MN 722 – Schiwowa, Die gesunde Stimme

Page 1

Julia Schiwowa

Die gesunde Stimme Ein umfassender Ratgeber zur Gesunderhaltung der Stimme und zum Umgang mit Stimmstörungen. Mit vielen Übungen.

MUSIK

VERLAG



Wege – Musikpädagogische Schriftenreihe Band 22



Julia Schiwowa Die gesunde Stimme Ein umfassender Ratgeber zur Gesunderhaltung der Stimme und zum Umgang mit Stimmstörungen. Mit vielen Übungen.

Edition Nepomuk MN 722


Wir danken – zur Entstehung dieses Buches haben beigetragen: Zürcher Hochschule der Künste ZHdK

Edition Nepomuk MN 722 ISBN 978-3-7651-9920-2 Wege – Musikpädagogische Schriftenreihe Band 22 © 2008 by Musik Verlag Nepomuk, CH-4008 Basel 2011 assigned to Breitkopf & Härtel, Wiesbaden 3. Auflage 2021 Letzter Zugriff auf Internetseiten 2017 Alle Rechte vorbehalten Umschlag: Julia Schiwowa Satz, Gestaltung: Ediprim, Biel. Mit Abbildungen von Eberhard Seifert, Abt. Phoniatrie, Universitäts-HNO-Klinik, Inselspital, Bern. Druck: Halstan Deutschland GmbH, Mainz Printed in Germany www.breitkopf.com


Mein herzlicher Dank geht an Herrn Prof. Dr. Horst Hildebrandt. Er hat die Entstehung dieses Buches von allem Anfang an fachlich betreut und mich stets mit neuen Denkanstössen und Literaturvorschlägen versorgt. Weiterhin danke ich Frau Dr. Salome Zwicky für die Beantwortung meiner Fragen im Bereich der Phoniatrie und Stimmphysiologie. Ich danke auch meinen Schülerinnen und Schülern. Sie haben mich bei der Arbeit an diesem Buch stets bekräftigt und liessen mich zahlreiche Ideen im Unterricht ausprobieren. Schliesslich danke ich meinem lieben Mann, der mir immer zur Seite stand und der mit mir auch den Umschlag gestaltet hat.


Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung 1.1. Persönlicher Hintergrund 1.2. Das Ziel des vorliegenden Buchs 2. Die gesunde Stimme 2.1. Was ist «Stimme»? 2.2. Die Variabilität des Begriffs «gesunde Stimme» 2.2.1. Grundfunktionen der Stimme 2.2.2. Einteilung in Profis und Laien 2.2.3. Guter Sänger = Gesunde Stimme? 3. Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen 3.1. Einleitung 3.2. Vorbeugung von Stimmschäden 3.2.1. Check-up Gespräch 3.2.2. Höreindruck 3.3. Der gesunde Gebrauch der Stimme 3.3.1. Grundsätzliche Gedanken zur Gesangstechnik 3.3.2. Selbständigkeit fördern 3.3.3. Körperwahrnehmung 3.3.4. Körperliches Aufwärmen 3.3.5. Tonus 3.3.6. Haltung 3.3.7. Bewegung 3.3.8. Wahrnehmung des stimmlichen Zustandes 3.3.9. Randstimme 3.3.10. Warum singen wir uns eigentlich ein? 3.3.11. Warum singen wir uns nicht «aus»? 3.3.12. Resonanz 3.3.13. Stimmbandschluss 3.3.14. Stimmeinsatz 3.3.15. Stimmgattung 3.3.16. Artikulation 3.3.17. Artikulationsstörungen 3.3.18. Arbeit an der Sprechstimme 3.3.19. Atmung/Atemstütze 3.3.20. Wie üben? 3.3.21. Zeitplanung des Unterrichts 3.3.22. Gewohnheiten ändern 3.3.23. Singen mit Ausdruck

9 9 9 11 11 12 12 14 17 19 19 20 20 22 26 26 30 33 35 38 44 49 53 56 57 58 58 63 65 66 67 70 70 74 83 86 87 88


INHALT

3.3.24. Gesangsliteratur 3.3.25. Öffentliche und nichtöffentliche Ebene 3.4. Überbeanspruchung der Stimmen von Gesangslehrpersonen 3.5. Wiedereinstieg in den Sing-Alltag nach einer Stimmstörung 3.6. Logopädie und Stimmtherapie 4. Stimmprobleme im Unterricht - Ein praktisches Beispiel 5. Stimmstörungen und Stimmkrankheiten 5.1. Einleitung 5.1.1. Stimmveränderungen im Verlaufe des Lebens 5.1.2. Grundsätzliches 5.2. Funktionelle Stimmstörungen 5.2.1. Psychogene Stimmstörungen 5.2.2. Organische Stimmstörungen 5.2.3. Hormonell bedingte Stimmstörungen 5.3. Symptomatik bei Stimmstörungen 6. Behandlung von Stimmstörungen 6.1. Operative Therapie 6.2. Medikamentöse Behandlungsformen 6.2.1. Medikamente gegen Husten 6.2.2. Nasensprays 6.2.3. Schmerzlindernde Medikamente 6.2.4. Cortisonpräparate 6.2.5. Antibiotika 6.2.6. Medikamente gegen Asthma 6.2.7. Herz- und Blutdruck-Medikamente 6.2.8. Anabolika (anabole Steroide) 7. Stimmhygiene 7.1. Was für gesundheitsfördernd gehalten wird 7.2. Was für schädlich gehalten wird 7.3. Der Placebo-Effekt oder «Jeder kennt sich selbst am besten»

89 90 91 93 94 99 107 107 107 108 109 110 112 119 123 125 125 126 127 127 128 129 130 130 131 131 133 133 135 138

8. Bibliographie

141

9. Übungsübersicht

145

7



9

1. Einleitung 1.1. Persönlicher Hintergrund Die persönliche Erfahrung mit einer Stimmstörung erweckte 2004 erstmals mein Interesse für das Thema «Stimmstörungen». Damals war es unter anderem das Gefühl der Unwissenheit gegenüber der Welt der Medizin, deren Sprache ich nicht kannte und auf deren Hilfe ich doch angewiesen war, welches in mir das Bedürfnis hervorrief, mich vertieft mit diesem Gebiet zu beschäftigen. Meine Diagnose «Venektasie der linken Stimmlippe mit kollateralem Ödem» (Venenerweiterung in der linken Stimmlippe mit Einlagerung von Flüssigkeit aus dem Gefässsystem, ebenfalls auf der linken Seite) war damals eine Aneinanderreihung unverständlicher Begriffe, aber sie stand für die Angst um meine sängerische Zukunft. Nachdem mir ein Stimmarzt zur Operation geraten hatte, war ich immerhin kritisch genug, mir eine zweite Meinung einzuholen: Operation oder nicht? Es stand Aussage gegen Aussage. Ich entschied mich, vorerst einmal abzuwarten, ob sich die Stimmstörung auch ohne chirurgischen Eingriff beheben liess, was sich auszahlte. Nach einem halben Jahr konnte ich auch ohne Operation wieder singen. Meine eigene Stimmstörung sensibilisierte mich aber nicht nur für den medizinischen Aspekt. Viel mehr noch erwuchs daraus eine neue Haltung gegenüber der Stimme und dem Singen. Es ging mir wie vielen anderen Menschen; Ich merkte erst durch die Stimmstörung, wie oft ich versucht hatte, die Entwicklung meiner Stimme zu erzwingen. Für den Wiedereinstieg liess ich mir daher einige Monate Zeit. Es sollte sich von Anfang an eine neue Art des Singens entwickeln können. Ich hatte zwar keine Idee, wie die Umsetzung aussehen sollte, aber ich hatte erkannt, dass im Aufbau einer Stimme nur mit und nicht gegen den Körper gearbeitet werden kann. Ich begriff, dass ich die Arbeit verstärkt von innen her aufbauen könnte und dass es nicht darum geht, Ziele zu erreichen, welche ich mir von aussen her stelle, ungeachtet dessen, was im Bereich des Möglichen liegt.

1.2. Das Ziel des vorliegenden Buchs Das vorliegende Buch richtet sich an alle, denen die Gesunderhaltung ihrer Stimme am Herzen liegt. Es hat zum Ziel, durch Denkanstösse und medizinisches Hintergrundwissen eine Haltung gegenüber der eigenen Stimme und denen der Schüler zu fördern, welche einem gesunden, schmerzfreien, freudvollen Singen freie Bahn gibt. Dabei stehen die Möglichkeiten der täglichen Stimmarbeit und die des Gesangunterrichts bezüglich der Gesunderhaltung der Stimme im Zentrum. Im ersten Teil des Buches werden Sänger, Sängerinnen und Lehrpersonen dazu ermuntert, ihre Verantwortung wahrzunehmen und aktiv zur Gesunderhaltung von Stimmen beizutragen. Der zweite Teil bietet durch ausgewähltes Fachwissen eine Starthilfe für das medizinische Gebiet der Stimmstörungen und ihre Behandlungsformen. Die Unsicherheit in Bezug auf


10

Einleitung

Stimmstörungen ist bei vielen Gesangspädagogen gross. Es fehlt ihnen das medizinische Hintergrundwissen und sie merken, dass sie gegenüber ihren Schülern zu keinen klaren Aussagen oder Diagnosen fähig sind. Das ist sehr verständlich, zumal die Ausbildung zur Gesangslehrperson das Thema «Stimmstörungen» bisher in keiner Weise anspricht und Studenten somit nie mit möglichen Problemen rund um die Stimme in Berührung kommen, es sei denn, sie leiden selber einmal an einer Stimmstörung. Es besteht kein Anspruch auf Vollständigkeit (dafür gibt es medizinische Fachbücher). Auch auf eine detaillierte Erklärung der Physiologie der Stimme soll verzichtet werden, da zu diesem Thema bereits eine grosse Anzahl von Büchern existiert. Zu empfehlen sind beispielsweise «Stimme und Sprache» von Günther Habermann, Thieme Verlag, «Singen» von Frederick Husler/Yvonne Rodd-Marling, Schott Verlag, oder «The Structure of Singing» von Richard Miller (siehe Bibliographie). Die Leserschaft soll unterstützt werden, im Bereich der Stimmerkrankungen und Stimmstörungen mitzudenken und sich nicht wahllos jedes Medikament verschreiben zu lassen, sondern darauf zu achten, zur eigenen Person passende Behandlungsformen zu finden.


11

2. Die gesunde Stimme 2.1. Was ist «Stimme»? Fast jeder Mensch besitzt eine Stimme und benützt sie täglich. Gesangspädagogen und Sänger, Phoniater, Logopäden und viele andere beschäftigen sich beruflich tagtäglich mit ihr. Aber was ist Stimme überhaupt? Was meinen wir, wenn wir von «Stimme» reden?

Leseprobe

Stimme ist Ausdrucksmittel, Klang, Stimme trägt Worte, ist schwingende Gewebsmasse, Luftschwingung, der Spiegel der Seele… Stimme ist höchst individuell, reagiert auf die kleinsten physischen sowie seelischen Veränderungen, ist Teil der Persönlichkeit, das Mittel, um emotionale Zustände auszudrücken und um Informationen auszutauschen. Sie ist unfassbar und unsichtbar aber hörbar. Hörbar und fühlbar. Endoskopischer Blick in einen gesunden Kehlkopf Sie ist nicht materiell, oder doch? Stimme ist eines der komplexesten Phänomene unseres Daseins; es gibt tausend Wege, Stimme zu erklären, zu definieren. Ist Stimme eine potenzielle Fähigkeit, Töne von sich zu geben oder Laute zu formen, oder kann man von Stimme nur reden, wenn solche Töne und Laute auch tatsächlich produziert werden? Stimme scheint vor allem ein grosses Rätsel zu sein. Jeder kann sich dem Thema Stimme auf seine Weise nähern. Verschiedene Lebensanschauungen, Theorien und praktische Wege haben sich mit der Stimme beschäftigt. Wer seine Stimme ausbilden möchte, kann zwischen unzähligen Methoden und Arbeitsweisen auswählen. Das ist einerseits unglaublich bereichernd, andererseits macht es die Sache kompliziert, denn wie soll man in dem Wirrwarr von Meinungen und Umsetzungen das finden, was einem zusagt? Es ist tatsächlich sehr schwer zu erkennen, was in die Zukunft weist und was in die Sackgasse führt, sowohl für die, welche lernen, als auch für die, welche lehren. Deshalb darf man auf dem Weg der Stimmausbildung seine Intuition nie zurücklassen. Denn Stimmausbildung ist, wie die Stimme selbst, höchst individuell. Wer es schafft, offen zu bleiben, wer nie aufhört, Fragen entstehen zu lassen und auch wiederkehrende Fragen immer wieder neu zu beantworten sucht, kann nicht nur ein freies Singen erlangen, sondern auch als Mensch für sich unglaublich viel mitnehmen.

