unterricht so, dass die SchülerInnen ihre individuellen Lerninhalte finden können.
Aufgaben
Beschreiben Sie das Lernen der SchülerInnen im Unterricht. Erklären Sie ebenso, woran Sie jeweils erkennen, dass gelernt wird. Ordnen Sie dieses Lernen gemäß Ihren pädagogischen Überzeugungen und im Hinblick auf die Entwicklung der Lernenden ein.
48 Die Tafeln stehen auch als Download auf www.breitkopf.com zur Verfügung. Auf Karton ausgedruckt oder aufgeklebt und ausgeschnitten, stellen sie ein hilfreiches Arbeitsmittel für die Praxis dar.
Didaktische Frage 1 – Wer lernt?
Unterrichtsaspekt 2 LehrerIn
Frage zur Reflexion des Unterrichts Ist der Unterricht dem Entwicklungsstand der SchülerInnen angemessen?
Tafel 2
Didaktischer Kommentar Die Frage nach dem Wann des Lernens ist hier auf den körperlichen und geistigen Entwicklungsstand der Lernenden bezogen. Hier spielt sowohl die individuelle Reife als auch das bereits erworbene Können und Wissen eine Rolle.
Aufgaben Sind die Ziele, Inhalte und Methoden den SchülerInnen angemessen? Ist das Lernen der LehrerIn über den individuellen Entwicklungsstand der SchülerInnen im Unterricht erkennbar? Überlegen Sie, inwieweit menschliche Entwicklung und Reifung einen lebenslangen Prozess darstellt und welche Konsequenzen dies für den Unterricht hat.49, 50
Didaktische Frage 2 – Was wird gelernt?
Unterrichtsaspekt 3 Musik
Fragen zur Reflexion des Unterrichts
Didaktische Frage 2 – Was wird gelernt?
Tafel 3
Sind die Inhalte durch die LehrerIn fachlich korrekt vermittelt worden?
In welchem Maß scheint die LehrerIn mit der Musik vertraut bzw. hat sie diese selbst musiziert, erforscht und in ihrer Substanz durchdrungen?
Didaktischer Kommentar Fachliche Korrektheit ist ein Qualitätsmerkmal für Unterricht.51 Gerade die unmittelbare persönliche Begegnung und Auseinandersetzung mit der Musik trägt ein großes Potenzial für eine musikbezogene Vermittlung in sich. Die persönliche Erfahrung mit einem Werk ermöglicht ein besseres Einfühlen in die Lernprozesse der SchülerInnen. Wer von der Musik selbst begeistert ist und sie gut kennt, kann im Unterricht authentisch und vorbildlich sein. Auch wenn SchülerInnen diese Begeisterung letztendlich nicht teilen sollten, so können sie doch die Musik selbst sowie ihre Auseinandersetzung mit ihr und ihre Haltung dazu sehr gut kennenlernen.52
Aufgabe
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Machen Sie sich selbst, möglicherweise zusammen mit KollegInnen, mit der Musik des beobachteten Unterrichts vertraut.
49 „Wir haben auch dargestellt, dass ein Teil des erfolgreichen Alterns darin besteht, selektive Optimierung mit Kompensation einzusetzen […]. Wie Sie sich vielleicht erinnern, ist mit selektiv gemeint, dass Menschen für sich selbst die angemessensten Ziele finden.“ Zimbardo, Philip G.; Gerrig, Richard J.: Psychologie. Eine Einführung. München: Pearson Studium 162004, S. 498.
50 Vgl. Spiekermann, Reinhild: Erwachsene im Instrumentalunterricht. Didaktische Impulse für ein Lernen in der Lebensspanne. Mainz: Schott 2009, S. 51–74.
52 „Anleitung zur didaktischen Analyse“. In: Röbke, Peter: Vom Handwerk zur Kunst. Didaktische Grundlagen des Instrumentalunterrichts. Mainz: Schott 2000, S. 86–90.
Didaktische Frage 2 – Was wird gelernt?
Unterrichtsaspekt 4a
Frage zur Reflexion des Unterrichts
Didaktischer Kommentar
Aufgaben
Tafel 4
Instrumentalspiel/Gesang
Ist das Instrumentalspiel/der Gesang der LehrerIn dazu geeignet, die Lehr- und Lernprozesse zu fördern?
Gemeinsames Musizieren und Vor- und Nachspielen sind wesentliche Bestandteile des Instrumental- und Gesangsunterrichts und sind grundsätzlich wünschenswert. Überlegen Sie, inwieweit die Musizierbeispiele so gewählt und gestaltet sind, dass sie unmittelbar oder zu einem späteren Zeitpunkt einen Anreiz zum selbsttätigen Lernen bieten. Ebenso sollen das gemeinsame Musizieren und Üben und die Rollenverteilung dabei betrachtet werden.
Stellen Sie sich während Ihrer Unterrichtsplanung die Frage, welche Musik Sie im Unterricht mit welchem Ziel musizieren möchten. Überprüfen Sie später, ob der Unterricht diesen Zielsetzungen entsprechen konnte. Überlegen Sie auch, ob die formulierten Ziele umfassend sind und Ihren jeweiligen SchülerInnen aktuell gerecht werden.
Didaktische Frage 2 – Was wird gelernt?
Unterrichtsaspekt 4b Instrumentalspiel/Gesang
Frage zur Reflexion des Unterrichts
Tafel 5
Inwieweit werden Musizieren-Lernen und Instrumentalspiel-Lernen/Singen-Lernen sinnvoll aufeinander bezogen und verknüpft?
Didaktischer Kommentar In den meisten Lehr- und Lernsituationen unterstützt die Beachtung von musikalischen Gestaltungszusammenhängen auch das Instrumentalspiel-Lernen. Lernsequenzen zur Verbesserung der Spieltechnik, die bewusst ohne Bezug zur Musik angeleitet werden, sollten sehr transparent sowie zeitlich und inhaltlich klar begrenzt gelehrt und gelernt werden.53 Alles Üben und Musizieren sollte mit einer Haltung des Kommunizierens bzw. Ausdruckswillens verbunden sein.
Aufgaben
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Beobachten und erforschen Sie sich selbst und Ihre SchülerInnen im Hinblick auf Ihr eigenes und deren Instrumentalspiel-Lernen. Welche Formen musikalischen Ausdrucks und Gestaltens beim Üben unterstützen die Lernprozesse und -ergebnisse? Wann hilft es ihnen, Spieltechnik/Gesangstechnik ohne die Komponente musikalischer Gestaltungszusammenhänge zu üben?
53 „Es gehört zu den wichtigen Aufgaben der Methodik- bzw. Fachdidaktik-Ausbildung an Musikhochschulen, die jeweiligen Handlungsanweisungen zeitlich zu begrenzen, damit von Seiten der Schüler nicht automatisch eine ‚lebenslange‘ Gültigkeit angenommen wird.“ Hildebrandt, Horst: Musikstudium und Gesundheit. Aufbau und Wirksamkeit eines präventiven Lehrangebots. Bern: Verlag Peter Lang 2002, S. 56–57.
Didaktische Frage 2 – Was wird gelernt?
Unterrichtsaspekt 5 Üben
Frage zur Reflexion des Unterrichts Wird umfassend54 und strukturiert geübt?
Tafel 6
Didaktischer Kommentar Die SchülerInnen sollen bereits beim Üben im Unterricht etwas lernen. Das Üben soll erlebt und reflektiert werden; es soll zu einem Ausgangspunkt musikalischen Lernens außerhalb des Unterrichts werden. Im Unterricht muss es Gelegenheiten der Anknüpfung an das informelle musikalische Lernen, also außerhalb des Unterrichts, der SchülerInnen geben. Genauso wie das Musizieren durch Musizieren gelernt wird, wird auch das Üben durch Üben gelernt.55 Einerseits ist es wichtig, den Unterricht so zu gestalten, dass die SchülerInnen ihre Handlungsziele kennenlernen, entdecken, entfalten und entwickeln. Andererseits sollen sie aber auch lernen, Fähigkeiten (musikalische Ausdrucksfähigkeit, Lernstrategien etc.), Fertigkeiten (Spieltechnik, Lernwerkzeuge wie z. B. eine Rhythmussprache) und Wissen (Musik und Instrumentalspiel, Lernphysiologie und -psychologie, etc.) für sich zu erschließen und selbsttätig übend einzusetzen, weiterzuentwickeln und aufeinander zu beziehen. Idealerweise wird dabei der ganze Mensch mit seinen Gefühlen, seinem Körper, seinem Verstand und allen Sinnen einbezogen. Aber auch ein Üben mit bewusst auf Teilaspekte gelenkter Aufmerksamkeit sollte so praktiziert werden.56
Aufgaben
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Vereinfacht kann also gesagt werden, die SchülerInnen sollen die Chance erhalten, üben zu wollen und üben zu können.
Wodurch unterscheidet sich Ihr eigenes Üben von dem Ihrer SchülerInnen? Welche dieser Unterschiede können Sie und Ihre SchülerInnen für sich nutzbar machen? Wie haben Sie selbst so zu üben gelernt, wie Sie es heute tun?
54 „Im Folgenden stelle ich die von mir [A. Doerne, PK] als wichtig erachteten Ziele eines umfassenden Instrumentalunterrichts, bei denen Ergebnis- und Prozess- sowie Lern- und Bildungsaspekte gleichermaßen vorkommen, überblicksartig dar. Es sind dies: Vernetzung, Persönlichkeit, Selbstständigkeit, Intensität, Hörendes Spiel, Integration, Kopplung von Wissen und Erfahrung, Offenheit für Fremdes, ‚Sprachgewandtheit‘, kommunikative Fähigkeiten, Multiperspektivität.“ Doerne, Andreas: Umfassend Musizieren. Grundlagen einer Integralen Instrumentalpädagogik. Wiesbaden: Breitkopf & Härtel 2010, S. 116.
56 „Denken, Fühlen und Handeln eines Menschen entwickeln sich in dialektischer Verschränkung.“ Jank, Werner; Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle. Berlin: Cornelsen 52002, S. 194–196.
57 „Stimmigkeit und Folgerichtigkeit sind allgemeine Gütekriterien des Unterrichts.“ Ebd., S. 92.
5. Kollegiale Kooperation –
Wege der Reflexionsarbeit
2
5.1
Videobasierte Lehre an der Hochschule für Musik FHNW
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Ein Erfahrungsbericht von Peter-Christian Miest
Die im Folgenden dargestellten Erfahrungen zum Einbezug von Videos in den Hochschulunterricht liegen zeitlich weit auseinander: Zu Beginn der Siebzigerjahre hatte ich in meiner Ausbildung zum klinischen Psychologen und Psychotherapeuten die ersten videografierten Arzt-Patienten-Gespräche im Bereich der Psychosomatik kennengelernt. Sie waren ein hervorragendes Mittel für mein eigenes Lernen der psychotherapeutischen Technik und ich nutzte sie anschließend auch als Datenmaterial in einer Forschungsarbeit über die computergestützte Inhaltsanalyse psychotherapeutischer Gespräche. Seit einigen Jahren nun verwende ich das Videomaterial des Forschungsprojekts Einblicke – Perspektiven in meinem Unterricht an der Hochschule für Musik FHNW, und zwar in zwei unterschiedlichen Unterrichtsformaten: einerseits im Theorie-Gruppenunterricht im Fach Pädagogische und psychologische Grundlagen mit jeweils ca. 25 Studierenden des Masterstudiengangs Musikpädagogik; andererseits in Block-Kursen zum Thema Kommunikation mit jeweils ca. acht Studierenden des Bachelor-Studiengangs.
Aufgrund meiner beruflichen Herkunft und meines Unterrichtsfaches gehe ich bei der Analyse der Videos vor allem auf psychologische Phänomene ein. Gemeint sind im Wesentlichen Kommunikationsvorgänge und die sich dadurch ergebende Beziehungsgestaltung. Instrumentaldidaktische und andere musikalische Elemente bleiben im Hintergrund. Selbstverständlich bedaure ich oft den Mangel an eigenen musikalischen Fachkompetenzen, manchmal aber erzeugt gerade dieser Mangel eine kreative Werkstatt-Atmosphäre, in der die verschiedenen Mit-Arbeiter einander mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen ergänzen. Es ist schon eine Erfahrung der besonderen Art, als Dozent im Hörsaal einer Hochschule für Musik die einzige anwesende Person zu sein, die einen musikalischen Sachverhalt falsch benennt oder gar nicht kennt.
