Susanne Popp
MAX REGER WERK STATT LEBEN Biographie
Breitkopf & Härtel
Susanne Popp · Max Reger – Werk statt Leben
Susanne Popp
Max Reger Werk statt Leben Biographie
Ergänzendes Material finden Sie auf dem Bild- und Klang-Portal zu Max Reger: http://www.maxreger.info/bildbio BV 450 ISBN 978-3-7651-0450-3 3. Auflage 2017 © 2015 by Breitkopf & Härtel, Wiesbaden Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Marion Schröder, Wiesbaden. Abbildung: Max Reger bei Korrekturarbeiten an der Ballett-Suite op. 130, Kolberg Sommer 1913. Foto Franz Nölken. Satz: Dr. Jürgen Schaarwächter, Max-Reger-Institut Karlsruhe Druck: Druckerei Hubert & Co., Göttingen Printed in Germany www.breitkopf.com
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Kunst und Leben ♦ Reger in seiner Zeit ♦ Aufgabe der Reger-Biographie ♦ Gegen die Zwangsläufigkeit ♦ Dank
I. Entwicklung und Ausbildung – März 1873 bis Februar 1893 1. Kindheit und frühe Jugend im Elternhaus – Weiden März 1873 bis August 1888 . . . 17 Umfeld des Kindes ♦ Geburt und Taufe ♦ Die Eltern ♦ Überlieferungssituation ♦ Als Reger ein Kind war ♦ Musikalische Anfänge ♦ Ausflüge aus engen Grenzen
2. Neue Ziele – August 1888 bis März 1890 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 Erweckungserlebnis Bayreuth und erste Komposition ♦ Riemann greift ein ♦ Gegen die Zwangläufigkeit der Beschränkung ♦ Rheinberger contra Riemann
3. Vom gehorsamen Sohn zum Künstler – Sondershausen Frühjahr und Sommer 1890 . . . 44 Auftritt und Antrittsgeschenk ♦ Eindrücke ♦ Außenseiter und Philisterfeind
4. Riemanns Spezialschüler – Wiesbaden September 1890 bis Februar 1893 . . . . . . . . . 50 Im mondänen Kurbad ♦ In Riemanns Sinn ♦ Aus dem Leben eines Taugenichts ♦ „Der Reger wird einmal ein bedeutender Kerl werden“ – erste Opera ♦ Reger findet einen Verleger ♦ Spiel mit der Tradition – erste Orgelstücke op. 7 ♦ Verschmitzte Galanterie – WalzerCapricen op. 9
II. Freischaffend in Wiesbaden – März 1893 bis Juni 1898 5. Zwischen Hoffnung und Depression – März 1893 bis September 1894 . . . . . . . . . . . 66 Gegen die Zwangsläufigkeit Riemann’scher Dogmen ♦ Studium der Exempla classica ♦ Privatstunden und ihre Folgen: Auftritt Elsa ♦ „eine außerordentlich intensive musikalische Natur“ ♦ Neue Texte – Zeitgenossen und Eichendorff ♦ „noch nicht ganz verstanden“ – Uraufführung der Cellosonate op. 5 ♦ Waldemar Meyer, der erste Reger-Pionier ♦ Reger rezensiert ♦ Erste Choralvorspiele und Bach-Bild ♦ Auftritt in der Hauptstadt und Jahres bilanz ♦ „Sein Ernst ist schon bizarr genug, aber gar seine Lustigkeit!“ ♦ Unglücklich verliebt ♦ Überwindung durch Arbeit
6. Immer zuviel, aber immer ernst – Herbst 1894 bis September 1895 . . . . . . . . . . . . . 86 Außenseiter ♦ Ermunterung: Arthur Smolians Würdigung ♦ „Den Manen Bachs“ – Orgel suite op. 16 ♦ Canons durch Dur und Moll ♦ Auftritt Ferruccio Busoni ♦ Wider die Zwangsläufigkeit des Wettbewerbs
7. Nicht Lakai, sondern freier Künstler – Oktober 1895 bis September 1896 . . . . . . . . 95 Bemühungen ♦ Komponieren im Voraus ♦ Auftritt Brahms
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8. „dies öde, traurige Jahr“ – Oktober 1896 bis September 1897 . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 Nonkonformist in Uniform ♦ „Socialdemokrat unter den jetzigen Komponisten“ ♦ Zwiespältige Bilanz
9. Existenzielle Krise – Oktober 1897 bis Juni 1898 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Musikalische Freiheit ♦ Der „verrückte“ Reger ♦ Nur „Tabaks- und Biergeruch“ – das erste Klavierquintett ♦ Zuspitzung ♦ Krankheit und Heimkehr ♦ Bach als Therapeutikum
III. Selbstfindung in Weiden – Juni 1898 bis August 1901 10. „mein Lebenszweck die Composition“ – Juni bis Dezember 1898 . . . . . . . . . . . . . . 116 Exkurs: Weiden um 1900 ♦ Reger kommt „heim“ ♦ „Geschrieben habe hier mörderlich viel“ – neue Klavierstücke ♦ Alkohol und Nikotin ♦ „das Beste, das ich bisher geschrieben“ – Choralphantasien ♦ Lösung der „Verlegerfrage“ ♦ „Herrn Richard Strauss verehrungsvollst zugeeignet“ – Phantasie und Fuge c-moll op. 29 ♦ „O Gesang!“ – Alternativen zur „Lieder tafelei“ ♦ „doch es war mir sehr ernst dabei“ – Cellosonate op. 28
11. Konsolidierung – November 1898 bis Ende 1899 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 Schuldenabbau im Akkord ♦ Komponistenporträt in Weiden ♦ Gescheiterte Werbung ♦ Lebensbewältigung durch Literatur ♦ Liedertexte am Puls der Zeit ♦ Aufgehender „Stern am Orgelhimmel“ ♦ Für einen neuen Verbündeten – Violinsonate op. 41 ♦ Wiederbelebung einer alten Gattung ♦ Der „neue Bach“ für die Virtuosen und Instrumente seiner Zeit ♦ Gebrauchsmusik für Haus und Kirche ♦ Exkurs: Komposition am Klavier oder Schreibtisch
12. München im Visier – Ende 1899 bis August 1901 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 „Elefanten“ für die Orgel – Phantasie und Fuge über B-A-C-H op. 46 ♦ Lusingando oder „tiefernst“? – Klarinettensonaten op. 49 ♦ „An Hugo Wolf“ – Gesänge op. 51 und op. 55 ♦ Drei letzte Choralphantasien op. 52 ♦ Debüt in München ♦ „solch verrücktes Zeug“ – Streichquartette op. 54 und zweites Klavierquintett ♦ Orgelattacke auf München ♦ Symphonisch und fantastisch – „Inferno-Phantasie“ op. 57 ♦ Kompositorischer Abschied aus Weiden
IV. Provokateur in München – September 1901 bis Ende 1904 13. Ouvertüre – München September 1901 bis Sommer 1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Im Käfig ♦ Vorstellungsrunde ♦ Einstieg mit Liedern ♦ „verworrne Frisur“ – Regers ungewohntes Schriftbild
14. „nun glaub’ an mich!“ – Februar bis Ende 1902 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Zähes Ringen ♦ Die ideale Künstlerfrau ♦ Werke aus der Werbungszeit ♦ Flitterwochen mit neuen Verlegern ♦ Hochzeitslieder op. 66 ♦ „Auf Bachschem Grunde erwachsen“ – Choralvorspiele op. 67 ♦ Für die Katholiken: Leicht ausführbare Kompositionen op. 61 ♦ Konflikte des gelebten Lebens
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15. Auf dem Zenit der Komplikation – 1903 und 1904 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Liederwettstreit ♦ Experimente, „wie weit man wohl ganz ohne Melodie kommen könnte“ ♦ „o heilger Sebastian“ ♦ Uraufführung des „verrückten“ Klavierquintetts op. 64 ♦ „alle Gebiete des menschlichen Empfindens berührend“ – Siebzehn Gesänge op. 70 ♦ Auskomponierte Verunklarung – Gesang der Verklärten op. 71 ♦ Exkurs: Konzeption und Schreibprozess ♦ Theoretische Untermauerung: Modulationslehre ♦ Hugo Wolfs Nachlass ♦ Sonate der Jetztzeit – Violinsonate C-dur op. 72 ♦ Regers Arbeitswut und Elsas Flucht in die Krankheit ♦ „Schuften muß man“ – Privatunterricht ♦ Tonkünstlerfest in Basel ♦ Gegengewichte zur Komplizierung ♦ Das „delirierende“ Orgelopus 73 ♦ Radikale Expression im Streichquartett op. 74 ♦ „schimpfe nicht darüber“ – Gesänge op. 75
16. Positionierung – Januar bis September 1904 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Exkurs: Reger als Autor von Streitschriften ♦ Integrationsversuch – Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Musikvereins ♦ Verbindung nach Wien ♦ Parallelwege: Komplizierung und Schlichtheit
V. Der ewige Oppositionelle – München Mai 1904 bis März 1907 17. Der Erfolg stellt sich ein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Die Wende – Frankfurter Tonkünstlerversammlung ♦ Von Bach beflügelt – Bach-Variationen ♦ Kreative Sommerferien – Beethoven-Variationen ♦ Exkurs: Reger, der Briefe-Schreiber ♦ Das Reisen beginnt
18. „bei mir müssen die Musiker ran!“ – 1905 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 Aufbau einer „Riesengemeinde“ ♦ Ernstgenommen in der Schweiz ♦ Exkurs: Regers Sprachwitz ♦ Freundschaften in Köln und Heidelberg ♦ Wien wird erobert ♦ Weiter unterwegs ♦ Violinsonate op. 84 und Umzug nach Schwabing ♦ Auch die Gelehrten „müssen ran“ ♦ Eintritt in die Akademie der Tonkunst ♦ Grazer Affäre ♦ Auftritt Simrock ♦ Verschnaufen in den Sommerferien? ♦ Hymnus vom Tode und ewigen Leben ♦ Sinfonietta – „nur“ Musik mit bildhaften Erläuterungen ♦ Entdeckung von Bachs Konzerten ♦ Bach-Heft der Zeitschrift Die Musik ♦ Kölner Erstaufführung der Sinfonietta unter Fritz Steinbach ♦ Erste Sporen als Dirigent im Porges-Verein
19. Bomben platzen – Januar bis September 1906 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 Spiegelfechterei im Leben – Sostenuto im Werk ♦ Münchner Sinfonietta-Skandal ♦ Einstieg als Sinfonietta-Dirigent ♦ „Stile affrontoso“ ♦ Eine Lanze für Bach und weitere Konzert erfolge ♦ Berliner Konzertskandal ♦ Konsequenz im Leben: Austritt aus der Akademie ♦ Konsequenz im Werk: galant servierte Orchesterserenade ♦ Arbeitsferien in Prien am Chiemsee ♦ Exkurs: Stefan Zweig ♦ Tonalitätssprengendes Opus 96 ♦ Ausblick Wien 1919 ♦ Unter bliebener „Haupthieb“ – Hymnus vom Tode und ewigen Leben
20. Münchner Finale – Konzertsaison 1906/1907 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Uraufführung der Serenade mit „intermezzo tragico“ ♦ Eigene Interpretation der Serenade ♦ Anlauf auf Leipzig ♦ Erfolgsmodell Bach-Spieler und Reger-Dirigent ♦ Zur „Regergemeinde“ in Sankt Petersburg ♦ Exkurs: Nicht exportierbar? ♦ Hinrichsens Angebot ♦ Entscheidung für Leipzig
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VI. Leipziger Reifezeit – April 1907 bis Oktober 1911 21. „da mein Hirn mich zu unentwegtem Schaffen drängt“ – April bis Sommer 1907 . . . 267 Durch Tradition zum „Selberaner“ ♦ „all die Arbeiten, die jetzt vorliegen“ ♦ Amerika – zu zeitaufwendig? ♦ „Vereinsdirektor“ mit pädagogischen Absichten ♦ Festkompositionen für Leipzig und Jena ♦ Sommerfest der Pauliner ♦ Kompositionslehrer ♦ Versuch gegen die „Schriftgelehrten“ ♦ Debatte über die Zukunft der Musik ♦ „Herzblut“ contra Auftrag – Ärger an der Verlegerfront ♦ Kinder kommen ins Haus
22. Die Früchte von Hinrichsens Wohltat – Sommer 1907 bis Sommer 1908 . . . . . . . . 290 Violinkonzert – im Angesicht „ewig unerreichbarer Muster“ ♦ Uneinlösbare Ansprüche und Trennung von den Paulinern ♦ Eine „verflucht tiefernste Sache“ ♦ Spiegelungen von Werk und Leben – Klaviertrio op. 102 ♦ Exkurs: Reger korrigiert ♦ Erholung für Elsa und Entspannung für Max ♦ Dr. phil. h. c. in Jena ♦ Ruf nach Wien und Bleibeverhandlung
23. Große Werke „abseits vom modernen Getriebe“ – Sommer 1908 bis Ende 1909 . . . . 305 Elsa macht Szenen ♦ Früchte der Sommerferien ♦ Das „Monstrum“ Violinkonzert ♦ „Vorm nächsten Winter graut mir“ – Konzertsaison 1908/1909 ♦ „Wir Komponisten sind doch keine ‚Ware‘“ ♦ Debüt als Beethoven-Dirigent in Hamburg ♦ „J’accuse“ ♦ Zu viele Abstürze und Niederungen – Uraufführung Symphonischer Prolog zu einer Tragödie ♦ Exkurs: „Der Montblanc darf nur einmal kommen“– Geschichte der Kürzung ♦ „Präokkupations gebiete der Seele“ ♦ Vollglück in der Beschränkung – Klarinettensonate op. 107 ♦ con spirito – Streichquartett Es-dur ♦ Protokoll einer Hirnleistung – London-Reise ♦ Vollendung des 100. Psalms und erste Motette ♦ „Katholisch bis in die Fingerspitzen“ – Die Nonnen op. 112 ♦ „noch mehrere solcher ‚Dinger‘“ ♦ Mit Dehmel „hausieren“ für Liliencron
24. Höhen und Tiefen – 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 „O, es ist zum Konservativwerden“ ♦ Beten, „daß jeder Tag 72 Arbeitsstunden habe“ ♦ Das große Dortmunder Reger-Fest ♦ „Wirrnisse und Durcheinander“ ♦ Doppelt vertreten – Zürcher Tonkünstlerfest ♦ „Themen aufzuführen, ist zwecklos“ – Klavierquartett op. 113 ♦ Dr. med. h. c. – Freude und Häme ♦ Erinnerungen von Julius Levin und Begegnung mit Sibelius ♦ „Brahms Dmoll Concert ins Moderne übertragen“ – Klavierkonzert op. 114 ♦ Kinderlieder statt Kinderspiele – Sommerferien 1910 ♦ Krankheit der Mutter ♦ Herzblutwerk Cellosonate op. 116
25. Endphase Leipzig – Oktober 1910 bis Oktober 1911 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 „Unakademisches“ Bach-Spiel ♦ „Ewiger Wöchner“ – Streichsextett op. 118 ♦ „Das feine Donnerstags-Publikum“ erduldet das Klavierkonzert ♦ Prager Episode eines „streitbaren Lebens“ ♦ „ein unglücklicher deutscher Notenschreiber“ – Die Weihe der Nacht op. 119 ♦ Gute Aussichten – Verhandlungen mit Meiningen ♦ Exkurs: Ehrungen und Orden ♦ Vorfreudige Lustspielouvertüre ♦ Komponieren gegen den Tod – Streichquartett op. 121 ♦ Letztes Leipziger Werk – Violinsonate e-moll ♦ Heimat bei Bach ♦ „Eigentlich brauchte ich gar keine Sommerfrische. Aber meine Frau hat sie dringendst nötig“ ♦ Konzertreisen mit Landung in Meinigen
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VII. Hofkapellmeister in Meiningen – November 1911 bis April 1915 26. Schwungvoller Beginn – November 1911 bis September 1912 . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Hofbeamter ohne Beamtenmentalität ♦ „Stempel einer markanten Persönlichkeit“ – Bewährung auf Reisen ♦ Ungewohnte Geldanlagen ♦ „dann geht ein ‚wüstes‘ Componieren los“ ♦ „eine alte wundervolle Form“ – Concert im alten Styl op. 123 ♦ „ja, dich will ich finden“ – An die Hoffnung op. 124 ♦ Kontinuum der Nachtgesänge – Romantische Suite op. 125 ♦ „Camouflierte Hymne“ – Römischer Triumphgesang op. 126
27. „je älter er wird, desto mehr wird er sich überstürzen“ – Oktober 1912 bis September 1913 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384 Konzertmarathon mit Riesenrepertoire ♦ Briefe von unterwegs ♦ Laienchor da capo – Meininger Singverein ♦ Eklat in Berlin ♦ „die Basis, auf die ich mich stelle, muß möglichst groß sein“ ♦ „Die reale Welt u. der nur Künstler werden eben immer Gegensätze bleiben“ ♦ „Reaktionär aus Erfahrung“ – Reger und der Allgemeine Deutsche Musikverein ♦ Herausforderung „Riesenorgel“ – Introduktion, Passacaglia und Fuge op. 127 ♦ „Kulturgeprägter Patriotismus“ ♦ Lied-Instrumentierungen ♦ Tondichtungen nach Gemälden – Böcklin-Suite op. 128 ♦ „für musikalische Feinschmecker“ – Ballett-Suite op. 130 ♦ Für des Herzogs neue Orgel? – Orgelstücke op. 129
28. Reisen bis zum Zusammenbruch und Rekonvaleszenz – Oktober 1913 bis Juli 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 404 „als wenn er glaube, es steht jemand mit der Hetzpeitsche hinter ihm“ ♦ Der langersehnte Verlagswechsel ♦ Der unvermeidliche Kollaps ♦ Kur in Meran und Rücktrittsgesuch ♦ Schreiben trotz Arbeitsverbot – Solokompositionen und Liedinstrumentierungen ♦ Quintessenz der Meininger Erfahrungen – Mozart-Variationen op. 132 ♦ Zurück zur Kammermusik – Klavierquartett op. 133 ♦ Entscheidung für Jena
29. „diese entsetzliche Kriegsgeschichte“ – August 1914 bis März 1915 . . . . . . . . . . . . 419 Distanz zur „Militarisierung des Alltagslebens“ ♦ Versuch, den Krieg auszublenden – Telemann-Variationen op. 134 ♦ Religiöse Werke zu Kriegsbeginn ♦ „paradox“ – Hymnus der Liebe op. 136 ♦ „ein kontrapunktisches ‚Wunder‘“ – Vaterländische Ouvertüre op. 140 ♦ „nicht für den Krieg eingetreten“ ♦ Auflösung der Hofkapelle ♦ „Niederschlag“ des Weltkriegsgrauens – Requiem ♦ Schaffenskrise ♦ Zurück auf den Konzertpodien
VIII. „Freiheit ist nur in dem Reich der Träume, und das Schöne blüht nur im Gesang“ – Jena März 1915 bis Mai 1916 30. „jetzt beginnt der ‚freie, jenaische Stil‘“ – Frühjahr und Sommer 1915 . . . . . . . . . . 435 Die „freie Art des Denkens“ ♦ „aus ‚Askese‘ gewonnene Intensivierung“ – Violinsonate op. 139 ♦ Freiheit vom Originalitätszwang – Opera 141 bis 143 ♦ Korrektur mit der Schere – Phantasie und Fuge op. 135b ♦ Musikalische Andachten – Orgelstücke op. 145 ♦ „Solche Sachen interessieren mich stets sehr“ – weitere Bach-Bearbeitungen ♦ Eigene Werke in neuem Gewand ♦ Weltferne und Todesnähe – Der Einsiedler op. 144a und Hebbel-Requiem op. 144b
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31. „der ‚Fall Reger‘ muß ‚chronisch‘ werden“ – Oktober 1915 bis Mai 1916 . . . . . . . . 451 Als „Attraktion aufs Podium“ ♦ Gespräch zu dritt – Klarinettenquintett op. 146 ♦ Die „Reiserei“ geht wieder los ♦ „es ist alles fertig“ – Adagio und Rondo capriccioso ♦ Tod eines „commis voyageur en musique“ ♦ Arztberichte und Diagnosen ♦ Trauerfeier und Nachrufe ♦ Werk statt Leben?
Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 465 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 Register der Personen und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527
Einleitung Werk statt Leben ist ein radikaler Titel für eine Biographie. Der Missdeutung als romantisch-heroischer Topos ausgeliefert, erweist er sich erst durch die Lektüre als zutreffend für diese spezielle Komponistenexistenz, die sich beinahe ausschließlich um Musik drehte und für die jede Form von Musikmachen – Komponieren, Korrigieren, Bearbeiten, Unterrichten, Klavierspielen und Dirigieren – eine so beherrschende Rolle einnahm, dass Freizeit, Gesundheit, Familie und Freundschaften zurückstehen mussten, und dies so sehr, dass die Werke zum wirklichen Leben wurden und diesem Sinn verliehen. In der Tat scheint Reger alle Lebensentscheidungen dem Werk zuliebe gefällt zu haben – jeder Umzug, jede berufliche oder private Änderung der Lebensumstände war musikalisch motiviert: Das gilt per se für die Studienorte Sondershausen und Wiesbaden; Weiden wurde zum Ort der Selbstbesinnung, München diente der Profilierung gegenüber der musikalischen Moderne, nach Leipzig zog ihn die Bach-Tradition, in Meiningen schuf er sich das eigene Instrument eines Orchesters, um in Jena zur Konzentration auf sich selbst zurückzufinden. Die Stationen des Musikmachens ordnen daher die Geschichte seines Lebens und strukturieren auch diese Biographie, deren Episoden einem stereotypen Muster folgen: Dem beschwingenden Anfang folgt an jedem Ort zunehmende Entfremdung bis zur Entzweiung. So drängt sich bei der Schilderung von Regers Leben die Geschichte seines Komponierens, von dessen Ermutigungen und äußeren wie inneren Widerständen in den Vordergrund. Um dem Leben durch Musikmachen Dauer zu verleihen, ist Reger oft simultan mit mehreren Plänen und ihrer Ausführung beschäftigt, lässt nie eine Pause eintreten und beginnt immer schon neue Werke, bevor das vorausgehende fertiggestellt ist. Dieses Leben in Musik stemmt sich gegen das Verrinnen der Zeit und gibt dem Dasein Sinn; auch soll es dafür sorgen, in der Musikgeschichte Spuren zu hinterlassen und damit auch dem Nachleben Dauer zu verleihen. Aus der Überzeugung, dass sein musikalisches Talent als Geschenk Gottes nur durch unermüdliche Arbeit zu rechtfertigen sei, wird Reger zum Leistungsethiker und Getriebenen, der sich selbst unter starken äußeren und inneren Druck setzt. Probleme entstanden beim Zusammenprall des Lebens in Musik mit der Alltagswelt – in der Werkstatt Leben ist Reger vieles misslungen, und oft vermeidbare Konflikte säumten seinen Lebensweg. Doch gab ihm sein Komponieren die Möglichkeit, diese reflektierend zu verarbeiten und sich damit aus der Abhängigkeit von den Unbilden des Alltags zu lösen. Kunst und Leben Wie zulässig aber ist die Kurzschließung von Leben und Werk? Das nachhaltige Interesse am Leben eines Künstlers ist seinem Werk geschuldet. Das musikalische Kunstwerk als Selbstzeugnis zu deuten war jedoch lange nicht unangefochten. Weit stärker als in den Nachbardisziplinen der Historiker, Germanisten oder Kunsthistoriker wurde in der Musikwissenschaft die Aussagekraft der Biographik für die wissenschaftliche Interpretation mit einer Radikalität bestritten,1 die heute nur als Überreaktion auf die unreflektierte Heroenbiographik vorangegangener Epochen erklärbar ist. Erst in den beiden letzten Jahrzehnten haben sich werk-
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immanente, hermeneutische und kontextuelle Verfahren ausgesöhnt, was nicht zuletzt die Aufnahme von biographischen Dokumenten in die großen Gesamtausgabenprojekte belegt, die früher ausgeklammert blieben. Heroenbiographik wäre für die Person Regers gänzlich ungeeignet; weder isolierende Taubheit noch zum frühen Tod führende schwere Krankheit oder entwurzelnde historische Umstände mussten von ihm überwunden werden, und Abenteuer gleich welcher Natur ließ seine Fixierung auf Musik gar nicht erst zu. Anstelle eines genießerischen Bohèmelebens zeigt sich eine im Kleinbürgerlichen wurzelnde persönlich anspruchslose Existenz, statt Weltläufigkeit verfolgen wir übersichtliche Lebenskreise, allein die häufigen Aufgaben- und Wohnortwechsel spiegeln die Unrast, die auch das Nomadenleben des Komponisten-Interpreten prägte. Reger selbst hat auf den engen Zusammenhang von Werk und Leben verwiesen: „Was ich erstrebt, erreicht, verfehlt habe, das weiss ich allein [...]. Wer wissen will, was ich will, wer ich bin – der soll sich das ansehen, was ich bis jetzt geschrieben habe – wird er nicht klug daraus, versteht er’s nicht, so ist’s nicht meine Schuld!“2 Als sein Lehrer Adalbert Lindner ihm die Absicht zur Abfassung einer Biographie verriet, muss er mit Ablehnung reagiert haben: „Der Reger steht in seinen Werken geschrieben! Wer ihn richtig kennen lernen will, studiere also diese!“3 Deutet er damit an, dass seine Werke viel über ihn, der sich über Persönliches konsequent ausschwieg, verraten? Und welche Spuren hinterlässt sein Leben in seinen Werken? Nicht um Abbilder des Lebens im Werk, um Erklärungen oder Nachzeichnungen von Ereignissen geht es in seiner Musik, die eine Sprache des Uneindeutigen ist. Weiter führt ein Begriff, den Dieter Henrich in seinem Versuch über Kunst und Leben eingeführt hat: So groß die Differenz zwischen Kunst und Leben sei, so herrsche doch zwischen Lebensgang und Kunstproduktion eine Resonanz. Große Kunstwerke seien solche, „in denen es gelang, in ihre Gestaltung die Grundlage der Lebenskonflikte und die Dynamik, die in sie hineinzieht, aufzunehmen und ihr einen adäquaten Ausdruck zu verleihen.“ Solch gelungene Kunstwerke vermittelten etwas Eigenes und Neues und fänden, wechselwirkend, auch im Leben eine Resonanz, die dazu berechtige, große Worte wie „Erschütterung“ und „Befreiung“ zu gebrauchen.4 So ist es Aufgabe einer Biographie, den Spuren des Lebens im Werk nachzugehen, die sich verschlüsselt mitteilen und allenfalls als geformter „Ausdruck des Erlebten“ verstehen lassen. Reger in seiner Zeit Mit dem Menschen rückt uns auch seine Zeit näher, in deren kulturelles und soziales Leben er eingebunden, ja untrennbar verwoben war. Regers Lebensdaten sind nahezu identisch mit den Eckdaten des Deutschen Kaiserreichs, sein Leben fiel also in die klar umrissene geschichtliche Epoche vom selbstbewussten Aufstieg zur Großmacht bis zum kläglichen Untergang im Weltkrieg. Diese nach außen geschlossene Ära ist voller Widersprüche und Spannungen in allen Lebensbereichen – in Kunst, Wissenschaft und Gesellschaftsleben –, eine Zeit voller dramatischer, in großem Tempo vollzogener Entwicklungen, mitreißender Strömungen und heftiger Gegenbewegungen, die sich durch den unaufgelösten Gegensatz von Beharrung und Fortschritt auszeichnete und Nervenleiden zur Mode werden ließ. Reger hat das Klima der Jahrhundertwende, den Geist des Zeitalters der Nervosität, wie es der Historiker Joachim Radkau treffend taufte,5 seismographisch aufgenommen und sich einer Welt voller Konflikte
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– ästhetischer und künstlerischer wie gesellschaftlicher und politischer – gegenübergesehen, deren Struktur er in musikalische Form goss, ohne sie einer Lösung zuzuführen. Grundlegende Reger-Biographien wurden von seinem Lehrer Adalbert Lindner (1922), seinen Schülern Hermann Unger (1921) und Guido Bagier (1923) sowie von seinem Freund Fritz Stein (1939) geschrieben, die von der Kenntnis der Künstlerpersönlichkeit profitierten und auch auf vertiefter künstlerischer Auseinandersetzung mit dem Werk beruhten. Im Jubiläumsjahr 1973 folgte die rororo-Biographie von Helmuth Wirth, ein schmaler informativer Band, der die Ergebnisse damaliger Reger-Forschung zusammenfasste. Zuletzt erschien 1991 Rainer Cadenbachs Monographie in der Reihe Große Komponisten und ihre Zeit,6 die sich einerseits weitgehend auf den Bereich der Kammermusik konzentriert und andererseits – im Einklang mit den Subjekttheorien des ausgehenden 20. Jahrhunderts – die psychologische Bedingtheit herausstellt, welche die Vorstellung des autonomen Ich als illusionär zu entlarven schien. Zwar lässt sich die romantisch absolutierende Vorstellung der Künstleridentität angesichts psychoanalytischer Einsichten und des Wissens um das Eingebundensein jedes Individuums in seine Zeit nicht mehr vertreten, doch ist der Autonomiegedanke damit nicht gänzlich demontiert, betont die Subjekttheorie doch heute eher Ambivalenzen: Der moderne Künstler, so der Romanist Paul Geyer, erlebe sich zwar „als vielfältig verstrickt in unbewußte psychische Impulse, halbbewußte Verdrängungsmechanismen und ideologische Denkmuster.“7 Doch bleibt es seine Aufgabe, um Authentizität zu ringen und Selbstvergewisserung zwischen den Polen von Souveränität und Fremdbestimmung zu suchen. Bleibendes Interesse werden weniger die zeitkonformen als die querständigen Kunstbeiträge beanspruchen.
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Aufgabe der Reger-Biographie So ist es ein Spagat, Reger als einmalige Persönlichkeit in seinen Entscheidungen ernst zu nehmen und ihm dennoch aus seiner Zeit heraus näherzukommen – mit zeitbedingten und unzeitgemäßen Zügen, traditionsverwurzelt und dennoch von starker und zum Teil zukunftsweisender Eigenart. Stellt man die Frage, wie weit er Zeit und Zeitgeist in sich eindringen ließ, muss man konstatieren, dass er in vielem durchaus ein notorischer Oppositioneller mit Außenseiterrolle ist, ein Einzelgänger mit schöpferischem Selbstbewusstsein, der sich der einfachen Einordnung entzieht und seine Eigenart gerade im Gegenüber – in der Reibung durch Übersteigerung, Intensivierung und Differenzierung des Vorbilds oder durch Widerlegung des Gegenbilds – beweist; der nur selten Kompromisse eingeht und konsequent und oft zum eigenen Nachteil Modetrends und Mainstream meidet und es dem Spieler und Hörer so schwer macht, dass er bis heute nur eine Randexistenz im Musikleben einnimmt. Hartnäckige Nachdrücklichkeit ist deshalb ein hervorstechender Charakterzug nicht nur des Menschen Reger, sondern auch seiner Musik, die in immer neuen Ansätzen gegen Depression und Widerstände anzukämpfen scheint und in gewaltsame Apotheosen mündet. Dass er dennoch eine große Empfindlichkeit gegenüber der Meinung anderer zeigte und ihn negative Urteile so weit verunsichern konnten, dass er selbst wichtige Kompositionsvorhaben aufgab, gehört zu den beunruhigend widersprüchlichen Zügen seiner Persönlichkeit. Auch wenn die Biographie nach Voraussetzungen für sein Handeln sucht und den geschichtlichen Zwängen seiner Existenz, seinem familiären Umfeld und den gesellschaftlichen
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Konstellationen nachgeht, will sie das Leben nicht auf das Prinzip von Ursache und Wirkung reduzieren. Daher meidet sie psychologisierende Erklärungen, die Leben und Wirken unter ‚neurotischen Generalverdacht‘ stellen und Charakterzüge als pathologische Befunde sehen. Reger war ein Mensch mit Ecken und Kanten, aufbrausend, zur Melancholie neigend und zugleich von angestrengter Munterkeit, doch zudem auch von ungewöhnlicher Vitalität, Eigenständigkeit und Vielseitigkeit. Er lebte in eigentümlicher Spannung – ein Außenseiter und Zeitgenosse zugleich – mit Antennen für das Klima jener Epoche des Umbruchs. Sein kräftezehrender Einsatz für die Musik ist nicht zuletzt als Ringen um stete Selbstverbesserung zu verstehen, in der jedes Werk eine Vorstufe des nächsten darstellt. Dieser selbst aufgebaute Leistungsdruck war auf die Dauer nur mit Hilfe von Zigarren zur Anregung bei der Komposition und Alkohol zum Abschalten nach den Konzerten zu bewältigen. Neben den für jedes Biographie-Projekt wichtigen Forschungszweigen der Subjekt- und der Selbstzeugnis-Forschung hat sich auch die Reger-Forschung im vergangenen Vierteljahrhundert weiterentwickelt. Sie hat einerseits Grundlagen erarbeitet wie das Verzeichnis der Werke Max Regers und ihrer Quellen,8 das Auskunft zu jedem einzelnen Werk und dessen Entstehung, seinen Quellen und seinem Umfeld gibt. Vor allem aber wurden neue Erkenntnisse über Arbeitsprozess und Werkvorstellung des Komponisten gewonnen, die zu einem neuen Reger-Bild beigetragen haben. So bietet dieses Buch den Versuch einer Gesamtdarstellung, der die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungsarbeit berücksichtigt und neue Aspekte zu Leben und Werk des Komponisten vereint. Es fußt zum größten Teil auf Primärquellen, zu denen vor allem Regers Werke selbst und seine Briefe zählen, die als „Ego-Dokumente“ mit großer Vorsicht hermeneutisch gedeutet werden. Wiederholt eingestreute Beobachtungen von Zeitzeugen bringen ‚Unschärfen‘, bieten sie doch jede für sich einen subjektiven, von der Persönlichkeit des Schreibers geprägten Zugang, formen sich jedoch trotz ihrer Widersprüchlichkeit durchaus zu einem Gesamtbild. Herangezogen werden auch die Konzertprogramme und -kritiken aus Regers Lebenszeit, die seine fast tägliche musikalische Auseinandersetzung mit den Vor- und Gegenbildern belegen und Reaktionen in Leben und Werk erklären. Auch die Epoche selbst mit ihren vielfältigen ästhetischen Bewegungen des Historismus, Naturalismus, der Lebensreform oder des Jugendstils wird nicht in „ismen“ beschrieben, sondern ersteht aus Zeitungsberichten und anderen zeitgenössischen Quellen. Fotografien aus einer Zeit, als dieses Medium zwar nicht mehr neu war, doch oft noch den Gang ins Atelier erforderte, illustrieren in ihren bewussten Posen den Weg vom stilisierten Künstler in Wiesbaden über den Provokateur in München, den strengen Kompositionsprofessor in Leipzig, den bedeutenden Hofkapellmeister in Meiningen zum melancholischen Einsiedler in Jena, während die selteneren Schnappschüsse einen Einblick in die Welt des Privatmenschen gewähren.
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Sample page Gegen die Zwangsläufigkeit
Eine starke Resonanz zwischen Lebensgang und Kunstproduktion äußert sich darin, dass Reger hier wie dort mit großem Eigensinn jede Zwangsläufigkeit ablehnt. Seine Kämpfe gegen Zwänge und Automatismen bilden daher einen roten Faden des Buches. Ob Reger den von den Eltern vorbestimmten Lebensweg, die Gefolgschaft seines Lehrers Hugo Riemann oder später die Bildung einer eigenen Komponistenschule verweigert oder er sich in seinen Werken
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und Streitschriften durch Eigenart bis zur Kauzigkeit gegen musikalische oder ästhetische Zeitströmungen stellt, ob er durch rastloses Komponieren gegen die Unausweichlichkeit des Todes ankämpft oder mit nicht-linearer Kompositionsweise, deren Schritte nachvollziehbar, aber nicht vorhersehbar sind, gegen die einengende, teils selbst vertretene Vorstellung vom organisch gewachsenen Kunstwerk anschreibt – immer verweigert er Zwangsläufigkeit und strebt damit Autonomie und künstlerische Freiheit an. Auch in seinem Traditionsverständnis respektiert Reger keine eingleisige historische Entwicklung. In seinen Kompositionen knüpft er, jede geschichtliche Zwangsläufigkeit missachtend, an verschiedene musikalische Epochen an, ja, manchmal überlagern sich die Bezüge in einem Werk zu einer Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. In seiner Ästhetik zeigt er sich als verspäteter Idealist, der, stets im Bewusstsein der Utopie, fast beschwörerisch auf Schillers Spuren wandelt, den Nachtgedanken Joseph von Eichendorffs nachhängt oder wie Jean Paul Empfindsames mit Groteskem verbindet und in Schleifen und Ellipsen denkt. In dieser Verweigerung aller Zwangsläufigkeit manifestiert sich ein innerer Zusammenhang von Leben und Werk, gilt Reger doch heute, nach einer Umfrage unter Komponisten im Jahr 2008, als „der erste Aussteiger aus der vermeintlichen Stringenz musikgeschichtlicher Entwicklung“, wie der Komponist Volker Staub schrieb. „Vielleicht könnte man sogar unvorsichtig formulieren: Indem er wichtige Aspekte der musikalischen Entwicklung seiner Zeit außer Acht ließ und sich vergleichsweise stark an vergangenen Meistern orientierte, war er der erste postmoderne Komponist.“9 Für Wolfgang Rihm bleibt Reger, auch wenn er ihm heute sehr viel ferner gerückt sei als in frühen Jahren, „eine der faszinierendsten Figuren in der Musikgeschichte“.10 Bei dem Versuch, ein Leben zu beschreiben und zu ergründen, ist Bescheidenheit angebracht: „Jenseits aller methodologischen Fragen bleibt das Leben ein nicht zu fassender Komplex, der anhand des Überlieferten allenfalls umrissen, nicht aber ergründet werden kann. [...] Geradezu zwangsläufig scheint das beschriebene Leben auf ein Ziel hin zu verlaufen. Unter den Händen der Überlebenden fügt es sich nachträglich in eine schlüssige Ordnung, sein vermeintlicher Sinn tritt zutage, und dabei rieselt es ihnen zugleich wie Sand zwischen den Fingern hindurch. Denn Zwangsläufigkeit und Eindeutigkeit haben mit dem, was tatsächlich gelebt wurde, in der Regel wenig gemein.“11 Das Leben folgt keinem säuberlich strukturierten Denkschema oder wohldurchdachten Plan, sein Fortgang ist nicht zielstrebig wie in einem Erziehungs- oder Bildungsroman, sondern vielen Zufällen unterworfen, es bietet Sinnloses und Unvereinbares, Sympathie Heischendes und Abstoßendes und lässt manche Frage offen. Die biographische Darstellung darf dies nicht glätten und geradebiegen. Nicht zuletzt bleibt trotz genauer Kenntnis sämtlicher Quellen und der Fachliteratur, trotz intensiver wissenschaftlicher Beschäftigung mit dem Werk und vielfältiger Hörerfahrungen die Deutung des vergangenen Lebens vom Standort der Forschenden abhängig, die, wie Hans-Georg Gadamer deutlich gemacht hat, von der Tradition beeinflusst ist, in der sie steht; ihre Beurteilung unterliegt „bereits den Wirkungen der Wirkungsgeschichte.“12 Diese umfasst nun schon ein Jahrhundert und würde ein eigenes, umfangreiches Buch füllen.
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Einleitung
Dank Ein solches Buch entsteht nicht abseits der Welt im stillen Kämmerlein. Nein, sein Werden wurde von Vielen vorbereitet und begleitet: Mein Dank gilt allen Wissenschaftlern, die die Regerforschung in den letzten Jahrzehnten auf Tagungen mit Vorträgen und Diskussionen oder mit Dissertationen belebt haben, darunter speziell meiner langjährigen Mitstreiterin Susanne Shigihara. Zwar bleibt das Literaturverzeichnis auf die zitierten Beiträge beschränkt, doch habe ich unendlich vielfältigere Denkanstöße erfahren, die in diese Biographie eingeflossen sind. Einbeziehen möchte ich alle Musiker, mit denen mich Freundschaft und anhaltendes Interesse für Regers Werk verbindet. Am Rande von Konzerten und Einspielungen durfte ich als Wissenschaftlerin ihren ganz eigenen Zugang bewundern, der oft zielsicherer als jede Abhandlung das Wesen des Kunstwerks erfasst. Ganz besonders danke ich all meinen Kollegen im Max-Reger-Institut. In zahllosen Gesprächen – während der Entstehung des Reger-Werkverzeichnisses, bei der Arbeit an der Reger-Werkausgabe und bei unseren gemeinsamen Bemühungen, den Komponisten mit Konzerten und Ausstellungen zu vermitteln – hat sich das Bild gerundet, das sich in mir seit langem aufbaute. Namentlich Stefan König und Alexander Becker haben dem Band eine kritische Durchsicht und mir zugleich viele Anstöße gegeben, Passagen zu überdenken oder mich in meiner Sichtweise bestärkt zu fühlen. Das Ganze abschließend ‚auf den Punkt‘ nochmals durchgesehen hat Christopher Grafschmidt. Die große und verantwortliche Aufgabe des Lektorierens wusste ich in guten Händen meines Kollegen Jürgen Schaarwächter. Er hat viele gute Vorschläge gemacht, dem Band eine äußerlich ansehbare Form gegeben und ihn sorgfältig korrigiert und nicht zuletzt gezeigt, dass auch ein Korrekturprozess höchst vergnüglich sein kann. Wie gut der Blick von außen sein kann, erwies sich an den abschließenden Korrekturen durch Thomas Frenzel, Lektor des Verlags Breitkopf & Härtel. Manfred Popp hält es nicht nur seit Jahrzehnten mit mir und meiner oft überhandnehmenden Arbeit im Max-Reger-Institut aus, nein, er ist ein ebenso kundiger wie geistig anregender Berater und hat gerade an diesem Band großen Anteil. Ihnen Allen gilt mein herzlicher Dank.