Sample page

Die Stimme ist mit dem menschlichen Leben von allem Anfang an eng verknüpft. Sie begleitet nach der Entfaltung der Lungen im Geburtsschrei bereits die allerersten Momente


12

Die gesunde Stimme

menschlichen Lebens. Schreien ist das Ausdrucksmittel, welches Säuglinge und Kleinkinder vor dem Erlernen der Sprache nebst Bewegung zur Verfügung haben. Stimme in dieser Form ist eine urtümliche Art der Äusserung. In der Evolutionsgeschichte des Menschen steht die Entwicklung der Lautäusserung bis hin zur komplexen Sprache jedoch erst spät. Der Stimmapparat im engeren Sinne (Stimmlippen, Kehlkopf usw.) entwickelte sich aus dem Atemtrakt heraus. «Die Atmung dient primär dem Gasaustausch in den Lungen. Ihr kommt damit eine lebenserhaltende Funktion zu. Erst später in der Phylogenese ist die Atmung zur Stimmerzeugung benutzt worden.»1 Oder, um noch weiter zurückzugehen: «Das Organ, mit dem wir die Stimme hervorbringen, hatte in vormenschlicher Zeit in erster Linie zwei ganz primitive lebenserhaltende Funktionen zu erfüllen: es ging um das Schliessen und das Öffnen des Atemraums. Die organischen Voraussetzungen für diese Urfunktionen erweiterten sich erst im Laufe der Menschwerdung unter anderem zum Mechanismus für eine Stimmgebung.»2 Die Tatsache, dass die Atmung als übergeordnete Funktion bei der Stimmgebung immer mitspielt, ja dass sie die führende Kraft für Stimmgebung überhaupt ist, ist für jede Stimmarbeit von grösster Bedeutung. Jede Veränderung und Beeinflussung der Atmung wirkt sich auf den menschlichen Organismus aus; der Gasaustausch wird verändert, die Herzfrequenz, die Durchblutung, die Organaktivität – alles. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese Veränderungen durch seelische oder körperliche Zustände ausgelöst werden. Dieser Tatsache muss im Rahmen der Stimmarbeit unbedingt Rechnung getragen werden. Es ist eine wunderschöne Arbeit und eine sehr grosse Verantwortung, Stimmen in ihrer Entwicklung zu unterstützen.

Leseprobe

2.2. Die Variabilität des Begriffs «gesunde Stimme» 2.2.1. Grundfunktionen der Stimme

Sample page

Wenn man sich die Gesunderhaltung von Stimmen zum Ziele setzt, so stösst man unweigerlich auf die Frage, was denn eine gesunde Stimme überhaupt sei. Noch vorher aber muss geklärt werden, ob man sich auf die Singstimme oder auf die Sprechstimme bezieht. «The difference between speaking and singing is continuity of vibration and energy. In speaking, momentum is constantly arrested; in singing, never.»3 (Der Unterschied zwischen Sprechen und Singen ist die Kontinuität von Vibration und Energie. Beim Sprechen wird der Impuls ständig unterbrochen, beim Singen nie). Schreien als erste Lautäusserung gehört demnach in die Kategorie Singstimme. Später, bevor Kleinkinder zu sprechen beginnen, singen und plappern sie oft tagelang vor sich hin. Die Sprechstimme leitet sich in diesem Sinne von der Singstimme ab, welche das Fundament bildet, auf der die Ausdifferenzierung der Laute geschieht.

1 Wirth, Günter: Stimmstörungen, Köln 1995, S.21 2 Husler, Frederick, Rodd-Marling, Yvonne: Singen, Mainz 1965, S.55 3 Lamperti, Giovanni Battista: Vocal Wisdom; Enlarged Edition, New York 1957, S.47


Die gesunde Stimme

Die logische Folgerung in diesem Fall ist, dass eine gesunde Stimme singen können sollte. Nicht lange Arien schmettern, sondern beispielsweise einen ausgehaltenen Ton, also eine konstante Schwingung, aufrechterhalten können. Welche Kriterien gibt es noch? Die folgende Liste ist eine Zusammenfassung der Resultate einer Umfrage unter Sängern und Nicht-Sängern mit der Fragestellung «Was ist eine gesunde Stimme bzw. was zeichnet eine gesunde Stimme aus?»

Leseprobe

Eine gesunde Stimme soll

• sich für den Singenden angenehm anfühlen und für den Zuhörer angenehm anhören. (Schmerzfreiheit, kein Kratz- oder Engegefühl usw.); die Stimme vermittelt ein Gefühl von «Stimmigkeit». Interessanterweise taucht die Frage nach gesund oder ungesund bei solchen Stimmen gar nicht auf. Erst bei Beschwerden oder bei extremen akustischen Abweichungen des Stimmklangs rückt die «gesunde» Stimme ins Zentrum der Aufmerksamkeit, • nicht heiser, sondern klar sein, • ein gewisses Mass an Ausdauer haben, • beweglich, modulationsfähig sein, • über einen guten Stimmbandschluss in allen Registern verfügen, • in allen Registern frei schwingen können (das beinhaltet sowohl einen freien Atemstrom als auch eine Vibrato-Fähigkeit der Stimme), • über ein dynamisches Spektrum verfügen (laut oder leise möglich; Berufssänger betonen als Grundmerkmal einer gesunden Stimme das einwandfreie Funktionieren der Randstimme, oder anders gesagt, eine funktionierende Schleimhautschwingung), • über einen Umfang verfügen, der über denjenigen der Sprechstimme hinausgeht, • variabel eingesetzt werden können (willentliche Beeinflussung der Stimmäusserung möglich, z.B. verschiedene Formen des Stimmeinsatzes; weich, hauchig, fest), • den Eindruck von unlimitierten Möglichkeiten verleihen, aus dem Vollen schöpfen können, das Gefühl vermitteln, nie an ihre Grenzen zu kommen, sondern immer noch Reserve zur Verfügung zu haben.

Sample page

Die oben stehende Liste kann man unter dem Begriff «Grundfunktionen der Singstimme» zusammenfassen: Das sind Fähigkeiten, die auf dem Umgang mit Tonhöhe und Lautstärke beruhen und von jeder gesunden Stimme beherrscht werden. Davon sind selbstverständlich alle Extreme auszuschliessen (extreme Höhen und Tiefen, Lautstärkenextreme usw.). Ungeübte Stimmen haben ein viel kleineres Spektrum der einzelnen Parameter als professionelle Stimmen, alle Funktionen sollen aber in kleinerem Umfang bei einer gesunden Stimme vorhanden sein. Interessanterweise stellen diese Grundfunktionen der Stimme, oder anders ausgedrückt, die Kriterien, nach welchen eine gesunde Stimme gemessen wird, gleichzeitig auch das Arbeitsmaterial für die Stimmarbeit dar und bleiben selbst bei professionellen Sängern immer ein Thema. Die

13


14

Die gesunde Stimme

Arbeit an den Registern, am Stimmumfang, an der Beweglichkeit usw. dient demnach sowohl der Gesunderhaltung der Stimme als auch der Steigerung des sängerischen Niveaus. In der Ausdifferenzierung und Leistungssteigerung merkt nun der singende Mensch, dass seine Ansprüche an die gesunde Stimme steigen. Es reicht nicht mehr, dass er alle Töne trifft und einfache Stücke ohne Belastungserscheinungen singen kann – er möchte die Stimme noch schonender und effizienter einsetzen können. Effizienz der Stimme kann als ein gelungenes Zusammenspiel von allen am Singen beteiligten Faktoren betrachtet werden. Dies ist ein körperlicher und energetischer Balancezustand, bei dem mit möglichst wenig Kraftaufwand ein möglichst freier, voller und auch gesunder Klang erzeugt werden kann. Diese Entwicklung bricht im Normalfall nie ab. Die Anforderungen an die Stimme verändern sich parallel zur Entwicklung des Singenden, und so kann der Begriff «gesunde Stimme» nicht mehr festgenagelt werden: Er bleibt variabel.

Leseprobe

2.2.2. Einteilung in Profis und Laien Eine einheitliche «medizinische» Definition einer gesunden Stimme beinhaltet die gleichen Parameter wie bereits erwähnt. Eine gesunde Stimme ist klar, rein, tragfähig, belastbar und modulationsfähig. Auch die ursprünglichere Funktion der Stimme, auf Gefahren aufmerksam machen zu können, sollte nicht gestört sein, mit anderen Worten auch rufen soll möglich sein. Und selbstverständlich spielen da auch reflexartige Stimmäusserungen, wie Lachen, Husten, Niesen usw. mit. Auch sie müssen funktionieren. Die Variabilität des Faktors «gesunde Stimme» wird ein zweites Mal deutlich, wenn man die Argumente der Klassifikationen von Stimmen in der Arztpraxis unter die Lupe nimmt:

Sample page

1. Sängerstimmen (je nach beruflichen Schwerpunkten auch Schauspieler); 2. Stimmen von Menschen in Sprechberufen (Schauspieler, Moderatoren, aber auch Lehrer, Pfarrer, kurz all diejenigen, die für die Ausübung ihres Berufs auf die Funktionstüchtigkeit und Belastbarkeit ihrer Stimme angewiesen sind); 3. alle anderen Berufe. Wann kann man sagen, dass eine Stimme «gesund» ist, bzw. wann beginnt die «Stimmstörung»? Wie bereits das Wort selbst besagt, ist nebst dem organischen Befund die wichtigste Frage, ob sich jemand in seiner freien Äusserung eingeschränkt fühlt, eben, ob er «gestört» ist oder nicht. Die Ärzte haben also die Aufgabe, jede Stimme in ihrem Kontext, in ihrem beruflichen und sozialen Umfeld zu betrachten und die Therapieformen dementsprechend zu wählen.


Die gesunde Stimme

Sängerstimmen Die Erwartungen an die Stimmen von professionellen Sängern bezüglich Stimmbeherrschung und Virtuosität sind extrem hoch. Zusätzlich wird im beruflichen Alltag von den Sängern enorme stimmliche Ausdauer verlangt. So proben sie mehrere Stunden pro Tag und treten am Abend noch auf (oft mit anderem Repertoire und anderen stimmlichen Anforderungen als bei den Proben). Die täglichen Leistungen bringen dementsprechend auch für professionelle Sänger grosse körperliche und stimmliche Belastungen mit sich. Deswegen ist zum einen eine einwandfrei funktionierende Technik absolut notwendig. Zum anderen sind sie auf optimale Gesundheit angewiesen. Bereits eine Erkältung kann für Sänger bedeuten, dass sie vorübergehend berufsunfähig sind. Deshalb werden Sängerstimmen in den Arztpraxen mit andern Massstäben gemessen als andere Stimmen. Ihre Stimmen müssen optimal funktionieren können. Sänger und Schauspieler machen einen grossen Prozentsatz der Patienten einer phoniaterischen Praxis aus. Die starken Belastungen, denen ihre Stimmen ausgesetzt sind und die hohen Anforderungen des Arbeitsmarktes machen sie zu einer speziell zu beachtenden Patientengruppe. Günther Habermann schreibt in seinem Buch «Stimme und Sprache»: «Sänger und Schauspieler sind nach der allgemeinen Meinung und Erfahrung tatsächlich eine besondere und von anderen deutlich unterscheidbare Menschengruppe, die sich durch ihre charakterlich-gemüthaften Verhaltensweisen, durch ihr Gehabe und ihre Gewohnheiten von anderen Menschen unterscheiden lassen. Zum anderen führen die besonders hohen Anforderungen, die Sänger und Schauspieler an ihre Stimme als ihr Arbeitsorgan stellen müssen und die das Mittelmass der üblichen Stimmbelastung anderer Menschen in vielfältiger Hinsicht weit überschreiten, auch zu besonderen Fragestellungen hinsichtlich ihrer Schädigungsmöglichkeiten oder auch für das Versagen der Stimme im künstlerischen Bereich.»4

Leseprobe

Sängerstimmen müssen also andere Kriterien erfüllen, um als «gesund» zu gelten, als andere Stimmen. Deshalb suchen Sänger in der Regel viel früher die Arztpraxis auf, um kontrollieren zu lassen, ob etwas nicht in Ordnung sei. Die Toleranzgrenze sollte aber auch auf der Seite des Arztes sehr niedrig sein. Spannungen im Kehlbereich müssen beispielsweise sehr ernst genommen werden, da sie bei den so oder so erhöhten Stimmbelastungen viel schneller zu einer Stimmstörung führen können als bei NichtSängern. Für Sänger und Schauspieler ist es besonders wichtig, dass ein Arzt neben seinen fachlichen Kenntnissen auch ein Verständnis für das Arbeitsumfeld der Sänger hat. Oft geht es darum, anhand des Befundes mit den Sängern zusammen die nächste Zeit zu planen, ob es möglich ist, die bevorstehenden Konzerte zu singen oder ob man sie um der Gesundheit willen lieber absagen soll. In diesen Situationen geht es für den Sänger um seine Existenz, sein Einkommen oder auch Chancen, die er nicht verpassen darf. Es ist immer ein gemeinsames Abwägen. Bei allfälligen Operationen sei sie bei Sängern besonders vorsichtig, meint Dr. med. Salome Zwicky. Mit Operationen verbundene