Psychotherapeuten machen tagtäglich die Erfahrung, sich in ihrer Arbeit auf komplexe Beziehungsprozesse einzulassen, die zu schwer aushaltbaren und dysfunktionalen Verstrickungen geraten können. Diese Prozesse sind regelmäßig und völlig selbstverständlich mit der lege artis durchgeführten psychotherapeutischen Tätigkeit verbunden und stellen also an sich keinen Hinweis auf Kunstfehler dar. Diese wären erst dann zu vermuten, wenn der involvierte Psychotherapeut es unterließe, seine Arbeit kontinuierlich der kollegialen Reflexion zur Verfügung zu stellen. Die Begriffe Supervision und Intervision haben sich für die hierfür entwickelten spezifischen Settings eingebür-
gert, wobei in der Supervision die Rolle der Supervisorin und die der Therapeutin dauerhaft von den gleichen Personen besetzt werden (z. B. in der Ausbildung: erfahrene Supervisorin, lernender Therapeut), in der Intervision hingegen von Sitzung zu Sitzung abwechselnd eine Therapeutin ihre Arbeit den anderen, ebenso erfahrenen KollegInnen vorstellt. Jeder Berufskollege kennt eindrückliche Beispiele von scheinbar unlösbaren Knoten, die durch supervisorische oder intervisorische Arbeit gelockert werden konnten. Für Psychotherapeuten ist es heute eine so selbstverständliche professionelle Verpflichtung, ihre eigene Arbeit kontinuierlich der kollegialen Reflexion und „Visionierung“ zu unterziehen, dass diese sich als legale Anforderung fast überall in der Gesetzgebung niedergeschlagen hat.
Wenn ich in meinem Unterricht mit den Studierenden über Beziehungsaspekte zwischen ihnen und ihren MusikschülerInnen spreche, dann liegt diesen Gesprächen die aus den oben dargestellten Erfahrungen gebildete Überzeugung zugrunde, dass
1. eine gemeinsame Aufgabe eine komplexe Beziehung zwischen den Beteiligten erzeugt, dass
2. in dieser Beziehung dysfunktionale Elemente entstehen können und dass
3. durch kollegiale Reflexion die gemeinsame Erfüllung der Aufgabe erleichtert oder dort, wo sie ins Stocken geraten war, wieder in Gang gebracht werden kann.
Im Unterricht trainieren wir zunächst die Beobachtung. Wir sitzen im Halbkreis vor der Leinwand oder vor einer Wand, die sich als Projektionsfläche eignet. Ich spiele über einen Beamer relativ kurze Sequenzen von ca. zwei bis drei Minuten Dauer ab und stelle jeweils eine der folgenden Beobachtungsaufgaben:
1. Wie adressieren sich die Beteiligten aneinander?
Hier soll eine sorgfältige, objektivierbare Beobachtung der Sprech- und Handlungsakte geübt werden. Wir arbeiten an diesen Fragen:
• Wer nimmt wann und wie die Aktivität auf?
• Wird fragend/auffordernd/bewertend/kritisierend/lobend/um Hilfe bittend gesprochen?
• Wie verteilen sich Aktivität und Passivität auf die Beteiligten?
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Beispiel einer Videoanalyse (Ausschnitt)
[Wir schauen uns den Violinunterricht von Dario bei Frau Henzel an (s. Video 4). Nachdem der Schüler das daheim geübte Stück vorgespielt hat, steht die Lehrerin auf, geht zum CD-Player und sagt während des Gehens: „Okay, die Aufnahme war ein bisschen zu laut eingestellt jetzt, oder?“]
Ein Studierender A weist darauf hin, dass Frau Henzel sich eigentlich an das Abspielgerät adressiert, an Dario sei eigentlich nur das kurze „Okay“ gerichtet.
Seine Kollegin B erwidert: „Aber Frau Henzel lächelt doch zu dem ‚Okay‘ Dario kurz an!“ Wir lassen das Video zurücklaufen und überprüfen beide Aussagen.
A: „Stimmt! Das Lächeln hatte ich nicht bemerkt.“
2. Summieren sich Sprech- und Handlungsakte zu Interaktionsmustern?
Hier versuchen wir, Muster in der Kommunikation zu erkennen. Wiederkehrende Interaktionssequenzen können auf Beziehungskonstellationen hindeuten. Manchmal kann man Diskurse erkennen, also sprachlich kodierte Rollen- oder Machtverteilungen.
Wir schauen Ausschnitte von ca. einer Minute Dauer an, die über die Gesamtdauer eines Videos zufällig verteilt sind. Die Position auf der Zeitachse wird automatisch eingeblendet, sodass die Studierenden wissen, welcher zeitliche Ausschnitt gerade abgespielt wird.
Beispiel einer Videoanalyse (Ausschnitt)
[Wir schauen uns den Ensembleunterricht von Herrn Greis an (s. Video 8).]
Ich spiele fünf zufällig gewählte Sequenzen ab.
Studierende C: (lacht) „Boah, der Lehrer ist die ganze Zeit so aktiv.“
Studierender D: (leise) „… Und die jungen Frauen so passiv …“
Studierende E: „Das bleibt eigentlich so.“
3. Wie wird der zur Verfügung stehende Raum genutzt?
Hier beobachten wir die Proxemik, d. h. das Nähe- und Distanzverhalten der Beteiligten. Wir versuchen, uns den Unterrichtsraum in seinen Abmessungen und sonstigen architektonischen Gegebenheiten vorzustellen, was wegen der optischen Verzerrung durch das Kameraobjektiv oft recht schwierig ist. Manchmal bauen wir hierzu den Raum schnell improvisierend mit Stühlen und Tischen nach, um uns einen besseren Eindruck der Abstände zu verschaffen.
Beispiel einer Videoanalyse (Ausschnitt)
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[Wir schauen uns den Violinunterricht von Dario bei Frau Henzel an (s. Video 4). Eine am Boden stehende Tasche begrenzt den Raum, sodass die Lehrerin die Tasche häufig fast berührt. Einmal steigt sie über die Tasche, um zum CD-Player zu gelangen. Als beide über die Beschaffung eines Notenbuchs sprechen, hält Frau Henzel beide Hände an ihre Wangen. Die Unterarme verdecken dadurch ihren Oberkörper. Sie sagt zu Dario: „Wart’, ich stell mal den Notenständer weg, dann steht er nicht im Weg, und wir haben viel Platz. (Sie zeigt mit dem Arm hinter Dario) Geh’ mal noch ‘n Stück rüber, dann hab ich mehr Platz und du auch!“]
Studierender F: „Jetzt ist endlich genug Platz!“
Studierende G: „Sie hat sich vorher richtig mit den Händen und Armen geschützt, da standen die beiden vielleicht zu nah voreinander.“
Studierende H: „Souverän, wie sie Dario da ganz einfach weiter wegschickt. Mit einer ganz kurzen Armbewegung!“
5.2 Kommentargestützte Videoreflexion im künstlerischen Einzelunterricht
Von Marianne Heiden
Immer wieder entscheiden sich junge Musikerinnen und Musiker dazu, ihre Leidenschaft zum Beruf zu machen und Gesang bzw. „ihr“ Instrument an einer Musikhochschule zu studieren. Der Hauptgrund, ein künstlerisches Studium an einer Musikhochschule zu absolvieren, ist der wöchentliche Einzelunterricht, den die Studierenden dort bei einem/r MeisterIn des instrumentalen oder vokalen Hauptfachs erhalten (Nerland 2007). Im Rahmen dieses Einzelunterrichts sollen die Studierenden nicht nur ihre bereits ausgereifte Spiel- bzw. Gesangstechnik perfektionieren, sondern auch ihre Kenntnisse über werkstimmige, musikalische Interpretation vertiefen und sich im Laufe des Studiums künstlerische Eigenständigkeit aufbauen (Burwell 2005). Die Erwartungen an den Einzelunterricht sind dementsprechend hoch (Burt, Mills 2006) und es gibt nach wie vor Bedarf, diese ressourcenintensive Lehr-Lern-Situation angesichts der vielfältigen (Ausbildungs-) Ziele didaktisch zu unterstützen (Koopman et al. 2007). Eine Methode, die hierfür entwickelt wurde, ist die kommentargestützte Videoreflexion des Hauptfachunterrichts durch Musikstudierende und -lehrende. Bei dieser nehmen Musikstudierende und ihre Lehrenden Videos aus dem Kontext des Einzelunterrichts zum Anlass, über Fragen des Musizierens aus einer Außenperspektive zu reflektieren und sich darüber anhand von Videokommentaren auszutauschen. Im Fokus der Methode stehen neben den Hauptfachlehrenden also auch die Lernenden. Welche Potenziale diese Methode im Kontext einer Musikhochschule bietet, wie sie didaktisch umgesetzt werden kann und wie sie an der Hochschule für Musik FHNW im Fachbereich Gesang genutzt wird, soll der folgende Beitrag zeigen.
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Potenziale
Zunächst bietet das Kommentieren von Videos im Gegensatz zu einer „paper and pencil-Reflexion“ folgenden Mehrwert:
• Situationsbezug: Lehrende und ihre Studierenden können sich anhand eines Videokommentars auf konkrete Situationen beziehen. Hierdurch wird die Kommunikation über die jeweilige Perspektive zur Situation deutlich vereinfacht.
• Selektion: Ein Kommentarwerkzeug regt dazu an, gezielt hoch relevante Szenen auszuwählen. So wird umfangreiches Videomaterial strukturiert und die ausgewählten Erkenntnisse werden für eine erneute Wiederholung „gesichert“.
Besonders für den künstlerischen Einzelunterricht zeichnen sich große Potenziale für den Einsatz einer kommentargestützten Videoreflexion ab. Sie resultieren aus seiner ausgeprägten Handlungsorientierung und der hohen Bedeutung einer differenzierten (Selbst-)Wahrnehmung bei angehenden und bei schon praktizierenden (Berufs-)MusikerInnen (Hallam 2001).
• Dokumentation und Nachbereitung: Anhand des Videos können Studierende auf Erläuterungen und Demonstrationen ihrer Lehrenden genauso wie auch auf eigene Lernerfolge dauerhaft zugreifen. Mit Videokommentaren können die Studierenden auf solche Szenen verweisen und diese gezielt wiederholen, z. B. vor dem Üben, um sich in ein bestimmtes Körpergefühl oder eine bestimmte Phrasierung erneut einzufühlen (Kamper 2014).
• (Selbst-)Wahrnehmung aus einer Außenperspektive: Musikstudierende profitieren von einer erkenntnisreichen (Selbst-)Reflexion aus der videogestützten Außenperspektive (Koch 2006; Schlosser 2007): Während sie sich beim Musizieren von außen beobachten, erkennen sie ggf. bisher unbewusste Stärken, Fortschritte, Verbesserungspotenziale und Problemursachen. Per Videokommentar können sie die wichtigsten Ergebnisse, die sie auf Basis dieser Analyse erzielt haben, festhalten. Das Aussprechen von Reflexionen fördert und fordert, dass Musikstudierende eigene Fragen bzw. Lernbedarfe formulieren, die nicht zuletzt für den kommenden Einzelunterricht relevant sind. Durch ein kontinuierliches (Selbst-)Beurteilen üben sie sich außerdem in einer für BerufsmusikerInnen zentralen (Lern-)Tätigkeit und erlangen so mehr Eigenständigkeit (Lebler 2007).
• Austausch: Schließlich sind Vorteile für die Interaktion zwischen Studierenden und Lehrenden zu erwarten, die sich aus dem Perspektivwechsel ergeben. Studierende nehmen sich im Video aus einer Außenperspektive wahr, die der ihrer Lehrenden ähnelt – so können sie das Feedback ihrer Lehrenden besser zuordnen und ggf. auch besser nachvollziehen (Snyder 2011). Lehrende, die den Reflexionsprozess ihrer Studierenden verfolgen, gewinnen ihrerseits einen Einblick darin, welchen Fokus diese wählen und welche Aspekte ihres Musizierens ihnen aus der Außensicht ohne zusätzliches Feedback bewusst werden und was (auch) hier „unter den Tisch fällt“. Beides, sowohl wichtige (Selbst-)Beobachtungen der Studierenden als auch verschiedene Perspektiven auf die kommentierten Szenen bieten einen Diskussionsanlass (vgl. hierzu auch Kapitel 3 dieses Buches).
Aufgrund dieser Potenziale scheint die Methode einer Videoreflexion in Kombination mit entsprechenden Kommentaren als Unterstützung der Erarbeitungs- und Entwicklungsprozesse im künstlerischen Einzelunterricht hilfreich.
Bei der didaktischen Anlage der Methode Videoreflexion sind grundsätzliche Dinge zu berücksichtigen, die im Folgenden kurz skizziert werden.