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I. Entwicklung und Ausbildung – März 1873 bis Februar 1893
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1. Kindheit und frühe Jugend im Elternhaus – Weiden März 1873 bis August 1888 Umfeld des Kindes
Der Ort der Kindheit Max Regers steht uns deutlich vor Augen: Der weitgehend von Stadtmauern geschützte historische Kern der Stadt Weiden und ihre Umgebung, das Oberpfälzer Hügelland und die grüne Tallandschaft der Waldnaab, konnten ihren Charakter bis heute wahren. Durch die engen, von charakteristischen Stützbögen überwölbten Gassen, deren Namen Hinterm Wall, Hinterm Zwinger oder Judengasse auf die mittelalterliche Stadtanlage verweisen, ist einst auch das Kind Max gelaufen. Der großzügige Marktplatz zwischen Oberem und Unterem Tor, dem sich die hochgiebligen Bürgerhäuser von allen Seiten zuwenden und in dessen Mitte, breit platziert und ehrwürdig, das Alte Rathaus thront, gehörte ebenso zu seiner vertrauten Umgebung wie die leicht zurückgesetzte, während der Gotik erbaute und später barockisierte Stadtpfarrkirche St. Michael, die schon über zwei Jahrhunderte beiden Konfessionen zum Gottesdienst diente; dahinter erstreckt sich damals wie heute das Alte Schulhaus mit seinen dicken Mauern und seinem vierstöckigen, einst als Getreidespeicher errichteten Dach, das heute u. a. das Stadtmuseum mit seiner reichen Max-Reger-Sammlung beherbergt. Doch müssen wir uns gravierende Unterschiede vergegenwärtigen.1 Alte Ansichtskarten zeigen die Straßen und Gassen nur teilweise mit Kopfsteinpflaster, häufiger mit festgetretenem Lehm bedeckt, der sich bei Regen in Matsch verwandelte; viele Bürger bewirtschafteten vor den Stadtmauern Felder und Wiesen, nahezu in jedem Haus wurde Vieh gehalten, Schmutz und Geruch inbegriffen. Nach der Dämmerung spendeten nur wenige Öllaternen auf den Straßen schwaches Licht, die Stuben wurden von Petroleumlampen erleuchtet; erst 1883 wurden 120 Gaslaternen installiert, elektrischen Strom gab es erst ab 1890. Wasser musste, bis 1895 eine Wasserleitung gelegt wurde, vom Brunnen in die Häuser geschleppt werden; zum Baden besuchte man die Badeanstalt Bock, die ihr Wasser aus einer Abzweigung des Stadtbaches gewann. Als Fortbewegungsmittel dienten Kutschen, schwere Bauernfuhrwerke mit Ochsengespannen und leichte einspännige Korb- oder Pritschenwagen, auch holperten gelegentlich, als Zeichen wachsenden Wohlstands, zweispännige offene Jagdwagen über die Kopfsteine. Zum gewohnten Straßenbild zählte die gelbe Postchaise mit schwarzem Verdeck, während das Automobil bis 1900 weitgehend unbekannt blieb; Fußmärsche waren daher an der Tagesordnung. Das kleine Städtchen hatte eine wechselhafte Geschichte: An der von Nürnberg nach Prag führenden Goldenen Straße gelegen, war es im Mittelalter durch Handelseinnahmen prächtig gediehen, wovon noch heute die stolzen Renaissancebauten künden. Im Dreißigjährigen Krieg verarmte die Stadt, und ihre Einwohnerzahl sank stetig, bis sie sich in zwei großen Auswanderungswellen der 1820er- und 1850er-Jahre dramatisch auf wenige Tausend reduzierte.
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I. Entwicklung und Ausbildung – März 1873 bis Februar 1893
Leseprobe Abbildung 1. Max Regers Geburtshaus in Brand im Fichtelgebirge. Ansichtskarte um 1903.
Während im nahen Oberfranken schon im Dezember 1835 Deutschlands erste dampfgetriebene Eisenbahn auf Jungfernfahrt ging, wurde Weiden erst 1863 an die Strecke München– Regensburg–Hof angeschlossen; dies war die Geburtsstunde der Industrialisierung, die auch zur Ansiedlung bedeutender Glas- und Porzellanbetriebe führte und eine große Zuwanderungsbewegung auslöste. Als Familie Reger Ostern 1874 mit dem einjährigen Max aus Brand im Fichtelgebirge, einem Dorf nahe dem oberfränkischen Markt Redwitz (seit 1907 Kreisstadt Marktredwitz) nach Weiden zog, war der Aufwind spürbar: Von damals knapp 4.000 sollte die Einwohnerzahl bis 1901, als Reger der Stadt endgültig den Rücken kehrte, auf knapp 10.000 anwachsen, während sie sich heute noch einmal vervierfacht hat. Die Bevölkerung sprengte schon damals die Mauern der Altstadt, neue Stadtteile entstanden, wurden jedoch im Osten und Süden durch die Naab und weite Wiesenflächen begrenzt, die sich alljährlich bei Hochwasser in große Seen verwandelten. Die Bevölkerung rekrutierte sich vornehmlich aus dem Mittelstand. Eine Reihe von Behörden und Ämtern zog mittlere Beamte nach Weiden; Pfarrer, Rechtsanwalt, Notar, Arzt und Apotheker bildeten die geistige Elite, Kleinindustrielle und Geschäftsleute wie Metzger, Bäcker, Schreiner, Schlosser, Schmied, Hut- und Uhrmacher bauten einen bescheidenen Wohlstand auf, Industrie- und Bahnwerkstättenarbeiter sowie Bauern bildeten ein breites Fundament. Konservativ geprägte Wertvorstellungen vereinten alle Schichten, innerhalb der geschlossenen sozialen Kreise kannte jeder jeden, Außenseiter gerieten leicht in gesellschaftliche Ächtung, auch wenn die engen Moralvorstellungen nicht mehr, wie noch am Anfang des 19. Jahrhunderts, zu sogenannten Schandstrafen führten. Einem der zahlreichen Vereine anzugehören steigerte die Reputation.
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1. Kindheit und frühe Jugend im Elternhaus – Weiden März 1873 bis August 1888
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Die geistige Atmosphäre des Deutschen Kaiserreichs mit ihren von Adel und Militär geprägten Idealen und ihrer restriktiven Kunstpolitik unter dem „persönlichen Regiment“ des Kaisers berührte das kleine, über vierhundert Kilometer von Berlin entfernte bayerische Landstädtchen nur wenig. Im Königreich Bayern übte seit 1886 Prinzregent Luitpold von Bayern (1821–1912) die Regentschaft für den geisteskranken König Otto I. aus. Wegen seines volkstümlichen Auftretens allgemein verehrt, überließ er die Regierungsgeschäfte seinen Ministern, war aber den Künsten, namentlich der Malerei, gewogen. An seinem Geburtstag gab es schulfrei, auch wurden Messen gelesen.
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Geburt und Taufe
Die Taufurkunde Max Regers wurde im nahen Ebnath ausgestellt, da es in seinem Geburtsort Brand noch keine Kirche gab: Taufmatrikel Ebnath Band IX, S. 603, Nr. 36: Reger Joannes Josephus Maximilianus Dies natalis: Brand 19 Martii 1873 P[ater]: Jos. Reger, ludimag. in Brand M[ater]: Philomena, c. p, Jos. Mart. Reichenberger, Hammergutsbesitzer in Grötschenreuth Lev. Joann, Ulrich, Bureauchef eines Handelshauses in Wien P. f. Bauer Bapt. 22. Mart. a coop. Liebl
Brand wurde gelegentlich als Geburtsort in Frage gestellt, da man annahm, die Mutter habe ihr Kind unter komfortableren Verhältnissen auf dem reichen Hammergut Grötschenreuth ihrer Eltern zu Welt gebracht. Doch zum einen war der Reichtum der mütterlichen Familie vergangen, zum anderen lebten Philomenas Eltern nicht mehr und das Hammergut war im Besitz ihres älteren Bruders Georg Reichenberger, der nicht einmal zum Paten eingesetzt wurde. Auch wären Fußweg oder Kutschenfahrt von knapp zwanzig Kilometern einer Hochschwangeren kaum zumutbar gewesen. Der Eintrag „P. f. Bauer“ (Partum fecit: Bauer) bestätigt, dass Franziska Bauer als Hebamme fungierte, die für den Bezirk Ebnath-Brand zuständig war; nach Erinnerungen „alter Brandner“ war sie von Josef Daubner in der Nacht zum 19. März zusammen mit dem Arzt Dr. Erlenmayer zur Geburt gerufen worden. Pfarrer Robert Schricker, ein väterlicher Freund Josef Regers, der laut Erna Brand, der Chronistin der Jugendjahre, das Kind taufte,2 wird in der Urkunde nicht genannt, an seiner Stelle scheint mit „coop. Liebl“ der Cooperator, der Amtsgehilfe des Pfarrers, fungiert zu haben. Bei seiner Taufe drei Tage alt, erhielt der Stammhalter der Familie den ersten Namen nach dem Paten Johannes Ulrich. In der Familie hatte der Name Tradition; Johann Anton Reichenberger, Regers Ururgroßvater mütterlicherseits, hatte die Grundlage des Wohlstands seiner Familie gelegt. Der zweite Vorname war der Vatername, zugleich aber auch dem Heiligen des Geburtstages geschuldet, ein Brauch in frommen katholischen Familien bis weit ins 20. Jahrhundert; und auch der Großvater mütterlicherseits hatte Joseph Martin (1813–1864) geheißen, so dass beide Familien würdig vertreten waren. Der dritte Name Maximilian findet sich nicht unter den direkten Vorfahren; eine Reverenz an den beliebten König Maximilian II. von Bayern ist wenig wahrscheinlich, war dieser doch schon 1864 gestorben; so mag die Namenswahl einen Wunsch formulieren, den die Eltern ihrem Sohn in die Wiege legten.
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Hans Schreyer hat, von Fritz Stein angeregt, Ende der 1930er-Jahre Ahnenforschung zu den Familien Reger und Reichenberger betrieben, seine Forschungsergebnisse aber erst 1959 in einer Ahnenliste veröffentlicht.3 Direkte Veranlassung dazu waren Zweifel an Regers arischer Abstammung gewesen, die im Dritten Reich aufgekommen waren. Reger selbst soll in Umlauf gebracht haben, dass ein Großelternteil jüdisch gewesen war, was den Chefideologen Richard Eichenauer dazu verleitete, Reger zwar nicht der jüdischen, jedoch der gleichfalls als minderwertig betrachteten „ostbaltischen“ Rasse zuzuordnen und damit zu begründen, dass der Komponist „in seinem Volke gewissermaßen ein seelischer Fremdling“ geblieben sei.4 Regers Aussage könnte ein Beispiel seines skurrilen Humors gewesen sein, eine jener „Schnurren u. Schnaxen“, die er aus einer momentanen Laune heraus zu erzählen liebte, um seine Mitwelt zu schockieren. Seine Großmutter mütterlicherseits, Anna Dorothea Schopper (1819–1862), stammte zwar aus Floß im Landkreis Neustadt an der Waldnaab, wo noch heute eine Synagoge und herrschaftliche Häuser auf dem „Judenberg“ von einer einst blühenden und erst von den Nationalsozialisten vernichteten jüdischen Gemeinde zeugen; doch war sie die Tochter des dortigen Löwenwirts Jakob Schopper, dessen Vorfahren nach Schreyer schon im frühen 17. Jahrhundert als Metzger in Floß arbeiteten und deshalb nicht jüdisch gewesen sein können; Schoppers Frau Maria Aloysia Franziska Mayer (1793–1859) war Tochter des Metzgers, Wirts und Bürgermeisters Anton Mayer in Falkenberg, Tirschenreuth. Allerdings hatte Jakob Schopper von dem jüdischen Floßer Bürger Joseph Aaron Hönig, später Löw Aaron Hönigsberger, 1844 sein Anwesen gekauft,5 und es ist durchaus denkbar, dass diese Tatsache Regers Phantasie zu einer „Schnurre“ beflügelt hatte.
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Die Eltern Wichtigste Bezugspersonen der kindlichen Welt waren die Eltern. Die Großeltern aus der mütterlichen Linie waren bereits gestorben, als die Mutter selbst noch ein Kind war, während jene von Vaters Seite in Regers ersten Lebensjahren bis 1879 bzw. 1880 zwar noch lebten, in Pemfling und später Schwarzach bei Nabburg aber doch zu fern waren, um in seinem Kinderleben in Erscheinung zu treten. Der aus einfachen Verhältnissen stammende Großvater Georg Reger (1818–1879) war Schneider und wegen eines verkürzten Beines keine „gute Partie“ gewesen, so dass er mit einer sechs Jahre älteren Frau Katharina Jakob (1812–1880) hatte vorlieb nehmen müssen, der Tochter eines Kleinbauern, die ihren Ehevertrag im Mai 1843 nur mit drei Kreuzen hatte unterzeichnen können. Wie überliefert ist, war ihr am 3. September 1847 geborener Sohn Josef, Regers Vater, intelligent und fleißig, so dass dem Jugendlichen bescheinigt wurde: „besitzt sehr gute Anlagen, unter denen besonders sein Musiktalent hervorzuheben ist. Damit verbindet er einen unermüdeten Fleiß und Eifer, weil ihm an seiner Ausbildung sowohl in wissenschaftlicher als auch in musikalischer Hinsicht alles gelegen ist. – Schade, daß seinem Streben nach höherer Bildung die Armut seiner Eltern hemmend entgegentritt“.6 So blieb ihm aufgrund seiner Herkunft der Zugang zu wissenschaftlicher Bildung verwehrt, die wohl auch außerhalb der Vorstellung seiner Eltern lag, weshalb jeder Versuch unterblieb, ein Stipendium vom Landesvater zu erlangen oder die Ausbildung der Kirche anzuvertrauen. Der Beruf des Volksschullehrers war ihnen das höchste zu erreichende intellektuelle Ziel für alle vier Söhne (drei Töchter waren früh gestorben). Schon als junger Hilfslehrer in Grötschenreuth hatte Josef 1865 seine zukünftige Frau Katharina Philomena Reichenber-
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Leseprobe Abbildung 2. Lonny von Plänckner, Einzug von Max Reger in Weiden, Öl auf Leinwand.
ger kennengelernt, doch erst als er 1871 zum Hauptlehrer in Brand, damals noch einem Straßendorf mit einklassiger Schule, aufstieg, waren die Grundlagen für einen eigenen Hausstand gegeben: Das Paar heiratete am 12. Oktober 1871 in der Kirche von Ebnath und bezog eine kleine Wohnung im Schulgebäude in Brand, wo im März 1873 ihr erster Sohn zur Welt kam. Getraut wurde das Paar von Schulinspektor Robert Schricker, zugleich Pfarrer von Ebnath, dem Josef Reger, nicht zuletzt wegen seines guten Orgelspiels, „zum gewöhnlichen Landschullehrer nicht geboren“ schien. Daher muss er dessen Berufung nach Weiden an die Präparandenschule betrieben haben, die sich der Ausbildung künftiger Volksschullehrer widmete; sein Fächerspektrum umfasste dort Deutsch, Geschichte, Geographie, Harmonielehre, Orgel- und Klavierspiel. Die 40 Kilometer von Brand nach Weiden legte die junge Familie im Frühjahr 1874 zu Fuß mit einem Handwagen zurück; eine wahrscheinliche Unterbrechung bei Verwandten in Grötschenreuth oder Erbendorf auf halber Strecke ist nicht belegt. Der in einem kleinen naiven Gemälde festgehaltene Einzug in die Weidener Bachgasse 6 zeigt eine rührend einfache Welt; der Vater hält einen Vogelbauer mit dem Kanarienvogel Hansi, den Max zum ersten Weihnachtsfest erhalten hatte, die Mutter trägt den einjährigen Sohn, die Magd Resl schiebt den Kinderwagen und zieht eine Ziege hinter sich her, die Maxens Versorgung mit frischer Milch garantieren sollte, denn er muss ein sehr zartes Kind gewesen sein. Man neigt dazu, dieses Bildchen als koloristische Übertreibung anzusehen; doch wurde fast in jedem Haus Landwirtschaft getrieben. In Weiden erfolgten mehrere Umzüge in Wohnhäuser am Oberen und Unteren Markt, unter anderem in die Wohnung in der Bachgasse im zweiten Stock bei Schreinermeister Bonengel, in einem vierhundert Jahre alten Haus gelegen, in dem Hühnerstall und Heuboden gleich an die Werkstatt grenzten und viele Kinder spielten.7 Zuletzt, bis zum Umzug nach München, hatte die Familie in der heutigen BürgermeisterPrechtl-Str. 31 ihren Wohnsitz.
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Sample page Abbildung 3. Max Reger mit seinen Eltern Philomena und Josef, 1876.