Sample page

4 Habermann, Günther: Stimme und Sprache, Stuttgart 2003, S.195

15


16

Die gesunde Stimme

Risiken (z.B. einer Vernarbung) lasse sie Sängerkehlen nur operieren, wenn es wirklich keine andere Möglichkeit gibt. Es empfiehlt sich, bei wichtigen Entscheidungen (Stimme operieren lassen oder nicht?) immer eine zweite Meinung einzuholen. Relativierung des Stempels «gesund/krank»

Leseprobe

Ärztliche Befunde haben besonders auf Sänger oft dogmatische Wirkung. Das Urteil des Phoniaters entscheidet überspitzt gesagt über Leben und Tod; so empfinden es zumindest manche Sänger. Dazu folgende Anekdote: Ein Gesangspädagoge und eine Schülerin (selber Logopädin) unterhielten sich über die mentale Vorstellung und auch die mentale Wirkung von Vorstellungen bezüglich des Stimmbandschlusses. Als die Schülerin eine Erkältung hatte, machten sie folgendes Experiment. Die Schülerin ging zum Phoniater mit der Aufgabe, sich mental darauf einzustellen, die Stimme schliesse nicht recht; tatsächlich war der ärztliche Befund ungenügender Stimmbandschluss. Am Tag darauf schickte der Gesangslehrer sie noch einmal zum Phoniater, diesmal mit der Auflage, zu denken, ihre Stimmlippen würden wunderbar schliessen – und siehe da, der Arzt war sehr verwundert festzustellen, dass das Problem vom Vortag behoben war. Diese Anekdote soll verdeutlichen, dass der Arzt immer nur eine Momentaufnahme machen kann. Er hat die schwierige Aufgabe, aus dieser Momentaufnahme dann auf die Ursache der Stimmbeeinträchtigung zu schliessen. Natürlich lassen sich organische Befunde nicht augenblicklich mit mentaler Einstellung wegzaubern, aber gerade bei weniger gravierenden Störungen kann der Moment der Aufnahme entscheidend sein. Deshalb ist es gerade für Sänger entscheidend, mit den Ärzten zu kommunizieren und zu kooperieren, jedoch immer ein gesundes Mass an Skepsis beizubehalten und das innere Gefühl nicht zu umgehen.

Sample page

Sprechberufe

Immer mehr Menschen arbeiten (im Dienstleistungsbereich) in Berufen, für deren Ausübung sie auf eine intakte Stimme angewiesen sind. Leider wird der Umgang mit der eigenen Stimme nur in den wenigsten Ausbildungen zur Rede gebracht. Chorsänger sind eher sensibilisiert für ihre eigene Stimme, leider lässt die Stimmbildung in vielen Chören jedoch sehr zu wünschen übrig. Im Gegensatz zu Berufssängern kann von Amateursängern nicht die gleiche Selbständigkeit im Umgang mit ihrer Stimme angenommen oder verlangt werden (obwohl es ja auch bei Sängern meilenweite Unterschiede gibt). Anders betrachtet ist hier etwas «Luft auf der Stimme» vielleicht weniger ein Alarmzeichen als bei Berufssängern, da dies als technischer Mangel eingestuft werden kann, welcher sich durch Gesangsunterricht relativ schnell beheben lässt.


Die gesunde Stimme

Individuelle Abklärung auch im Unterricht Ungeachtet der Frage, ob Laie oder Profi, ist es entscheidend, individuelle Veränderungen des stimmlichen Zustandes der eigenen Stimme und der jedes Schülers zu registrieren und dementsprechend zu handeln; einen Schüler, welcher normalerweise über eine einwandfrei funktionierende Randstimme verfügt, sollte man bei Verlust dieser Stimmfunktion ohne erfindlichen Grund relativ schnell zur Abklärung schicken. Bei einem Anfänger, der mangels Technik noch keine vollständig funktionierende Randstimme zur Verfügung hat, besteht kein sofortiger Handlungsbedarf. Der Zustand der Stimme muss immer in Bezug auf die Belastung betrachtet werden, der sie ausgesetzt ist. Schliesslich spielt auch der Leidensdruck des Betroffenen eine Rolle. Fühlt sich der Betroffene selber eingeschränkt oder nicht? (Siehe Abschnitt «Check-up Gespräch»). Menschen in sprecharmen Berufen empfinden erst bei verhältnismässig schweren Störungen ihrer Stimmen eine Beeinträchtigung.

Leseprobe

Konstitutionelle Unterschiede Eine gesunde Stimme nach den bereits erwähnten Kriterien bietet einen guten Ausgangspunkt für den Aufbau und den Gebrauch einer Stimme. Dass sie zwingende Voraussetzung ist, um ein guter Sänger zu sein – wäre eine vermessene Aussage. Dasselbe gilt auch für Menschen mit Anfälligkeit auf Krankheiten. Manche Menschen sind anfälliger für Erkältungskrankheiten, und wenn man schon 30 Bronchitis-Erkrankungen hatte, dann ist das für eine Gesangsausbildung nicht die beste Voraussetzung. Vielleicht lohnt es sich dann, sich einmal mehr zu überlegen, ob man eine Sängerlaufbahn einschlagen möchte – mehr jedoch aus der Frage heraus, ob man gewillt ist, unter erschwerten Umständen seinen Weg als Sänger zu gehen, als um zu sagen, dass man deshalb keine Chance habe, ein guter Sänger zu werden. Es gibt unglaublich grosse konstitutionelle Unterschiede. Manche Stimmen sind sehr robust und reagieren auch bei grossen objektiven Belastungen nur wenig, wo andere schon lange keinen Ton mehr herausbrächten. Das hat aber noch nichts damit zu tun, ob die Stimme gesund oder krank ist. Die Konstitution kann zwar einen Einfluss auf die Gesundheit der Stimme haben, ist aber kein eigentlicher Faktor bei der Frage «gesunde Stimme». Die Konstitution setzt vielmehr der einzelnen Person ihre Grenzen. Werden diese nicht überschritten, so kann auch eine anfällige Person die Gesundheit ihrer Stimme erhalten.

Sample page

2.2.3. Guter Sänger = Gesunde Stimme? Eine gesunde Stimme wird tendenziell eher daran gemessen, ob sie leistungsfähig ist, als ob sie einen tadellosen ärztlichen Befund ergeben würde. Man denke nur an die vielen Beispiele aus der Geschichte des Gesangs; Sänger, welche mit kranken Stimmen die grössten Karrieren gemacht haben, nicht zu reden von den vielen Sängern, welche sich tagaus tagein durch ihre Karriere «drücken» – da kann doch nicht von gesunder Stimme die Rede sein. Anders betrachtet tut man sich jedoch zu Recht schwer mit dem

17


18

Die gesunde Stimme

Gedanken, ein sehr berühmter Sänger hätte keine gesunde Stimme gehabt; sagt doch die Legende, dass – als man ihm nach seinem Tode die Stimmlippen herausnahm, um zu sehen, was es denn brauche, um einer der grössten Sänger der Geschichte zu sein – zum grossen Erstaunen auf seinen Stimmbändern Knötchen und Narben entdeckt wurden! Was heisst denn da noch «gesunde Stimme»…?

Leseprobe

Es ist deutlich geworden, dass es betreffend Anforderungen, die eine «gesunde Stimme» erfüllen muss, zwar eine gewisse Übereinstimmung gibt, dass jedoch keine eindeutigen und vor allem keine stabilen Normen, was eine gesunde Stimme ist, gesetzt werden können. Die Kriterien für eine «gesunde Stimme» sind erstens höchst individuell und stellen zweitens gleichzeitig das Arbeitsfeld der Stimmarbeit dar – sie sind somit unbegrenzt ausbaufähig. Um die Konkretisierung der Stimmarbeit geht es im nächsten Kapitel. Manche Kriterien der «gesunden Stimme» werden erneut besprochen, diesmal jedoch in Bezug zur Praxis. Konkrete Vorschläge und Übungen zum Umgang mit der Stimme wechseln sich mit Anregungen zur Auseinandersetzung mit Thematiken des Gesangsunterrichts ab. (Das Kapitel 2.2. entstand unter der Mitwirkung von Johannes Michael Blume, Dozent für Gesang, Zürcher Hochschule der Künste. Ich möchte ihm an dieser Stelle für seine Anregungen ein herzliches Dankeschön aussprechen.)

Sample page


19

3. Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen In diesem Kapitel werden – vom Aufbau des Textes her gesehen – Gesangslehrpersonen angesprochen. Auch Chordirigenten und Leiter von Vokalensembles sehen sich in derselben Lage, eine gesunde Art zu Singen vermitteln zu wollen. Die Überlegungen gelten aber auch für Sänger, ob sie sich nun in der Rolle des Schülers befinden oder beim täglichen Üben ihre Arbeit selber überprüfen; sie können die Fragen auf ihre eigene Stimme übertragen und erhalten somit eine grössere Selbständigkeit auf der Suche nach Coaches und in ihrer täglichen Arbeit.

Leseprobe

Vorweg eine kurze persönliche Notiz zum Titel dieses Kapitels: Es ist die allererste und wichtigste Aufgabe der Gesangslehrpersonen, mit den Schülern die Freude am Gesang zu teilen. Man könnte es auch negativ ausdrücken und sagen, es sei das erste Ziel, den Schüler ihre Freude am Gesang nicht zu verderben, denn meistens kommen sie ja in den Gesangsunterricht, weil sie gerne singen. Das scheint ganz logisch, ist es aber nicht. Wie schnell kann man mit Gesangsübungen und harten Urteilen die Menschen langweilen, verunsichern und kränken. Dabei möchten sie singen und dabei Freude haben. Die Gesangslehrperson begleitet sie auf ihrem Weg, ihre Stimme besser kennenzulernen und durch Ausprobieren neue Möglichkeiten zu entdecken. Es ist eine gemeinsame Suche; der Lehrer weiss oft genau so wenig wie seine Schüler, wohin der Weg führen wird. Ihr Privileg ist es, auszuprobieren – und des Lehrers Aufgabe ist es, sie dabei zu beobachten und ihnen Hinweise und Anregungen zu geben.

3.1. Einleitung Es wäre eine grosse Hilfe, wenn den Gesangspädagogen eine Liste mit Regeln zur Verfügung stehen würde, welche ihnen in der Beurteilung von Stimmen den Weg weisen würde, welche ihnen die Entscheidung «gesund» oder «krank» abnehmen würde. Die konkrete Suche nach Antworten zur Frage, wie man Stimmstörungen bei Laiensängern erkennen kann, hatte seinen Anfang, als ich 2005/2006 in einem grossen Zürcher Chor ein Vorsingen abnahm. Jedes Mitglied des Chores (um die hundert Personen) musste mir einzeln vorsingen. Durchs Band konnte ich auf meinen Notizen den Satz «Luft auf der Stimme» lesen, mal war es oben, mal unten oder auch in allen Registern, und doch war es nur eine Person, für deren Stimme ich keine Verantwortung tragen wollte und ihr deshalb riet, einen Stimmarzt aufzusuchen. Rein intuitiv. In allen anderen Fällen tippte ich auf einen technischen Mangel. Wo aber ist die Grenze zu einer funktionellen Stimmstörung? Wie muss man als Chorleiter oder Gesangslehrer auf solche Stimmeindrücke reagieren, ab welchem Grad solcher «Luft» steht es an, die Leute zu einem Stimmarzt zu schicken? Haben die Leute dann eine funktionelle Stimmstörung, wenn sie sich behindert fühlen durch diese Luft, oder gibt es so etwas wie eine objektive «Luftobergrenze»?

Sample page


20

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

3.2. Vorbeugung von Stimmschäden Der Umgang mit der eigenen Stimme wird bei vielen Menschen leider erst zum Thema, wenn die Stimme ihnen ihren Dienst versagt. Erst dann merken sie, wie wichtig die Stimme im Leben jedes Menschen ist. Sie machen sich dann zum ersten Mal im Leben Gedanken darüber, dass hinter der bis anhin so wunderbar funktionierenden Stimme eine unglaubliche Koordination körperlicher Vorgänge liegt, die dazu dienen, sprachliche Kommunikation zu ermöglichen. Stimmprobleme sind deshalb so schwerwiegend, weil sie die freie Äusserung behindern oder gar verhindern.

Leseprobe

Der wichtigste Beitrag, den Gesangslehrpersonen leisten können, ist die Bemühung um die Vorbeugung von Stimmschäden und Stimmstörungen. Auch der Aufbau einer Stimme nach einer Stimmstörung kann Teil der Arbeit sein. Zuerst aber sollen wichtige Themenbereiche in der Stimmarbeit in Hinblick auf eine gesunde Entwicklung einer Stimme angesprochen werden. Die Grundvoraussetzung für einen fruchtbaren Unterricht ist persönlicher Natur: Möchte ich mit dieser Person arbeiten oder nicht? Stimmt die Chemie zwischen dem Schüler resp. dem Lehrer und mir? Im Sinne einer gesunden, fruchtbaren und für beide Seiten befriedigenden Arbeit ist die persönliche Bereitschaft, mit einem bestimmten Menschen arbeiten zu wollen, ein wesentlicher Punkt. Sowohl Schüler als auch Lehrperson sollen in Eigenverantwortung darüber entscheiden, ob sie sich eine gemeinsame Arbeit überhaupt vorstellen können, um dann diesem Gefühl konsequent zu vertrauen und danach zu handeln.