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Didaktische Anlage
Die Videoreflexion durchläuft einen Zyklus dreier verschiedener Phasen, eine Aufzeichnungs-, eine Reflexions- und schließlich eine Phase des Austauschs (s. Abb. 3 auf der nächsten Seite). Insbesondere in der Reflexionsphase sollten Studierende „auf sich gestellt sein“, d. h. ausschließlich entlang des Videos und mit Hilfe des Kommentarwerkzeugs arbeiten. Für den Austausch mit den Lehrenden ist die dritte Phase vorgesehen.
Abb. 3: Zyklus der Videoreflexion (Quelle aus eigener Darstellung)
Je nach Zielsetzung bzw. (Lern-)Bedarf der Studierenden sollten die Phasen verschieden ausgestaltet werden, wobei enge didaktische Vorgaben zu vermeiden sind. Wird allerdings der Zyklus über die Dauer eines Semesters mehrfach durchlaufen, so ist es zumindest ratsam, einzelne Parameter zu variieren, um den Erkenntniswert der Videos bzw. ihrer Reflexion zu erhöhen: Beispielsweise können verschiedene Kameraperspektiven angewandt oder verschiedene Formate des Einzelunterrichts videografiert werden, so z. B. Hauptfach-, Korrepetitionsunterricht oder Bühnenproben. Außerdem lassen sich verschiedene Reflexionsimpulse einbringen, sodass sich die Studierenden in den einzelnen Reflexionsphasen mit je neuen spieltechnischen oder interpretatorischen Themen beschäftigen.
An der Hochschule für Musik FHNW arbeiten Lehrende im Fach Gesang mit der kommentargestützten Videoreflexion.67 Im Rahmen einer Pilotphase kristallisierten sich zum einen spezifische didaktische Szenarien heraus, zum anderen wurden wichtige Voraussetzungen für eine Arbeit mit der Methode deutlich.
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Besonders hervorzuheben ist ein Team-Teaching-Szenario, das eine Hauptfach- und eine Stimmbildungslehrende im Fach Jazz-Gesang realisierten. Im Rahmen eines Semesters fertigten sie mit einer Studierenden im ersten Zyklus Aufnahmen von Bühnenproben an, im zweiten und dritten Zyklus Aufnahmen des Hauptfach- und Stimmbildungsunterrichts. Das war einerseits mit dem Vorteil verbunden, dass die Reflexion sich auf verschiedene Unterrichtssituationen mit jeweils anderen inhaltlichen Schwerpunkten beziehen konnte. Zum anderen lagen der betreffenden Gesangsstudierenden durch die monatlichen Abstände der Aufnahmen Schlaglichter auf verschiedene Erar-
67 Sie nutzen „SWITCHcast Annotate“, ein Kommentarwerkzeug des Schweizer Hochschuldienstleisters SWITCH. Detailliertes hierzu findet sich unter http://help.switch.ch/cast/annotate/ (letzter Zugriff: 10.09.2017).
Videoreflexion an der Hochschule für Musik FHNW
beitungsphasen ihres Repertoires vor, sodass sie ihre Fortschritte aus verschiedenen Blickwinkeln erkennen und auswerten konnte.
In der Reflexionsphase arbeitete die Studierende mit dem Werkzeug eines freien Textkommentars. Sie strukturierte ihn nach Bewertungskriterien, die ihre Stimmbildungslehrende im Reflexionsimpuls angeregt hatte (Körperhaltung, Intonation, Klang der Stimme). In den Austauschphasen arbeiteten beide Gesangslehrenden sowohl mit schriftlichen, punktgenauen Videokommentaren als auch mit einer mündlichen Reflexion im Einzelunterricht. Was die Videokommentare anbelangt, so antworteten sie auf den Studierendenkommentar und merkten entweder weiteres Feedback an (Hauptfachlehrende) oder gaben zusätzliche Reflexionsimpulse (Stimmbildungslehrende, z. B. in der Art „Wie lässt sich ein wärmerer Klang erreichen?“).
Dieses Szenario, das die Videoreflexion mit einem Team-Teaching kombinierte, war mit einem deutlichen Mehrwert für die Studierende verbunden: Sie wurde sich insbesondere visueller Aspekte ihrer Darstellung bewusst (u. a. ihrer Körperhaltung) und konnte in Verbindung mit dem positiven Feedback ihrer Lehrenden für sich selbst eine positive Lern-Bilanz ziehen; aus Sicht der Lehrenden führte dies zu einer hohen Motivation der Studierenden. Abgesehen davon ist zu erwarten, dass die Studierende gelernt hat, wie mit der Methode einer Videoreflexion prinzipiell gearbeitet werden kann. Diese Kompetenz erscheint für ihr späteres Berufsleben sowohl als Künstlerin als auch als Musikpädagogin hilfreich.
Daneben war das Team-Teaching für die Lehrenden mit einem Nutzen verbunden: Sie profitierten wechselseitig davon, anhand ihrer Kommentare zu sehen, mit welchen Worten und Metaphern die jeweils andere Kollegin bestimmte gesangstechnische und interpretatorische Themen umschrieb.
Letztlich kann die Arbeit mit der Methode also neben einer studentischen Weiterentwicklung auch einen wertvollen Beitrag zur hochschuldidaktischen Professionalisierung leisten.
Bei allen beschriebenen Vorteilen setzt die Methode der kommentargestützten Videoreflexion jedoch einiges an Vorbereitungen voraus: Lehrende benötigen eine Einführung in die Bedienung von Videokameras sowie die Nutzung des Kommentarwerkzeugs, das in der Regel von einem Lernmanagementsystem68 angeboten wird. Darüber hinaus ist z. B. innerhalb eines solchen Lernmanagementsystems eine Materialsammlung anzulegen, in der u. a. Video-Tutorials zur Nutzung der Software, Beispiel-Takes für verschiedene Kameraperspektiven auf den Unterricht, Beispiel-Videokommentare sowie Informationen zur didaktischen Anlage vorzufinden sind, wie sie auch dieses Buch bereit hält.
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Entscheidend für einen dauerhaften Einsatz der Methode ist nicht zuletzt, dass die Lehrenden und Studierenden die Videoreflexion als ihr eigenes Werkzeug betrachten, das sie entsprechend ihrer Bedarfe einrichten. Die Methode der Videoreflexion sollte nicht als von außen gesteuerte (Qualitäts-)Kontrolle empfunden werden, sondern als ein Mittel, mit dem Studierende in ihrem musikalischen Entwicklungsprozess zusätzlich unterstützt werden können und anhand dessen Lehrende sich in einen fachdidaktischen Austausch mit weiteren KollegInnen begeben können.
68 „Ein Lernmanagementsystem bildet i. d. R. den technischen Kern einer komplexen, webbasierten E-Learning-Infrastruktur. Es handelt sich dabei um eine Software, die das Bereitstellen und die Nutzung von Lerninhalten unterstützt und Instrumente für das kooperative Arbeiten und eine Nutzerverwaltung bereitstellt.“ (https://www.e-tea ching.org (letzter Zugriff: 21.03.2017).
Literatur
Burt, Rosie; Mills, Janet: Taking the plunge: The hopes and fears of students as they begin music college. In: British Journal of Music Education Bd. 23, Nr. 1 (2006). Cambridge: Cambridge University Press, S. 51–73
Burwell, Kim: A degree of independence: teachers’ approaches to instrumental tuition in a university college. In: British Journal of Music Education Bd. 22, Nr. 3 (2005). Cambridge: Cambridge University Press, S. 199–215
Hallam, Susan: The development of metacognition in musicians: Implications for education. In: British Journal of Music Education, Bd. 18, Nr. 1 (2001). Cambridge: Cambridge University Press, S. 27–39
Kamper, Marianne: Videoreflexion im Musikstudium. Studierende nehmen ihren Einzelunterricht unter die Lupe. In: Zeitschrift für Hochschulentwicklung, Jg. 9 (2014), Nr. 4, S. 85–93. URL:
Koch, Matthias: Qualitätsverbesserung an Musikhochschulen. Entwicklung eines Evaluationsansatzes, empirische Anwendung und Ableitung von Handlungsempfehlungen. Wiesbaden: Deutscher Universitäts-Verlag 2006
Koopman, Constantijn; Smit, Nico; de Vugt, Adri; Deneer, Paul; den Ouden, Jeanett: Focus on practice-relationships between lessons on the primary instrument and individual practice in conservatoire education. In: Music Education Research, Bd. 9, Nr. 3 (2007). London: Taylor & Francis, S. 373–397
Lebler, Don: Student-as-master? Reflections on a learning innovation in popular music pedagogy. In: International Journal of Music Education, Bd. 25, Nr. 3 (2007). London: Sage Publishing, S. 205–221
Nerland, Monika: One-to-one teaching as cultural practice: two case studies from an academy of music. In: Music Education Research, Bd. 9, Nr. 3 (2007). Reston: The National Association for Music Education, S. 399–416
Schlosser, Milton: Minding the music: Neuroscience, video recording, and the pianist. In: International Journal of Music Education, Bd. 29; Nr. 4 (2011). London: Sage Publishing, pp. 347–358
Snyder, David, W.: Preparing for Teaching through Reflection. In: Music Educators Journal, Bd. 97 (2011). London: Sage Publishing, pp. 56–60
5.3
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Kollegiale Zusammenarbeit in der Musikschule
Vorbemerkung von Peter
So schön und fruchtbar der Instrumental- und Gesangsunterricht im geschützten Raum sein kann, als so einsam und isolierend wird doch die berufliche Situation mitunter erlebt. Kollegiale Kontakte, Austausch und Kooperation sind aus unterschiedlichen Gründen nicht automatisch Bestandteil der instrumentalpädagogischen Berufspraxis. Dies kann daran liegen, dass der Unterricht privat erteilt wird oder die Leitung (und das Kollegium) der musikausbildenden Institution eine Kultur des Austauschs und der Kooperation nicht anstrebt oder nicht realisieren kann. Auch persönliche Gründe können eine Rolle spielen. Die kollegiale Zusammenarbeit stellt ein wertvolles Instrument für die berufliche Zufriedenheit und den Erfolg der Ausbildung dar. Sie ist zunächst eine strategische Füh-
Von Dorothea Baier
Knodt
rungsaufgabe und liegt in der Verantwortung der Schulleitung, muss aber letztendlich vom Kollegium getragen und gelebt werden.
Kollegiale Zusammenarbeit in der Musikschule
Mein Kollege, meine Kollegin69 als Ansprechpartner bei pädagogischen oder musikalischen Fragen? Austausch von Schülern nach Bedürfnissen der Kinder, Eltern und Kollegen? Gemeinsame Projektarbeit? Teamteaching?
Arbeitszufriedenheit, kreative Ideen, Leistungsfähigkeit und nicht zuletzt positive Rückmeldungen von Schülern und Eltern sind kein Zufallsprodukt in der Musikschularbeit, sondern bedürfen einerseits einer von allen Beteiligten getragenen Ethik und andererseits klarer Strukturen und Umgangsformen im täglichen Miteinander.
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Klima des Vertrauens
Das Klima des Vertrauens und Zutrauens, das entscheidend den Umgang miteinander prägt, liegt in der Verantwortung der Schulleitung. Das verlangt einen integrativen Führungsstil, der Mitarbeiter fordert, unterstützt und gleichzeitig permanente Kontrolle ausschließt. Der einzelne Kollege erhält so Freiräume, um eigene Ideen umzusetzen, zum Beispiel für ein neues Unterrichtsangebot, eine Projekt- oder Ensemble-Arbeit. Erfolg, aber auch Misserfolg, fällt dann in erster Linie auf den jeweiligen Kollegen zurück, sodass die Selbstwirksamkeit direkt erfahren werden kann. Die Wirkung auf die Musikschule als Ganzes wird in einem Gesamtbild längerfristig erkennbar. Feedback-Systeme, zum Beispiel durch Nachbesprechungen mit den beteiligten Kollegen und der Schul- bzw. Fachleitung, sorgen für die permanente Weiterentwicklung von Ideen und deren feste Verankerung im Musikschulleben. Oft stellt sich heraus, dass ein individuell empfundener Misserfolg im Gesamtbild der Musikschularbeit durchaus wichtig und richtig ist. Zum Beispiel können breitenmusikalische Unterrichtsangebote nicht mit musikalischen Spitzenleistungen verglichen werden. Beides hat eigene Ziele und einen eigenen spezifischen Wert. Der Künstler im Instrumentalpädagogen neigt dazu, beide Angebote mit dem selben Maß zu messen, und scheitert dann an seinen Ansprüchen. Ein vertrauensvolles Gespräch mit Kollegen, Schul- oder Fachleitung sowie eine im gesamten Haus breit geführte Diskussion über Ziele und Werte der verschiedensten Unterrichtsangebote stärken den einzelnen Kollegen.