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Auf der 1876 beim Fotografen gestellten Aufnahme mit seiner Ehefrau und seinem dreijährigen Sohn verleiht Josef Reger seinen 29 Jahren strenge Würde; gut vorstellbar, wie er als Autoritätsperson seinen Schülern und dem Sohn Respekt einflößte. Erna Brand berichtet von seinem traditionellen Erziehungsstil, den er schon als Aushilfslehrer in Brand gepflegt hatte: „Sie haben ihren jungen Lehrer geliebt trotz seiner großen Strenge, ja, trotz manchem kräftig erzieherischen Hiebe. Denn daran sparte er nicht, wo es not tat; und die Alten wissen ihm heute noch Dank dafür.“8 Hierzu muss angemerkt werden, dass damals das in den Vorschriften zugelassene Strafmaß für Schüler „6 Tatzen und 6 Hiebe auf das Gesäß“ betrug, wogegen sich erst um die Jahrhundertwende erste Proteste von Eltern erhoben – der Weidener Anzeiger sollte am 29. März 1900 nicht ohne Stirnrunzeln von diesen neumodischen Erziehungsideen berichten. Auch als Präparandenlehrer blieb Josef unverändert: „Aber er war auch sehr streng, und die sonst so kecken Jungen hatten richtig Angst, wenn der Lehrer Reger zur Harmonielehrstunde mit dem ‚kleinen Winkler‘ ins Klassenzimmer trat“.9 Sein Sohn Max wird weniger vor seinem Vater als vor dem musiktheoretischen System Max Winklers, eines Seminarschullehrers in Eichstätt, „ein wahres Grauen bekommen, da es ihm in vielen Dingen zu engherzig war.“10 Besondere Freude scheint der Beruf seinem Vater nicht bereitet zu haben; in späteren Auseinandersetzungen ist nur von den Opfern die Rede, die er seinen Kindern bringe. Ein strenges „Kastenwesen“ soll die Welt der Präparandenlehrer von der Welt des Weidener Beamtentums getrennt haben; die „aus besseren Verhältnissen“ stammende Mutter hätte gerne Anschluss an die „feine u. hochgebildete Beamtenwelt“ gehabt, sei dort aber auf wenig Interesse gestoßen.11 Spätere Ausfälle Regers gegen die als „Elite der menschlichen Gesellschaft“ verehrte Weidener Beamtenschaft bestätigen diese Interpretation.12 Schon früh waren bei Josef Reger gesundheitliche Probleme aufgetreten; der erste schwere Asthmaanfall soll sich am Tauftag von Regers Schwester Emma 1876 ereignet haben.13 Man weiß heute von der möglichen psychischen Komponente dieser Krankheit; so mag die Sorge, ob die kleine Tochter lebensfähig sei, ein Auslöser gewesen sein. Sein Gesundheitszustand wird sich im Lauf der Jahre verschlimmern, so dass er manche durchwachte Nacht im Sessel am offenen Fenster verbrachte, der am nächsten Morgen klaglos das Unterrichten folgen sollte. Er muss eine spitze Zunge und ein scharfes Urteil besessen haben, das er in bissige Ironie zu kleiden liebte: „In Zorn geraten konnte der sonst so gütige Lehrer auch jetzt noch, und vor nichts hatten seine Jungen mehr Angst als vor seinem Spott; denn der konnte richtig treffen, und sie hüteten sich wohl, ihn herauszufordern.“14 Auch dem Sohn gegenüber wird er später sein scharfes Urteil, ob allein seinem konservativen Musikgeschmack oder dem nagenden Zweifel an dessen künstlerischer Potenz geschuldet, nicht mäßigen. Kein einziger zwischen Vater und Sohn ausgetauschter Brief ist erhalten geblieben, der Aufschlüsse über ihr Verhältnis gewähren könnte. Und auch an andere Personen gerichtete Schreiben des Vaters sind handverlesen und nur in Auszügen oder nachrichtlich überliefert. Sie vermitteln den Eindruck großer Unbeholfenheit im Umgang mit gesellschaftlich überlegenen Adressaten wie dem künftigen Kompositionslehrer Hugo Riemann, der mit vielen Höflichkeitsfloskeln und Dankadressen überhäuft wird. Als Josef Reger ein Exemplar des ersten Opus’ seines Sprösslings an den Kritiker Theodor Göring schicken will, wird Max peinlich berührt reagieren: „meine Eltern schreiben dann wahrscheinlich recht unterthänig etc – u. das ist mir sehr unangenehm“.15 In der wohl schwierigsten Lebensphase des Sohnes im Wiesbade-
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I. Entwicklung und Ausbildung – März 1873 bis Februar 1893
ner Frühling 1898 wird Josef es seiner Frau überlassen zu kämpfen. Nur einmal mischt er sich in die Korrespondenz, um Zweifel an Max’ geistiger Gesundheit auszudrücken. Wie ersprießlich sich das Zusammenleben nach Regers Rückkehr nach Weiden 1898 entfaltete, weiß man nicht. Doch als es die krankheitsbedingte Frühpensionierung Josef Regers möglich macht, den bald 30-jährigen Sohn 1901 nach München zu begleiten, wird er die Heimat, in der er fast drei Jahrzehnte als Lehrer geachtet wurde, verlassen und mit der ganzen Familie in eine fremde Umgebung ziehen. Gab es Herzlichkeit in dieser Beziehung, zeigte der Vater Anteilnahme am Bekanntwerden seines Sohnes oder gar bestätigenden Stolz? Es ist nicht bekannt, dass er in München je ein Konzert seines Sohnes besucht hat. So viel scheint festzustehen: Weder Vater noch Sohn konnten sich in die Lage des anderen versetzen, so dass man von einem Nicht-Verhältnis sprechen muss, welches dem Sohn wohl erst nach dem Tod des Vaters im Herbst 1905 bewusst wurde; das Vorhaben, seinem Andenken eine große oratorische Komposition – den Hymnus vom Tode und ewigen Leben – zu widmen, sah für den Toten eine Ehrung vor, die dem Lebenden nie zugedacht wurde. Ihre Ausführung unterblieb. Die Mutter Katharina Philomena blickt auf dem Foto von 1876 düster versunken, die Hand des Sohnes fest umklammernd; im Vorjahr war ihr zweiter Sohn mit sieben Monaten an einer Epidemie gestorben, Max war damals wegen der Ansteckungsgefahr zu Verwandten ausquartiert worden. Sie stammte aus einer Familie, die im 17. Jahrhundert aus dem Egerländischen in die Oberpfalz gezogen war. Ihr Urgroßvater Johann Anton Reichenberger (1748–1815) hatte 1781 die Drahtmühle in Reuth bei Erbendorf errichtet. Neben dem stattlichen Herrenhaus in Reuth hatte er 1801 seinem Sohn Franz Peter (1780–1831) das Hammergut Grötschenreuth bei Erbendorf übergeben, ein herrschaftliches Anwesen, das heute, fast unverändert, zu den Baudenkmälern der Region zählt.16 Als die Mutter des Komponisten am 4. November 1852 hier geboren wurde, stand die Eisendrahtfabrik ihrer Eltern in schönster Blüte; ihr Vater hatte durch seine Heirat mit der Tochter des Löwenbräuwirts Jakob Schopper aus Floß den Wohlstand noch mehren können. Philomenas Kindheit wurde jedoch früh überschattet; als zehntes von 14 Kindern, die ihre Mutter in 20 Jahren zur Welt brachte, erlebte sie noch vor Vollendung des sechsten Lebensjahres Geburt und Tod der vier jüngeren Geschwister, auch starb ein älterer Bruder mit nur zwölf Jahren. Im April 1862, Philomena war noch nicht zehnjährig, starb ihre Mutter Anna Dorothea im Alter von 42 Jahren. Zur gleichen Zeit begann unter ihrem Ehemann Joseph Martin Reichenberger der Reichtum der Familie zu schmelzen. Nach Erna Brand bemühte er sich „vorbildlich um die Wohlfahrt seiner Arbeiter und die Schaffung neuer und besserer Lebens- und Verdienstmöglichkeiten für die Bevölkerung. Er wurde auch Landtagsabgeordneter.“17 Er war jedoch vom Pech verfolgt. Als Ende 1863 die ungünstige Verkehrslage Weidens, die den Niedergang der Fabrik mit verursacht hatte, mit der Anbindung an das Schienennetz behoben wurde, kam der Aufschwung für ihn zu spät. Brand weiß von der Treulosigkeit zweier Freunde zu berichten, die ihn um den Rest seines Vermögens brachten,18 auch mag er die technische Entwicklung falsch eingeschätzt haben, als er mit einer großen Bestellung von Telegraphenleitungen aus Eisendraht gerechnet hatte, dann aber von der Bevorzugung des Kupferdrahts überrascht wurde. Von dem familiären Fiasko zeugt ein Dokument zur Eröffnung des Konkursverfahrens gegen Draht-Fabrikbesitzer Joseph Martin Reichenberger vom 18. März 1864, das sämtliche Gläubiger aufruft, ihre Ansprüche anzumelden; bekannt waren Schulden von 67.290 Gulden, von denen 42.484 Gulden durch Hypotheken gesichert wa-
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ren.19 Die Summe entspricht in etwa einem Kostenvoranschlag von 1876 für die im Folgejahr errichtete katholische Knabenschule in Weiden (64.865 Gulden), während ein Wohnhaus mit Stall und Schuppen nur mit 3.500 Gulden zu Buche schlug.20 Reichenberger starb noch im gleichen Jahr, am 10. Oktober 1864, mit 51 Jahren in einem Baseler Spital, nach Erna Brand „in tiefer Schwermut“;21 wo er bestattet ist, weiß man nicht. Seine Kinder setzen ihm eine Gedenktafel an der Friedhofsmauer in Erbendorf: „Dem Andenken des Fabrikbesitzers und Landtagsdeputierten Josef Martin Reichenberger von Grötschenreuth und dessen Gattin Anna Reichenberger, geb. Schopper aus Floß gewidmet von den dankbaren Kindern.“ Wann die Tafel angebracht wurde – zu Lebzeiten von Jeanette († 1890), Georg († 1894) und Katharina Philomena († 1911) oder erst später durch Nanni († 1921), Alexander († 1925) und Emma († 1929) – ist nicht bekannt. Reichenbergers Geschick muss ein traumatisches Thema im Familiengedächtnis gewesen sein, von dem Reger noch nach Jahrzehnten in seinen Werbebriefen an Elsa von Bercken berichtet und das vermutlich auch sein zukünftiges übergenaues Verhalten in Geldangelegenheiten prägen sollte: „Ich weise keinen Armen von meiner Thüre – aber wenn es sich um größere Beträge handelt, muß man vorsichtig sein! Das ganze Vermögen meines Großvaters mütterlicherseits, dessen Frau dortmals 90 000 Gulden bar in die Ehe brachte, für die damalige Zeit ein Riesenvermögen, ging auf die Weise zum Teufel; der Mann war sehr vertrauensselig, lieh Unsummen her u. als er das Geld nachher selbst brauchte, wurde es ihm abgeläugnet! Er starb aus Gram darüber! Wir wissen heute nicht, wo er begraben ist (In Basel; er war Abgeordneter, machte Reisen nach England im Auftrage der bayerischen Regierung – u. waren seine Vorfahren adelig!) Man muß da sehr, sehr vorsichtig sein!“22 Philomena war also mit elf Jahren unter traurigen Umständen Vollwaise geworden und hatte vermutlich viel von den dunklen Wolken gespürt, die das Auskommen der Familie bedrohten. Nach dem Tod ihres Vaters war sie, wie Erna Brand berichtet, in ein klosterähnliches Heim in Schäftlarn bei München, später nach Pasing gegeben worden.23 Mit größter Wahrscheinlichkeit handelt es sich um ein Mädchenpensionat der Englischen Fräulein, heute Congregatio Jesu (Institutum Beatae Mariae Virginis), deren Generalmutterhaus in Nymphenburg lag. Die Ordensfrauen waren durch die Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams gebunden und verpflichteten sich, „für die Unterweisung der Jugend nach Forderung des Gehorsams besonders zu sorgen“; ihr Augenmerk galt der Frauenbildung in spezifisch christlich-verantwortlichem Sinn.24 Die Englischen Fräulein hatten Mitte des 19. Jahrhunderts ein Mädchenpensionat in der säkularisierten Benediktinerabtei Schäftlarn eingerichtet, wo Philomena vermutlich im Herbst 1864 aufgenommen worden war. Schon im nächsten Jahr wurde die Abtei an König Ludwig I. verkauft, der sie den Benediktinern zurückschenkte. Die Schwestern und Zöglinge des Mädchenpensionats, darunter auch Philomena, mussten die Abtei verlassen und wurden Mitte Mai 1866 im „Maierhof“ in Pasing aufgenommen, den die Englischen Fräulein schon 1862 erworben und zunächst als Genesungsheim und Heim und Schule für Waisenkinder gedacht hatten, nun aber als höhere Töchterschule einrichteten. Regers Mutter durfte also eine sehr sorgfältige Erziehung genießen, deren klösterliche Strenge ihre persönliche Freiheit jedoch stark einschränkte. Am heitersten muss die Zeit nach dem Schulabschluss – vermutlich mit 16 Jahren – bei ihrer älteren Schwester Jeanette (1842–1890) und deren Mann Johann Baptist Ulrich (1830– 1918), dem künftigen Taufpaten ihres ersten Sohns, in Wien gewesen sein. Ulrich war da-
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mals vom Buchhalter zum Bürochef der Wiener Blech- und Bleiwarenfabrik J. G. Winiwarter aufgestiegen, die um 1900 rund 100 Angestellte beschäftigte; später sollte er Geschäftsführer und Seniorchef zweier Firmen werden und 1914 den österreichischen Ehrentitel Kommer zialrat verliehen bekommen.25 In dieser standesgemäßen Umgebung, in der sie vermutlich den Haushalt führen lernen sollte, erreichte Philomena 1871 der von Pfarrer Schricker in Ebnath unterstützte briefliche Heiratsantrag Josef Regers, dem sie sofort zustimmte. Leicht kann ihr der Wechsel von der Weltstadt Wien in das kleine Dorf Brand nicht gefallen sein, doch mag sie die Aussicht gelockt haben, mit der Heirat eine eigene Familie zu gründen, statt als arme Verwandte ihr Leben fristen zu müssen. Nachdem ihr erstes Kind Max im März 1873 zur Welt gekommen war, folgte am 22. Februar 1875 der zweite Sohn Theodor, der schon nach wenigen Monaten einer Kinderkrankheit erlag.26 Emma, am 13. April 1876 geboren, wird neben Max als Einzige das Erwachsenenalter erreichen, denn zwei weitere Söhne starben ebenfalls im Säuglingsalter, der im Juni 1877 geborene Alexander nach gut zwei Monaten, Robert, der im Juli 1879 zur Welt kam, überlebte nur wenige Tage. Auch wenn die Kindersterblichkeit damals hingenommen werden musste und erst mit verbesserten sozialen und hygienischen Verhältnissen und entwickelter Kinderheilkunde eine deutliche Senkung der Todesfälle eintrat, vertieften die Schicksalsschläge die melancholische Gemütsart der Mutter, die auch aus dem Familienfoto spricht. Ihr bisheriges Leben glich einer Kette von Katastrophen, von den frühen Verlusten der wichtigsten Bezugspersonen über den Schock der Verarmung und Verwaisung bis zum Tod dreier Kinder im Säuglingsalter. Ihrer Erziehung entsprechend mag sie Trost in der Religion gesucht und sich um jenes gehorsame Ergeben in Gottes Willen bemüht haben, das vom frommen Christen erwartet wurde. Wie mag ihre Persönlichkeit gewesen sein? Gab sie als Mutter Wärme, glich sie die Strenge ihres Mannes mit Sanftmut aus? Sie gewinnt als Briefschreiberin erst Konturen, als ihr Sohn 1898 in eine schwere existenzielle Krise gerät. Auch wenn sie Ende 1890 ihrem Vetter August Grau bekannte, die „Weltschmerzstimmung kommt fast nie mehr zum Vorschein“,27 zeigen ihre Briefe sie als sorgenvollen Menschen, der um die körperliche und psychische Gesundheit ihres Sohns, später auch um sein Seelenheil bangt. Nach dem Tod ihres Mannes 1905 wird sie zunehmend depressiv werden, und ihre Einlieferung in die Oberbayerische Heil- und Pflegeanstalt Eglfing bei München im Sommer 1910, wo sie im Juni des folgenden Jahres sterben sollte, wird ihr Sohn mit den Worten kommentieren: „ich sah die Sache ja schon längst kommen, sodaß es mich nicht unvorbereitet trifft.“28 Später wird Elsa über die „Schwarzseherei“ ihres Mannes klagen, die sie toll mache „vor Angst im Hinblick darauf, daß seine Mutter genau so war u. sich in ihre Krankheit direkt künstlich ‚kümmerte‘.“29
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Sample page Überlieferungssituation
Die kindliche Erlebniswelt und das familiäre Umfeld Max Regers können wir uns mit einigen Angleichungen also vorstellen, was aber wissen wir über die Eindrücke und Bedürfnisse des Kindes? Nur wenige persönliche Dokumente der ersten Jahre sind uns überliefert, neben der Taufurkunde das Firmungszeugnis und erste Schulzeugnisse, dazu einige Fotografien im Kreis der Familie und der Mitschüler. Briefe scheinen erst verwahrt worden zu sein, als sich die Entwicklung des Knaben zu etwas Besonderem abzeichnete. Doch nicht nur in den Kinder-
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jahren, nein, in der gesamten ersten Lebenshälfte blieb die Überlieferung sporadisch: Aus den 25 ersten Lebensjahren bis zur Rückkehr nach Weiden im Sommer 1898 sind nur 120 Briefe und Postkarten überliefert, von ihnen eine ganze Anzahl nur im Auszug oder in einer Zusammenfassung; das entspricht nur gut einem Prozent der gesamten erhaltenen, rund 11.000 Schriftstücke umfassenden Korrespondenz. So sind wir überwiegend auf Zeugnisse zweiter Hand, vornehmlich Erinnerungen von Schulkameraden, angewiesen, die erst Jahrzehnte später niedergeschrieben wurden, als das einstige Kind zu einer Berühmtheit geworden war. Zwei Jahrzehnte nach Regers Tod griff die Musikschriftstellerin Erna Brand in ihrer von Regers Witwe angeregten Jugendbiographie Max Reger im Elternhaus30 auf nur selten nachgewiesene Dokumente zurück und baute an einer rührenden Kindheitslegende; vom lustigen Lausbuben ist die Rede, einem „gar klugen Bürschchen“, der nie „launisch oder störrisch“, sondern „fast immer gleichmäßig fröhlich und sehr zärtlich“ war. Zuweilen gesteht die Autorin dem Knaben versunkene Spiele zu, deren Ernst der Mutter „Schauer über den Leib“ laufen ließen.31 Auf fundierten Kenntnissen beruht dagegen Adalbert Lindners ebenfalls nach Regers Tod geschriebene Jugendbiographie Ein Bild seines Jugendlebens und künstlerischen Werdens,32 die mit der Schulzeit einsetzt. Der 1860 in Vohenstrauß als Sohn eines Metzgermeisters und Gastwirts geborene Lindner, der in der Obhut des Stadtpfarrers von Pleystein aufgewachsen war, hatte von 1873 bis 1876 die Präparandenschule in Weiden besucht und war dort Geographie- und Musikschüler von Regers Vater Josef gewesen, ehe er im Herbst 1876 für zwei Jahre ans Schullehrerseminar nach Eichstätt wechselte. Nach kurzen Zwischenstationen in benachbarten kleinen Orten wurde er zum 1. Oktober 1879 als Hilfslehrer an die erst zwei Jahre zuvor erbaute katholische Knabenschule in Weiden berufen; zur ersten Klasse mit 108 Schülern hätte auch Reger zählen können, wäre er nicht durch seine Mutter so gut präpariert worden, dass er sofort in die zweite Klasse eintrat. 1922 in erster Auflage veröffentlicht, ist Lindners Buch von tiefer Verehrung für den Komponisten geprägt, der wie ein Fixstern seinem Dasein Glanz verlieh. Als Empfänger zahlreicher Musikhandschriften und Briefe und zeitweilig einziger Gesprächspartner des Komponisten vermochte er tiefe Einblicke in das Leben und Schaffen der frühen Jahre zu geben; das von ihm vermittelte Bild ist dem Ideal des Bildungsromans verpflichtet, in dem sich der Held mit zielstrebiger Sicherheit zur Meisterschaft entwickelt. In Regers Klavierzyklus Aus der Jugendzeit op. 17 wird die Kindheit musikalisch zum Thema. Titel wie Frohsinn, Hasche mich!, Das tote Vöglein oder Was die Großmutter erzählt, Erster Streit und Versöhnung benennen Szenen aus der Erfahrungswelt eines Kindes und erinnern nicht zufällig an die poetischen Satzbezeichnungen aus Schumanns berühmtem Album für die Jugend op. 68. Im Februar/März 1898 in tiefer Krise in Wiesbaden komponiert, geben die Klavierstücke den doppelt gebrochenen, sentimentalischen Rückblick eines 25-Jährigen auf die heile Welt der Kindheit wider, zu deren glücklichsten Momenten das frühe Klavierspiel von Schumanns Werken zählte. Möglich, dass schon das Kind Max Intimität und Geborgenheit vor allem in der Musikausübung fand. In später entstandenen Liedern, namentlich den Schlichten Weisen op. 76 (Band 5 Aus der Kinderwelt von 1910, Band 6 Aus Christas und Lottis Kinderleben von 1912) und den Fünf neuen Kinderliedern op. 142 von 1915 wird Reger wiederholt häusliche Szenen aufgreifen; Mäuschen, Hühnerchen, Igel und Bienen sind die Protagonisten einer heilen, im ländlichen Weiden durchaus vorstellbaren Welt, die der Komponist auch für seine Adoptiv- und Patenkinder erträumt.
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Als Reger ein Kind war Eine unbeschwerte Kindheit ist in einem Hause, aus dem das Thema Krankheit und Tod nicht fortzudenken ist, nur schwer vorstellbar; dreimal – im Alter von zwei, vier und sechs Jahren – erfuhr der junge Max die Umstände von Geburt und Tod im engsten familiären Umfeld. Von dem vergeblichen Kampf der Mutter um die zu schwache Konstitution und fehlende Lebenskraft der Säuglinge wird er vermutlich abgeschirmt worden sein, doch mag er ihn gespürt haben. Brand schildert auf ihre gefühlvolle Art, wie der Dreijährige seine Mutter am Totengedenktag zum Grab seines Bruders begleitet und bittend gestammelt habe: „Grab mir’n wieder aus!“33 Ganz so drollig wird es für das Kind nicht gewesen sein. Reger hat sich nie zu diesen belastenden Kindheitserlebnissen geäußert, wird allerdings wiederholt sehr deutlich auf die schwache Konstitution und Nervenschwäche seiner Familie zurückkommen, von der er sich grundsätzlich abzuheben glaubte: „Die Natur liebt die merkwürdigsten, geradezu paradoxen Sprünge: mein verstorbener Vater äußerst nervös; meine Mutter u. Schwester geradezu krankhaft im höchsten Grade nervös; 3 Brüder von mir starben an Körperschwäche! Und ich – besitze überhaupt keine Nerven.“34 Mit ähnlichen Beschwörungsformeln wird er immer wieder seine Bärennatur und seelische Gesundheit unterstreichen und vor dem Hintergrund der damaligen Volkskrankheit „Nervosität“ umso strahlender leuchten lassen. In seinen Werken allerdings wird das Thema Tod eine Konstante bilden, und die Labilität der Mutter mag ihn für die Nervosität seiner Epoche besonders sensibilisiert haben. In der Familie herrschte ein traditionelles Rollenverständnis: Der Vater war als Ernährer der Familie für die großen Entscheidungen zuständig, die Mutter kümmerte sich um Haushalt und Kindererziehung und pflegte die gesellschaftlichen Kontakte. Für die jüngere Schwester Emma war nur die Rolle als Tochter oder Tante denkbar; eine profunde Schulbildung oder gar eine Ausbildung, die ihr ein unabhängiges Leben garantiert hätte, waren unvorstellbar. Ein Foto der Geschwister von ca. 1884 zeigt Emma als verschlossenes Kind; ihre Mutter beschreibt sie noch sechs Jahre später als „sehr groß, doch gesund u. ganz Kind noch; sie hilft der Mama im Häuslichen, hat einige Stunden bei Papa u. Hr. Rubenbauer, ohne übrigens besonders gelehrt zu werden. Dazu hat sie weder Beruf noch Neigung. Echt religiös, doch nicht scheinheilig, was ich schon nicht dulden würde; wir werden sie wohl wenigstens kurze Zeit fortgeben müssen, (doch ja in kein Institut) doch wann u. wohin, konnten uns noch nicht entschließen. Lebte meine liebe Schwester noch, so würde sie wahrscheinlich auf einige Wochen oder Monate nach Wien gekommen sein.“35 Es scheint, dass Emma als Stütze der Eltern kein eigenes Leben führen durfte; Philomenas Ablehnung eines Ausbildungsinstituts wirft ein Licht auf die eigenen, offenbar nicht ungetrübten Erfahrungen bei den Englischen Fräulein, ihr Bedauern, Emma nicht mehr zu Jeanette nach Wien geben zu können, zeigt Dankbarkeit für die schöne Zeit bei der älteren Schwester. Dass eine bildungsmäßige Entfaltung für Emma kaum möglich war, hatte damals nichts Ungewöhnliches; denn selbst in gehobenen Schichten war der Schulbesuch und mit ihm der Zugang zu Bildung und Wissenschaft für Frauen nicht selbstverständlich. Reger sollte dieses Rollenverständnis ohne Hinterfragen übernehmen: Nach dem Tod des Vaters im September 1905 wird er Mutter und Schwester durch monatliche Überweisungen unterstützen, sich aber vehement dagegen wenden, Emma eine Berufsausbildung zu geben; sie möge die Mutter pflegen und nachmittags spazieren gehen,
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Klavier spielen oder Handarbeiten nachgehen; nach dem Tod der Mutter könne sie anderswo Hausdame werden: „Darin beruht ihr Talent!“36 Wie war die familiäre Welt, in der Reger aufwuchs? Ein Versuch, der Antwort aus dem historischen Kontext näher zu kommen, muss den Bedingungen seiner Sozialisation nachgehen. Aber was wissen wir über die Kindererziehung in katholischen Lehrersfamilien in einer oberpfälzer Kleinstadt um 1875? Das ideale Erziehungsziel war gewiss eine christliche Lebensführung, doch welche Wertvorstellungen und welches Bild von Gott wurden vermittelt? Die Entwicklung wird zeigen, dass der Glaube an das ewige Heil für die Frommen und die ewige Qual für die Verdammten von Mutter und Schwester nicht hinterfragt wurde; die damals aufkeimenden fortschrittlichen und liberaleren Tendenzen der katholischen Kirche blieben ihnen fremd. Folglich handelten sie angstbestimmt: Sie werden Regers protestantische Bibel verstecken und sich in religiösem Fanatismus gegen die Heirat mit einer geschiedenen Pro testantin sperren, da sein Seelenheil ihnen dadurch verwirkt schien. Welche pädagogischen Ideale wurden in den Gründerjahren des deutschen Kaiserreichs vermittelt? Im kaiserfernen Weiden wurden gewiss nicht die militärischen Fertigkeiten und Disziplinen kultiviert, die in Preußen die Erziehung vor allem junger Aristokraten prägten. Zwar zählte zu den Werten, gehorsam, artig und ehrlich zu sein und vor der Obrigkeit Respekt zu zeigen, doch war die Dressur mit dem Rohrstock, die Vater Reger als Lehrer noch gepflegt haben mag, in der häuslichen Pädagogik überholt. Andererseits war es gewiss auch nicht oberstes Erziehungsziel, zum Nachdenken anzuhalten und Konventionen in Frage zu stellen. Dem Volksschüler Reger wird in allen Zeugnissen ein sehr gutes Betragen bescheinigt, für die das Jahreszeugnis 1887 der Präparandenschule stellvertretend ist: „Seine Führung war in disziplinärer sowie religiös sittl. Beziehung stets musterhaft.“37 Als etablierter Künstler wird er Verwandte unterstützen, Sammlungen für verarmte Künstlerwitwen veranstalten, bedürftigen Schülern helfen und Preise ablehnen, weil andere sie nötiger haben. Ob die Wurzeln dieses sozialen Verantwortungsbewusstseins von seinen Eltern gelegt wurden oder ob die Erfahrung von materieller Not ihn dazu führte, wissen wir nicht. Ganz oben im Kanon der Tugenden standen zweifellos Fleiß und der Wille, etwas zu lernen: Sein Vater hatte sich aus beschränkten Verhältnissen durch unermüdlichen Einsatz herausgearbeitet und verlangte dasselbe auch von seinem Erstgeborenen und einzigen überlebenden Sohn, der seine großen Erwartungen erfüllen und sich zugleich mit den gegebenen Lebensverhältnissen bescheiden sollte. Die Fotos zeigen das Kind, ob allein oder in Gesellschaft, immer ernst und verschlossen, und der Jugendliche verzieht selbst unter Mitschülern keine Miene. Fühlte er sich verstanden von seinen Eltern? Teilte er mit ihnen seine Gedanken und Gefühle, sprach er über das, was ihn im Innersten bewegte? Wir kennen den Ton der Unterhaltungen zwischen Eltern und Sohn nicht, wissen allerdings von der intensiven Zuwendung der Mutter, die ihn früh so erfolgreich Lesen und Schreiben lehrte, dass er 1879 gleich in die zweite Klasse der katholischen Knabenschule eintreten konnte. Hier verlebte er seine Volksschulzeit mit 80 bis 100 Schülern pro Klasse, von denen viele in sehr schlichten Verhältnissen lebten und im Sommer teils barfuß zur Schule kamen.38 Die Erinnerungen Lindners und die romanhafte Darstellung Erna Brands sprechen von der heiteren, humorvollen Mutter und dem behaglichen Heim, in dem „ein glückhaft reiches Kindheitserleben“ möglich war;39 sie malen das Bild eines lebensfrohen Knaben mit übersprudelnder Fröhlichkeit, allerdings mit einer Vorliebe für einsame Spiele auf dem dämmerigen
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Leseprobe Abbildung 4. Max Reger mit seiner Schwester Emma, um 1884. Fotoatelier Joh. Laifle, Regensburg.