3.2.1. Check-up Gespräch Um sich zu Beginn einer Arbeit (besonders bei längerer Zusammenarbeit) mit einem Schüler über die vorhandenen Fähigkeiten und allfälligen Probleme oder Vorbelastungen (beispielsweise durch frühere Erkrankungen der Luftwege) zu informieren, empfiehlt sich ein Gespräch, in dem folgende Fragen geklärt werden sollen:

Sample page

• Ziel des Unterrichts: Das Ziel der Unterrichtsarbeit aus den Augen des Schülers zu kennen, hat insofern einen Zusammenhang mit der Vorbeugung von Stimmproblemen, als unerfüllbare Anforderungen und Erwartungen eines Schülers an sich selbst erkannt werden können. In solchen Fällen soll die Lehrperson ihre Ansicht der Tatsachen offen darlegen, soll jedoch beifügen, dass es sich um ihre persönliche Meinung handle. Es soll an dieser Stelle auf die folgenschweren Konsequenzen von pauschaler Kritik hingewiesen werden, wenn diese dem Schüler ohne Lösungsvorschläge an den Kopf geworfen wird. Fast jeder Sänger hat in seiner Laufbahn solche destruktive Kritik erlebt. Es wäre wünschenswert, wenn solche Situationen in Zukunft vermieden werden könnten. Auf der anderen Seite sind alle Sänger auf ehrliches und offenes Feedback von aussen angewiesen. Falls der Schüler die Bedenken oder Kri-


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

tikpunkte der Lehrperson in keiner Weise annehmen kann oder möchte, muss von einer gemeinsamen Arbeit abgeraten werden. • Stimmliche Vorbildung: Chorerfahrung, Sologesangsunterricht, Gruppenunterricht in Gesang – die Lehrperson kann besser abschätzen, was sie vom Schüler erwarten kann, was ihr bei der Planung der Arbeit wesentlich hilft.

Leseprobe

• Allgemeine musikalische Ausbildung: Notenlesen, Vorkenntnisse in Theorie. • Krankheiten, welche den gesamten Organismus beeinträchtigen: Schwere Krankheiten wie beispielsweise Schilddrüsenüberfunktion, Zuckerkrankheit oder Krebs, besonders aber auch Lungen- und Herzkreislauferkrankungen. • Krankheiten, welche die stimmliche Leistung direkt beeinflussen könnten: Frühere schwere Erkrankungen der Luftwege, des Rachens oder des Kehlkopfs, alle Arten von Knötchen, Polypen usw. • Gehör: Der Beweis dafür, dass die Hörfähigkeit auf die Stimmgebung einen entscheidenden Einfluss hat, ist die Tatsache, dass sich bei Menschen, die taub geboren werden, keine Sprachentwicklung einstellt, wenn dies nicht speziell gefördert wird, da keine Kontrolle der Stimme über das Gehör stattfinden kann. Menschen, welche jedoch ertauben, nachdem sie bereits sprechen gelernt hatten, können diese Fähigkeit aufrechterhalten. Dann ersetzt das Hörgedächtnis die Rolle des Gehörs. Menschen, welche unter einer Gehörbeeinträchtigung leiden, sind sehr gefährdet, auch an Stimmstörungen zu leiden. Deshalb sollte dem Faktor Gehör auch im Gesangsunterricht Beachtung geschenkt werden. Vor allem eine langsame, stetige Abnahme des Gehörs kann vom Betroffenen lange Zeit nicht erkannt werden. Als Gesangslehrperson kann man auf folgende Punkte achten: Menschen mit Hörproblemen weisen oft einen veränderten Stimmklang auf. Das rührt daher, dass sie ihre eingeschränkte Hörfähigkeit dahin angleichen, dass sie sich selbst optimal hören. Da die eigene Stimme neben den von aussen auf das Ohr treffenden Schallwellen auch über Knochenleitung gehört werden kann, wird die Stimme so eingesetzt, dass die Knochenleitung eine grössere Rolle übernimmt. Das führt jedoch dazu, dass die Stimme für Aussenstehende oft einen hohlen Klang aufweist und undeutlich ist. Wenn der Schüler sehr oft nachfragt, weil er einen Satz nicht verstanden hat, sollte die Lehrperson «hellhörig» werden und genauer beobachten. Ein weiterer Hinweis auf die Einschränkung der Hörfähigkeit kann sein, wenn der Schüler vermehrt auf die Lippenbewegungen des Lehrers während des Sprechens achtet. Wenn ein Schüler offensichtliche Probleme mit der Intonation hat, die er selber aber nicht merkt, könnte dies ebenfalls auf eine Hörschwäche hinweisen. In solchen Fällen lohnt es sich, dem Schüler einen Hörtest zu empfehlen.

Sample page

Dieses anfängliche Gespräch soll über die Voraussetzungen Klarheit schaffen, auf denen eine Arbeit aufgebaut werden kann. Es ist sehr zu empfehlen, ein solches Gespräch in

21


22

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

jedem Fall zu führen, damit man als Lehrperson im Falle einer Verschlechterung der stimmlichen Leistung über mögliche Ursachen nicht im Dunkeln tappt, sondern dem Schüler präzise Fragen stellen kann. Die Gefahr besteht sonst, dass man als Gesangslehrperson beim Feststellen einer Verschlechterung dem Schüler nicht zu nahe treten will und sich dann in eigenen Interpretationen verliert, ohne den Schüler direkt auf das Problem anzusprechen. Mit diesem kurzen Check-up Gespräch wird bereits von Beginn an eine gute Grundlage für eine offene Gesprächskultur zwischen Lehrperson und Schüler geschaffen. Selbstverständlich muss das Gespräch nicht in der allerersten Stunde geführt werden. Es ist jedoch von Vorteil, das Gespräch früh zu führen, damit es klare Verhältnisse schafft und eine gute Basis für die zukünftige Arbeit bietet.

Leseprobe

3.2.2. Höreindruck Das Check-up Gespräch über medizinische Aspekte und das Lernziel des Schülers allein sind für den Gesangspädagogen noch nicht sehr hilfreich. Im Zusammenhang mit dem Höreindruck ergibt sich erst die Frage nach Kongruenz: «Hör ich etwas von dem, was der Schüler mir mitgeteilt hat? Höre ich vielleicht etwas anderes, etwas, von dem er nichts gesagt hat? Klingt die Stimme gesund?» Genaues Hinhören und entsprechende Interpretation des Höreindrucks können einen Beitrag leisten zur Erhaltung von gesunden Stimmen bzw. zur frühen Erkennung von beginnenden Stimmstörungen, bevor die Stimme ernstliche Schäden davon trägt. Die Aufmerksamkeit des Gesangpädagogen kann dabei auf folgende Kriterien gelenkt werden: • Klarheit der Stimme: Ist Luft hörbar? Nebengeräusche beim Sprechen oder Singen? Wichtig zu bemerken ist, dass Nebengeräusche nicht partout negativ sind. Nach Michael Blume sollten Gesangslehrpersonen in der Lage sein zu unterscheiden, ob Nebengeräusche aufgrund von Überdruck oder als Beginn von Brillanz entstehen; denn hohe Frequenzen können sowohl über Reibung (schrille Töne) als auch über freie Stimmschwingung (kräftiger Wohlklang) entstehen. Besonders zu Beginn der Entwicklung einer Stimme können Nebengeräusche auftauchen, welche einen Anfang neuer Koordination darstellen und nicht als Alarmzeichen gewertet werden dürfen. Entsteht das Nebengeräusch jedoch aufgrund von Reibung bzw. Druck, muss dieses Problem angegangen werden. Folgende Übungstypen eignen sich, um die Klarheit der Stimme gut herauszuhören: ausgehaltene Töne, Legato-Linien.

Sample page

• Kann der Schüler willentlich die drei Einsätze (gehauchter, weicher, harter Einsatz) erzeugen? • Kann der Schüler Töne abnehmen? Ist die Intonation gut? Je nach Vorbildung des Schülers fällt ihm leichter, den Ton von der Stimme bzw. vom Klavier abzunehmen. Vorsingen/Nachsingen von verschiedenen Übungen eignen sich, das Gehör auf das Hören und Tonabnehmen von Stimme zu trainieren.


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

• Ist die Stimme in der Dynamik variabel, z. B. bei ausgehaltenen Tönen mit crescendo oder decrescendo? • Obertonspektrum: Gibt es Obertonspektren, welche nicht vorhanden sind? Sind die Vokale sehr klar oder resonanzreich, z.B. bei Übungen mit der Vokalreihe a-e-i-o-u? Ist die Stimme brillant oder matt? Vielleicht sind bestimmte Vokale obertonreicher als andere, welche?

Leseprobe

• Klangcharakter: Ist der Klang der Stimme immer gleich, monoton? Oder hat jeder Ton einen ganz anderen Klang? • Sind alle Register vorhanden? Gibt es Brüche bei den Registerübergängen? Beispielsweise Tonleiterübungen auf einem Vokal («a») und zwar sowohl aufwärts als auch abwärts, denn manchmal gibt es da grosse Unterschiede. • Ambitus (Stimmumfang): Wie gross ist er? Schwungvolle Übungen mit grös­seren Intervallen (z.B. Akkordbrechungen über einen Oktavraum oder mehr) eignen sich besser als ruhige Übungen mit kleinen Tonabständen zwischen den einzelnen Tönen. • Lücken in der Stimme? (Einzelne Töne, welche nicht ansprechen) Z.B. Glissandoübungen auf- und abwärts. • Sprechstimmhöhe: Scheint die Sprechstimmhöhe in einem stimmigen Verhältnis zur Gesangsstimme zu stehen? Spricht jemand sehr hoch, kann aber sehr tief singen? Ist die Sprechstimme monoton oder ist sie flexibel? Sprachmelodie? Die mittlere Sprechstimmlage sollte nach Günter Wirth ungefähr eine Quarte oder Quinte oberhalb der unteren Grenze des Stimmumfangs sein. «Die mittlere Sprechstimmlage (Sprechtonhöhe) wird aufgrund der in der Sprachmelodie am häufigsten auftretenden Grundtonfrequenz bestimmt.»5 Er empfiehlt, diesen Wert mit der Indifferenzlage zu vergleichen, einem statistisch definierten Normbereich (wo sollte diese Sprechstimme etwa liegen?), und sagt, dass ein dauerhaftes Abweichen von diesen beiden Annäherungswerten stimmschädigende Auswirkungen hat.

Sample page

• Sprache verständlich und deutlich oder Sprachfehler (z.B. Lispeln, Unfähigkeit zu klarer Artikulation): Einen kurzen (am besten komischen oder erheiternden) Text sprechen lassen. • Atemkontrolle: Kann eine Phrase von mittlerer Länge gesungen werden oder muss ständig nachgeatmet werden? Ist die Einatmung geräuschvoll, ist eine Enge im Kehlraum hörbar? Falls mehrere dieser Punkte Probleme bereiten, kann man als nächstes herausfinden, ob sich der Schüler selber durch diese Mängel beim Singen beeinträchtigt fühlt oder nicht. 5 Wirth, Günter: Stimmstörungen, Köln 1995, S.121

23


24

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Das ist bereits eine heikle Aufgabe, denn man kann nicht immer davon ausgehen, dass der Schüler diese Probleme selber auch wahrnimmt. Spricht man ihn in diesem Falle darauf an, fühlt er sich unter Umständen vor den Kopf gestossen. Man sollte versuchen, suggestive Fragen zu vermeiden. Falls er zum Ausdruck bringt, dass er sich beeinträchtigt fühlt, kann man weiter nachfragen, wie lange er diese Probleme bei sich schon feststellt (ist es etwas Gewohnheitsmässiges oder nur etwas Momentanes?). Momentane Verschlechterungen treten häufig in Zusammenhang mit Erkältungskrankheiten oder aber auch Überbeanspruchung der Stimme auf. Gewohnheitsmässige Mängel sind oft technischer Natur, können aber auch auf unerkannte Stimmstörungen hindeuten. Menschen, bei welchen sich Stimmmängel langsam einschlichen, können die Beeinträchtigung oft kaum mehr wahrnehmen. Vielleicht hat der Schüler aber selber ein Gefühl dafür, was die Ursache des Problems sein könnte. Deshalb lohnt es sich nachzufragen. Falls er sich nicht beeinträchtigt fühlt, deutet das eher auf einen gewohnheitsmässigen technischen Mangel hin. So sollte die Stimmarbeit auf die Behebung dieser Schwachstellen hinzielen. Es ist dennoch wichtig, den eigenen Höreindruck ernst zu nehmen und die Entwicklung aufmerksam zu beobachten und den Schüler bei ausbleibendem Erfolge oder Verschlechterung zur phoniaterischen Abklärung zu schicken.