Vertrauen und Ehrlichkeit sind die beiden Komponenten, die den Umgang mit Fehlern und deren Aufarbeitung ermöglichen. Diese Aufarbeitung sollte zeitnah und situationsgebunden geschehen, entweder in einem Gespräch unter vier Augen oder im kleinen Kollegenkreis. Gerade bei unangenehmen Gesprächen und in Konfliktsituationen ist das persönliche Gespräch oder mindestens ein
69 Im folgenden Text werden der besseren Lesbarkeit halber Begriffe wie Schüler und Kollege verwendet. Selbstverständlich sind Schülerinnen und Schüler bzw. Kolleginnen und Kollegen gleichberechtigt gemeint.
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5.6 Einige Überlegungen zu klarer, wertschätzender Feedback- und Gesprächskultur
Alle Beiträge dieser Publikation haben im Wesentlichen mit dem Gelingen von Gesprächen zu tun. Hilfreich mögen in diesem Zusammenhang die folgenden Überlegungen zu klarer, wertschätzender Feedback- und Gesprächskultur sein.
Wenn Sie Unterricht oder die darin handelnden Personen bewerten und Ihre Einschätzungen kommunizieren, vergewissern Sie sich Ihrer Motive. Meiner Überzeugung nach soll jede Meinungsäußerung im Sinne eines Angebots zum Wachstum an den Adressaten und ebenso an Sie selbst dem Ziel der Entwicklung dienen. Ein Feedback ist der Wortbedeutung nach etwas Nährendes, Zugewandtes und Zurückgegebenes. Gesprächs- (und Streit-)kultur verstehe ich als eine auf Selbstachtung, Wertschätzung und Respekt gründende, gestaltete Interaktion. Auch eine spontane, möglicherweise emotionale Einschätzung kann zwar zunächst zu Streit und Ablehnung führen, aber letztendlich soll auch im harten Diskurs eine Klärung der jeweiligen Standpunkte angestrebt werden. Das klare Darstellen der eigenen Position und das Verstehen des gegnerischen Standpunkts, ohne mit diesem einverstanden sein zu müssen, sind Zeichen einer ehrlichen und wertvollen Streitkultur. Ehrlichkeit und Interesse gehören zu den Werten, auf denen eine fruchtbare Reflexion und Diskussion gründen kann. Vergewissern Sie sich Ihrer eigenen Werte und pädagogischen Überzeugungen und tauschen Sie sich darüber auch mit Ihren KollegInnen aus. Die kollegiale Zusammenarbeit wird besser gelingen, wenn Sie wissen, auf welchen Grundlagen Sie miteinander agieren. Im kollegialen Gespräch hat es sich bewährt, aus der Ich-Perspektive zu sprechen. Sie sprechen dann persönlicher, von sich selbst, und das Gespräch gewinnt an Authentizität und Verbindlichkeit. Ihre GesprächspartnerInnen können Ihrem Standpunkt möglicherweise offener begegnen. Oder es kann gelingen, die Gesprächsebene zu wechseln (wenn Sie sich beispielsweise mit der Verwendung und Bedeutung von Ich- und Du-Botschaften sowie „Man“-Formulierungen auseinandersetzen). Beschreiben Sie klar, worauf sich Ihre Einschätzung bezieht, und begründen Sie diese sorgfältig mit Ihren Beobachtungen und Überzeugungen. Vergewissern Sie sich auch, ob Ihre GesprächspartnerIn Ihre Einschätzungen überhaupt erfahren möchte. Überlegen Sie sich, ob Ihre Äußerungen wertvoll und förderlich für Ihre GesprächspartnerIn sind. Das kann durchaus auch auf emotional schwierige Themen zutreffen.85
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Wenn Sie Feedback erhalten, das Sie (in diesem Moment) nicht bekommen möchten, sagen Sie dies Ihrer GesprächspartnerIn freundlich und klar. Betrachten und prüfen Sie in Ruhe mit sich selbst die Gründe, weshalb Sie kein Feedback erhalten möchten. Wenn Sie mit Ihrem Einverständnis Feedback bekommen, hören Sie bis zum Ende aufmerksam zu. Nehmen Sie umfassend wahr, was für Sie von Ihrer KollegIn überlegt und zum Ausdruck gebracht wird, und machen Sie sich gegebenenfalls Notizen. Beobachten Sie ebenso, welche Resonanzen durch das Feedback bei Ihnen ausgelöst werden. Falls Sie sich dafür entscheiden, mit einer KollegIn kollegial an Ihrer beruflichen Weiterbildung zu arbeiten, beachten Sie bitte den folgenden Hinweis: Sprechen Sie ebenso mit Ihrer KollegIn über
85 Vgl. Cohn, Ruth C.: Von der Psychoanalyse zur themenzentrierten Interaktion. Von der Behandlung einzelner zu einer Pädagogik für alle. Stuttgart: Klett-Cotta 142000, S. 124–126.
die vielfältigen Aspekte Ihres Unterrichts wie auch über die Rahmenbedingungen, die Ihrer kollegialen Zusammenarbeit zugrunde liegen. Diese sollen für alle beteiligten KollegInnen klar entwickelt, kommuniziert und regelmäßig überprüft, angepasst und verbessert werden. In dem Maße, wie Sie und Ihre Umgebung sich verändern und entwickeln, müssen auch die Prozesse und Strukturen, mit und in denen Sie arbeiten, von Ihnen selbst angepasst und weiterentwickelt werden. Entwickeln und klären Sie Ziele, Themen, Vorgehensweisen, Rollen, Aufgaben und Erwartungen gemeinsam. Der Didaktische Analyse-Leitfaden mit seinen 22 Aspekten des Unterrichts (vgl. S. 58ff.) kann dabei eine inhaltlich-strukturelle Hilfe sein. Prüfen Sie auch, ob der organisatorische Aufwand für alle Beteiligten in einem stimmigen Verhältnis zum Nutzen steht.
Feedback geben
• to feed = nähren, füttern. Dies führt zu Wachstum.
• Es ist mein Ziel, die Persönlichkeitsentwicklung der beteiligten Person(en) zu unterstützen.
• Anhand einer konkreten Situation beschreibe ich eine von mir beobachtete Stärke und eine gelungene Unterrichtssituation.
• Ich beschreibe ein von mir vermutetes Verbesserungspotenzial.
• Dieses Verbesserungspotenzial formuliere und begründe ich aus meiner Perspektive als IchBotschaft.
• Dabei spreche ich ermutigend und handlungsorientiert.
• Ich formuliere einfühlsam und an den Empfänger gerichtet.
• Ich beziehe mich auf die von der beteiligten Person gewünschten Themen bzw. Fragen.
• Ich frage nach, ob mein Feedback hilfreich war.
Es folgt ein fiktives Beispiel für ein Feedback:
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Ich möchte dir danken, dass ich heute deinen Unterricht miterleben durfte. Ihr begegnet Euch mit Respekt, habt konzentriert gearbeitet und auch miteinander gelacht. Ich konnte beobachten, dass die Schülerin dir in die Augen schaut und frei ist, über sich selbst und die Musik mit dir zu sprechen. Ihr habt zusammen musiziert und geübt. Für mich war es lebendig und inspirierend.
Mich hat es auch überzeugt, wie klar du die Aufgaben für die Schülerin formuliert hast. So, wie sie dann musiziert hat, hat sie dich gut verstanden und es sichtlich genossen, wie gut ihr die Phrase letztendlich gelungen ist.
Du hattest mir gesagt, es würde dich besonders interessieren, wenn ich Ideen für deinen Unterricht mit ihr hätte. Gerne mache ich dir einen Vorschlag.
Ich vermute, dass deine Schülerin Freude daran hätte, in einer kurzen Übesequenz die Leitung des Geschehens im Unterricht zu übernehmen. Ihr selbstbewusstes Verhalten während meines Besuches und ihr Alter lassen mich vermuten, dass sie das gut und gerne schaffen würde. Sie könnte sich darin
Kleiner Leitfaden zum Geben und Nehmen von Feedback
üben, selbstständig zu handeln, und bekäme nachher Feedback von dir darüber. Du würdest etwas darüber erfahren, wo deine Schülerin beim Üben steht, und könntest dich in der Rolle der beobachtenden Begleiterin erproben. Kannst du dir vorstellen, das einmal konkret zu planen und dann auszuprobieren?
Feedback empfangen
• Ich höre bis zum Ende des Feedbacks aufmerksam zu.
• Falls ich etwas nicht verstehe, frage ich gezielt nach.
• Ich bedanke mich und gebe ein kurzes Feedback, inwieweit sich für mich Erkenntnisse und Perspektiven ergeben haben.
• Ich beschreibe, welche Form des Feedbacks besonders hilfreich war.
• Ich formuliere einen Wunsch, wie meine KollegeIn mich außerdem noch unterstützen könnte.
Geben Sie sich auch im selbstreflektorischen Gespräch einen klaren Rahmen, mit welcher Absicht und worüber Sie mit sich sprechen möchten. Der Didaktische Analyse-Leitfaden kann Ihnen auch hier eine Hilfe sein. Machen Sie sich immer wieder klar, ob Sie sich gerade Ihre Eindrücke und Beobachtungen beschreiben oder Bewertungen vornehmen. Formulieren Sie auch sich selbst gegenüber aus der Ich-Perspektive. Sprechen Sie mit Selbstachtung und Respekt zu sich. Vergewissern Sie sich Ihrer Stärken und begründen Sie diese Einschätzungen vor sich selbst. Beschreiben Sie so klar wie möglich, was Sie gerne verbessern möchten, und überlegen Sie, wie Sie diese Verbesserungen erreichen könnten. Damit haben Sie sich klare Ziele gesetzt und einen Plan zur Erreichung der gewünschten Ergebnisse erarbeitet. Nehmen Sie sich genug Zeit für diesen Prozess und entwickeln Sie ein individuelles Verfahren, mit dem es Ihnen gelingt, regelmäßig an der Erreichung Ihrer persönlichen Ziele zu arbeiten. Überprüfen Sie auch regelmäßig, ob Sie Ihre eigenen Ziele erreichen und inwieweit die Prozesse und Strategien Ihres Vorgehens von Ihnen verbessert werden können. Tauschen Sie sich über dieses „Projekt“ auch mit KollegInnen Ihres Vertrauens aus. Viel Erfolg!
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Ein Kennzeichen von gelungenem Musikunterricht mit Instrument und Stimme ist der Unterricht für Menschen in Interaktion, die musizierend und lernend mit und durch Musik ihrer individuellen Entwicklung dienen. Die geglückte Gestaltung eines solch hochstehenden Unterrichts darf als Kunst bezeichnet werden.
Zentrale Ziele sind die Aneignung individuell notwendigen Wissens und Könnens und die Entwicklung einer Haltung86 zu dauerhafter sinnstiftender musikalischer Betätigung mit dem Instru-
86 Im Sinne von Einstellung, Überzeugung bzw. Wertvorstellung.
5.7 Pädagogische Grundüberzeugungen des Verfassers
ment und der Stimme. Dies meint sowohl das Musizieren und Üben alleine als auch das musikalische und soziale Zusammenspiel mit anderen Menschen.
Meiner Überzeugung nach soll Unterricht dazu beitragen, dass Menschen sich zu frei denkenden und selbstständig handelnden Persönlichkeiten entwickeln. Auf der Basis von durch Vertrauen, Respekt und Klarheit gestalteten Beziehungen, in einer durch Wertschätzung, Interesse und Echtheit geprägten Atmosphäre und in einer bewusst vorbereiteten Lernumgebung lehren und lernen SchülerInnen und LehrerIn gemeinsam und partnerschaftlich. Dabei bietet der Unterricht den SchülerInnen individuell angemessene Möglichkeiten zur Mitgestaltung der Lernziele und -inhalte, zum Erwerb eigenständiger Methodenkompetenz und bei der Entwicklung zur Selbstständigkeit.
Der Grad der Kompatibilität von Begabungen, Interessen und Bedürfnissen der SchülerInnen mit den didaktischen Kompetenzen und pädagogischen Grundüberzeugungen der LehrerInnen trägt maßgeblich zum Gelingen des Unterrichts bei.