Sample page Abbildung 5. Reger unter Mitschülern der Präparandenschule Weiden, 1889.
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Dachboden, sie sprechen neckisch vom „klugen Bürschchen“ oder „frohen kleinen Bub“, der sich vom „Maxl“ zum „Regermax“ entwickelt und während seiner Real- und Präparandenschulzeit „der frischeste, lustigste Junge, den man sich denken kann“, war.40 Als „rechter, echter Bub“ soll er Indianergeschichten in 15-Pfennigheften gelesen, unter dem Häuptlingsnamen „springender Hirsch“ eine Indianerbande geführt haben und sehr sportlich gewesen sein. Daran lassen ein wenig die Sportzensuren in den Schulzeugnissen zweifeln, die als einzige eher mittelmäßig sind; und auch die ernsten, abweisenden Fotografien machen nachdenklich. Sicher ist, dass dem Jungen durch Auffassungsgabe und ein ausgezeichnetes Gedächtnis Wissen mit Leichtigkeit zufiel und er neben der schulischen Ausbildung genügend selbstbestimmte Zeit fand, sich anfangs fröhlichen Spielen, später der Musik zu widmen.
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Musikalische Anfänge
Musik spielte eine große Rolle im Elternhaus; die musikalische Veranlagung des Vaters hatte zwar nicht zu einem künstlerischen Beruf führen dürfen, in seiner Lehrerausbildung hatte er aber Instrumental- und Theoriekenntnisse erworben, die er nun seinen Schülern weitergab. Erste Klavierstunden gab Max die Mutter, doch war dem Unterricht entweder, nach Lindner, kein besonderer Erfolg beschieden, oder, nach Brand, so viel Erfolg, dass er die Lehrerin bald überflügelte und meinte: „Ich weiß nicht, Mama, was auf einmal mit dir ist, du spielst alle Tage schlechter!“41 Der Vater setzte die Bemühungen im Orgelspiel fort, überließ aber, als Max zwölf Jahre alt wurde, die konsequentere pianistische Ausbildung seinem früheren Präparandenschüler und jetzigen Kollegen Lindner, der auch das Amt des Organisten und Chorleiters an der Stadtkirche St. Michael versah. Der Zeitpunkt des Lehrerwechsels muss in den frühen Sommermonaten 1885 gewesen sein, denn Lindner schrieb im November 1888 von einer erst dreieinhalb Jahre währenden Unterrichtszeit. Auch weiß man, dass Josef Reger damals für ein Hausinstrument sorgte. „In den Sommermonaten des Jahres 1885 wurde die ihrem Zwecke nicht mehr völlig genügende Übungsorgel der Königlichen Präparandenschule [...] abgebrochen und durch eine neue ersetzt. Aus dieser ausrangierten, im Holz- und Pfeifenwerke aber noch brauchbaren Orgel fertigte nun Vater Reger ein Zimmerinstrument, das dem kunstbeflissenen Sohne künftighin bei seinem Orgelstudium dienen sollte.“42 Die Klavierstunden fanden in Lindners Dienstwohnung im Alten Schulhaus statt. In seinem gediegenen Unterricht ging Lindner sehr systematisch vor; zunächst wurden didaktische Lehrwerke studiert, etwa die Etüden von Johann Baptist Cramer, Carl Czerny oder HenriJérôme Bertini, der Gradus ad parnassum von Muzio Clementi und die Technischen Übungen von Eduard Mertke, um so die notwendige Spieltechnik zu erreichen. Dann folgte die klassische und romantische Klavierliteratur, darunter die Sonaten von Mozart und Beethoven und Bachs Inventionen, danach Klavierstücke der Romantik zu zwei und vier Händen. Auch die Kenntnis von Symphonien, Opern und Kammermusik wurde, wie damals außerhalb größerer Städte mit blühendem Musikleben auch gar nicht anders möglich, durch das Spiel vier- und zweihändiger Auszüge erworben. Von zusätzlichen Unterweisungen in anderen Instrumenten, namentlich Violine und Trompete, hat Reger später launig dem Herzog von SachsenMeiningen erzählt. Nach drei Volksschuljahren war Reger im Herbst 1882 in die Königliche Realschule eingetreten, in der er eine gleichmäßig große Begabung in allen Fächern bewies. In vier Realschul-
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jahren brachte er nur gute Zeugnisse nach Hause, nach Abschluss des vierten Kurses wurde ihm am 31. Juli 1886 bescheinigt: „Er zählt zu den besten Schülern des Kurses, sein Fleiß und sein Betragen waren durchaus zufriedenstellend.“43 Hiermit verbunden war die Zulassung zur Aufnahmeprüfung zu zwei weiteren Realschuljahren, die eine Voraussetzung für eine akademische Laufbahn geboten hätten. Längst aber hatte der Vater die Weichen für seine berufliche Zukunft gestellt. Wie er selbst sollte auch der Sohn Lehrer werden. Denn die finanzielle Lage der Familie war zwar durch den Aufstieg zum Präparandenlehrer verbessert, aber immer noch sehr beschränkt. Volker Ullrichs Untersuchungen zum Sozialstatus des Volksschullehrers im Deutschen Kaiserreich bestätigen, dass der Beruf – „abgekoppelt vom höheren Bildungswesen“ und schlecht bezahlt – nicht einmal für Schichten des alten Mittelstands, also Handwerker, Kaufleute und Landwirte, attraktiv war, und dies, obwohl für über neunzig Prozent der Kinder die Volksschule den einzigen Zugang zur Bildung bot.44 Ein Zeugnis des Königlichen Amtsgerichts Weiden von November 1888 benennt das Einkommen genau: „Funktionsbezug des Vaters 1980 M u. 582 M Zulagen“, stellt fest, „daß von einem Vermögen des Max Reger und seiner Eltern [...] nichts bekannt ist“ und betont unter „Quellen und Hilfsmittel: Die Ausbildungskosten für Max Reger müssen von dessen Eltern allein bestritten werden.“45 Bei einem so geringen Jahreseinkommen war es notwendig, die Ausbildungskosten zu begrenzen; Überlegungen, für den begabten Jungen ein Stipendium zu suchen, lagen wie schon in der vorigen Generation außerhalb der Vorstellungswelt. Folglich verließ Reger am 31. Juli 1886 nach vier Jahren die Königliche Realschule in Weiden, um mit 13 Jahren in die Präparandenschule einzutreten, die ihn in drei Jahren auf den Besuch des zweijährigen Schullehrerseminars vorbereiten sollte. Mit 18 Jahren hätte er, wie schon sein Vater, seine erste Stelle als Hilfslehrer antreten können und das Budget der Eltern nicht mehr belastet. Reger fügte sich den Vorstellungen seiner Eltern, ob mit oder ohne Diskussionen, ist nicht bekannt. Beim Eintritt in die Präparandenschule im Herbst 1886 wurde er sogleich von sämtlichen Musikstunden befreit, da er das Pensum in allen Fächern schon beherrschte. Bis dahin auf die Hausorgel beschränkt, durfte er nun auf der neuen einmanualigen Steinmeyer-Orgel der Präparandenschule üben, die für Pedalstudien geeignet war, aber Regers Sehnsucht nach größerer Klangfülle nicht stillte. Daraufhin entschloss sich Lindner, ihn sonntags im Gottesdienst der Stadtpfarrkirche spielen zu lassen; zwischen 1886 und 1889 muss er hier wiederholt den Organistendienst versehen haben. Auch dem Cellospiel soll er sich zugewandt und im Orchester der Präparandenschüler mitgespielt haben.46 Um die Jahreswende 1886/87 richtete Reger den ersten erhaltenen Brief an einen in Wien lebenden, offenbar musikalisch veranlagten Vetter seiner Mutter, den Physiker und Elek trotechniker August Grau, der dort später Professor werden sollte. Er berichtete von seinen vornehmlich aus Noten bestehenden Weihnachtsgaben, darunter dem von Grau geschenkten Vorspiel zu Tristan und Isolde und Isoldens Liebestod in der sehr schweren Transkription von Franz Liszt, die er nun zu spielen versuchte. Auch hatte er „sämtliche Symphonien von Beethoven in der sehr schönen Ausgabe von Liszt“ erhalten und „die Nerven der Mama schon ganz zusammengetrommelt, besonders da Emma nun auch angefangen hat, das Klavier zu maltraitieren.“ Das erste überlieferte Schriftstück schließt mit der zweifelnden Frage und persönlichen Feststellung: „Haben Sie denn die Musik wirklich auf die Seite setzen können? Ich
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spiele fest drauf los, bis Mama oft zuviel wird.“47 Nicht ganz auszuschließen ist, dass Reger im Stillen bereits die Musik für sich ins Zentrum seines Lebens gesetzt hatte. Zur Ausbildung der angehenden Lehrer zählte der Unterricht in Gesang, Klavier und Orgel, Violine und Harmonielehre; daneben arbeitete Reger sich mit Unterstützung Lindners weiter durch die Klavierliteratur. Sein erstes öffentliches Auftreten als Pianist fand im Mai 1887 im Gasthof zur Eisenbahn in einem Schulkonzert der Präparandenschule statt; er hatte dazu die große, Franz Liszt gewidmete f-moll-Sonate von Julius Schulhoff gewählt, und Lindner weiß von seinem schönen und feurigen Spiel zu berichten.
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Ausflüge aus engen Grenzen
Der Lebenskreis der Familie Reger war trotz des technischen Fortschritts der damaligen Zeit sehr beschränkt; wie viel von den Nachrichten aus aller Welt ankam, ob sich der Vater gar ein teures Zeitungsabonnement hielt, ist nicht bekannt. Gelegentlich wurden die Grenzen Weidens von Familie Reger überschritten, um Emma Roll, die in Erbendorf lebende Schwester Philomenas und Patentante Emma Regers, und deren Mann Theodor Roll an den Kirchweihtagen zu besuchen; gelegentlich verbrachten die Geschwister dort die Osterferien. „Onkel Roll“ war ein sehr beliebter Lehrer in dem 1200 Einwohner großen Ort und versah den Kantoren- und Organistendienst in der nur wenige Schritte von seinem Diensthaus entfernten Kirche.48 Hier muss er dem Zwölfjährigen bei einer Choraufführung im sonntäglichen Gottesdienst die Steinmeyer-Orgel überlassen haben, wobei dieser nach Erinnerungen eines späteren Mitschülers auf der Präparandenschule, Josef Kämmerer, „mit brausendem Orgelspiel“ eingesetzt haben soll.49 Ein späteres Foto zeigt Reger neben Emma Roll in biergartenähnlicher Umgebung in selten gelöster Stimmung, und auch der lebenslange Kontakt, den er zumindest in Form eilig hingeworfener Postkarten aufrechterhalten sollte, spricht dafür, dass er sich bei diesen Verwandten wohl fühlte. Dass seine Karten fast immer Erfolgsmeldungen beinhalten werden, ist vermutlich der Familienrolle des mit Hoffnungen beladenen und anfangs gestrandeten Sohns geschuldet. Mehrere Sommerurlaube verbrachte der Jugendliche, dessen durch schnelles Wachstum geschwächte Konstitution der Mutter Anlass zur Sorge gab, auf dem Land. Sein wohlhabender Wiener Taufpate Johann Ulrich besaß in der Nähe Regensburgs das „Ökonomiegut Königswiesen“, das heute nicht mehr existiert. Brand beschreibt es als sehr herrschaftlich: „Ein weiter, verträumter Park, Stallungen mit an die hundert Stück Vieh, die elegante Kutsche mit den schönen Pferden zur sonntäglichen Kirchfahrt nach Regensburg, und vor allem der Hundezwinger mit den reinrassigen wilden Wolfsspitzen, zu denen sich niemand, nicht einmal der Wärter, hineintraute – all das waren wirkliche Ferienfreuden!“50 Die Kinder freundeten sich mit den Hunden an und erhielten zu Weihnachten einen Welpen, der Melos getauft wurde – der Ahnherr vieler gleichnamiger Spitze, Pudel und Dackel, die Reger zeitlebens um sich haben wird. Reger setzt in einem Brief an Lindner ein anderes Gewicht, hier ist vor allem vom Musizieren auf dem Flügel und auf dem Harmonium die Rede, mit ungewohnt großer Auswahl an Noten: „Jeder Tag ist gleich dem andern. Um 5 Uhr aufstehen. Dann werden die Schlafgenossen herausgetrommelt mit dem ewigen [folgen Noten von Fingerübungen] etc. u. Cramers Etüden. Abends vor dem Niederlegen muß ich noch ein Weilchen spielen. Was ich da oft
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Leseprobe Abbildung 6. Reger bei den Verwandten Roll in Erbendorf, 1899.
zusammenspiele, ist grausig. Da wird auf scheußliche Akkordverbindung gejagt (z. B. A dur, Es dur, u. die Sequenzen dieser Verbindungen, chromatisch) Was Frau Pate dazu denkt –?“51 Hier lassen sich schon Wurzeln späterer musikalischer Eigenarten erkennen; Chromatik und schnelle Modulationen in entfernte Tonarten zählen ebenso dazu wie nachdrückliches Musizieren ohne Rücksicht auf die anderen, schon gar nicht auf „Frau Pate“, die hinter dem Verschwinden entsprechender Noten gesteckt haben könnte: „Frau Pate sieht es nicht gern. Sie glaubt immer, ich würde etwas ruinieren.“ Auch sein Klavierspiel wurde von ihr kritisiert: „Sie sagt, ich spiele heuer wohl geläufig aber recht forciert. Wahrscheinlich sagt sie das, weil ich mit Handgelenkübungen ihr Klavier schrecklich hernehme.“52 Nach Erinnerungen Emma Regers soll ihr Bruder jedoch schon mit dreizehn Jahren Beethovens Klaviersonaten mit einer „so heiligen Inbrunst“ gespielt haben,53 dass die Gastgeber für die Fingerübungen entlohnt wurden. Zudem wurden sämtliche Klaviere und Flügel in erreichbarer Nähe ausprobiert – vom Pianino eines Herrn Meyer ist ebenso die Rede wie vom Blüthner-Flügel des Lehrers Friedrich, der Reger durch seinen „schwachen, sentimentalen, durchaus kraftlosen Ton“ misshagte. Probleme muss die Beschaffung von Noten zur Erweiterung des Repertoires bereitet haben. Bei einem Besuch hatte der in Weiden geborene Musikprofessor Anton Gloetzner, der in Amerika zu Ehren gekommen war und an der Georgetown University in Washington lehrte, zur Erweiterung des Unterrichts Klavierstücke u. a. von Händel, Scarlatti und Carl Philipp Emanuel Bach empfohlen, und Lehrer und Schüler hatten daraufhin offenbar über die Vorteile eines Abonnements in einer Notenleihanstalt diskutiert: „Sie haben gemeint, Frau Pate solle mir das Abonnement zahlen. ! O ! Neulich habe ich angespielt darauf. ! Nichts!“ Ein
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wenig befürchtete er, „daß ich durch ein Abonnement meine Kräfte zu sehr zersplittere“;54 bei seiner offenbar schon früh ausgebildeten Neigung zur „Einverleibung“ aller Musikalien war eine solche Sorge durchaus nicht unberechtigt. Dass im Leben des Jugendlichen Musik in Form des Klavier- und Orgelspiels sowie der Aneignung von Musikliteratur bereits eine große Rolle spielte, belegen also viele Aussagen. Niemand scheint dagegen bemerkt zu haben, dass er sich damals schon im Komponieren versucht haben muss, wofür ja auch die improvisatorische Jagd auf „scheußliche Akkordverbindungen“ spricht. Reger sollte später bekennen, dass er „so als 13–17jähriger Junge eine Masse Musik verbrochen“ habe, „zu der man einen genauen ‚Führer‘ brauchte, um aus dem jugendlichen Unsinn klug zu werden.“55 Woher das außergewöhnliche musikalische Talent Regers stammt, ist rätselhaft, denn weder unter den mütterlichen noch den väterlichen Vorfahren waren ex treme Begabungen hervorgetreten. Dies erklärt vielleicht, warum seine Familie die Dimension seiner Begabung nie erkannt zu haben scheint; während viele Eltern, die selbst Musiker sind, ihre Sprösslinge als Wunderkinder trainieren und an deren große Zukunft glauben, fehlte Regers Eltern die Überzeugung von seiner musikalischen Berufung und das darin wurzelnde Wohlgefallen an seinen ersten kompositorischen Gehversuchen. In die Sommerferien 1887 fiel ein musikalisches Erlebnis, das auf den Jugendlichen nur geringen Eindruck machte. Beim sonntäglichen Besuch des Regensburger Doms, der Hochburg der cäcilianischen Bewegung, hörte er eine A-cappella-Messe und Orgelspiel. Sein Urteil bezog sich allein auf die Ausführung, auf den unausgewogenen und schwach besetzten Chor und die ungünstigen akustischen Verhältnisse. Auch die einmanualige Orgel erschien ihm zu schwach und das Spiel des Domorganisten Josef Hanisch zu rasch, so dass die Klänge verschwommen und „eine höllische Musik“ entstanden seien. Allein die in „Liszts Akkordfolgen“ ausgesetzten und stets in Moll schließenden Responsorien erschienen ihm „höchst eigentümlich“, während er an Domkapellmeister Michael Georg Haller Genialität vermisste. Auf seine Feststellung, „Herrn Haller sieht man sein Kompositionstalent nicht an“, konterte sein Vetter Robert Reichenberger: „Ja, die meisten großen Männer sehen von Außen dumm aus.“56 Wäre für die Familie eine Ausbildung an der Regensburger Kirchenmusikschule denkbar gewesen, wenn der Funke bei der Begegnung mit dem Cäcilianismus übergesprungen und Reger ins Lager des retrospektiven Historismus geraten wäre? Doch wird eine Rekonstruktion der Vergangenheit auch später nicht seine Sache sein, so sehr er ihre Impulse aufgreifen wird.