Leseprobe

Die gemeinsame Arbeit wird erschwert, wenn ein grosser Gegensatz zwischen der Eigenwahrnehmung des Schülers und dem Höreindruck des Lehrers besteht. Falls dem tatsächlich so ist, ist es sinnvoll, beim Unterricht die Schulung der Körperwahrnehmung in den Mittelpunkt zu rücken, damit der Schüler die Eigenwahrnehmung verbessern kann und so Verantwortung für seine Stimme zu übernehmen lernt. Wie genau aber erkennt nun eine Gesangslehrperson die technischen Mängel ihres Schülers?

Sample page

«Nun betreibt der Stimmerzieher, wie der Arzt, eine Therapie. Er hat Unzulänglichkeiten funktioneller Art in Stimmorganen zu beheben, hat unphysiologische Bewegungen durch Übenlassen physiologisch richtiger Bewegungen zu korrigieren und vor allem ungeweckte Funktionen aufzuschliessen. Der Weg, durch den er diese Praktiken vollführt, geht immer über das Gehör – über sein Gehör und über das seines Zöglings. Er hört analysierend, wenn er an Teilen des Organs arbeitet, und lässt dabei doch nie die Vorstellung des Ganzen (auch des individuellen Ganzen) ausser acht, um nicht das funktionelle Gleichgewicht im Organ zu stören. Im zusammenfassenden Hören, in der Strebung zum Ganzen liegt seine schöpferische Tätigkeit.»6 Das Gehör muss also dahingehend geschult werden, dass es diese feinen, kaum benennbaren Unterschiede wahrnehmen kann, die sowohl dem Pädagogen wie auch dem (fortgeschrittenen) Schüler in ihrer Arbeit den Weg weisen. In der Geschichte der Gesangspädagogik hat folgende 6 Husler, Frederick; Rodd-Marling, Yvonne: Singen, Mainz 1965, S.164/165


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Methode das Gehör ins Zentrum der Stimmarbeit gesetzt und versucht, Parameter zu definieren, auf welchen die Hörkontrolle basieren soll: Die Funktionale Methode nach Gisela Rohmert. Sie geht von der Möglichkeit der Selbstregulierung der Stimme aus. «Der Grundgedanke in der Funktionalen Methode ist, dass es für die Stimmfunktion, ebenso wie für andere Körperfunktionen auch (z.B. den Stoffwechsel), systemimmanente Selbstregulations-Mechanismen gibt.»7 Im Gegensatz zu anderen Gesangsmethoden stellt Gisela Rohmert die auditive Kontrolle in ihrer Wichtigkeit vor die kinästhetische. Gezieltes Hören auf bestimmte Frequenzen soll diese Selbstregulationsmechanismen auslösen und so die Stimme zur Entfaltung bringen können. So wird das Hören auf die Bereiche der Sängerformanten (z.B. 1. Sängerformant bei 2000-3000 Hz) geschult. Unter anderem beinhaltet das Hörtraining «Lenkung der Konzentration einer Person auf die eigene Stimme; Erkennen der entstehenden Gesangsformanten und des Vibratos im eigenen Stimmklang; Unterscheiden von Qualitätsunterschieden im Frequenzspektrum.»8 Diese Schulung auf bestimmte Frequenzbereiche geschieht in der funktionalen Methode im Gegensatz zu anderen «Schulen» sehr bewusst. Der Schüler wird hier von Anfang an in diesem Hörtraining unterrichtet, damit er selbständig werden kann. Im Grunde genommen geht jedoch jede gute Gesangslehrperson ähnlich vor. Durch genaues Hinhören sucht sie in den Stimmen ihrer Schüler einen «Schimmer», einen vielleicht noch versteckten «Glanz» in der Stimme, den sie zur Entfaltung bringen möchte. Sie hört darauf, ob die Stimme dicht ist oder porös, ob sie klingt, als ob sie noch «Raum» hat, der entdeckt werden könnte. Sie hat eine «Ahnung» der voll entfalteten Stimme und entwickelt einen Plan, wie sie dahin gelangen könnte.

Leseprobe

Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass es fast schmerzt, einem schlechten Sänger zuzuhören. Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass bei allen Menschen die Stimmlippen nicht nur beim Singen, sondern auch beim Hören von Musik die Melodiebewegungen mitmachen – sie singen gewissermassen tonlos mit. Dabei werden nicht nur Tonhöhen innerlich imitiert, sondern auch die körperliche Haltung der Singenden wird bis zu einem gewissen Grade übernommen. Im Live-Konzert spielt der visuelle Aspekt sicher eine grosse Rolle. Das Phänomen kann aber auch beim Hören von Tonaufnahmen ohne Bild beobachtet werden. Das bedeutet, dass der Klang einer Stimme (stimmliche Parameter wie beispielsweise Stimmschwingung oder Obertonspektrum) Auskunft darüber gibt, wie der Ton im Körper produziert wird. Diese Tatsache machen sich die Gesangspädagogen nun zunutze. Denn dadurch können sie sozusagen an ihrem eigenen Körper erspüren, wie der Schüler den Ton produziert. Und umgekehrt: Schüler hören und empfinden den Gesang der Lehrperson nach und imitieren diesen dann. Das Gehör ist wie bei der funktionellen Methode auch hier Ausgangspunkt und bedingt gewissermassen die Kinästhetik. Dem gleichen Gesetz folgend wird umgekehrt

Sample page

7 Feuerstein, Uta: Stimmig sein, Paderborn 2000, S.17 8 Feuerstein, Uta: Stimmig sein, Paderborn 2000, S.75

25


26

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

über die Tonvorstellung die kinästhetische Vorbereitung für den Ton angeregt (es ist also von entscheidender Bedeutung, wie wir uns den zu produzierenden Klang vor dem Stimmeinsatz vorstellen). Dieses Sich-Hineinfühlen in die Klanggebung des Schülers geschieht bei guten Lehrpersonen oft intuitiv. Aus der gesammelten Information entwickeln sie daraufhin hingegen bewusst einen Plan für den Weg zu einer verbesserten stimmlich-körperlichen Koordination.

Leseprobe

3.3. Der gesunde Gebrauch der Stimme

3.3.1. Grundsätzliche Gedanken zur Gesangstechnik

Um singen zu lernen, ist es nicht unbedingt notwendig, viel über die Anatomie der am Phonationsvorgang beteiligten Bereiche zu wissen. Um singen zu lehren, ist es jedoch von grosser Wichtigkeit, sich einige Grundlagen anzueignen, um auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der Schüler eingehen zu können. Es ist erstaunlich, wie viel Erfindungsgeist die Gesangslehrpersonen an den Tag legen, wenn es darum geht, einem interessierten Schüler zu erklären, wie der Gesangsapparat funktioniert und wie wenige die Courage haben, ehrlich zuzugeben, dass sie es nicht genau wissen. Aus diesem Grund befasst sich das folgende Kapitel mit einer etwas ungewöhnlichen Betrachtungsweise der Thematik «Technik». Wenn man davon ausgeht, dass Technik etwas Fassbares ist und somit erlernt werden kann, dann kann man sich in einem ersten Schritt fragen, welche Parameter des Singvorgangs der direkten Kontrolle unterliegen und welche nicht. Denn all die körperlichen Gegebenheiten und Abläufe, welche nicht direkt beeinflusst werden können, müssen indirekt angegangen oder aber einfach hingenommen werden.

Sample page

Das beginnt bei der Stimme selbst. Der Stimmklang, die Stimmlage, die Anfälligkeit der Stimme auf Krankheiten, das alles ist von Mutter Natur gegeben. Es ist eine absolute Grundvoraussetzung für eine gesunde Arbeit und einen gesunden Gebrauch der Stimme, die eigene Stimme so zu akzeptieren, wie sie ist. Dazu das Thema von Aufzeichnungen der eigenen Stimme: Fast alle Menschen hören ihre Stimme ungern auf Aufnahmen, weil der Klang der Stimme von aussen sehr anders ist als von innen, und die Tatsache, dass man sich mit einer Stimme identifiziert, welche von anderen Menschen gar nicht wahrgenommen werden kann, sehr befremdend sein kann. Der Grund, warum man sich selber anders hört als man gehört wird, ist, dass die Eigenwahrnehmung nicht ausschliesslich über das Ohr, sondern teilweise auch über die Knochenleitung stattfindet. Auf den Gesangsunterricht hat diese Tatsache eine grosse Auswirkung. Sehr oft nämlich klingt für den Schüler eine Art der Klanggebung sehr schön, welche nach aussen hin jedoch keine befriedigende Abstrahlung hat. Es ist dann für den Schüler nur schwer begreiflich, wieso der Gesangslehrer dies oder das von ihm fordert, wenn dies für ihn doch so schrill, hart und unschön klingt. Dieser Tatsache sollte man sich als Gesangspädagoge immer bewusst


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

sein. Das Aufzeichnen des Unterrichts kann darüber Klarheit schaffen. Es empfiehlt sich jedoch, beim ersten Mal die Aufnahme teilweise mit dem Schüler zusammen anzuhören oder zumindest den Höreindruck mit ihm zu besprechen. So können allfällige Fragen geklärt und die Angst vor dem Klang der eigenen Stimme genommen werden. Das Ziel ist freilich, dass der Schüler seine Stimme nicht nur akzeptieren kann, sondern dass er selbst auch Gefallen daran findet. Das Wissen darum, dass man schön klingt, dass man sich selbst gefällt, ist eine positive Motivationsquelle.

Leseprobe

Im Gesangsunterricht wird eine möglichst grosse Stimmkontrolle angestrebt. Das Wort «Kontrolle» hat leider einen zu stark kopflastigen Beigeschmack und auch «Körperbeherrschung» klingt sehr hart. «Das Problem besteht darin, die richtige Stelle zwischen aktiver Kontrolle und Gleichgültigkeit zu finden. […] Man kann sich das als passive Kontrolle vorstellen, eine Kontrolle, die durch eine klare Absicht ohne ein Gefühl von Kraftanstrengung erreicht wird.»9 Sie dient dazu, dem Singenden die Möglichkeit zu geben, sich mit der Stimme frei auszudrücken. Passive Kontrolle könnte man im Idealfall als Vollendung der Technik ansehen. Es ist ein Gedankenspiel, sich zu fragen, was man denn im Körper, nüchtern betrachtet, tatsächlich kontrollieren kann und was nicht. Willentlich beeinflussbar: • • • • • • • • • • • •

Lippen Zunge Gaumen Schluck/Schlund Kiefer/Kaumuskulatur Mimik Hals (Scalenii) Nacken Bauchmuskulatur Beckenboden (inkl. Beineinwirkung) Rücken Arme/Schultern als wirksam auf Rippen und Kehle (M. omohydoiseus)

Sample page

Nur indirekt willentlich beeinflussbar (über die Atemhilfsmuskulatur und bestimmte Vorstellungen): • Stimmbänder • Zwerchfell • Zwischenrippenmuskulatur

9 Nelson, Samuel H.; Blades-Zeller, Elizabeth: Feldenkrais für Sänger, Kassel 2004, S.33

27


28

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Interessanterweise finden wir in der Liste «Nur indirekt willentlich beeinflussbar» zwei der Begriffe, welche man spontan wohl zu allererst mit Stimme verbinden würde: «Stimmbänder» und «Zwerchfell». Zweifellos sind diese Begriffe für den Gesangsunterricht zentral, da ihre richtige Funktionsweise den Kern des Gesangs widerspiegelt. Sie werden im Gesangsunterricht sehr häufig in den Mund genommen. Wer hat nicht schon selber in einer Gesangsstunde den Satz «Zwerchfell loslassen» gehört oder selber gebraucht? Immerhin sind es die Stimmbänder, die letzten Endes den Ton produzieren, ob sie nun direkt angesteuert werden können oder nicht. Dennoch ist es die Aufgabe des Gesangspädagogen, dem Schüler zu vermitteln, dass sich Stimmarbeit nur insofern mit den Stimmbändern befasst, als es Ziel ist, ihnen ein freies Schwingen zu ermöglichen. Es ist ganz natürlich zu glauben, dass man im Gesangsunterricht lernt, mit den Stimmbändern umzugehen. Das Wissen um die Unmöglichkeit dessen öffnet jedoch die Tore einem tieferen Verständnis für die Stimmarbeit und für die Gründe, warum man gewisse Übungen macht.