Meiner Erfahrung nach gibt es bei Instrumental- und GesangslehrerInnen ein breites Bedürfnis nach Raum zum Austauschen und Reflektieren nicht nur über fachliche, sondern auch ganz persönlich bedeutsame Themen. Eine Plattform dafür können beispielsweise musikpädagogische Fortbildungsveranstaltungen bieten. Während des internationalen musikpädagogischen Symposiums Musik-Unterrichten im 21. Jh. vom 13.–15. September 2012 in Basel beispielsweise konnten die TeilnehmerInnen unter der Anleitung von professionellen ProzessmoderatorInnen ihre persönlichen Fragestellungen einbringen und sich untereinander austauschen. Speziell dieses Angebot wurde stark genutzt und in zahlreichen Rückmeldungen sehr positiv bewertet.
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Eine schöne persönliche Erfahrung konnte ich im Rahmen des Teamteaching-Modells der Blechbläserdidaktik an der Hochschule für Musik FHNW machen. Ich hatte den Unterricht eines Studierenden mit seinem Schüler und die dazu gegebenen Feedbacks sowie den Fachdidaktik-Unterricht eines der Teamteaching-Kollegen über den Zeitraum eines halben Jahres mehrmals auf Video aufgenommen. In einem Auswertungsgespräch erwies es sich für den Kollegen und mich als besonders motivierend zu sehen, wie sehr sich das didaktische Handlungsrepertoire des Studierenden erweitert hatte. Außerdem konnten wir uns über den Zusammenhang und die Wirksamkeit der Feedbacks und des Fachdidaktik-Unterrichts mit den beobachteten Veränderungen beim Studierenden austauschen. Die Erkenntnisse, die wir durch die videobasierte Unterrichtsreflexion und den kollegialen Austausch zur Wirksamkeit unserer pädagogischen Arbeit gewannen, waren besonders wertvoll.
Die vorliegende Publikation macht zahlreiche Angebote zur Reflexionsarbeit in Verbindung mit fachlichem Austausch. Es wäre schön, wenn Sie es gemeinsam mit Ihren KollegInnen vielfältig nutzen könnten.
5.8 Ausblick
6. Anhang
6.1 Fragebögen der LehrerInnen
Die Fragebögen wurden den LehrerInnen in Form einer Word-Datei zur Verfügung gestellt. Das Ausfüllen erfolgte zum Teil handschriftlich in einem Ausdruck, zum Teil in der Datei direkt. Für die Publikation wurden die Fragebögen digital erfasst. Abweichungen der einzelnen Bögen voneinander, u a. im Erscheinungsbild, in der Vollständigkeit der bearbeiteten Rubriken und in der Form der Literaturangaben sind auf die unterschiedlichen Bearbeitungsweisen der KollegInnen und die jeweils dokumentierte Unterrichtssituation zurückzuführen. Im Folgenden werden diese Unterschiede beibehalten, auf Auslassungen und Ergänzungen wird gelegentlich durch Vermerke in eckigen Klammern oder eine Fußnote hingewiesen.
Fragebogen zu Video 1 (Maria Bittel, Klavier) (A + K → S. 19)87
Datum der Aufnahme der Videodokumentation: 30.03.2011
Ort der Aufnahme der Videodokumentation: bei mir privat
[Alter der Schülerin/der Schülerinnen/des Schülers/der Schüler (S) zum Zeitpunkt der Aufnahme der Videodokumentationen:]
Vorname des/r S
Alter des/r S
Sabine 40
Musikalische Ausbildung/Vorerfahrungen der/s S (bitte kurz skizzieren):
• Als Kind und Jugendliche einige Jahre Klavierunterricht bei einer ebenfalls blinden Lehrerin.
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Der/die S hat/haben/hatte/n Instrumentalunterricht bei mir seit: 1998 bis: heute [Stand Juli 2013, PK]. Allerdings mit monate- bis jahrelangen Pausen
87 A + K = Aufgaben und Kommentare.
Der/die S hat/haben/hatte/n Instrumentalunterricht in folgenden Unterrichtssozialformen, mit entsprechender Dauer (Minuten) und Frequenz (bitte ankreuzen, mehrere Kreuze möglich):
• So ist es momentan, weil die Gesundheit von Sabine momentan nicht mehr erlaubt.
• Es waren auch schon wöchentlich 45 min Unterricht.
Zur Übesituation der SchülerInnen:
Übesituation der/s S (bitte ankreuzen): Trifft zu Trifft teilweise zuTrifft nicht zu Unbekannt
Der/die S hat/te gute Übebedingungen:X
Der/die S wird/wurde beim Üben unterstützt: X
Der/die S übt/e regelmäßig: X
Der/die S musiziert/e regelmäßig in einem/r (bitte ankreuzen):
Vorname des/r S BandEnsemble Orchester
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Musikalisches Umfeld der/des S (bitte kurz skizzieren):
• Große Unterstützung von Seiten der Mutter
• Sabine spielt auch Gitarre
• Mitglied in einem Singkreis
Institutioneller Rahmen des Unterrichts (bitte ankreuzen):
Der Unterrichtsort:
Musikschule
Konservatorium
Privater Musikunterricht X
Allgemeinbildende Schule
Musikverein
Musikhochschule
Stichpunkte zum Unterrichtsverlauf vor und nach der Videodokumentation (bitte kurz skizzieren, bis zu einer viertel Seite):
• Vor der Aufzeichnung hatte Sabine erst wieder wenige Stunden nach einer jahrelangen Pause. Wir haben vorwiegend alte Stücke wiederholt und Fingerübungen gemacht. Jetzt waren wieder 2½ Monate Pause und wir knüpfen wieder an alte Stücke an.
Bisher verwendete Unterrichtsliteratur (bitte einige Beispiele geben):
• Schumann: Stückchen
• Aus Terzibaschitsch: Klassik und Pop Bd. 1: Romance d`amour
• Weihnachtslieder, Volkslieder (Komm lieber Mai, Greensleeves u. ä.) mit eigener Begleitung in verschiedenen leichten Tonarten
• Stücke aus Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach
Kurz-Vita der Lehrkraft (ca. 600 Zeichen):
Ich wurde 1966 in Freiburg geboren und erhielt Klavierunterricht seit dem 6. Lebensjahr. Nach dem Abitur studierte ich an der Musikhochschule in Detmold bei Wolfgang Watzinger und Rainer Weber, wo ich die staatliche Musiklehrerprüfung im Fach Klavier und die künstlerische Reifeprüfung mit Schwerpunkt Kammermusik und Liedgestaltung ablegte.
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Meisterkurse u. a. bei Vitalij Margulis und Hartmut Höll.
In dieser Zeit war ich bereits auch als Korrepetitorin in den Gesangsklassen der Hochschule Detmold tätig und unterrichtete privat sowie vertretungsweise an der Musikschule in Herford.
Es folgte ein weiterführendes Studium am Mozarteum in Salzburg in der Liedklasse von Hartmut Höll und Mitsuko Shirai.
Seit 1996 unterrichte ich an der Musikschule in Traunstein, arbeite als Korrepetitorin und gebe Konzerte mit Schwerpunkt Kammermusik und Liedgestaltung im süddeutschen Raum.
6.2 Gespräche der LehrerInnen mit dem Autor90
Peter Knodt (PK): Wie ging es denn heute?
Gespräch zu Video 1 (M. Bittel, Klavier) (A + K → S. 19)91
Maria Bittel (MB): Sabine hat heute ein bisschen mein Konzept durcheinandergeschmissen. Ich wollte eigentlich etwas anderes machen, aber nachdem sie das schon konnte oder sich wieder praktisch beigebracht hatte – aus alten Aufzeichnungen von vor vier, fünf Jahren ungefähr –, also diesen Schlussteil, da habe ich mir gedacht: „Na gut, dann machen wir das jetzt.“ Dass einfach das Stück komplett ist, und dann gehen wir einfach die nächsten Stunden auch auf klangliche Sachen noch viel mehr ein.
PK: Also sie hatte selbstständig schon etwas vorbereitet, was Sie eigentlich heute mit ihr machen wollten …
MB: Genau!
PK: Und konnte das auch gut?
MB: Ja, sie konnte es halt einfach so, wie sie es sich aus ihren Aufzeichnungen wieder erschlossen hat. Also das ist echt super! Und dann hab ich mir gedacht, dass jetzt nicht zu machen, wäre auch doof, sondern habe ich dann geschaut, dass ich da einfach weitermache.
PK: Dass Sie darauf aufbauen?
MB: Dass ich darauf aufbaue, was sie jetzt gemacht hat.
PK: Aber insofern hatten Sie sich Ihre Unterrichtsvorbereitungen anders gedacht?
MB: Ich habe mir etwas anderes vorgestellt, aber das ist ja öfters mal so.
PK: Betraf das auch das Material?
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MB: Ja, es betraf das Material. Ich wollte eigentlich klanglich ein bisschen was machen, und ich wollte eigentlich auch besprechen, was für sie den Unterschied von Nacht und Tag ausmacht, weil es ja auch ein „Nachtstück“ ist. Also ich hatte vor, darauf einzugehen, auf den Inhalt oder auf die Klanglichkeit von dem Stück. Aber eben, nachdem sie so viel Material geliefert hat, habe ich mir gedacht: „Jetzt müssen wir doch erst mal mit diesem Material weitermachen.“
PK: Und das war dann aber auch in Ordnung?
90 Bei der Übertragung der Gespräche in die Schriftform wurden sprachliche Glättungen ohne nähere Kennzeichnung vorgenommen. Auch wurden die Transkriptionen den LehrerInnen zur Autorisierung vorgelegt. Dabei haben diese selbst auch noch Korrekturen und Ergänzungen vorgenommen.
91 A + K = Aufgaben und Kommentare.
MB: Ja, es war in Ordnung, klar. Aber das war eigentlich die schwierigere Arbeit, weil ich ihr letztendlich nichts zeigen kann. Also ich kann ihr nicht vormachen, „Jetzt schau dir mal den Fingersatz an, den ich mach. Schau dir die Haltung an.“, sondern ich muss immer überlegen: „Okay, was kommt bei ihr an, also wie kann ich ihr helfen, wenn sie jetzt zum Beispiel einen Fingersatz macht, der so nicht funktionieren kann.“ Ich lasse sie auch immer wieder mal selbst ausprobieren und schauen, was ihr für ihre Hand liegt und was für ihr Körpergedächtnis auch gut liegt. Das kann manchmal auch etwas ganz anderes sein als das, was ich eigentlich machen würde, aber da gab es dann auch ein paar komplizierte Übergänge, bei denen ich versucht habe, einzugreifen und ihr das zu zeigen. Das ist einfach ganz schwer, das zu verankern, dass sie sich das gut merken kann. Dann werde ich in der nächsten Stunde sehen, wie das ist. Das ist auch eine Arbeit, die sich über mehrere Stunden hinzieht, und das merkt sie dann selber und kommt vielleicht wieder auf andere Fingersätze als die, die wir jetzt heute ausprobiert haben. Ich weiß noch, ich habe auch damals noch einen anderen Fingersatz gemacht als den, den ich mir jetzt ausgedacht habe für dieses Stück. Jetzt muss man einfach schauen, welcher davon besser ist. Ich denke, je weniger Fingerwechsel da sind und je weniger sie übersetzen und untersetzen muss, umso leichter wird es für sie. Das ist jedenfalls meine Meinung, aber vielleicht stimmt das ja auch überhaupt gar nicht. Also sie kommt da manchmal auch auf andere Sachen, weil es für sie dann einfach leichter ist.
PK: Das heißt, mit einer Schülerin oder einem Schüler, der sehen kann, da würden Sie unter Umständen auch mal vorspielen und sagen: „Ich zeige dir mal den Fingersatz, den ich dir vorschlage, schreibe ihn auf und spiele ihn dir vor“, und dann würde das abgelesen oder eben auch imitiert werden. Und das geht ja hier nicht.
MB: Das geht nicht, genau.
PK: Sie muss also viel mehr selber die Sachen herausfinden?
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MB: Ja, ich glaube, dass es für sie auch ein Weg ist, sich etwas zu merken. … Wir haben eine Stelle auch heute gemacht, wo es dann leichter zu finden ist. In der linken Hand gab es so eine Stelle, einen Übergang, bei dem sie immer erst einmal einen anderen Finger genommen hat und ich versucht habe, ihr einfach einzuprägen, dass sie den anderen Finger nehmen soll, damit sie leichter weiterkommt, damit die Übergänge leichter werden und sie leichter die Töne trifft, weil die Finger schon da sind, wenn sie die richtigen Finger nimmt. Das fand sie dann selbst auch leichter, wenn sie denn dann die richtigen Finger genommen hat. Aber das ist natürlich auch wieder eine Sache, die sie sich einprägen muss.