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I. Entwicklung und Ausbildung – März 1873 bis Februar 1893
2. Neue Ziele – August 1888 bis März 1890
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Erweckungserlebnis Bayreuth und erste Komposition
Ganz anders wirkte sich das musikalische Erlebnis der nächsten Sommerferien aus, das ein Patengeschenk zum Abschluss des zweiten Kurses der Präparandenschule Ende Juli 1888 gewesen sein mag, der mit Brillanz und sehr guten Noten absolviert worden war. Pate Ulrich, selbst ein großer Wagner-Verehrer, ermöglichte Reger im August 1888 den Besuch zweier Aufführungen der Bayreuther Festspiele, auf die dieser sich durch das Studium der Klavierauszüge gründlich vorbereitete.1 Er erlebte den Parsifal unter Felix Mottl in der Inszenierung und Dekoration der Uraufführung aus dem Jahr 1882, die Wagner selbst noch vorbereitet hatte, und die Meistersinger unter Hans Richter in der Inszenierung August Harlachers mit dem Bühnenbild Max Brückners. Mottl wird später als Dirigent und Direktor der Königlichen Akademie der Tonkunst in München für Reger wichtig werden. Der Eindruck insbesondere des Parsifal muss überwältigend gewesen sein; der Jüngling, dem die Musikdramen nur aus Klavierauszügen bekannt waren, der außer Militärkapellen nie zuvor ein Orchester, selbst keine hervorragend gespielte Kammermusik gehört hatte, dem große Wagnerstimmen und die weihevolle Atmosphäre des Festspielhügels gänzlich fremd waren, begegnete einem vorzüglichen Klangkörper unter inspirierender Leitung der besten Dirigenten in einem Raum mit fabelhafter Akustik und wurde nicht nur von dem Klangereignis, sondern auch von der Aussagekraft der Musik überwältigt. Er erfuhr, wie sprechende Leitmotive wissend, wie hochchromatische Harmonik und drängende Leittöne süchtig machen können, und war hingerissen. Seinem späteren Freund Carl Wendling, der viele Jahre als Konzertmeister in Bayreuth wirken sollte, hat er dieses Initialerlebnis beschrieben: „Als ich als 15jähriger Junge zum erstenmal in Bayreuth den Parsifal gehört habe, habe ich 14 Tage lang geheult, und dann bin ich Musiker geworden.“2 Er teilte das Erlebnis mit vielen Komponisten seiner Generation, ganz unmittelbar sogar mit Hugo Wolf und Claude Debussy, die im selben Jahr Aufführungen beider Werke besuchten. Dass der Jugendliche in seiner häuslichen Umgebung damals von seinen aufgewühlten Gefühlen gesprochen hat, dass er sie gar teilen konnte, ist eher unwahrscheinlich; nach Erna Brand bemerkte die Mutter zwar eine starke Veränderung, bei ihrer vorsichtigen Nachfrage nach Bayreuth aber soll er nur in Tränen ausgebrochen sein.3 Hinterlassen hat der Bayreuth-Besuch einen lebenslangen tiefen Eindruck: Auch wenn ihn die Entwicklung bald gewaltsam von Wagner wegdrängen und er später immer sehr klarsichtig dessen gefährliche Sogwirkung auf die Epigonen konstatieren sollte, ist Wagners Einfluss in seiner Harmonik und Melodik groß; ohne ihn wären z. B. die beiden Orchestergesänge An die Hoffnung von 1912 und Hymnus der Liebe von 1914 schlechthin nicht vorstellbar. Von Bayreuth nach Weiden zurückgekehrt, brachte Reger in der ersten Begeisterung eine nach Lindners Beschreibung „schier ins Endlose“ gezogene, 120 Partiturseiten umfassende und Ouvertüre getaufte Komposition für kammermusikalische Besetzung zu Papier.4 Das ist „aus dem Stegreif“ eine ganz erstaunliche Leistung, selbst wenn ihr schon frühere heimliche
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2. Neue Ziele – August 1888 bis März 1890
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Versuche vorausgegangen sein dürften, in die nicht einmal Lindner eingeweiht worden war. Lindner nennt als Besetzung „Streichquintett, Flöte, Klarinette, Klavier“ und schreibt von der Bestimmung für die Dilettantenvereinigung, in der Regers Vater den Kontrabass spielte;5 sie werde vermutlich, „da sie ja noch nie eine Note von ihm gesehen oder gespielt, das Werk ablehnen“.6 Da das Manuskript vernichtet wurde, kennen wir es nur aus brieflichen Beschreibungen, die von der außerordentlichen Begabung und einer großen Portion Eigenart des jungen Reger zeugen.
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Riemann greift ein
Lindners großes Verdienst ist es, zu einem Zeitpunkt, als Regers Lehrerlaufbahn für seine Eltern beschlossene Sache war, Schicksal gespielt zu haben. Um den Wunsch seines Klavierschülers, Musiker zu werden, zu unterstützen, schickte er Anfang November die Ouvertüre an den Musikwissenschaftler Hugo Riemann nach Hamburg mit der Frage, ob ihr Autor zum Musikstudium geeignet sei: „Was läßt dieser Versuch bei redlichem Streben des Studierenden erwarten!?“7 Er verschwieg nicht, dass der Vater seines Schülers noch manchen Zweifel hege „bezügl. der musikal. Begabung seines Sohnes, wenigstens insofern er sie nicht für ganz ausreichend hält, bei den heutigen musikal. Zeitverhältnissen ausschließl. seine Zukunft darauf zu gründen. Er hat ihn zunächst zum Lehrer bestimmt. Ich denke nun, daß obige Kompos. [...] in dieser Hinsicht doch eine etwas deutliche Sprache reden dürfte. [...] Mein Schüler wird Ihrem werten Urteile unbedingt vertrauen. Ist es günstig, so wird es neue, feurige Impulse schaffen; ist es abfällig, so wird er auch dann den Mut durchaus nicht sinken lassen (denn es steckt in ihm eine willensstarke Natur) vielmehr durch ruhloses Studium das ihm vielleicht vom Schicksal vorgezeichnete Ziel zu erkämpfen suchen. Eines – od. Nichts! wird hier die Losung lauten.“8 Warum hat sich Lindner, der sich in Zukunft oft als sehr weltfern erweisen wird, ausgerechnet an Riemann gewandt? Der 1849 in Großmehlra bei Sondershausen in Thüringen geborene Musikwissenschaftler lehrte damals am Hamburger Konservatorium, hatte 1882 die erste Auflage seines Musik-Lexikons herausgegeben und legte seit 1873 wegweisende Theo riebücher zur Musikalischen Logik, Melodik, Dynamik und Agogik vor, zuletzt 1886 die Praktische Anleitung zum Phrasieren, die er auch zur Grundlage seiner Notenausgaben der Klassiker machte. Eine besondere Rolle in Regers musikalischer Erziehung sollen laut Lindners Schreiben Riemanns Sechs Sonatinen ohne Oktavenspannungen für Klavier op. 42, Berlin 1885, gespielt haben: „Dieses Werk bildete sozusagen einen Wendepunkt in seinem Studium: Der hohe musikalische Wert dieser Sonatinen, die genaue Phrasierung, der eigenartige [...] ‚musikalische‘ Fingersatz gaben meinem Schüler eine noch viel ernstere Richtung als vorher. Und nun ging es unaufhaltsam vorwärts.“9 Auch wenn Lindner hier, auf Schmeichelei bedacht, die Bedeutung der Sonatinen für Regers Entwicklung vermutlich übertrieb, so könnte die „Gelehrtenmusik“ die Entscheidung für Riemann befördert haben. Nicht nur ihrer Besetzung wegen entzog sich die Ouvertüre der Zuordnung zu einer Gattung, sie folgte auch, nach Lindner, keiner traditionellen Form: „Es sollte eine Ouvertüre werden u. ich hätte es gar gerne gesehen, wenn darin die übliche Form beibehalten worden wäre. Zwar mit letzterer genau vertraut, hat der Feuergeist des Sechzehnjährigen dieselbe nun einmal gebrochen u. davon nur den großen Rahmen beibehalten. Wie weit dies Wagestück
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nach den auftretenden Themen gerechtfertigt erscheint, ob in bezug auf Kontrapunktik nicht etwa des Guten zu viel getan, ob nicht gar zu viel schäumender junger Most darin gärt – ich vermag es eben so wenig zu sagen, wie der Komponist selbst. Es mangelt uns beiden eben jeglicher Maßstab hierfür: Mein Schüler befindet sich augenblickl. überhaupt in einer recht gemischten Gemütsverfassung. Der Grund hierfür liegt darin, daß er sein Erstlingswerk noch nicht gehört.“10 Lindner verschwieg nicht, dass dem Vater die Komposition verheimlicht werde, offiziell um ihn zu seinem Geburtstag zu überraschen, vermutlich aber, um durch ein „eventuell günstiges Urteil“ Riemanns den Berufswunsch zu unterstützen. Er schloss mit der ihm eigenen Emphase, dass er den Musikgelehrten „nur im eigensten Interesse eines strebsamen Menschen, der keinen inbrünstigeren Wunsch kennt, als einst ein würdiger Priester im Tempel der hehren Kunst ‚Musik‘ zu werden“, behellige.11 Auch Riemanns aufschlussreiche Antwort ist erhalten; die Sendung habe ihm „zuerst einiges Entsetzen“ eingeflößt, weil Lindners Schüler ihm von der „Phrasierungs-“ und „Motivsucht angekränkelt“ zu sein scheine; die Phrasierungslehre stecke noch in den Anfängen und sei schon ganz anders geworden, als Reger sie kenne; er solle deshalb auf seinen bald erscheinenden Katechismus der Kompositionslehre warten. Bei näherer Betrachtung der Komposition sei das Ergebnis günstiger: „ich denke, der junge Mann hat Talent, vorläufig aber kann und weiß er noch nicht allzuviel.“ Das Werk sei weder Ouvertüre noch Kammermusik, die Instrumente kennten ihre Rollen nicht, die Kontrapunkte seien zwar ordentlich, machten einander aber gegenseitig tot. Sein Rat sei, dass Reger „zuerst und vor allem sich in der Melodieentwicklung übt.“ Zu diesem Zweck solle er Lieder und langsame Kammermusiksätze schreiben, „um etwas längeres denken zu lernen als Motive von vier Takten“. Sehr empfahl er das Studium Bachs und Beethovens, während er den Einfluss Wagners für gefährlich hielt: „Bayreuth ist Gift für ihn“.12 Riemanns aufrichtiges Interesse zeigte sich darin, dass er der Sendung den vierten Band der Kompositionslehre von Adolf Bernhard Marx und das eigene soeben erschienene Lehrbuch des Kontrapunkts beilegte. So ermutigt, meldete sich Reger selbst zu Wort und pflichtete Riemann in allen Kritikpunkten bei; unter dem Einfluss Wagners sei er in der Tat daran gewesen, „die Klassiker hinanzusetzen, so sehr ich sonst auch Beethoven hochhielt.“ Nun studiere er Bachs Inventio nen für Klavier und Fugen für die Orgel, wolle aber mit dem Wohltemperierten Klavier auf Riemanns Phrasierungsausgabe warten. Herzlich dankte er für die Lehrbücher, die ihm klar machten, wie viel er noch zu lernen habe: „Die Zeit wird mir noch sehr lange werden, bis ich an einem Konservatorium Musikunterricht nehmen kann, da ich auf Wunsch meiner Eltern erst ein Lehrerseminar absolvieren muß, wozu noch 3 Jahre nötig sind.“13 Immerhin scheint ihn sein Vater im Winter 1888/89 um eine Komposition – ein Scherzo für Flöte und Streichquintett – für seine Dilettantenvereinigung gebeten zu haben, die in einer für die Aufführung bestimmten Abschrift erhalten blieb. Auch als er Riemanns Empfehlung, Kammermusik zu komponieren, mit einem dreisätzigen Streichquartett in d-moll folgte, scheint er dem Vater zuliebe im Finale mit dem programmatischen Titel Aufschwung einen Kontrabass den vier Stimmen hinzugefügt zu haben. So vermessen, dem Studienwerk eine Opuszahl zu geben und es zu veröffentlichen, war Reger nicht. Für die Nachwelt ist es dennoch von Interesse, da es vor dem Kompositionsstudium bei Riemann entstand und einem wesentlich geringeren Einfluss als die ersten dort geschriebenen Kammermusikwerke ausgesetzt war. So weist das Quartett, auch wenn es in ungehemmt naiver Beethoven-Begeisterung
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2. Neue Ziele – August 1888 bis März 1890
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entstand, keimhaft auf den späteren Personalstil hin und offenbart ein Denken in knappen Motiven, das mehr dem Prinzip von Abwandlung und Kontrast als dem Ideal zielgerichteter Entwicklung verpflichtet ist. Trotz satztechnischer Unerfahrenheit weist das Jugendwerk schon eine äußerst nuancierte Dynamik auf; groß angelegte Steigerungsbögen und abrupte Gegensätze zwischen den Extremen ppp und fff sind ein wesentliches Gestaltungsmittel.14 Bei der Übersendung des Manuskripts an Riemann bekannte Reger, vermutlich dem Urteil seines Vaters folgend, dass das Werk „für manche Stimmen etwas schwierig ausgefallen“ sei.15 Erst im Unterricht bei Riemann wird ihm der kompositorische Anspruch der Gattung Streichquartett bewusst werden; er wird sich vornehmen, ein Quartett mit einer „Hölle von Kontrapunkt“ zu schaffen,16 den Plan aber für Jahre zurückstellen.
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Gegen die Zwangsläufigkeit der Beschränkung
Nach außen fügte sich Reger in dem Bayreuth folgenden Lebensjahr noch in den Lebensplan der Eltern und schloss den dritten Kurs der Präparandenschule Mitte Juli 1889 mit sehr guten Noten ab: „Max Reger ist für alle Lehrfächer, sowie für Musik sehr gut begabt. Seine Leistungen sind daher in allen Gegenständen wohlentsprechend. Sein Betragen war in jeder Hinsicht sehr lobenswürdig.“17 Als gehorsamer Sohn legte er noch im selben Monat die Aufnahmeprüfung für das Schullehrer-Seminar in Amberg ab, nach einem Schreiben seines Vaters an Hugo Riemann als bester Prüfling und mit der Hauptnote I.18 Zuvor unterzog er sich auch der amtsärztlichen Prüfung für angehende Lehrer, die ihm bescheinigte: „Reger Max von Weiden [...] ist von schlanker Figur, deren Längenwachstum dem Alter vorausgeeilt ist; in Folge dieses Umstandes ist die Brust etwas schmal und wird für die kräftige Entwicklung derselben aufmerksam Sorge zu tragen sein; im Übrigen ergiebt die Untersuchung weder eine nachweisbare Organerkrankung, noch eine vermutbare Krankheitsanlage, insbesondere kein körperliches Gebrechen oder einen Krankheitszustand, welcher das Zusammenleben mit Anderen beeinträchtigen könnte. Das Gehörvermögen ist von besonderer Schärfe und Feinheit, dagegen besteht auf beiden Augen Kurzsichtigkeit, welche das Tragen einer Brille (Concav No 15) zwar nicht absolut erfordert, so doch es zweckmäßig erscheinen lässt. Reger wird für den Lehrberuf als körperlich tauglich erklärt. Weiden, den 11. Juli 1889.“19 Im Lauf seines Lebens muss sich seine nach der damaligen Messgröße geringe Kurzsichtigkeit verstärkt haben, denn Fotografien zeigen den schreibenden Komponisten immer dicht über das Notenpapier gebückt. Reger besaß damals schon einen ausgesprochenen Dickkopf und hatte offenbar insgeheim längst beschlossen, seinen Musikertraum ohne Umwege durchzusetzen. Man staunt über die unbeirrbare Zielstrebigkeit des Halbwüchsigen, gegen die Enge der elterlichen Pläne und, wie sich zeigen wird, der ganzen Verwandtschaft zu rebellieren. Schon früh muss er sich gewiss gewesen sein, genügend Talent und Leistungswillen zu besitzen, um es im Feld der Musik zu etwas zu bringen. Mit Energie arbeitete er sich durch die Lehrbücher zu Harmonielehre und Kontrapunkt, lernte Riemanns Lehre des Generalbassspiels kennen, machte weitere Kompositionsversuche und betrieb intensive Klavierstudien. Hiermit schuf er nicht nur Tatsachen, er argumentierte auch geschickt mit den Ängsten des Vaters und machte ihm klar, dass der Besuch des Lehrerseminars die reine Zeitverschwendung sei, da er es im Musikfach längst überholt habe; ohne jede Neigung zum Lehrberuf werde er anschließend auf jeden Fall das
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Konservatorium besuchen, weshalb man den kostspieligen Umweg durch ein sofortiges Studium am Musikkonservatorium in München vermeiden solle.20 In dieser entscheidenden Phase fand Reger eine Verbündete in der Sängerin Wilhelmine Mayer, einer Tochter des Weidener Advokaten Gottlieb Mayer, in deren Elternhaus er oft stundenlang auf dem Klavier spielte und seinen Hörern den Eindruck vermittelt hatte, „es mit einem großen Talent zu tun“ zu haben. Der Kontakt war durch ihr Studium und die beginnende Karriere als Opernsängerin in Italien und den USA lange unterbrochen worden. Lindner zitiert aus ihren Erinnerungen: „Als ich 1889 nach Weiden zurückkehrte u. Familie Reger besuchte, war man schnell bei dem ‚Sorgenkind Max‘ angelangt u. nachdem er mir vorgespielt hatte, war ich nicht wenig erstaunt u. überrascht von den außerordentlichen Fortschritten, die M. R. unterdessen gemacht hatte. Ich machte es förmlich als meine Pflicht, auf die Eltern Regers einzuwirken, dem Drängen ihres Sohnes nachzugeben u. ihn der musikal. Laufbahn zuzuführen, u. an diesem Tage fühlte ich auch zum ersten Male ein gewisses Nachgeben elterlicherseits, so daß ich mich recht befriedigt von ihnen verabschiedete.“21 Vater Josef berichtete Riemann von Frau Mayers Angebot, Reger beim Konservatorium in München vorzustellen, und erbat zugleich ein Urteil über die neueste Komposition – das zwei Monate zuvor übersandte Streichquartett – und seine Einschätzung der musikalischen Begabung des Sohns. Aus dem Brief spricht der ängstliche Wunsch, sich abzusichern und die wichtige Entscheidung über die Zukunft des Sohnes einem anderen zu überlassen. „Denn fänden Ew. Hochwohlgeboren meines Sohnes musikalische Talente doch nicht ganz ausreichend, bei der Musik allein sein besseres Fortkommen zu finden, so würde ihm eine seminaristische Bildung ein Rückhalt sein, für den er wohl oder übel 2 Jahre aufwenden müßte.“22 Riemann muss unmittelbar reagiert und das Quartett-Manuskript mit einem günstigen Urteil zurückgesandt haben, so dass Reger ihm dankend mitteilen konnte, dass „sein Papa jetzt schon mehr geneigt sei, ihn an eine Musikschule zu geben“.23
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Rheinberger contra Riemann Zur weiteren Absicherung wurden auch dem bekannten Münchner Komponisten Josef Rheinberger das Streichquartett und ein inzwischen entstandenes Largo in Klaviertrio-Besetzung unter dem Titel Fantasie characteristique gesandt; mit der Komposition war Reger dem Rat Riemanns gefolgt, die Melodieentwicklung in langsamen Kammermusiksätzen zu üben. Rheinberger war ein sehr anerkannter Kompositionslehrer; viele seiner Schüler waren als erfolgreiche Musiker in Amt und Würden. Darüber hinaus, und das brachte ihn den Eltern nahe, vertrat er als Komponist und Mensch konservative, verlässliche Werte. Sein Urteil, er glaube in Regers Kompositionen, „trotz deren Unreife genügendes Talent zu finden, um sich der musikalischen Laufbahn zu widmen“, wurde durch den vorsichtigen Nachsatz, „obschon ich keinesfalls eine Verantwortung hierfür übernehmen kann,“ zwar eingeschränkt, blieb aber eine Befürwortung der musikalischen Ausbildung. „Wenn Sie gesonnen sind, Ihre Studien (wenigstens 2 Jahre) an der Münchener Musikschule zu machen, so melden Sie sich dort persönlich zur Prüfung am 16. September.“24 Während die Eltern Rheinberger bevorzugten, hatte sich Reger aber bereits für Riemann entschieden, der, damals noch Privatdozent in Hamburg, zum 1. April 1890 einen Ruf als Theorie- und Klavierlehrer an das Fürstliche Conservatorium der Musik in der seinem Ge-