Leseprobe

Zusätzlich zur Tatsache, dass die Stimmbänder und das Zwerchfell nicht direkt beeinflusst werden können, besteht eine grosse Schwierigkeit des Gesangsunterrichts darin, dass der Phonationsvorgang nicht sichtbar gemacht werden kann. Somit entfällt der visuelle Aspekt, auf dem im heutigen Leben mit Medien usw. ein besonderer Akzent liegt. Sogar wenn manche Dinge direkt gesteuert werden können, gewinnt die Arbeit dadurch etwas Abstraktes, da wir nicht mit den Augen verfolgen können, was im Körper passiert. Die Gesangslehrperson muss sich über die Sprache verständlich machen können. Der Weg des Unterrichtens geht immer über innere Vorstellungen. Das fordert eine grosse Kreativität und Flexibilität von den Gesangspädagogen. Sie müssen merken, welche ihrer Bilder beim Schüler stimmtechnisch etwas auslösen und müssen damit spielen können. Es findet oft eine gegenseitige Anpassung statt. Der Schüler lernt mit der Zeit die Sprache des Lehrers, der Lehrer passt sich mit seinen Vorstellungen auch der Individualität jedes einzelnen Schülers an. Es ist von grosser Wichtigkeit, die verschiedenen Wirkungen der gleichen Bilder bei verschiedenen Schülern zu kennen. Dann kann man die Bilder so auswählen, dass sie für den jeweiligen Schüler einen emotionalen Inhalt, eine «Ladung» haben. Man kann schliesslich als Gesangslehrperson nur mit dem arbeiten, was beim Schüler vorhanden ist. Wenn ein Schüler etwas (noch) nicht wahrnehmen kann, ist es zwecklos, darauf etwas aufbauen zu wollen. Es ist interessant zu merken, dass Technik, auch oft das «Handwerk» der Musiker genannt, über etwas so Unfassbares und Individuelles wie Vorstellungen vermittelt werden muss, zumal Menschen dazu neigen, Rezepte kennen zu wollen, um ein bestimmtes Problem zu lösen.

Sample page

Um das Gedankenspiel fortzusetzen und wenigstens probeweise in Richtung Konkretisierung der Abläufe beim Singen zu gehen, kann man das Zusammenspiel der einzelnen Muskelregionen ins Visier nehmen. Man kann ja schliesslich Singen auch in den Gegensatz von Koordination versus Unabhängigkeit in Betracht auf körperliche Funktionen stellen. Zwischen welchen Faktoren muss eine Koordination trainiert werden und wo ist


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

auf dem Weg zur idealen Technik auch das Training von Unabhängigkeit vonnöten? Es steht hier ausdrücklich «auf dem Weg». Damit soll einerseits das Ziel einer Verknüpfung aller Faktoren zu einer Einheit angedeutet werden. Andererseits ist es wichtig, sich dessen bewusst zu sein, dass vollständige Unabhängigkeit eine Illusion ist. Nach dem physikalischen Prinzip actio = reactio kann keine Bewegung unabhängig sein. Jede Bewegung, und sei sie auf atomarer Ebene, hat eine Einwirkung auf die Umgebung. Ungeachtet dieser Tatsache kann man folgende Liste erstellen:

Leseprobe

Koordination

• Atemmuskeln untereinander • Zwerchfell (passiv, d.h. ist immer koordiniert mit den Atemmuskeln) • Stimmbandmuskeln/Atemmuskeln/Zungenarbeit/Gaumen/Lippen, kurz alle Teilaspekte des Singapparats Unabhängigkeit • Zungenspitze/Zungenwurzel (für manche Laute braucht man nur die Zungenspitze) • Zunge/Kiefer/Kopfhaltung • Zunge/Lippen (für welche Laute braucht man die Lippen, für welche die Zunge, für welche beide?) • Kiefer/Lippen • Gesichtsmuskeln/Kiefer (z.B. wenn man lächelt, muss der Kiefer nicht halten) • Gesichtsmuskeln/Kehlkopf • Gaumen/Kehlkopf • Halsmuskeln/Kehlkopf (soweit möglich) • Stimmband/Kehlkopfmuskeln/Ringmuskeln • Haltung/Atmung (man muss in verschiedenen Haltungen singen können, die Atmung soll trotzdem frei bleiben können)

Sample page

Zusammenfassend könnte man sagen, dass Koordination der positive Ausdruck ist für das, was wir anstreben, für das, was sein soll, Unabhängigkeit jedoch das ist, was wir brauchen, damit sich die einzelnen Teile koordinieren können. So lange die einzelnen Parameter in einer zu grossen Abhängigkeit stehen, wird keine ausgewogene Koordination möglich sein. Bei der Unabhängigkeit geht es folglich darum, Verknüpfungen in Frage zu stellen, die wir uns im Verlaufe des Lebens zur Gewohnheit machen, für die – körperlich gesehen – jedoch keine Notwendigkeit besteht (dass wir beispielsweise den Kiefer anspannen, wenn wir schnell artikulieren müssen). Das ist meist eine Vereinfachung, man erlangt dadurch neue Bewegungsmöglichkeiten, eine körperliche Freiheit, die auch im Alltag ein angenehmeres Körpergefühl unterstützt. Das Training von Unabhängigkeit geht oft mit einer intensivierten Selbstwahrnehmung einher. Um beispielsweise die Zunge und den Unterkiefer unabhängig voneinander bewegen zu können, müssen die beteiligten Körperteile zuerst als voneinander verschieden wahrgenommen werden können. «Wahrnehmungsübungen

29


30

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

zielen darauf, aus einer Vielzahl von Reizen einzelne herauszufiltern, und so das Bewusstsein für die Wahrnehmung zu differenzieren.»10 Diese Herausfiltrierung von einzelnen Reizen bildet die Grundlage, aus welcher Körperbeherrschung herauswachsen kann. Trotzdem darf der Mensch als Ganzes doch bei aller Detailarbeit nie ausser Acht gelassen werden, da eine zu einseitig betriebene Isolationsarbeit mit der Zeit in eine Richtung weg vom harmonischen Zusammenspiel des Körperganzen führt. Die Isolation von bestimmten Muskelgruppen ist also nur ein vorübergehender Schritt auf dem Weg zu einer Einheit. Eine künstliche Trennung soll im Unterrichtsprozess dem Schüler die Möglichkeit geben, sich auf etwas zu konzentrieren, seine Wahrnehmungsfähigkeit zu erweitern, um das Erlernte dann wieder in einen grösseren Zusammenhang zu stellen. Es ist sehr wichtig, diese Vorgehensweise dem Schüler auch zu erklären und darauf zu achten, dass eine Aufgabe immer eine zeitliche Abgrenzung hat. «Wir machen das jetzt eine Woche lang und dann versuchen wir, etwas anderes hinzuzunehmen». Blades-Zeller spricht davon, dass die passive Kontrolle unserer gewünschten Kontrolle entspricht. Oft spricht man in diesem Zusammenhang auch von «Flow». Das ist der Zustand, bei dem diese passive Kontrolle erreicht wird. Man hat das Gefühl, in jedem Moment auf den eigenen Gesang Einfluss nehmen zu können, ohne gleichzeitig zu meinen, man müsse alles kontrollieren, weil es wie von alleine fliesst. Der Flowzustand ist mehrfach wissenschaftlich untersucht worden. Die Ergebnisse solcher Studien zeigen, dass Flow durch gezielte Aufmerksamkeitslenkung «erzeugt» wird. Im Flow-Zustand ist man nur auf wenige Dinge konzentriert. Man versucht nicht, alles gleichzeitig zu kontrollieren. Man sucht sich ein paar gezielte Dinge aus, z.B. die Frage: Wo ist mein Gewicht?, auf die man sich dann konzentriert. Je nach Stelle im Stück und den damit verbundenen Anforderungen ändern sich die Prioritäten der Aufmerksamkeitslenkung.

Leseprobe

Sample page

3.3.2. Selbständigkeit fördern

Die Sensibilisierung des Schülers für seinen Körper und seine Emotionen bildet die Basis für die Kernaufgabe der Lehrperson: Den Schüler zur Aktivität zu animieren und ihm eine Palette von (technischen und künstlerischen) Möglichkeiten mit auf den Weg zu geben, aus der er dann wählen oder neue Formen entwickeln kann. Bei vielen Menschen scheint immer noch die Idee vorzuherrschen, dass im Unterricht der Lehrer aktiv und der Schüler passiv sei. Viele Pädagogen und Psychologen haben sich darum bemüht, diese Haltung auf beiden Seiten zu revidieren und andere Möglichkeiten des Unterrichts zu entwickeln. In «Lehren und Lernen im Instrumentalunterricht» listet Anselm Ernst sechs verschiedene Unterrichts-Methoden auf und erläutert sehr genau die dazugehörigen Verhaltensweisen von 10 Hammer, Sabine S.: Stimmtherapie mit Erwachsenen, Heidelberg 2005, S.176


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Lehrer bzw. Schüler. Ein ausgewogener Unterricht wird angestrebt, welcher den Schüler als Individuum wahrnimmt und ihn als ganzen Menschen fördert, bis er die Verantwortung für seine Stimme (in unserem Falle) selbst übernehmen kann. Ein Unterricht auch, der flexibel bleibt und offen für mehr Gewicht auf Schülerzentrierung, dies jedoch nicht vorschreibt. Fragen aufzuwerfen stellt eine hervorragende Möglichkeit dar, die Schüler zur Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion anzuregen. Wenn bei einem neuen Stück die Noten einmal gelernt sind, kann dies beispielsweise so aussehen: «Woran möchtest du bei diesem Stück arbeiten? Hast du einen Wunsch oder nicht?» Oftmals können die Schüler nach kurzem Nachdenken konkrete Anliegen formulieren, die für die Lehrperson in der Unterrichtsgestaltung sehr hilfreich sein können und auf der die Arbeit aufgebaut werden kann. Diese Vorgehensweise hat ausserdem den Vorteil, dass sich der Schüler mit der Arbeit identifizieren kann, da sie seine eigenen Anliegen widerspiegelt. Und wenn er einmal keinen Wunsch hat, etwas zu verändern, dann kann man es auch einfach so stehen lassen, oder man kann ihm einen Vorschlag machen, was man sich als Lehrperson noch wünschen würde, oder man kann die Wünsche beider Seiten vergleichen und sich fragen, warum sie verschieden sind, wenn es denn so ist. Eine solche Fragestellung bedarf der Initiative des Schülers. Gemeinsam befasst man sich aktiv mit den Zielen und Wünschen, aber auch mit den Erwartungen des Unterrichts. Diese Form des Unterrichts braucht Training und Zeit. Es ist wichtig zu kommunizieren, dass es auch hier kein richtig oder falsch gibt, dass man als Lehrer keine bestimmte Antwort erwartet.

Leseprobe

Im gleichen Stil kann man Fragen stellen wie: Was geschieht in deinem Körper, wenn du dieses Lied singst (siehe «Körperwahrnehmung»)? Ist es immer gleich? Gibt es Stellen im Stück, welche angenehmer sind als andere? Was ist anders? usw. Es kann vorkommen, dass ein Schüler zu Beginn keine Unterschiede wahrnimmt. In solchen Fällen lohnt es sich, die Aufgaben so zu konzipieren, dass möglichst grosse Unterschiede darin enthalten sind (siehe Übung 2). Oft empfinden es Schüler zunächst als schwierig, körperliche Empfindungen mit Worten auszudrücken. Das benötigt etwas Geduld. Sobald jedoch Unterschiede bewusst wahrgenommen werden, hat man eine Basis, auf der eine technische Diskussion entwickelt werden kann.

Sample page

Übungen

(Alle Übungen sind durchnummeriert. Eine Übersicht finden Sie am Ende des Buches.) Übung 1: Phantasie nutzen Es ist besonders bereichernd, die Phantasie der Schüler in die Stunde mit einzubeziehen. Daneben ist es eine sehr effiziente Methode, die Selbständigkeit des Schülers zu fördern. Ein Beispiel: Auf «tu…» (lang) und «ti…» (breit, flach)

31


32

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Notenbeispiel 1

2 &4 œ œ œ œ

tu tu tu tu ti ti ti ti

œ œ œ œ

tu tu tu tu ti ti ti ti

œ

tu ti

Œ

Leseprobe

Fragen Sie Ihre Schüler, ob sie bei dieser einfachen Übung Bilder oder Assoziationen haben, z.B. Welches Wesen könnte einen solchen Ton von sich geben? Die Übung erhält dadurch einen persönlichen Charakter. Die Antwort ist beispielsweise: «Ein Kind, welches eine Katze streichelt» oder «eine aufgetakelte Jugendliche» oder aber «ein flauschiges Küken». Es ist verblüffend zu sehen, wie schnell manche Schüler ein Bild oder eine genaue Vorstellung ausdrücken können. Diese Qualitäten soll man nutzen. Denn mit ihrem eigenen Bild können die Schüler sich identifizieren, mit dem der Lehrperson unter Umständen nicht. Merken Sie sich die individuellen Bilder der Schüler und geben Sie in der nächsten Stunde diese Bilder gleich zu Beginn der Übung wieder in den Raum. Der Schüler wird sich dadurch viel leichter an die Übung und das dazu empfundene Gefühl erinnern können. Wenn jemand keine Ideen oder Bilder hat, geben Sie ihm ein paar verschiedene Dinge zur Auswahl, dann wird es meist sehr schnell klar, was passt und was eher nicht. Der Schüler kann sich die Übung über die Vorstellung auch zuhause leichter in Erinnerung rufen. Übung 2: Gegensätze zeigen Damit Selbstwahrnehmung erlernt werden kann, hilft es manchmal, ins Extreme zu gehen, um den Schülern Unterschiede zu zeigen. Das kann beispielsweise eine Übung mit einem flachen «i» und anschliessend mit einem weichen «u» sein, mit der anschliessenden Frage nach dem Unterschied. Denn es ist einfacher, zwischen klar umrissenen Versionen zu unterscheiden als zwischen Mischformen. Manche Schüler haben eine ganz genaue Empfindung, welche sie benennen können, andere brauchen lange, bis sie Unterschiede wahrzunehmen beginnen. Sobald sie die Unterschiede jedoch bewusst wahrnehmen können, haben sie auch die Wahl zwischen den verschiedenen Möglichkeiten, was die Voraussetzung dafür ist, dass sie selber aktiv werden können im Umgang mit der Stimme. Man kann auch fragen, welche Version die angenehmere war und dann mit dieser angenehmeren Version fortfahren, diese zu entwickeln versuchen. Oder man kann sie bitten, etwas von dem, was sie beim angenehmen «u» hatten, auch in die «i»-Version zu übernehmen, das hilft oft. Die Erfahrung zeigt, dass die Schüler normalerweise den Mund beim Singen auch in der Höhe nur ganz wenig öffnen, obwohl sie selber das Gefühl haben, den Mund weit offen zu halten. Man kann sie nun bitten, den Mund vor oder während des Singens einmal aufzusperren, so weit sie können, und die Übung zu wiederholen. Ein Spiegel kann helfen, die Selbstwahrnehmung zu überprüfen. Danach lässt man sie die gleiche Übung mit zusammengebissenen Zähnen singen. Sie werden den Unterschied sofort wahrnehmen können. Von da aus kann man die «goldene Mitte» erkunden. Dabei hilft die Vorstellung, man trinke

Sample page


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Luft. Man kann spüren, wie sie langsam den Kehlkopf hinunter in die Lungen fliesst, und man versucht, diesem Getränk freie Bahn zu geben, so dass der Strahl ungehindert hinunterfliessen kann. Wenn man auf diese Weise den Schlund öffnet, spürt man, wie sich die Rippen von alleine dehnen und wie in der Kehle eine angenehme Weite entsteht.