PK: Haben Sie da schon spezielle Wege mit ihr oder für sie entwickelt, wie sie sich das gut einprägen kann?
MB: Das haben wir auch schon gemacht, heute aber weniger. Also das mit dem Singen, das ist etwas, was ich heute leider vergessen habe, was ich eigentlich hätte machen sollen, einfach trocken zu üben. Also einfach den Deckel zumachen, singen und dazu einfach die Finger kombinieren und sich das durchs Singen einprägen. Ich hab sie einfach nur so singen lassen, dass ihr die Melodie wieder klar ist. Aber das mit dem Einprägen haben wir heute nicht gemacht, das ist mir jetzt vor allem durch die Arbeit mit der linken Hand flöten gegangen. Doch das ist sonst auch ein guter Weg für
sie, sich die Dinge einzuprägen, dass sie nicht gleich die Töne hört, die sie spielt und die vielleicht richtig oder falsch sind, sondern dass sie die richtige Melodie sowieso kennt und singen kann und dazu die richtigen Finger kombiniert.
PK: Gibt es so Wechselwirkungen jetzt durch den Unterricht mit ihr auf den Unterricht mit den anderen Schülern? Haben Sie da schon mal etwas beobachtet?
MB: Ich mache mit meinen anderen Schülern auch schon relativ viel, dass sie mal in die Luft gucken sollen oder mit geschlossenen Augen spielen oder sie sogar zu verbinden, dass sie sich nach dem Tastsinn richten. Das mache ich schon, also um einfach auch der Hand beizubringen, wie Wege funktionieren, also wie der Weg von einem Ton zum nächsten mit verschiedenen Fingern funktioniert, dass die Schüler auch verstehen, dass es ein Körpergedächtnis gibt. Es gibt nicht nur die Augen, die das sehen, sondern auch das Körpergedächtnis verbunden mit den Ohren, das hilft, es sich einzuprägen. Später muss man es ja auch spielen, und da kann man nicht ständig hin- und herschauen, also ist es das Beste, wenn man es wirklich auch blind kann. Also, da gibt es schon viele Überschneidungen.
PK: Ja, das kann ich mir gut vorstellen. Eben das war ja sehr schön noch, das Gespräch an der Tür, also Sie waren ja ganz begeistert da mit der erwachsenen Schülerin und ihrer Mutter.
MB: Ja, ich merke das auch schon immer. Sonst fällt es mir zwar auch nicht schwer geduldig zu sein, aber ich merke, dass ich ganz anders denke, als wenn ich mit einem sehenden Schüler arbeite. Ich bin irgendwie immer so, dass dann sofort im Kopf ist, „Wie sage ich das jetzt?“, also ich bin eigentlich viel langsamer und bedächtiger. Wenn ich jemand anders unterrichte, rede ich, glaube ich, viel mehr. Das ist auch etwas, was vielleicht gar nicht so gut ist, wo ich mir denke: „Hoppla“, aber wenn ich mit Sabine arbeite, da überlege ich mehr und sage vielleicht ein bisschen weniger, das ist eigentlich auch ganz gut. Ich muss mir einfach andere Wege überlegen, in bestimmten Momenten einfach ganz anders reagieren. Also bei Schülern, die sehen können, bin ich einfach viel mehr in Aktion, aber das kann sie ja gar nicht sehen, da muss ich unter Umständen hinlangen und ihr assoziativ etwas vorgeben oder ihre eigene Erfahrungswelt ansprechen, die eine ganz andere ist als die von anderen Schülern.
PK: Das fordert Sie dann auch heraus?
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MB: Ja, weil viele Formulierungen, die man wählt, schon mit Sehen zu tun haben. Das fällt einem erst auf, wenn man mit jemand Blindem zu tun hat und damit arbeitet.
PK: Sie hat jetzt ja auch besonders die Geduld hervorgehoben, also dass sie sehr glücklich ist, dass sie bei Ihnen Unterricht bekommt und mit welcher Geduld Sie arbeiten.
MB: Das finde ich auch sehr schön, dieses Kompliment.
PK: Ist sonst noch etwas zu dieser Stunde, was Ihnen aufgefallen ist und was wir bis jetzt vielleicht noch nicht besprochen haben?
MB: Sie war sehr dabei, das war sehr schön, denn das ist ja auch nicht immer gegeben. Sie war sehr konzentriert.
PK: Sie haben ja eben auch noch mal gefragt, ob es einen Unterschied gemacht hat [dass die Stunde mitgeschnitten wurde].
MB: Ja, ich habe es gemerkt, dass sie ganz am Anfang mal ein bisschen nervös geworden ist, als es nicht geklappt hat beim Vorspielen von dem, was wir letzte Woche geübt haben. Da war sie ein bisschen hektisch, und es war ihr bestimmt bewusst, dass es aufgezeichnet wird, aber das ist dann eigentlich schnell verflogen, und sie hat es dann nicht mehr gemerkt.
PK: Und wie war das für Sie heute mit der Aufzeichnung?
MB: Ich habe es eigentlich nicht im Kopf gehabt.
PK: Sehr gut! Das ist gut. Und haben Sie mit ihr darüber gesprochen während des Unterrichts?
MB: Über die Aufzeichnung? Nein, gar nicht.
PK: Also es ist Ihnen aufgefallen, aber Sie haben das nicht weiter thematisiert?
MB: Ich habe ihr nur das mit dem Tuch erklärt, weil es sich anders anfühlt auf dem Boden. Dann hat sie nur gefragt, warum, und dann war das geklärt.
PK: Dann war das auch in Ordnung, weil sie es ja nur anders fühlt.
MB: Ja, dass sie nicht irritiert ist. Ich weiß ja nicht, ob sie das irritiert oder nicht, wenn da auf einmal etwas glatter am Boden ist als sonst.
PK: Sie spielt mit Schuhen?
MB: Nein, auch mit Socken.
PK: Ah, okay, das habe ich jetzt gerade überlegt. Dann fühlt sie das natürlich viel mehr. Und spielte jetzt heute das Pedal eine Rolle?
MB: Nein, das hat jetzt heute keine Rolle gespielt, aufgrund von dem, was sie einfach gemacht hat, wäre das jetzt einfach zu viel gewesen.
PK: Also das, was sie geübt hat und mitgebracht hat, waren eben ganz andere Sachen.
PK: Gut, vielen Dank.
MB: Ja, bitte.
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Gespräch zu Video 2 (E. Vinh-Marinelli, Klavier) (A + K → S. 22)
Peter Knodt (PK): Wie war es heute in der Stunde?
Eveline Vinh-Marinelli (EVM): Ein bisschen anders, als ich gedacht habe. Aber für keinen von uns vieren ungewöhnlich. Es war eine normale Unterrichtssituation mit ihren Höhen und Tiefen. Die einzelnen Schüler kamen auch so heraus, wie sie eigentlich sind. Zum einen der ein bisschen vorlaute Chris und zum anderen Daniela, die vielleicht ein bisschen ruhiger und schüchterner ist.
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CS: Sie war gestern da, in der „Luxusstunde“. Die Luxusstunde ist ja mit der Julia, ist ja klar. Normalerweise hat sie eine Dreiviertelstunde, und man konnte sehr gut beobachten, dass sie selbst gemerkt hat, wann diese Dreiviertelstunde vorbei ist. Also sie haben so etwas wie eine innere Uhr, aber dann habe ich gesagt: „Wir haben noch Zeit, wir machen noch weiter.“, denn sonst hätte ich das nicht geschafft, also habe ich das dann noch hinten drangehängt. Das war aber ganz spannend, wie diese innere Uhr funktioniert.
PK: Dann habt ihr sozusagen noch eine Viertelstunde Reserve gehabt?
CS: Genau.
PK: Also hattet ihr jetzt 60 Minuten statt 45?
CS: Ja, ich dachte mir, ich muss ein wenig gucken, wie sie mit der Situation umgeht und wie das funktioniert. Außerdem wollte ich auch, dass sie sich erst einmal freispielt.
PK: Und das ging auch?
CS: Ja, das ging so weit gut.
PK: Ja, schön.
CS: Wollen Sie noch etwas wissen?
PK: Ich glaube nicht im Moment.
CS: Gut.
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Gespräch zu Video 6 (K. Balzer, Violoncello) (A + K → S. 32)
Kilian Balzer (KB): Das war jetzt eigentlich eine Siebenergruppe. Sechs davon waren da, der siebte konnte heute nicht. Die sieben Kinder haben erst vor einem halben Jahr zusammen mit dem Cellospielen angefangen. Wenn man sie so in der Gruppe spielen sieht, denkt man, sie sind schon länger dabei. Die Kinder haben an zwei unterschiedlichen Tagen pro Woche jeweils eine halbe Stunde Einzelunterricht und 50 Minuten in der Gruppe. Die Eltern sind immer dabei.
Peter Knodt (PK): Also ein Elternteil?
KB: Ja, meistens auch derjenige, der mit ihnen zu Hause übt.
PK: Die Mütter oder die Väter?
KB: Verschieden. Meistens aber die Mütter. Ich habe verschiedene Gruppen. In einigen sind die Kinder alle auf dem gleichen Stand, in anderen sind die Kinder gemischt. Angefangen hat das ganze bei den Kleinen, aber nun sind in den Gruppenstunden alle Altersgruppen vertreten. In der Gruppe werden gemeinsam Solostücke geprobt, aber auch musikalische Dinge besprochen und ein- oder mehrstimmig gespielt.
Vorher habe ich fünfzehn Jahre ohne die Gruppenarbeit unterrichtet. Aber ich habe gemerkt, dass das für mich nicht mehr funktioniert, vor allem bei den Kleinen. Sie hatten nur einmal pro Woche Einzelunterricht, ohne Eltern, und nach einer Woche war vieles, was im Unterricht besprochen wurde, wieder vergessen. Also begann ich, ihnen alles genau aufzuschreiben, dadurch ging leider viel Zeit verloren. Bei 30 Minuten Unterricht gingen bis zu zehn Minuten für das Schreiben verloren. Trotzdem wurden meist nur ein oder zwei Tage geübt, dann war es das, weil sie nicht mehr wussten, was sie tun sollen. Das fand ich problematisch, deshalb habe ich die Eltern gebeten, mit in den Unterricht zu kommen. Die Eltern schreiben während des Unterrichts ein Stundenprotokoll, das sie mir am Anfang der nächsten Stunde geben, damit ich sofort anknüpfen kann und damit sie genau wissen, was sie wie mit ihren Kindern spielen sollen. Auch die Eltern kriegen mal einen Bogen oder ein Cello in die Hand gedrückt, um bestimmte Dinge, z. B. die Bogenhaltung, besser nachvollziehen und ihren Kindern zu Hause zeigen zu können. Die Schüler bekommen keine Noten. Am Anfang sind für Streicher die Bewegungsabläufe sehr kompliziert, nicht irgendwelche Noten. Spielt die Linke gut, kommt rechts nichts mehr vom Bogen – und umgekehrt. Es sind nicht nur die zwei Komponenten, rechte und linke Hand, sondern innerhalb einer Hand sind auch schon wieder mehrere Komponenten zu beachten. Außerdem gibt es ja leider nicht nur die Hände, sondern noch den Kopf und den ganzen Körper. Wenn dann noch Noten dazukommen, funktioniert gar nichts mehr. Dadurch haben sie kaum Zeit oder Kraft, an die Haltung zu denken oder Musikalität zu entwickeln. Also habe ich angefangen, die einzelnen Aspekte des Spielens viel mehr voneinander zu trennen.
PK: Und sie kommen dann auch nicht am gleichen Tag, sondern an einem Tag in der Woche in das Ensemble oder die Siebener-Stunde und an einem anderen Tag in den Einzelunterricht, wenn ich das nun richtig verstehe? Dann sind die Abstände zwischen den Stunden auch kleiner.
KB: Die Abstände sind kleiner, aber die sind nicht mehr das Problem. Die Eltern wissen ziemlich gut, wie sie mit ihren Kindern üben sollen. Der Unterricht besteht zum großen Teil daraus, die Eltern als Lehrer auszubilden. Ich betreue das Ganze nur. Im nächsten Kurs, wenn es wieder mit Kleinen losgeht, möchte ich erst einmal sechs Wochen lang mit den Eltern spielen, bevor die Kinder überhaupt kommen. Ich habe schon öfter daran gedacht und möchte es mal ausprobieren. Das kann sehr sinnvoll sein und zudem viel Spaß machen. Auch jetzt schon setze ich manchmal die Eltern an die kleinen Celli. Die Kinder sollen dann ihre Eltern korrigieren. Dadurch merken die Eltern, wie schwer das eigentlich ist, und die Kinder lachen sich Bauchschmerzen über die Mühen ihrer Eltern.