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burtsort Großmehlra benachbarten thüringischen Residenzstadt Sondershausen angenommen hatte. Während der Sommerferien in Königswiesen kann man sich leicht die Anteilnahme von „Herrn und Frau Pate“ an den Diskussionen um Regers Zukunft vorstellen, die genau vor einem Jahr durch ihr großzügiges Geschenk der Bayreuther Karten ausgelöst worden waren. Auch seine Kompositionsversuche wurden im erweiterten Familienkreis erörtert und Vater wie Patenonkel monierten Regelbrüche im Quartettsatz. Doch Reger lehnte die Familieneinmischung selbstbewusst ab: „Papa machte sehr viele Vorschläge im Largo zum Ändern. Ich habe aber keinen angenommen. Es steht einmal geschrieben u. damit basta. Herr Pate meint auch, die Unisono Oktaven im Quartett wären falsch. Ja ja was wäre denn da nicht alles falsch. Dann wäre ja sein ganzer R. Wagner zu verbrennen“.25 Rheinbergers Vorwurf der Unreife dagegen akzeptierte er und nutzte ihn sogleich als Argumentationshilfe, recht bald mit den Studien zu beginnen: „Ich fühle am allermeisten selbst meine Unreife“, schrieb er Lindner, „und sage auch, daß all meine bisherigen Kompositionen Schundware sind, da ihnen fehlt – – – die künstlerische Vollendung das heißt es fehlt ihnen so eigentlich, was den genialsten Entwurf oder vielmehr Gedanken erst zum Kunstwerke macht – die geistige [...] Verarbeitung des Gedankens und diese kann erst dann am vollkommensten sein, wenn sich mit dem Notwendigsten des Schaffens [...] die technische vollkommene Ausbildung paart. Ich besitze bis jetzt aber – aufrichtig gesagt – nicht die geringste Technik. Meine Sachen mögen wohl Stellen aufweisen, die ganz gut sind – allein es ist kein Meister vom Himmel gefallen. Deswegen trachte ich so sehr nach Sondershausen zu kommen. Ich glaube nämlich das, ein Talent, das nicht frühestens ausgebildet wird, geht zu grunde. In diesem Sinne sind die 2 Jahre in Amberg verloren. Betrachten Sie sich einmal die Sachlage, [...] ob es nicht eine himmelschreiende Todsünde ist, wenn ich nach Amberg gehe, um mich – musikalische Fantasie betreffend – in lauter Regeln über den besten Dünger zu ersäufen.“26 Die Sätze offenbaren neben einem ausgeprägten Selbstbewusstsein auch eine große Portion gründerzeitlicher Leistungsethik: Talent zu haben ist ein Geschenk, das mit der Verpflichtung zum Fleiß bezahlt werden muss; die Gewissheit, zum Komponisten berufen zu sein, verknüpft sich bei Reger schon früh mit der Bürde der Verantwortung, für die Ausbildung und Entwicklung dieser Anlage selbst zu sorgen. Ihr Schwager Ulrich würde, schrieb Philomena ihrem Vetter August Grau am Jahresende, „München vorgezogen haben, da er eben gegen Riemann eingenommen ist. Wir hätten auch nichts gegen München gehabt, allein Hr. Dr. hat sich vom Anfange an so um Max angenommen, dieser aber nur zu Riemann wollen, daß wir nicht dagegen aufkommen.“27 Was hatte die Familie gegen Riemann und Sondershausen? München erschien ihr vermutlich schon der größeren Nähe wegen vertrauter (Sondershausen liegt über 300 Kilometer, München etwa 200 Kilometer entfernt), auch mussten die Grenzen des bayerischen Königreichs nicht verlassen werden. Vermutlich hatte Rheinberger auch einen kompetenten Fürsprecher in Hans Koeßler, einem entfernten Vetter Regers mütterlicherseits (ihr gemeinsamer Urgroßvater war Franz Peter Reichenberger gewesen), der von 1874 bis 1877 bei ihm in München studiert, anschließend als Lehrer für Theorie und Chorgesang ans Dresdner Konservatorium gegangen war und seit 1882 als Orgel- und Kompositionsprofessor an der Ungarischen Musikakademie in Budapest Karriere gemacht hatte. Für das thüringische Sondershausen sprach in den Augen der Eltern allenfalls die Überschaubarkeit der Kleinstadt und der Ausbildungsstätte, während die Person Riemanns ihnen fragwürdig erschien, was Reger auf konfessionelle Gründe zurück-
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I. Entwicklung und Ausbildung – März 1873 bis Februar 1893
führte. „Sind ja die meisten unserer hiesigen Bekannten nur deshalb gegen Sondershausen, da sie fürchten, ich könnte als Protestant zurückkehren. Hochgeehrtester Herr Professor können aus diesem Wenigen schon die hiesigen kleinlichen Verhältnisse und Menschen beurteilen.“28 Zwar war Weiden eine Simultaneum-Stadt, die offiziell das Miteinander der Konfessionen nicht nur in der gemeinsamen Nutzung der Stadtkirche, sondern auch in der paritätischen Verteilung städtischer Ämter pflegte. Doch waren auch die Weidener nicht gefeit vor wechselseitigem Misstrauen und den üblichen Sticheleien und Feiertagsstörungen zu Karfreitag bzw. Fronleichnam, die man auch in anderen Gegenden kannte. Reger müssen diese Gedanken fremd, wenn nicht suspekt gewesen sein; er war für die Musik in Riemanns Auslegung entflammt und bereitete sich mit zähem Fleiß auf dessen Unterricht vor. So gelang es ihm noch in den Sommerferien in Königswiesen, die Übermacht familiärer Bedenken zu überwinden: „Mein sehnlichster Wunsch, mich unter Ihrer geehrter Leitung ausbilden zu dürfen, wird erfüllt, da mein Papa jetzt einverstanden ist, daß ich nach Sonderhausen gehe. Mein Papa hatte eben Bedenken wegen meiner künftigen Stellung als Musiker; er glaubte, es wäre schwer für mich, bei der jetzigen Überfüllung in der Musik eine Stellung zu finden. Auf Ihre freundlichen Briefchen vom 12. und 19. August haben meine Mama und ich ihn gewonnen.“29 Riemann hatte dem Vater vorgerechnet, dass auch im Fall einer Musikerausbildung ein Gehalt garantiert sei, das der bescheidenen Vergütung einer Schullehrers entspreche. Dennoch wird ein unterschwelliges Misstrauen des Vaters über die Richtigkeit der Entscheidung bestehen bleiben und bei jedem Anlass, an seinem Sohn zu zweifeln, wieder ausbrechen. Die Monate, bis Riemann sein Amt in Sondershausen antrat und Reger dort sein Konservatoriumsschüler werden konnte, wurden fleißig genutzt. Reger studierte Riemanns Lehrbücher und folgte auch seinem Rat, Lieder zu komponieren. So entstanden seit 1889 erste Lieder, deren Textvorlagen Reger in populären Gedichtbänden aus dem Bücherschrank seiner Mutter fand, wie in der für den Schulgebrauch bestimmten Sammlung Duftende Blüten aus Deutschlands Wintergarten und der verbreiteten Anthologie Deutsche Lyrik seit Goethe’s Tode bis zur Jetztzeit von Maximilian Bern. Ihn inspirierten vornehmlich Texte mit gefühlvollen, sehr ernsten, oft schwermütigen Themen aus dem 19. Jahrhundert. Unter den Dichtern sind Theodor Storm (Bettlerliebe, Lied des Harfenmädchens, Du schläfst), Emanuel Geibel (In ein Stammbuch) und Nikolaus Lenau (Bitte) zu nennen, aber auch heute vergessene wie Ada Christen, Hermann Allmers oder Karl Dräxler-Manfred. Den Text seines ersten Lieds, Wilhelm Osterwalds Die braune Heide starrt mich an, soll ihm, so Lindner, seine Mutter ausgesucht haben; es bestätigt deren melancholisches Temperament und bringt mit Kontrast und Verschmelzung der Innen- und Außenwelt bereits ein künftiges Kernthema Reger’scher Liedlyrik zur Sprache30:
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Sample page Die braune Heide starrt mich an, Am Himmel bangt die Nacht. – Ach! daß ich nicht vergessen kann, Hat mich in Leid gebracht.
Komm, wilder Sturm, zerreiße du Der Wolken schwarzen Flor Und sing mein wildes Herz in Ruh’ Mit deinem tollsten Chor.
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An die zwanzig Lieder entstanden in den letzten Monaten im Elternhaus, die mit wenigen autographen Ausnahmen in Abschriften von Vater und Schwester überliefert sind und auch erklungen sein müssen. Über ihren Wert allerdings gingen die Ansichten Lindners und des Vaters „sehr weit auseinander“,31 was nur bedeuten kann, dass der Vater sie ablehnte. Reger selbst hat nie an eine Veröffentlichung gedacht und sollte sich bald von ihnen distanzieren: „eigentlich bin ich nicht einverstanden, wenn sie gesungen werden; dazu sind sie noch nicht abgeklärt, idealisiert genug.“32 Was wäre geworden, hätte Reger Rheinberger vorgezogen? Er wäre in eine Stadt gekommen, die unter Prinzregent Luitpolds liberaler und den Künsten gewogener Regentschaft traditionelle Werte pflegte und zugleich offen für neue Tendenzen war; in der sich 1890 erste Sezessionen bildeten, in denen junge Maler gegen die konservativen Inhalte und Methoden der staatlichen Akademien rebellierten; in der der Jugendstil in den Anfängen steckte und 1896 mit der Zeitschrift Jugend als Stilrichtung seinen Namen fand; in der eine Bohème, vor allem aus Dichtern und Malern, Fuß zu fassen begann und sich Schwabing vom Dorf zum Treffpunkt der Intellektuellen entwickelte; in eine Stadt, in der Hermann Levi mit seinen Wagner-Aufführungen Bayreuth Konkurrenz machte, aber auch ausländische Novitäten gebracht wurden, darunter 1888, kurz nach der deutschen Erstaufführung in Hamburg, Verdis Otello; in eine Stadt, in der seit Mitte der 1890er-Jahre die sommerlichen Mozart-Festspiele neben den Wagner-Aufführungen Beachtung gewannen. Wäre Reger in München der Welt der Oper näher gekommen, wäre er ein Wagner-Epigone geworden? Und vor allem, welche Entwicklung hätte er genommen, wäre er nicht zu einem Theoretiker in die Lehre gegangen, dessen Lehrbücher schon mit ihren Titeln „Katechismus“ verraten, dass über ihre Glaubenssätze nicht zu diskutieren ist? Ein Lehrer, der ihn ausschließlich auf die deutsche Tradition einschwor und Entwicklungen in der italienischen, französischen oder russischen Musik kaum wahrnahm. Wenn er dessen Polarisierung in absolute und Programmmusik nicht verinnerlicht hätte und durch dessen Einstellung zu Brahms und Wagner nicht in einen Konflikt zwischen ursprünglicher Begeisterung für Wagner und verstandesmäßiger Steuerung von ihm weg geraten wäre? Rheinbergers Schüler Ludwig Thuille, Max Schillings, Engelbert Humperdinck, Ermanno Wolf-Ferrari oder Anton Beer-Walbrunn waren von ihrem Lehrer nicht in dessen eigene konservativ-akademische Richtung gedrängt worden, sie komponierten symphonische Dichtungen und Musikdramen. Wäre Reger als ihr jüngerer Mitschüler in die modische Musikströmung integriert worden, wäre er ein Komponist der Münchner Schule geworden? Sicher scheint, dass er sein Kompositionshandwerk und insbesondere die Kontrapunkttechnik auch in München gelernt hätte, da auch Rheinberger größten Wert auf diese Disziplin legte. Die Grundauffassung, dass Kunst ein Ergebnis zäher Arbeit ist, wäre ihm auch hier vermittelt worden, hätte er sie sich nicht längst schon selbst zu eigen gemacht.
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3. Vom gehorsamen Sohn zum Künstler – Sondershausen Frühjahr und Sommer 1890
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Auftritt und Antrittsgeschenk
Kurz nach seinem 17. Geburtstag traf Reger am Ostermontag in Sondershausen ein; zur Verstärkung in der Fremde hatte er seinen Spitz mitgebracht. Die kleine Haupt- und Residenzstadt des Fürstentums Schwarzburg-Sondershausen in Thüringen hatte 1890 nur 6.634 Einwohner, fast alle evangelisch mit Ausnahme von 126 Katholiken und 102 Juden. Zu ihren Attraktionen zählten das fürstliche Residenzschloss mit seiner Parkanlage und dem Vergnügungsplatz Loh, wo seit Beginn des 19. Jahrhunderts im Sommer die berühmten Konzerte der fürstlichen Kapelle stattfanden, die mit dem Theater und dem vor wenigen Jahren gegründeten Konservatorium das kulturelle Leben prägten. Regers Anreise mit der Bahn – Sondershausen zählte den Anschluss an die Bahnstrecke Nordhausen-Erfurt zu seinen Errungenschaften – war ein Brief seines Vaters vorausgeeilt, der Riemann den „Hauptgrund“ der elterlichen Sorgen mitteilte: „Max ist in den letzten Monaten sehr gewachsen, aber im Gewichte um mehrere Kilo leichter geworden. Der Arzt meint nun wohl, daß noch keine positive Gefahr vorliege, daß Max aber eine gesunde Wohnung und ausreichende Kost unbedingt nötig habe und sich geistig nicht zu sehr anstrengen soll... Wir haben in Sondershausen nur Ihre Güte und wagen deshalb die weitere Bitte, Max vor zu langem Klavierspiel warnen zu wollen, da wir nur zu gut wissen, daß Max über Klavierspielen und Komponieren Essen, Trinken und Spazierengehen vergißt.“ Schon vor dem Studium war Regers Leben also ausschließlich aufs Musikmachen ausgerichtet gewesen. „Es wäre uns gewiß lieber, wenn Max seine Gesundheit mehr schonte, und sollte er zu seiner Ausbildung auch etwas länger brauchen.“1 Der Nachsatz muss in Anbetracht vorausgegangener Diskussionen relativiert werden; zum eigenen Leistungswillen gesellte sich daher bei Reger der Druck, den Eltern nicht zu lange auf der Tasche zu liegen. Riemann nahm sich die Bitte, die Lebensführung seines Schülers zu überwachen, durchaus zu Herzen, wovon Reger Lindner mit unverhohlenem Stolz berichtete: „Als ich am Bahnhofe ausstieg, stand Herr Dr. Riemann u. sein Kleinster (Hansel) da u. erwarteten mich. [...] Dann gingen wir in seine Wohnung, wo ich erst essen mußte u. dann führte er mich in meine Wohnung, die er mir besorgt hatte. Jetzt passen’s auf. Also ich habe die Wohnung sozusagen als Zimmerherr gemietet, müßte also Mittags im Hotel speisen; allein das gibt es nicht. Ich muß sozuschreiben?! bei Herrn Doktor mittags essen. Herr Doktor ist gegen mich die Freundlichkeit selbst. Alle andern holte er nicht ab; alle andern müssen im Hotel essen.“2 Wir wissen zumindest, dass sein Mitschüler Georg Behrmann ähnliche Zuwendung erfuhr – in Briefen an den heimischen Lehrer wird Reger immer dick auftragen. Erinnerungen von Riemanns ältestem Sohn Robert schildern den ersten Auftritt des neuen Mittagsgastes; ihm scheint die skurrile Erscheinung und ihr ebenso ungehobeltes wie streberhaftes Benehmen suspekt gewesen zu sein: „Eines Abends kam zunächst ein auffällig großer schwarzer Spitz, der eine dünne eiserne Kette nachschleppte, unsere Haustreppe hinauf, und dann folgte ein langer Jüngling, der etwas mangelhaft gewaschen aussah. [...] Meine Mutter
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machte rasch für Reger etwas zurecht, der sofort mit meinem Vater in ein ungeheuer gelehrtes Gespräch geriet. Reger redete, während er aß, beständig weiter und half mit den Fingern nach, wenn er mit der Gabel nicht auskam. Sobald mein Vater etwas sagte, rief der Jüngling: Ja, das steht in Ihrer Harmonielehre auf Seite 78.“3 Die Antrittsgabe des Schülers belegt seinen hartnäckigen Fleiß und seine künstlerische Eigenwilligkeit: Mit sechs Präludien und Fugen für Klavier erwarb er sich sogleich die Eintrittskarte in Riemanns Kontrapunktklasse. Das Bild dieser ersten Früchte der Kontrapunktstudien, das wir nur aus Briefen und Notizen rekonstruieren können, macht neugierig; denn hier scheinen, angefangen vom Komposi- tionsanstoß, viele Eigentümlichkeiten schon keimhaft angelegt gewesen zu sein: „Angeregt war R. durch die in meiner Bibliothek sich befindl. 6 Präludien u. Fugen von A. Rubinstein, die Reger eingehend studierte.“4 Wenn wir Lindner glauben sollen, gab also nicht der verehrte Bach, sondern ein in dessen Spuren wandelnder Komponist – Anton Rubinstein mit seinem Opus 53 von 1857 – den Anstoß zu ersten eigenen Fugen. Rubinstein hatte sich früh für die Bach-Rezeption in Russland eingesetzt und u. a. das Wohltemperierte Klavier in das Repertoire der Konservatorien in Sankt Petersburg und Moskau eingeführt. Zeitlebens wird sich Reger durch Werke auch weniger bewunderter Komponisten zur selbstbewussten Übersteigerung und eigenen Positionierung im Gegenüber inspirieren lassen. Die mitgebrachten Kompositionsversuche betonten sogleich die Distanz zu den Kommilitonen, die im Schlepptau des Lehrers nach Sondershausen gekommen waren: „Der eine Hamburger kann nicht begreifen, wie mir solche Motive einfallen können (Fuga bizzaro, F moll Fuge oder die andern Sachen; er sagt er könnte solche Motive nur in der größten Wut erfinden) Herrn Dr. gefallen die Fugen & Präludiums sehr. Er sagt, sie seien sehr schön. Die letzte“ – nach Lindner eine Fuge von riesiger Ausdehnung und freier Form – „so eine Art op 106. Er will die letzte genau ansehen. Ein Hamburger, dem ich den famosen Orgelpunkt [...] vorspielte, konnte u. kann nicht begreifen wie einem sowas einfallen kann.“5 Der hoch gegriffene Vergleich mit Beethovens Opus 106, den Riemann zur Ermunterung für den aus dem Rahmen fallenden, etwas hinterwäldlerischen Schüler gewählt haben mag, verrät den enormen Leistungsdruck, unter dem Reger seine Lehre antrat; denn die fast 400 Takte umfassende Finalfuge von Beethovens Hammerklaviersonate B-dur op. 106, die nur mit dessen Großer Fuge für Streichquartett op. 133 vergleichbar ist, präsentiert mit Veränderungen und Kombinationen aller Art ein kontrapunktisches Nonplusultra. So lässt sich vermuten, dass Reger mit seinem Mitbringsel zeigen wollte, was er auf diesem Gebiet zu leisten vermochte. Auch mag ihm Beethovens Satzanlage mit phantasieartiger Einleitung und Doppelfuge Allegro risoluto als Vorbild gedient haben, die nach der Kombination beider Themen mit einer gewaltigen Steigerung zum akkordischen Schluss drängt – gewissermaßen das Urbild vieler späterer Doppelfugen Regers, auch wenn er 1894 die „nicht weg zu läugnende Härte des Satzes“, welche die „monströse Schlußfuge aus op 106“ aufweise, als ein Hindernis wahren Genusses erkannte.6 Seine Fuga bizzarro scheint schon typischen musikalischen Humor bekundet zu haben, und die Bemerkung des Studienkollegen von der „größten Wut“ wird vermutlich ins Schwarze getroffen haben; in seinem ersten großen Orchesterwerk, der Sinfonietta op. 90, wird Reger einen verwandten Humor bekunden, der mit dem Begriff stile affrontoso treffend beschrieben wurde. Regers Mitschüler Georg Behrmann, Gustav Cords, Adolph Pochhammer und Hans Schmid waren Riemann aus Hamburg gefolgt, dazu kamen Privatschüler aus aller Welt: „Wir haben ein ganz internationales Phrasierungsbureau hier. Einer [...] ist aus Rußland, ein an-
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derer [...] aus Utrecht Holland; der dritte ist gar in Mexiko geboren!“7 Behrmann schilderte das eigentümliche Auftreten des aus der Provinz kommenden jungen Mannes, der sich dem internationalen Schülerkreis zumindest äußerlich durch sein Künstleroutfit anzugleichen suchte: „Ich schaue hinunter und sehe einen lang aufgeschossenen hageren jungen Mann mit Schlapphut und Künstlerschlips [...]. Nach einer Weile klopft es ‚Herein!‘ und vor mir steht der Jüngling, der sich, in bayrischem Dialekt sprechend, entschuldigte wegen seines Eindringens; ‚aber Dr. Riemann schickt mich, mein Name ist ‚von vorn und hinten recht‘.“ Er sei ein Kollege, Riemann bitte ihn am Nachmittag zu einer Bowle in die Gartenlaube. „Das freut mich sehr lieber Kollege ‚von vorn u. hinten recht‘ aber ich bin mir noch immer nicht klar, wie ich Ihren sonderbaren Namen nennen soll? ‚Ja, wissens, ich hoaß nämlich Reger!‘ – [...] das war also der Reger, von dem der Dr. dem Schmid schon erzählt und ihn als sehr talentvoll bezeichnet hatte.“8