Leseprobe

3.3.3. Körperwahrnehmung

Viel wichtiger, als die Verwendung von allfälligen Wunderheilmittelchen zu predigen, ist es, beim Schüler durch den Unterricht nach und nach eine Sensibilität für sich selbst zu erwecken, die ihm dann erlaubt, verantwortungsbewusst mit seiner eigenen Stimme umzugehen. Denn die eigentliche Chance der Stimmarbeit betreffend Stimmprobleme besteht in ihrer prophylaktischen Wirkung. Sobald eine Stimmstörung aufgetaucht ist, gibt es im Grunde genommen nur ein Mittel: Stimmruhe. Es nicht dahin kommen zu lassen, ist die Aufgabe von Gesangspädagogen und Schülern gleichermassen. Zu Beginn einer Stunde soll kurz der allgemeine körperliche Zustand wahrgenommen werden, ohne Wertung oder Urteil. Es ist nicht wichtig zu wissen, wieso man sich so fühlt, sondern nur, was man genau fühlt in seinem Körper, welche Körperstellen sich warm, kalt, kribbelnd oder wie auch immer sonst noch anfühlen. Daraus soll die Frage abgeleitet werden: «Was braucht mein Körper, um wieder in die Balance zu kommen?» Dafür kommen unzählige Dinge in Frage, von «mehr Schlaf», «mehr Bewegung», «Pausen» bis zu «andere Kost», «Kontakt mit Freunden oder Familie» usw. Alle diese Fragen, welche individuell beantwortet werden müssen, gehören im Grunde genommen in den Katalog «was ist gut für meine Stimme?», denn der Körper ist unser Instrument und deshalb braucht er besondere Beachtung. Wenn man beispielsweise in einem schlaffen körperlichen Zustand singen muss, kann diese momentane Schlaffheit des Körpers auf die Klangerwartungen des Sängers an sich selbst prallen, wobei ein innerer Konflikt entsteht. Da professionelle Sänger es sich jedoch nicht leisten können, nur zu singen, wenn sie in Topform sind, müssen sie Wege finden, ihren Körper in dem Zustand, in welchem er sich gerade befindet, abzuholen und ihn durch Übungen in einen Zustand zu überführen, welcher für das Singen möglichst ideal ist. Darin besteht ein grosser Teil der «Stimmarbeit» und darauf basiert eine Gesangstechnik, welche eine gesunde Art zu singen fördert. Als Gesangspädagogen ist es also unsere Aufgabe, dem Schüler Wege zu zeigen, wie er seinen Körper in einen Zustand versetzen kann, aus dem heraus ein freies Singen möglich ist.

Sample page

An den Beginn einer jeden Stunde und jeden Übens gehört deshalb erst einmal ein Moment der Wahrnehmung des momentanen Zustandes. Dies kann eine Minute dauern. Es soll auch hier ein Moment der Urteilslosigkeit entstehen, wo nur die Frage «Wie?», nicht aber die Frage «Warum?» auftaucht. Wie ist mein momentaner körperlicher und geistiger Zustand, habe ich überhaupt Lust zu singen oder nicht? Es muss keine Worte dafür geben, es soll nur ein kleines Innehalten und In-Sich-Hineinhorchen sein, an das

33


34

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

sich ein bewusstes Wahrnehmen des Atems anschliessen kann. Den Atem zu beobachten und ihn dabei so wenig wie möglich zu verändern, ist eine Übung, die etwas Zeit erfordert, das Körperbewusstsein jedoch enorm steigern kann. Übung 3: Oberkörper rollen Oberkörper mit der Ausatmung nach unten rollen, baumeln lassen, Kopf und Kiefer hängen mit. Spüren, wie das Blut in den Kopf schiesst. Ein paar Atemzüge unten bleiben. Dann bei einer Ausatmung Wirbel für Wirbel wieder nach oben kommen, gleichzeitig in den Knien leicht wippen. Langsam nach oben kommen, um Schwindel zu vermeiden. Der Wirbelsäule entlang spüren. Wo sind Stellen, die beweglich sind, wo kann man die Wirbel einzeln spüren und wo nicht? Versuchen, beim Aufrollen im Oberbauch die gleiche Weichheit zu erhalten, die sich bei gebeugtem Körper von alleine einstellt. Die Übung auch mit Stimme (z.B. Summen) machen.

Leseprobe

Übung 4: Katzenbuckelübung Eine weit verbreitete Übung, welche sowohl dehnt als auch die Muskulatur des Rückens anregt und stärkt. Vierfüsserposition. Der Rücken ist gerade. Nun beginnt man mit der Einatmung vom Steissbein her und rollt den Rücken Wirbel für Wirbel in Richtung Hohlkreuz. Wenn man angekommen ist, beginnt man mit der Ausatmung wieder vom Steissbein her den Rücken in Richtung Katzenbuckel zurückzurollen. Der Kopf kommt ganz zuletzt. Man kann die Atmung als Variante auch umkehren und beobachten, welche Atemart natürlicher erscheint. Wenn es Stellen gibt, wo die Bewegung stockt, empfiehlt es sich zu verlangsamen, so dass man mit der Zeit möglichst jeden Wirbel wahrnehmen kann. Übung 5: Kehlkopfmassage

Sample page

Wie gesagt – manche am Singvorgang beteiligte Körperbereiche können wir nicht spüren, so etwa die Stimmbänder oder auch das Zwerchfell. Den Kehlkopf hingegen können wir von aussen her ertasten. Die folgende Übung ist ein bisschen gewöhnungsbedürftig, kann aber sehr entspannend auf den Kehlkopf und die umliegende Muskulatur wirken: Man kann sich selber eine leichte Kehlkopfmassage geben. Den Kehlkopf ertasten (Schildknorpel) und zwischen Daumen und Zeigefinger festhalten. Ihn in sanften Bewegungen seitlich verschieben. Wenn es knirscht, kann man ihn auch etwas herausziehen und dann seitlich verschieben. Auch sehr entspannend kann es sein, wenn man das Zungenbein seitlich verschiebt. Das Zungenbein liegt über dem Schildknorpel frei im Gewebe (ist nicht direkt mit anderen Knochen oder Knorpeln verbunden). Man kann die seitlichen Kanten des Zungenbeins oft recht gut spüren, es dort «packen» und von dort aus verschieben. Immer vorne bleiben mit der Massage. Vorsicht: Nie seitlich (Richtung Ohr) in die Tiefen des Halses «bohren»! Dort ist die Kopfschlagader. Darum also immer vorne arbeiten.


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Übung 6: Mundbodenmassage Auch den Mundboden kann man massieren. Am besten stützt man die Zeigefinger auf dem Kinn ab. Nun greift man mit den Daumen in die Höhle zwischen den Unterkieferknochen und massiert auf diese Weise sanft die dort liegenden Muskeln.

Leseprobe

3.3.4. Körperliches Aufwärmen

Das körperliche Aufwärmen kann sich sehr verschieden gestalten, je nach Verfassung des Schülers und je nach den Anforderungen der Stücke, an welchen danach gearbeitet werden soll. Die Schüler kommen oft nach einem anstrengenden Arbeitstag in die Stunde. Sie gehen davon aus, dass sie in dem körperlichen Zustand, in dem sie sich gerade befinden, ohne weiteres anstrengende Stücke in Angriff nehmen können. Dabei erfordert Singen einen ganzkörperlichen Höchsteinsatz. Nicht wie beim Sport auf grobmuskulärer Ebene, aber feinmotorisch gesehen auf jeden Fall. Deshalb empfiehlt es sich, vor dem eigentlichen «Einsingen» immer ein kurzes körperliches Aufwärmen einzuschalten. Denn das Instrument ist nach einem Arbeitstag in einem denkbar ungünstigen Spannungszustand. Der Atem ist bei den meisten Menschen im Alltag sehr flach und nun soll auf Befehl eine gute Atemkontrolle zur Verfügung stehen – kaum möglich. Gähnen und Strecken stehen immer am Anfang des Aufwärmens. Es sind dies zwei körperliche Reflexe, welche man auch in der Tierwelt vielerorts beobachten kann. Der Grund, warum wir gähnen, ist noch nicht vollends geklärt, aber Verbindungen zur Regulierung des Wechsels zwischen Wachzustand und Schlaf, zur Sauerstoff- und Nahrungsaufnahme und zur Konzentration sind beobachtet worden. Bei Menschen hat Gähnen ausserdem die komische Eigenschaft, ansteckend zu wirken. Beim Gähnen öffnen sich Kiefer und Schlund. Spannungen in den umliegenden Muskeln, besonders im Kiefer, können dadurch gelöst werden. Die Durchblutung des Mund- und Rachenraums wird angeregt. Die Stimme soll bei dieser Übung mitklingen dürfen, aber nicht müssen.

Sample page

Ein leichtes Hüpfen kann den gesamten Körper anregen. Die Kniegelenke sind dabei nicht durchgestreckt, sondern federn sanft nach, der Kiefer hängt, die Zunge hängt, dadurch öffnet sich der Mund leicht. Auch die Schultern passiv mit der Schwerkraft gehen lassen. Die Augen sind halb geöffnet. Wenn man nun die Stimme mitschwingen lässt, entsteht ein Laut, der an ein «äh» erinnert. Die Stimme federt mit, das Hüpfen soll hörbar sein. Die Füsse tragen uns tagaus tagein durchs Leben und es wird ihnen dabei sehr wenig Aufmerksamkeit zuteil. Ein guter Stand ist beim Singen sehr wichtig. Beine hüftbreit, Füsse parallel. Jetzt soll langsam das Gewicht in die verschiedenen Richtungen verschoben werden, ohne dass man dabei umfällt. Es sind kleine Bewegungen, vor und zurück, danach rechts und links, dann Kreise in beide Richtungen, zum Schluss die Kreise immer kleiner werden lassen, bis man das Gefühl hat, die Mitte gefunden zu haben. Einen

35


36

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Moment nachspüren, wie man steht, ob ein Unterschied besteht zum üblichen Stand. Wenn dies der Fall ist, nicht gleich korrigieren, sondern einen Moment lang so bleiben. Normalerweise geht man sofort in die gewohnte Haltung zurück, weil sie uns ein vertrautes Gefühl verleiht. Gewohnheitsänderungen beginnen mit Innehalten in solchen Momenten.

Leseprobe

Übung 7: Füsse aufwecken

• Zehen bewegen, sowohl auf/ab als auch zusammenkrallen und loslassen. • Kräftig auf den Boden stampfen. Dabei aber immer auf ein Abfedern in den Gelenken achten, keine ungedämpften Schläge auf den ganzen Organismus. • Gewicht abwechslungsweise auf die Aussen- und Innenkanten der Füsse verlagern und zwar entweder beide Füsse auf die gleiche Seite oder unterschiedlich. Man kann sofort merken, wie die Stellung der Füsse die Stellung der Beine, des Beckens und eigentlich des ganzen Menschen beeinflusst. Deshalb ist es wichtig, den Füssen Aufmerksamkeit zu schenken. Es gibt zwei Faktoren, auf die man achten kann: 1. Die Stellung der Füsse: Zeigen die Fussspitzen nach aussen (Entenstellung), ist der Beckenboden wenig aktiv. Zeigen die Zehenspitzen stark nach innen, so besteht die Gefahr einer Verkrampfung im Beckenboden. Parallele Füsse sind deshalb am sinnvollsten. 2. Gewichtsverteilung auf den Füssen, sowohl links/rechts (es sollte ausgeglichen sein) wie auch vorwärts und zurück. In der Ruhehaltung soll das Gewicht gleichmässig auf den Füssen verteilt sein, also 50% auf den Ballen und 50% auf den Fersen. Da wir aber beim Singen etwas mehr Tonus benötigen als sonst, ist es sinnvoll, das Gewicht etwas nach vorne zu verlagern, so dass bis ca. 65% des Gewichts auf den Ballen liegt.