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PK: Haben sie das heute auch gemacht?
KB: Nein, heute nicht.
Generell sitzen wir Streicher als Anfänger viel zu lange alleine in unserem Kämmerlein und mühen uns ab. Ihr Bläser musiziert viel schneller und selbstverständlicher zusammen und habt sowieso eine viel ausgeprägtere Ensemble-Tradition. Bei uns Streichern ist das furchtbar. Die Eltern wissen nicht, wie schwer die Anfänge sind. Dann das jahrelange Vertrösten: „Wenn du fleißig übst, kommst du irgendwann vielleicht in das Schulorchester“, was oft in der Musikschule gesagt wird. Bis sie wirklich in das Orchester kommen, müssen sie so viel können, da vergehen Jahre. Viele haben dann schon aufgegeben.
PK: Jetzt starten sie eigentlich mit der Gruppe und dem Einzelunterricht durch?
KB: Richtig. Sofort, vom ersten Tag an mit der Gruppe. Kinder brauchen Kinder, das ist so. Für sie ist der größte Spaß, in der Gruppe zu spielen. Sie machen das Ganze anfangs vielleicht gar nicht, um das Instrument zu lernen, sagen zumindest ihre Eltern. Aber so hat sich ein Rhythmus zu einem Gruppenevent entwickelt, und dazwischen wird geübt.
PK: Und die Kinder? Die sagen das doch sicher auf ihre Weise.
KB: Ja, weil sie in der Gruppe einfach einen riesigen Spaß haben. Das ist auch Ziel der Gruppenstunden. Ich versuche natürlich, die Elemente aus dem Einzelunterricht mit einfließen zu lassen. Ich kann dadurch auch etwas Zeit für die Einzelstunden sparen, indem ich Punkte, die alle betreffen, in den Gruppenstunden anspreche, z. B. neue technische Aspekte oder Harmonielehre oder Notenlesen.
Wir üben auch schon Notenlesen. Sie haben keine Noten für ihre Hauptstücke. Sie haben aber genug Begleitmaterial, an dem wir es üben. Dies läuft parallel. Die Hauptstücke müssen sie allerdings schon auswendig spielen. Deshalb kann man so wunderbar mit ihnen arbeiten, jeder kennt jede Stimme. Heute waren es an die drei bis vier Stücke, aber sie haben bis zu drei Mal so viele im Repertoire und das alles in einem halben Jahr. Man kann die Stücke gut mischen, einzelne Segmente rausnehmen oder die Tonleiter anhand eines Stückes erklären. Denn jedes Stück hat eine eigene Idee oder eine eigene technische Problematik. Je nachdem, was ich gerade besonders üben möchte, suche ich die Stücke für die jeweilige Gruppenstunde aus.
PK: Kannten die Kinder die Lieder oder Stücke vorher schon? Ist es Material, das ihnen vertraut ist?
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KB: Es sind bekannte Stücke, z. B. Volkslieder. Sie haben jedoch alles auch auf CD. Das ist eine wichtige Sache. Sie müssen nicht unbedingt zu den Stücken auf der CD spielen, aber sie oft anhören, mit oder ohne Eltern. Dadurch wissen sie schon vorher, was sie spielen wollen. Die meisten Kinder in den Musikschulen hören viel zu wenig ihr Instrument, auf welche Weise auch immer. Ich kannte meine Schallplatten auswendig, und habe versucht, in jedes Konzert zu kommen. Das läuft heute nicht mehr so. Keine Zeit usw. Sogar bei Studenten fällt mir das auf. Wie soll sich da eine Klangvorstellung entwickeln, und ohne die geht nun mal gar nichts. Alle Lieder sind am Anfang mit Text, und wir singen die Lieder auch. Wir nutzen dabei zusätzlich Klanghölzer. Die Stücke werden immer wieder in ihre Komponenten zerlegt. Wir nehmen uns immer eine Problematik vor, so wird erst nur gezupft, ohne den Bogen, oder es wird mit Klanghölzern geklopft, oder wir singen die Stelle usw., da haben wir viel Fantasie. So kommt dann Woche für Woche immer wieder ein weiterer Aspekt hinzu. Für die Kinder ist es aber einfach immer nur das Lied, egal, ob sie es nun singen, klopfen, zupfen oder streichen. Meistens wird dabei der eigene Fortschritt gar nicht wahrgenommen, aber plötzlich können sie das Stück wie von alleine. Ich achte jedoch darauf, dass wir uns nicht zu lange mit einem Teil aufhalten. In diesem Alter meist drei bis vier Minuten, ansonsten geht die Konzentration zu schnell verloren.
PK: Und so lernen die Kinder das dann von Anfang an kennen, dieses vielfältige spielerische Umgehen mit der Musik?
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den-Raster und an das Strikt-nach dem-Buch-Vorgehen gebunden bin. Dieses Ziel war am Anfang schwierig, denn ich hatte in den vier Dörfern nur drei Schüler, als ich vor fünf Jahren oder so angefangen habe. Jetzt bin ich eigentlich jeden Tag in einem anderen Dorf und habe da mehr Schüler und somit auch mehr Möglichkeiten. Früher war ich in dem einen Dorf nur einen Tag in der Woche, und wenn an diesem ein Schüler nicht konnte, dann ging es halt nicht. Heute kann ich sagen: „Ach, ich bin aber morgen auch noch da.“, und diese Flexibilität will ich hier einfach noch weiter ausbauen.
PK: Lebendigkeit hast du gerade gesagt, es war lebendiger, auch für dich. Wie war es denn heute mit der Kamera für dich?
AM: Es hat mich insofern ein bisschen beeinträchtigt, weil ich mir überlegt habe: „Oh, stehe ich jetzt gerade im Weg?“, weil ich, merke ich so ein bisschen, immer im Unterricht rumtigere und auch mal den Ansatz von allen Seiten anschaue, mal vorne bin und Zeichen gebe oder eben mal nicht im Blickfeld sein will von den Schülern, dass sie selbstständiger sein müssen, und da habe ich dann immer wieder überlegt: „Oh, wo steht die Kamera? Stehe ich jetzt im Weg?“ Aber sonst hatte ich jetzt nicht das Gefühl, dass wir ganz anderen Unterricht gemacht haben, also, es war ziemlich normal.
PK: Ich danke dir!
AM: Danke auch.
PK: Ciao.
Gespräch zu Video 11 (D. Bregnard, Gesang) (A + K → S. 49)
Peter Knodt (PK): Ja, wie hast du es erlebt, deine Stunde?
Denise Bregnard (DB): Gut, ging gut, ich bin froh, ohne Zwischenfälle, kein Feueralarm oder dreimal Klopfen, das ist manchmal mühsam, weißt du, da bist du so in einem Flow mit der Schülerin, und dann: „Hallo, kann ich was fragen, Entschuldigung?“. War nichts …
PK: Keiner hat gestört.
DB: Keiner hat gestört.
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PK: Und kein Feueralarm.
DB: Nein (lacht).
PK: Das war ja verrückt, wie heute Vormittag …
DB: Ja, genau. Nein, es ging. Wie zu erwarten, eigentlich.
PK: Die Stunde mit Michelle, das war jetzt die zweite Stunde.
DB: Genau, das ist die Tertianerin.
PK: Ja.
DB: Siebzehnjährig.
PK: Und?
DB: Ich stelle immer wieder fest, wie ungerecht es ist. Wenn ich an der Hochschule unterrichte, habe ich am meisten Lohn und muss nichts machen. Kannst nur – kommt ja alles – ein bisschen leiten so. Hab ich auch mit der Tabea, die wir dann besprechen, das flutscht so dahin, klar bist du da. Also für mich kostet es sehr viel Aufmerksamkeit und viel mehr Energie, ich müsste den größeren Lohn haben bei den Anfängerinnen. Weil das so eine Mischung ist zwischen Gehenlassen und Korrigieren und Dasein und Auffangen. Mir ist einfach ihr Wohlbefinden das Wichtigste, jetzt bei der Michelle, weil sie sehr schüchtern ist.
PK: Ja.
DB: Wir sprachen ja davon, dass sie auch Karate macht, um sich zu befreien. Für mich ist es die absolute Priorität, dass sie sich entfaltet. Und ich habe so eine Freude, weil sie auch lacht, mitmacht und so, das macht mir Spaß. Sie hat mir gesagt: „Ich freue mich jedesmal auf die Stunde, und ich hätte nicht gedacht, dass ich jetzt beim Notenvorsingen …“ – das ist jetzt in vierzehn Tagen bei den Kollegen im Schwerpunktfach Musik. Da müssen die Schüler vorsingen, und sie singt eine italienische Arie …
PK: Ja.
DB: … „hätte ich nicht gedacht, dass ich das schaffe!“
Aber den Lohn finde ich nicht gerecht, weil ich viel mehr investieren muss, und auch nicht gerecht ist die Note, die ich ihnen geben muss. Und wenn ich sehe, was diese Michelle jetzt vom letzten August bis jetzt – das ist so (macht eine Geste von unten nach oben).
PK: Ja.
DB: Aber sie kriegt wahrscheinlich eine 4,7 oder so. Weil das Singen ihr nicht einfach gegeben ist. Und andere singen einfach toll, die stehen hin, aber von Tertia bis Prima bleiben sie einfach gleich und haben immer ihre beste Note. Aber gut. Also, ich mache beides sehr gerne.
PK: Kannst du auch einen Kommentar dazu schreiben, zu den Noten? Dass man die persönliche Entwicklung …
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DB: Nein. Gar nicht.
PK: Schade.
DB: Und dann denke ich immer, was benote ich denn eigentlich an einem Gymnasium?
PK: Ja.
DB: Aber auch an der Hochschule muss ich ja Noten geben, und dann denke ich, was wird benotet? Die Begabung? Oder die tolle Stimme? Oder keine Stimme, aber ein eiserner Lernwille? Also was benote ich? Nein, für mich ist es wichtig, dass sie sich wohl fühlt, und dass sie aber trotzdem hier im Gymnasium ist, ist mir ganz wichtig, zumindest dass ich das Gefühl habe, sie lernt etwas: nicht nur
singen, sondern auch ein bisschen Background, zwei, drei Sätze über Mozart und eine Vorstellung davon bekommt: „Wie war es früher, komm lieber Mai …?“ oder: „Ach was, der ist nur einunddreißig Jahre alt geworden, der Schubert“ – einfach dass mal was passiert, nicht nur „mi-mi-ma-ma-ma“. Diese zwei Ebenen sind für mich wichtig.
PK: Aber sie weiß wahrscheinlich, dass du es sehr schätzt, welche Entwicklung sie macht.
DB: Ja, das haben wir uns gegenseitig letztes Mal gesagt …
PK: Sehr schön.
DB: … das war ganz berührend, letzte Stunde sagte sie: „Ich hätte nicht gedacht, dass ich eine Arie singe.“ Und ich habe dann gesagt: „Michelle, ich hätte nie gedacht, dass du solche Fortschritte machst.“ Ich will sie auch teilhaben lassen an dieser Freude.
PK: Ja, wichtig.
DB: Und deshalb – man sieht es ja dann sicher auch – ich lasse ganz vieles durch. Also, da bin ich überhaupt nicht pingelig, wenn ein Ton nicht ganz so ist. Wir haben eine Atemübung gemacht, dann ging es nur um Atem, und es ist wurst, was dazwischen passiert. Nicht, dass ich es nicht höre, aber du arbeitest anders an der Berufsschule als hier. Und deshalb fokussiere ich auf ein Ding, und dann lasse ich es laufen. Oder hoffe es zumindest (lacht). Was ich immer schön finde, ist, dass sie – das ist mir auch wichtig – dass sie wie ein bisschen anders aus der Stunde rausgeht, als sie reinkommt. Weil die Schüler hier, die sind so was von tot, wenn sie kommen. Die haben zum Teil zehn Stunden am Tag.
PK: Müde.
DB: Zehn Stunden am Tag. Und Ende der Woche, die haben jeden Tag eine – Probe [Prüfung], wie sagt man auf Hochdeutsch? Test?
PK: Ja.
DB: Mathe, Physik und Französisch jeden Tag, jetzt ist Notendruck, und die sind so was von tot, und ich merke dann, dass es sie belebt. Also dass es ihr gut tut.
PK: Auch heute?
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DB: Ja, habe ich das Gefühl.