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Eindrücke Die Quellenlage zu dem nur viermonatigen Lebensabschnitt in Sondershausen ist äußerst dünn, nur die zwei zu Beginn und Ende des Unterrichts an Lindner gerichteten Briefe sind überliefert, die deutlich machen, dass Riemanns Analyse und Phrasierungsausgabe des Wohltemperierten Klaviers zu den wichtigsten Eindrücken zählten: „Das Werk scheint ein riesiges zu werden“, schrieb Reger unmittelbar nach seiner Ankunft, als der Lehrer bis zur fis-moll-Fuge des 1. Teils vorgedrungen war.9 Während der folgenden Monate vollendete Riemann die Analysen sämtlicher 48 Präludien und Fugen, die noch im selben Jahr als Katechismus der FugenKomposition in zwei Teilen erschienen. Das Eindringen in die inneren Zusammenhänge und ordnenden Ideen dieses musikalischen Kosmos’ erlebte der Kompositionsanfänger als Offenbarung. Und auch als Interpret wollte er sich dem Werk nähern: „Daß ich wohltemperiertes Klavier spielen möchte, freut ihn, u. wird er dasselbe, nächste Woche, mit mir beginnen.“10 Lebenslang wird Reger für sein eigenwilliges Bach-Spiel und insbesondere seine Interpreta tionen einzelner Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers bewundert werden; auch wenn sie den historisierenden Tendenzen seiner Zeit widersprachen, müssen sie überzeugend und stimmig gewesen sein. Regers Bach-Liebe und -Annäherung unter Riemanns Anleitung galt dem gelehrten Musiker, der die Wissenschaft der Komposition beherrschte – The Learned Musician hat ihn der Bach-Forscher Christoph Wolff in seiner Bach-Biographie aus dem Jahr 2000 genannt.11 Reger entdeckte Bachs freien Umgang mit Form und Struktur, das ausgewogene Miteinander des improvisatorischen Impulses in den Präludien und des konstruktiven Elements in den Fugen ebenso wie das wechselseitige Durchdringen beider Prinzipien. Die motivische Durchgestaltung und die chromatische Harmonik als Ergebnis akkumulierter Linien begeisterten ihn ebenso wie die Freiheit des musikalischen Denkens, das nach dem ersten Bach-Biographen Johann Nikolaus Forkel weniger durch Formen und Gattungen als durch die Prinzipien von „Ordnung, Zusammenhang und Verhältniß“ definiert ist.12 Geschmeichelt fühlte sich Reger durch die persönliche Aufnahme im Hause Riemann: „Sie glauben gar nicht, wie Herr Dr. sich annimmt. So z. B. ich belege nicht Soloklavier, u. doch habe ich auf Herrn Dr. spezielles Verlangen Klavierstunde (2 wöchentlich) bei Herrn Dr. bekommen“. Hiermit wurde seine finanzielle Situation berücksichtigt, und seine Freude war uneingeschränkt: „O, es ist hier sehr schön! Bei Riemann jeden Tag mindestens eine Stunde
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zu sein, oder gar Spaziergänge mit ihm zu machen. Ich freue mich nur, wenn der Unterricht beginnt.“ Im Privathaus seines Lehrers stand ihm auch dessen Bibliothek zur Verfügung; dies schlug sich in seinen folgenden Liedkompositionen nieder, die nicht mehr auf Schulbuch lyrik, sondern auf klassischen Gedichten fußen. Riemanns Ehefrau Elisabeth war die Erziehung und Bildung des jungen Mannes ein ernstes Anliegen. Die Tochter des Bielefelder Spinnereidirektors und Handelskammerpräsidenten Konrad Bertelsmann, die seit 1876 mit Riemann verheiratet war, führte ein gastliches Haus. Auch Regers musikalische Entwicklung lag ihr am Herzen: „Seine Frau Gemahlin hat mir versprochen, mir den ganzen Brahms vorzusingen. Das wird ein Hochgenuß werden. (Mit Brahms scheint er sehr intim zu sein, da er mir eine Photographie zeigte, die er ihm selbst übersandte!)“13 Riemann hatte seinen Katechismus der Kompositionslehre im Vorjahr „Dem Meister Dr. Johannes Brahms gewidmet“. Die von Riemann vermittelten Werke Bachs, Beethovens und Brahms’ boten dem Kompositionsanfänger vielfältige Anregungen, während ihn die damit verbundene Ablehnung von Wagner, Liszt, auch Bruckner sowie der gesamten Neudeutschen Schule damals nur wenig störte; noch indifferent, sog er die Meinung des Lehrers begierig auf. „Riemann ist gegen manchen heutigen Komponisten, die doch etwas gelten, scharf“, stellte er fest und nannte u. a. den langjährigen Gewandhauskapellmeister und Konservatoriumslehrer Carl Reinecke.14 Die Abneigung übernahm er ungefiltert; im Mai 1895 wird er Reinecke gegenüber Ferruccio Busoni sogar als Hinderungsgrund benennen, nach Leipzig zu ziehen: „Ja, daß ich in Leipzig nicht den gewünschten Boden fände, das glaube ich selbst – überhaupt solange Leipzig noch sehr unter dem Gestirn ‚Reinecke‘ steht, wird für einen ‚modernen‘ Musiker Leipzig wenig Anregung bieten!“15 Die Kleinstadt Sondershausen, in der jeder Fremde wahrgenommen wurde, bot Riemanns Schülern eine hervorragende Plattform für exotische Auftritte und Streiche, von denen Mitschüler Behrmann berichtete: „An einem lustigen Abend beschlossen wir vier ‚Riemänner‘ Reger, Cords, Schmid, ich im Nebenzimmer des Restaurant Münch die Gründung der ‚Ritterschaft Montsalvat‘. Da musste jeder auf seine Art ein ‚heldenhafter Ritter‘ sein, sei es im Witze erzählen, im Scherze treiben, im Bier trinken u.s.w.: Wir erlangten bald eine Art Berühmtheit in dem kleinen schön gelegenen Residenzstädtchen, welche nicht nur durch unser unentwegt-gemeinsames Auftreten als Schüler Riemanns, auch in den Loh-Konzerten, sondern auch durch allerhand auffällige Streiche, die wir verübten, dokumentiert wurde.“16 Über die Loh-Konzerte und ihre musikalischen Eindrücke, so ungewohnt sie für den jungen Weidener waren, erfahren wir aus seiner Feder nur wenig, was der ungünstigen Quellenlage geschuldet sein mag. In ihrer Blütezeit Mitte des Jahrhunderts war die Hofkapelle für ihre Wagner- und Lisztpflege bekannt gewesen. Riemanns Schüler besuchten die Generalproben und Konzerte unter Hofkapellmeister Adolf Schultze, und Reger zog in seinem Brief an Lindner am Ende des Semesters ein Resümee, das in Anbetracht seiner geringen Hör erfahrungen überheblich erscheint: „Nun heute in der Generalprobe: Tassos Triumph v. Liszt, Beethoven-Ouverture von Lassen, Ruy Blas, Ouverture v. Mendelssohn, Meistersingervorspiel v. Wagner u. – 4. Symphonie v Brahms. Nun ja. Das Meistersinger-Vorspiel wurde halt gründlich verjagt. Es heißt ‚Sehr mäßig!‘ als Tempobestimmung. Nun übersah aber der gute Hofkapellmeister Schultze daß es ein 2 zähliger u. nicht 4 zähliger Takt (wie er ihn gab) ist. Fr. Dr. Riemann u. ich saßen nebeneinander; wir waren ganz – baff. Sie stieß mich nur immer über das Tempo. Von Agogik, Phrasierung hat man aber keine Spur von einer Idee.“
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Seine ungeteilte Begeisterung galt Brahms’ 4. Symphonie: „Ich weiß nur, daß das ein herrliches Werk ist. Natürlich wer in der Musik nur den Ausdruck seiner jeweiligen sentimentalen – (verliebten, wie meine lieben Collegen (die Hamburger) Stimmung sucht, dem kann echte Kunst eines Bach, Beethoven Brahms nicht gut gefallen! Herb, furchtbar herb, melancholisch – nicht appassionata! ist sie. Nur im 4. Satz (Chaconne) schreibt er vor appassionata. Das ist aber auch ein Finale. Gespielt wurde sie sehr mittelmäßig.“ Noch nicht klar definiert, nur vage empfunden ist hier seine Ablehnung platter Spiegelungen des Lebens im Werk; „echte Kunst“ bedurfte in seinen Augen einer Transformation und unterschied sich dadurch von den subjektiven Ergüssen seiner Kollegen. Reger konnte zugleich von großen Fortschritten berichten; sein Klavier-Repertoire umfasste Chopins Études op. 10 und 25, Schumanns Kreisleriana, Etüden von Moscheles und Fétis, seine Studien im doppelten Kontrapunkt wollte er in den Sommerferien in Weiden fortsetzen. Nach seinen Kompositionen gefragt, stöhnte er: „Komposition! O Gott wenn ich daran denke! Zeit – Zeit – Zeit. Aber warten Sie; ich werde in den Ferien ein Streichquartett schreiben, das soll eine Hölle von Kontrapunkt werden. (Finale große Fuge) Ja die Fugenform hat mich ganz gefangen genommen. Ich bin aber auch nebst Herr Dr. der einzige hier, der sich damit beschäftigt. Die anderen haben eben das Gefühl noch nicht hierfür. Die Hamburger (obwohl sie älter sind) befinden sich als Künstler eben auch in einem Stadium ‚der ersten Liebe‘ zur Kunst. Sie wissen ja, wie ich zuerst auch gehörig auf Fuge, Kontrapunkt schimpfte – aber vor 2 Jahren.“17 Er bezog sich damit auf die Zeit der eigenen, vom zündenden Bayreuth-Erlebnis ausgelösten, „ersten Liebe“ zur Musik.
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Außenseiter und Philisterfeind Bei seinen Hamburger Studienkollegen stieß er mit seiner ernsten Kunstauffassung auf Unverständnis: „der Reger komponiert nicht, sondern berechnet.“ Auch die Struktur seiner Werke musste er verteidigen: „Möchte aber schon fragen was geistig bedeutender, was mehr geistigen Gehalt in sich birgt wenn man sehr homophon schreibt oder wenn man sehr poliphon schreibt.“18 Wie man sieht, hatte er Riemanns Lehre verinnerlicht – der Schüler eines deutschen Musikwissenschaftlers lernte weder italienischen Belcanto und musikalischen Wohllaut noch französischen Esprit, sondern deutsche Polyphonie als höchste Form der Musik schätzen. Zugleich richtete er sich gegen den Trend seiner Zeit, Musik als Ausdruck zu begreifen, und geriet damit in ein inneres Dilemma; denn um Ausdruck ging es auch in den eigenen Werken, die Erlebtes nicht einfach abbilden sollten und doch von ihm genährt wurden. Seine Kommilitonen, die gefühlvoll-schwärmerisch in ihren Werken den „Widerhall ihrer Empfindungen“ spiegeln wollten, verstanden seine Einstellung nicht. „Sie sagen ja Reger schreibt wie wenn er 45 Jahre alt wäre. Ja, aber leidenschaftlich (Fmoll Fuge & Phantasie NB) können sie doch nicht so sein, das kommt ihnen wild vor. NB das ist wild!“ Und mit dem Notenzitat des einen großen Tonraum füllenden Themas der Fuga bizarro versuchte er zu beweisen, dass kontrapunktische Arbeit und Gefühlsüberschwang einander nicht ausschließen.19 Bei allen Kontroversen erkannten seine Kollegen „das überaus große Talent von Reger, man konnte versuchen ihm nachzueifern, aber man erreichte ihn nicht im Entferntesten; er hatte alle überflügelt und dabei blieb es.“ Und dies besonders auch beim Bach- und Beethoven-Spiel, das „tiefste Seele“ war und Behrmann so kleinmütig machte, dass er sein Studium aufgeben wollte.20
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Vor dem braven Lindner renommierte Reger mit seiner neuen Weltläufigkeit: „Erstaunt werden Sie mich vielleicht ansehen, wenn Sie mich in Weiden sehen. Ich glaube, daß [ich] mich in jeder Weise verändert habe – denn in Weiden muß man zum Philister werden.“ Hier taucht er erstmals auf, der engstirnige Philister, der sich mit den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen arrangiert hat und ein Gegenbild zum frei und edel denkenden, sich aufmüpfig gerierenden Künstler bietet. Er wird in Regers Denken während der Wiesbadener Jahre scharfe Konturen gewinnen und ihn, als Erben der Romantik, lebenslang begleiten. „Klatsch gibt es natürlich hier auch. [...] O Gott. Was sagt man nicht Alles. Nun ja, wir sind 4 ganz durchtriebene Kerls u wissen’s so zu machen, daß die Sonderhäuser ganz erstaunt sind. Das wäre so was für Weiden. Wenn ich an das liebe Nest denke; was habe ich für Dummheiten gemacht. Es ist ja vorbei u. im übrigen sind unsere Schulsatzungen hier lächerlich. Wir übertreten tagtäglich alle.“ Dass es um mehr als Schulsatzungen ging, verrät der Nachsatz: „Mit Hr Dr ist sehr gut verkehren. Nur muß man eben die allerfreisten Ansichten in allen Dingen haben, – sonst macht man sich unsterblich lächerlich. Mancher Weidener der durch seine Weisheit glänzt, würde tüchtig ausgelacht.“21 Auch die großbürgerlichen Lebensumstände im Hause Riemann begeisterten den Jüngling: „Zuerst hochfeines Abendessen im Speisezimmer u. dann ganz gemütliches Zusammensein im Salon; zuerst Bier u. zuletzt noch so u. so viele Flaschen Wein. Dabei wird feste Musik gemacht; Hr Dr. gibt Geschichtchen zum besten, die Hamburger & ich necken uns zum Gaudium H. & Fr. Dr tüchtig u. um 11 ½ bis 12 Uhr trollt man dann nach Hause um dann wie ich mittags 12 Uhr wieder dahin zu gehen.“22 Der Genuss eines guten Weins als Bestandteil einer gepflegten Mahlzeit war damals in Deutschland außer in Winzergegenden nur wohlhabenden, urbanen Bürgerschichten vorbehalten; im Hause Riemann gehörte er zur gepflegten Geselligkeit bei Gespräch und Musik. Wollte Reger mit den „allerfreiesten Ansichten“ seine Eltern nur schockieren oder wandte er sich gegen kleinbürgerliche Wert- und Moralvorstellungen? Vermutlich wehrte er sich nur gegen gutgemeinte Bevormundung und Engstirnigkeit und warb für ein unabhängiges, selbständiges Denken. Sondershausen blieb nur eine Episode im Leben Regers; im nächsten Semester sollte er, zusammen mit seinen Mitschülern Behrmann, Cords, Pochhammer und Schmid, seinem Lehrer Riemann nach Wiesbaden folgen. Mit einem vorzüglichen, von Hofkapellmeister Schultze und Hauptfachlehrer Riemann unterschriebenen Zeugnis des Fürstlichen Conservatoriums vom 2. August 1890 konnte er frohgemut die Ferien antreten und Lindner die „Früchte seines Fleißes“ mit einem dicken Heft Kontrapunktstudien sowie vielen gelösten Aufgaben in der Harmonielehre beweisen. In vier Monaten hatte der 17-Jährige, erstmals fern des Elternhauses, mit betonter Andersartigkeit seinen Standort in der Musik gesucht und verteidigt, Orchesterkonzerte gehört und seine Urteilsfähigkeit gebildet. Pubertäre Renommiersucht und studentische Attitüden schränkten seinen Fleiß und seine Aufnahmebereitschaft nicht ein, er schien auf gutem Wege, seinen Lebensplan zu verwirklichen. In den Sommerferien allerdings musste er feststellen, dass sein Vater sich noch immer nicht mit seinem Entschluss abgefunden hatte; noch Ende des Jahres 1890 wird seine Mutter ihrem Vetter Grau über die Sorgen der Familie wegen seines Verzichts auf eine gesicherte Lehrerlaufbahn schreiben, weshalb ihr Mann sich wiederholt an Riemann gewandt haben muss, um von diesem gebetsmühlenartig versichert zu werden: „Lehrer wäre Max aber unter gar keinen Verhältnissen geworden, u. eine Existenz, wie er dort gehabt hätte, wird er sich auf alle Fälle erringen, das schrieb uns Hr. Dr. Riemann schon oft.“23
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4. Riemanns Spezialschüler – Wiesbaden September 1890 bis Februar 1893
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Im mondänen Kurbad
Im September 1890 wurde Reger Schüler des Conservatoriums für Musik zu Wiesbaden, das, 1872 vom Königlichen Musikdirektor Wilhelm Freudenberg gegründet, seit dem Vorjahr von Riemanns begütertem Freund Albert Fuchs geleitet wurde, einem ehemaligen Schüler des Leipziger Konservatoriums und wenig erfolgreichen Komponisten und Musikschriftsteller. Mit der Berufung Riemanns erhoffte er den unter seinem Vorgänger Otto Taubmann verblassten Ruf des Konservatoriums aufzupolieren. Wiesbaden hatte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts rasch entwickelt, die Bevölkerungszahl war von 15.000 im Jahr 1850 auf nahezu 65.000 angewachsen, um 1900 sollte der Status der Großstadt erreicht werden. Die ehemalige Residenzstadt des Herzogtums Nassau war 1866 von Preußen annektiert worden und hatte damit ihre höfische Funktion verloren, war zugleich aber zum preußischen Regierungssitz aufgestiegen. Die wegen ihrer heißen Quellen schon von den Römern geschätzte Stadt entwickelte sich in der Gründerzeit zu einem weltbekannten mondänen Kurbad, das mit seinem milden Klima und der Heiterkeit des Rheingaus, dem Thomas Mann in seinem Roman Felix Krull ein Denkmal setzen sollte, regelmäßig vom italophilen Kaiser Wilhelm II. zur Sommerfrische besucht wurde. In seinem Gefolge genossen Adelige und hochgestellte Angehörige des Militärs die angenehme Atmosphäre und ergötzten sich an pompösen Paraden und prachtvollen Festen; auch wurde Wiesbaden zum beliebten Ruhesitz von Beamten und wohlhabenden Unternehmern. Noch heute gibt die im Zweiten Weltkrieg unzerstört gebliebene Stadt mit ihren repräsentativen Villen und luxuriösen Hotelpalästen ein selten intaktes Bild wilhelminischer Pracht, auf die der junge Reger nun unvorbereitet stieß. Der Jahresbericht des Konservatoriums warb die Studierenden mit den kulturellen Genüssen des Standorts: „Die Stadt Wiesbaden [...] bietet auch in musikalischer Hinsicht ihren vielen Besuchern durch die Aufführungen des Königl. Theaters, der Königl. Kapelle und der städtischen Kurkapelle Vorzügliches. An den Symphonie- und Solisten-Concerten des Hoftheaters und des Kurhauses, deren jährlich circa 20 stattfinden, betheiligen sich stets die hervorragendsten Künstler und Solisten. Andere Concertunternehmungen, Quartett- und Kammermusiksoiréen etc. tragen ebenfalls zur Hebung des musikalischen Lebens bei.“1 Das Musikleben wurde damals weitgehend von Louis Lüstner geprägt, der von 1874 bis 1905 die Leitung des Städtischen Cur- und Sinfonieorchesters Wiesbadens innehatte und Künstler wie Johannes Brahms und Clara Schumann in die Kurstadt holte. Auch die Oper konnte einem bildungshungrigen Jüngling einiges bieten; das im neobarocken Stil gehaltene neue Königliche Hoftheater allerdings sollte erst im Oktober 1894 eröffnet werden, und auch die Maifestspiele als überregional beachtetes Theaterereignis unter dem Protektorat des Kaisers wurden erst 1896 eingeführt, als Reger, in Geldnot und Isolation, kaum daran teilnehmen konnte. Als Intendant brachte ab 1893 Georg von Hülsen-Haeseler, ehemaliger Rittmeister, Vertrauter des Kaisers und künftiger Generalintendant aller preußischen Schauspielhäuser,
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Susanne Popp
MAX REGER WERK STATT LEBEN Max Reger gehört zweifellos zu jenen Komponisten, die es weder ihrer unmittelbaren Umgebung noch den Nachgeborenen leicht gemacht haben. In seiner Existenz scheinen Leben und Werk auf besonders widersprüchliche, aber auch folgerichtige Weise miteinander verknüpft. Die selbstauferlegte Verpflichtung, das Geschenk eines großen Talents durch rastlose künstlerische Arbeit stets aufs Neue zu rechtfertigen, traf auf eine unabhängige, kompromisslose Daseinseinstellung und zugleich auf ein Bestreben, die Unbilden der Realität durch die Flucht in die Kunst sogleich wieder hinter sich zu lassen: „Wer wissen will, was ich will, wer ich bin – der soll sich das ansehen, was ich [...] geschrieben habe – wird er nicht klug daraus, versteht er’s nicht, so ist’s nicht meine Schuld!“ Seinen Zeitgenossen erschien Reger als eine Person der Extreme, schwankend zwischen Selbstgewissheit und Selbstzweifel, was seine Kunst betraf, zwischen ätzender Angriffslust und bedingungsloser Loyalität, wenn es um Kollegen und Mitmenschen sowie um die Gestaltung seines Lebens ging. Sein unruhiger, hartnäckiger, maßloser, krisenanfälliger und am Ende selbstzerstörerischer Charakter wirkt regelrecht in die Strukturen und Stimmungen seiner Musik hinein, in ihre kämpferischen Offensiven und gewaltsamen Apotheosen. In diesem Sinne war Reger ein Neuerer der Form und des Ausdrucks, der sich nichtsdestoweniger mit dem soliden Handwerk seiner musikalischen Ahnen gewappnet hatte. Werk statt Leben? Die vorliegende Biographie verzichtet auf psychologisierende Kombinatorik, breitet jedoch vor dem Leser unzählige Dokumente eines Lebens aus, das sowohl zeittypisch wie individuell einzigartig war. Die hohe Kennerschaft der Autorin garantiert, dass die benutzten Quellen kritisch bewertet, Widersprüche erkannt und verlebendigt, die Ergebnisse eigener jahrzehntelanger Forschungsarbeit bruchlos und auf neuestem Stand in die Darstellung übertragen werden konnten. Susanne Popp studierte ab 1963 Musikwissenschaft, Mathematik und Pädagogik an der Universität Bonn und wurde 1971 mit Untersuchungen zu Robert Schumanns Chorwerken promoviert. 1973 wurde sie freie Mitarbeiterin, 1981 Leiterin des Max-Reger-Instituts, anfangs in Bonn, seit 1996 in Karlsruhe. Neben Brief-Ausgaben, Bildbänden und Aufsätzen zu Reger und seinem Werk veröffentlichte sie 2010 das Verzeichnis der Werke Max Regers und ihrer Quellen. Seit 2003 Honorarprofessorin an der Musikhochschule Karlsruhe, verbindet sie ihre Forschungstätigkeit, stets in engem Austausch mit Interpreten, mit der Musikvermittlung in Gesprächskonzerten und Ausstellungen. ISBN 978-3-7651-0450-3
9 783765 104503 BV 450