PK: Schön, ja.
DB: Ja. Und bei ihr ist lustig, also „lustig“ … seit August – ich mache es bei ihr jetzt absichtlich, das mache ich nicht bei allen, aber bei ihr absichtlich – frage ich immer, in irgendeiner Form, wie es ihr geht. Und seit August – wirst es dann hören, wie sie es sagt – immer gleich, also von der Schwingung gleich, sage ich: „So Michelle, hast eine gute Woche gehabt?“ – „Ja.“ Oder heute habe ich gefragt: „Und? Geht’s gut? Wie geht’s?“ – „Ja.“ Immer (lacht). Und da gibt es andere, die sagen: „Oh, heute ist mein Tag!“ Und sie sagt seit August: „Ja.“ Ich warte darauf, dass sich das noch mal ändert.
PK: Und heute auch.
DB: Heute auch so, und ich hake ein bisschen nach, dass ich sage, Schule, hast du Tests, hast du singen können und so, und dann kommen noch ein paar Sätzchen, aber sie würde nie von sich aus anders reagieren als: „Ja.“
PK: Du hattest gesagt, für die Schüler, heute Schülerinnen, war es eigentlich, als wenn die Kamera nicht da gewesen wäre.
DB: Ich hab, also …
PK: Hat sich so angefühlt.
DB: … war schon, sagen wir, sie waren es sich bewusst. Und ein paarmal – ich hoffe, dass alles drauf ist – weil ein paarmal sind sie mir abgedriftet, weißt du, und dann so mittendrin, muss ich sagen, komm, wir müssen rüber … Also ich hoffe, dass sie drauf sind. Aber es ist schon anders, und sie spüren natürlich auch, dass ich auch anders bin, also man ist anders, wenn was läuft.
PK: Wie war es bei dir?
DB: Ja, ich bin mir das eher gewohnt, aber es ist nicht, wie wenn keine Kamera da ist. Ist doch klar.
PK: Ja.
DB: Also soll mir niemand ein X für ein U vormachen, das ist bei allen Leuten so. Wenn man z. B. ein Feedback-Tandem hat – und wenn jemand in deine Stunde kommt – ich bin es mir gewohnt, ich habe immer viele Leute, die kommen – aber natürlich ist es anders. Ich habe es jetzt gedacht, ein, zwei Mal: „Das hätte ich wahrscheinlich gesagt, aber ich sage es jetzt nicht.“
PK: Ja.
DB: Ja, ist ja logisch. Ich wage zu behaupten, dass ich nicht verkrampft bin oder so – aber, es ist einfach noch eine Gegenwart da, nämlich die Kamera.
PK: Ja.
DB: Ganz klar. Aber dafür ging es relativ gut, finde ich.
PK: Und es gab so eine Situation, in der du gedacht hast, das hätte ich jetzt vielleicht gesagt, aber jetzt mit Kamera, dann …
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DB: Ja, ganz genau, also ganz konkret beim Mozartlied, da hätte ich wahrscheinlich, weil wir über die Jahreszahlen gesprochen haben, und dann war ich sehr versucht, ich habe so eine schöne Komponistentabelle …
PK: Ja.
DB: … und die hätte ich ihr gerne gezeigt. Das hätte ich sicher gemacht, im normalen Fall, und da habe ich gedacht, das ist jetzt für die Kamera uninteressant.
PK: Nein, nein, nein!
DB: … wenn wir die Rücken zur Kamera drehen und schauen, wo Mozart und Schubert sind. Also ich mache es dann nächstes Mal. Aber das zeigt ja hier … diesen Kontrollturm!
PK: Du hast es in Erinnerung gehabt, sofort.
DB: Ich hätte es gemacht, aber ich habe gedacht, nein, das kann ich ausschneiden, so das ist gut.
PK: Ja. Verstehe ich. Und sonst, mit dem Unterricht heute? Ist dir noch was Besonderes aufgefallen, so wie du dir vorgestellt hast, dass du vorbereitet bist …
DB: Ja, also jetzt bei der Michelle …
PK: … ja, Michelle?
DB: … grad überlegen, bei der Michelle – also ich mache immer Kurzprotokolle von der Stunde, weil ich so viele Schüler und Studis habe, das wüsste ich nachher nicht mehr. Und dann wusste ich, was ich bei ihr mache, also vielleicht die Haltung noch mal und sie repetiert die optimale Sängerhaltung, da habe ich gemerkt, ok, das war dann wahrscheinlich bei ihr wegen der Kamera, weil ich ja auch schon mal danach gefragt hatte. Also, ich habe sie gefragt: „Kannst du mir kurz die Haltung …?“ Und dann ist sie hingestanden und wollte einfach machen. Dann habe ich gesagt, dass sie etwas dazu sagen soll. Und dann hat sie wirklich so wie eine Leier: „… das ist der Boden, aufrecht zum Beckenboden, und dann aufrechter Körper, Schädeldecke parallel zur Zimmerdecke“. Ich hab ihr gesagt, ok, es ist gut – also das würde sie sonst nicht machen!
PK: War fast wie eine Prüfung?
DB: Es kam mir so vor, also einerseits hat sie mir gezeigt, das hast du doch schon mal gefragt, das weiß ich jetzt, und andererseits, ich kann das gut. Es war so runtergespult. Und dann Lockerung, Schulterlockerung, Atmung haben wir auch … Ja, siehst du, da habe ich auch etwas machen wollen, und da habe ich gedacht, nein, das kannst du nicht machen vor der Kamera (lacht). Ich wollte eine weitere Lockerungsübung einbauen.
Das sind solche Sachen. Ich habe dann aber andere Übungen gemacht, mit Kiefer, dass sie „momo-mo“, locker im Kiefer und trotzdem schön spricht. Und das ging ganz gut. Aber das sind so Bewegungen, dass ich denke, musst ja wohl nicht jetzt Zunge lockermachen vor der Kamera (lacht).
Aber eben, deshalb strengt es mich auch an, unter dem Strich. Ich muss wahnsinnig beobachten, damit ich sehe und höre, was sie macht oder nicht macht.
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PK: Ja. Wie ist das bei ihr mit dem Einatmen? Das frage ich mich gerade, z. B. beim Bild vom Kommode-Schieben?
DB: Also, das Kommode-Schieben ist grundsätzlich, um eine Spannung zu spüren …
PK: Ja.
DB: Ich spreche im Anfängerunterricht nicht von Stütze. Ich habe dann sie gefragt: „Was spürst du?“ Dann habe ich gesagt: „Kannst du dir mal vorstellen, dass du was schiebst, eine Kommode, nicht einen Schrank?“ Und das hat sie gehört …
PK: Ja.
DB: … und man hört es deutlich, es ist ein Unterschied.
PK: Die Bewegung nach unten.
DB: Und einfach hier unten ist es.
PK: Ja.
DB: Und dann eben dieses Gefühl von, jetzt mach ich was, aber sie ist hier, die Kommode ist ja da, sie ist nicht da oben. Und dann hat sie es tatsächlich, ich will was tun, aber es ist hier …
PK: Ja.
DB: … es ist nicht da oben.
PK: Sie singt nach oben, aber die Bewegung nach unten.
DB: Ja. Oder einfach das Gefühl von, ich bleibe – also die Kommode ist da, die geht nicht nach unten, aber ich schiebe nicht hier, sondern ich schiebe auf dieser Höhe.
PK: Ja.
DB: Und da hat man wirklich was gehört im Ton. Also, dass sie ruhiger führt und dass sie dran bleibt, dass Entspannung kommt …
PK: Ja. Hat sie es auch gemerkt?
DB: Sie hat etwas gespürt, ja, sie hat es – also ich habe auch nachgefragt.
PK: Ah, das sind tolle Momente dann.
DB: Ja, ja.
PK: Ja. Wenn so etwas passiert.
DB: Genau. Ich hab ihr gesagt: „Was ist jetzt für dich besser?“ Ich lasse sie dann immer selber aussuchen; einen Bühnenvorhang aufschieben geht auch, dieses hier, oder eben dieses hier – es gibt noch vieles. Ich sag nicht, das ist für dich, weil meine Ohren sagen: „Das!“ – weil es ist ja sie, die spüren muss, auch wenn ich höre, dass es hier besser ist. Wenn sie sich da wohler fühlt, dann muss sie zuerst diesen Weg gehen. Ja, das war toll. Also hat sie gut gespürt, und das ist auch neu, weil am Anfang sagte sie immer: „Es ist mir gleich, ich merke nichts.“
PK: Ja.
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DB: Und jetzt beginnt sie – also jetzt hier, in der Stunde hat sie gesagt, vom Klang her kann sie den Unterschied noch nicht hören. Ich habe ihr gesagt: „Weißt du, das ist normal, am Anfang hört man das nicht, aber spürst du einen Unterschied?“ Da hat sie gesagt: „Ja, ich spüre einen Unterschied.“ Ist ja schon toll.
PK: Ja.
DB: Und ich habe ihr gesagt, was ich höre. Also, dass der Klang freier ist oder gehalten ist, habe ihr aber gezeigt, das ist ok, wenn sie das noch nicht hört, aber sie fühlt das jedenfalls schon. Was haben wir noch gemacht? Ah ja, dann beim Frühlingslied – ich habe ihr zwei – mache ich absichtlich so
bei ihr, ich möchte sie ein bisschen zum Busch rausklopfen, wie wir in der Schweiz sagen, deshalb gebe ich ihr zwei ähnliche Lieder. Ich gebe manchmal auch zwei Lieder/Songs als Hausaufgaben, aber dann ist es z. B. Pop und Musical oder Gospel und Klassik. Bei ihr gebe ich bewusst zwei gleiche, damit sie sich mal ein bisschen entscheidet, damit sie sagt: „Ich möchte an dem arbeiten!“
PK: Ja.
DB: „… das gefällt mir besser.“ Aber hier kam wieder: „Spielt mir keine Rolle.“ Mit welchem wollen wir anfangen? Weil entweder gefällt einem etwas besser, oder man hat es mehr gelernt oder es ist leichter – ich weiß es nicht, aber bei ihr kommt regelmäßig „hmh“ – und da grüble ich jetzt noch nicht, da will ich noch nicht so zackig eine Entscheidung fordern. Da will ich sie nicht zu viel pushen.
PK: Gibst ihr noch Zeit.
DB: Genau.
PK: Schön!
DB: Ja.
PK: Ich bin sehr gespannt auf den Film.
DB: Was mir auch wichtig ist …
PK: Ja.
DB: … ist jetzt bei ihr – also bei allen Tertianern, die ich habe – ist, dass sie sich überhaupt fühlen, weißt du: „Wie geht es mir heute?“ Einfach nicht nur Leistung, Leistung und von einem Fach zum andern, sondern mal ankommen, wie auch immer …
PK: Ja.
DB: … und dann, dass sie genau wissen, was sie zu tun haben. Das mache ich bei den Fortgeschrittenen nicht – also, dass sie genau weiß, was die Hausaufgaben sind: Erstens: Mozart, nachschauen im Internet, wissen, wer das war. Zweitens: die punktierte Note länger halten. Drittens: den Vorschlag mit b – einfach wirklich, dass sie sich an etwas halten kann und nicht einfach an den Rhythmen üben. Dass sie es ziemlich genau weiß und auch, was nächste Stunde auf sie zukommt.
PK: Ja. Und wie gehst du es an, dass sie das genau wissen?
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DB: Am Schluss der Stunde sage ich das immer, am Schluss der Stunde sage ich: „Also, auf nächstes Mal, weißt du noch?“ – ich glaube, hier hat sie selber gesagt, oder ich – manchmal sage ich es, manchmal sie – aber dass es wie klar ist.
PK: Ja.
DB: Und dann können wir nächstes Mal genau dort einsteigen.
PK: Ja.
DB: Ja eben, dass sie eine Mischung hat von Singen, von Loslassen, von Arbeiten, aber auch etwas erfahren darüber, dass der Schubert 700 Lieder geschrieben hat. Bei Mozart habe ich sie gefragt: „Weißt du etwas von seiner Musik?“ Es war ihr peinlich. Das war ihr eben wahrscheinlich auch peinlich wegen der Kamera. Weil sie nichts gewusst hatte, habe ich gesagt: „Vielleicht die Zauberflöte?“, aber sie wissen erstaunlicherweise nichts, obwohl sie Schwerpunktfach Musik haben, aber das kommt wahrscheinlich noch. Ich hab ihr gesagt: „Du wirst sicher was davon hören.“ Aber es gehört eben auch in den Gesangsunterricht. So, die Stunde ist immer zu kurz.