Sample page

Übung 8: Knie

Man hört immer wieder, dass man die Knie nicht durchstrecken soll. Mit Recht. Durchgestreckte Knie blockieren über den Beckenraum die Atmung, und weiter oben auch die Halsmuskulatur und den Kehlkopf. • Knie willentlich einige Sekunden stark durchstrecken. Spüren, wie sich der ganze Bauchraum verkrampft, der Atem stockt, die Kehle zieht sich zusammen usw. • Knie lockern, so dass man ein wenig in die Knie geht. Spüren, wie sich die Muskulatur des Beckenbodens stark löst, dafür aber die Aktivität in den Beinen, auch im oberen Bauchraum, steigt. Obwohl bei einer Haltung mit «lockeren Knien» der Rücken lang wird, was beim Sitzen grundsätzlich hilfreich sein kann, birgt diese Haltung die Gefahr, dass aus Stabilitätsgrün-


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

den die Bauchmuskulatur nun umso mehr arbeiten muss, und dass dadurch das Zwerchfell nicht mehr frei schwingen kann. Die Knie sind idealerweise durchlässig und «lang», aber nicht durchgestreckt. Die Knochen stehen so aufeinander, dass sie möglichst viel Stabilität haben. Auf diese Weise muss die Muskulatur für die Aufrichtung des Körpers weniger arbeiten und kann eingesetzt werden, wann immer sie benötigt wird. In dieser Knieposition ist es anspruchsvoller, einen langen Rücken zu behalten, als wenn man, wie oben geschildert, leicht in die Knie geht; es lohnt sich, sich diese Kniehaltung zur Gewohnheit zu machen, da der Gesang durch die gute Stabilisierung der Basis profitieren wird.

Leseprobe

• Knie zuerst wie oben stark durchstrecken und danach ganz lockern, leicht «in die Knie gehen». Einige Male zwischen diesen beiden Extremen hin- und herpendeln. Mit der Zeit die Bewegung immer kleiner werden lassen, so dass man am Ende wie folgt da steht: Die Knie sind «lang», aber nicht durchgestreckt, es braucht nur eine äusserst geringe muskuläre Aktivität. • Die Aufmerksamkeit kann während des Singens regelmässig auf die Position der Knie gelenkt werden. Am effizientesten ist es, wenn der Gedanke an die Knie seinen festen Platz im Übe-Ablauf hat. Übung 9: Dreiecksübung Man stützt sich mit den flachen Händen auf dem Boden ab, lässt das Becken nach oben kommen und stellt die Füsse ebenfalls flach auf den Boden. Der Körper bildet zusammen mit dem Boden ein Dreieck. In dieser Position mit den Fussballen auf dem Boden gehen. Gleichzeitig die Zunge flattern lassen. Diese Übung weckt sehr stark auf und lockert gleichzeitig. Darauf achten, dass der Kopf frei hängt.

Sample page

Übung 10: Gelenke durchbewegen

Gelenke vom Fussgelenk her durch den ganzen Körper nach oben eines nach dem anderen bewegen. Alle Bewegungsmöglichkeiten dabei ausprobieren, mit den Fragen: «Welche Bewegungen kann dieses Gelenk mühelos ausüben? Wo bemerke ich Bereiche, in denen die Bewegungen fliessen? Wo gibt es Stellen, bei denen sie stocken?» Die Bewegungen über diese Stellen hinweg verlangsamen und versuchen, in eine langsame, fliessende Bewegung zu kommen. Drehbewegungen immer auf beide Seiten ausführen. Wenn die Balance Schwierigkeiten bereitet, sich irgendwo festhalten, sich die Übung bequem machen. Loslassen Oft haben die Gesangserfahrenen schon hundert Mal den magischen Befehl «Loslassen!» gehört und dabei erfahren, dass es unmöglich ist, auf Befehl loszulassen. Viel sinnvoller

37


38

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

ist es, dem Schüler zu zeigen, wie und wo er aktiv resp. passiv sein kann, und wie er auf diese Weise die angespannten Körperpartien dazu bringen kann, von alleine loszulassen, weil sie nicht mehr gebraucht werden: Übung 11: Abspannen Man kann das Abspannen durch folgende Übung mit einem Thera-Band (Gummiband) bewusst machen. • Der Schüler hält das eine Ende des Thera-Bandes, die Lehrperson das andere. Während des Singens zieht er langsam am Thera-Band und erhält dadurch gegen Ende der Phrase immer mehr Widerstand. Am Ende der Phrase lässt er das Band los. Gleichzeitig atmet der Körper von alleine ein.

Leseprobe

Durch das Ziehen und den Gegenzug wird der Moment des Abspannens sehr gut spürbar. Wenn man die Übung einmal kennen gelernt hat, kann man darauf achten, beim Abspannen sowohl Kiefer als auch Bauch loszulassen. Denn nur wenn beide loslassen, ist ein tiefes Abspannen möglich, welches einen starken Atemimpuls für die nächste Phrase geben kann. • Man kann sich auch vor eine Wand stellen, ein Fuss vor dem anderen und während der Ausatmung mit den Händen die Wand «schieben wollen» und beim Einatmen loslassen. • Übung wie oben, aber im Vierfüsserstand: Während der Ausatmung die Fussrücken in den Boden drücken, beim Abspannen loslassen. Darauf achten, dass Kiefer und Bauch am Ende der Phrase gleichzeitig losgelassen werden.

3.3.5. Tonus

Sample page

Die Definition von Tonus lautet: «Widerstand, den die Muskulatur passiver Dehnung entgegensetzt, so dass eine Haltefunktion zustande kommt, die mit relativ niedrigem Energieverbrauch einhergeht. Der Tonus wird durch die ständige, auch in Ruhe vorhandene afferente, aus den Rezeptoren der Haut und des Bewegungsapparates stammende Erregung unterhalten und durch das erste motorische Neuron gedämpft»11. Der Tonus ist also die Spannung, die der Körper braucht, um sich aufrecht halten zu können, die Kraft, die der Körper der Schwerkraft entgegensetzt. Daraus wird ersichtlich, dass es sich beim Tonus immer um ein Balancehalten mit den äusseren Einflüssen und der Aktion, die der Körper ausführt, handelt. Es gibt jedoch einen körpereigenen Ideal-Ruhetonus, der von Person zu Person variiert. Eine Abweichung vom Idealtonus ist immer entweder eine zu grosse oder eine zu kleine Spannung. Es können auch nur einzelne Regionen des Körpers von diesem Idealtonus abweichen. Da der Körper aber 11 Zetkin/Schaldach: Wörterbuch der Medizin, Stuttgart 1974, S.1405


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

als Ganzes funktioniert, sind mehrere Muskelpartien von einer solchen Abweichung betroffen, da der Körper in jedem Fall im Gleichgewicht gehalten werden muss. In der Gesangsstunde sind sowohl der allgemeine Körpertonus als auch ungünstige Spannungszustände im Speziellen ein Thema.

Leseprobe

Es kann vorkommen, dass für einen Schüler ein ganz anderer Grad an Aktivität beim Singen ideal ist als für den Lehrer. Es ist von grosser Bedeutung, einen Schüler in dieser Hinsicht nicht «umkrempeln» zu wollen. Man kann versuchen, den richtigen Tonus für den Schüler zu finden, ohne dass man sich selbst auch anpassen muss, sollte der eigene Idealzustand von dem des Schülers abweichen. Ansonsten läuft man Gefahr, den Schüler unter Druck zu setzen oder sich in höchstem Masse selbst zu schaden, besonders, wenn man viel unterrichtet. «Stimmbildung macht sich die Wechselwirkung zwischen Stimme (Singen oder Sprechen) und Tonus zunutze. Nicht nur beeinflusst der Tonus die Wahrnehmung, sondern auch umgekehrt die Wahrnehmung den Tonus. Schon kleine Veränderungen der Wahrnehmung verbessern den Tonus und führen zu überraschend starken Verbesserungen im Klang der Stimme.»12 Mit den bereits angedeuteten Wahrnehmungsübungen tut man bereits den ersten Schritt in diese Richtung. Aber nicht nur Wahrnehmung und Tonus stehen in einer Wechselwirkung zueinander. Wolfgang Rüdiger beschreibt in seinem Buch «Der musikalische Körper» – in Anlehnung an die Theorie von Moshé Feldenkrais – die Verbindung von Tonus und Atem: «Atem und Haltung bedingen einander, stellt doch der Körper durch günstige Haltung und geschmeidige Bewegung die Räume bereit, die ein ungehindertes Fliessen des Atems ermöglichen. Umgekehrt fördert ein frei strömendes Fliessen des Atems gute Haltung und Bewegung. Das bedeutet: Haltung enthält Bewegung, Bewegung formt Haltung. […] Feine Empfänglichkeit und freie Verfügbarkeit des musikalischen Körpers gründen in bewusster Atmung und aktiver Körperhaltung, deren Tonus selber musikalisch ist und die Qualität von Tönen bedingt».13 Besonders die eigene Aktivität soll noch einmal unterstrichen werden. Viele Menschen haben die Vorstellung, dass Haltung etwas Stabiles sei. Dabei stabilisiert Haltung den Körper; da sich dieser jedoch in ständiger Bewegung befindet, ist Haltung selber auch etwas Bewegtes – und wiederum Bewegendes.

Sample page

Tonisierende Übungen Es lohnt sich, Tonus von unten her aufzubauen, beginnend mit den Füssen (siehe Abschnitt «Körperliches Aufwärmen»). Denn schliesslich sind sie an der Basis und tragen den ganzen Körper. Oft können Haltungsprobleme und Schmerzen im oberen Teil des Körpers auf Probleme an der Basis, in den Füssen, Knien und im Becken zurückgeführt werden. 12 http://www.stimmbildung-frankfurt.de/balance-und-tonus/ 13 Rüdiger, Wolfgang: Der musikalische Körper, Mainz 2007, S.25

39


40

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Besonders nach Entspannungsübungen zu Beginn der Stunde empfiehlt es sich, bewusst Übungen zur Tonisierung der Körpers einzuplanen. Untrainierte Körper sind nicht schnell genug in der Anpassung an die Anforderungen von Stimmübungen nach der Entspannung. Die Gefahr besteht, dass der Körper sich – durch die Überforderung – nicht spannt, sondern sofort wieder verspannt. «[Ich weiss], dass nach einer Entspannungssession ein erneuter Spannungsaufbau zu einem guten Spannungsverhältnis führt.»14

Leseprobe

Übung 12: Grimassen schneiden

Die Gesichts- und Halsmuskulatur auf alle nur erdenkliche Weisen durchbewegen. Den Mundraum mit der Zunge «ertasten». Diese beiden Übungen führen zur Tonisierung des Gesichts, zu einer allgemeinen Wachheit und tragen so zur Konzentrationsfähigkeit bei. Auch den Mund einmal aufsperren und die Zunge weit herausstrecken. Oft wird durch diese Übungen auch Gähnen ausgelöst. Übung 13: Hüpfen • Ausgehend von einem leichten Wippen in den Knien grösser werden, bis sich die Fersen und schliesslich der ganze Fuss vom Boden abheben. Darauf achten, dass der Kiefer beim Hüpfen mitschwingen kann, ebenso die Schultern und Arme. Man kann mit der Vorstellung experimentieren, dass a) der aktive Teil der Bewegung nach oben geht und nicht das Zurückfallen ist (welches durch die Schwerkraft gewährleistet wird), oder b) umgekehrt: dass die Federung des Auftretens der aktive Teil der Übung ist, und dass man als Resultat davon quasi von selbst wieder wegkatapultiert wird. • Abwechselnd auf einem Bein hüpfen oder wie beim Jogging die Füsse nacheinander auf den Boden kommen lassen (Jogging an Ort). • Die Fersen Richtung Gesäss oder Knie hochkommen lassen. • Als Variante können die Arme in einer Kreisbewegung mitschwingen; besonders beim intensiven Hüpfen fühlt sich dies natürlich an.

Sample page

Übung 14: Ein Schritt pro Ton

Eine sehr einfache, aber sehr stark tonisierende Übung: • Für jeden Ton, den man singt, macht man einen Schritt (an Ort oder in Bewegung). Dabei ist es wichtig, dass nicht die Fersen auf dem Boden aufschlagen, sondern dass man vom Fussballen her auftritt und die Knie nicht durchgestreckt sind, sondern leicht nachfedern. Diese Übung macht selbstverständlich nur für eher schnelle Stücke oder Passagen Sinn. Die Aufmerksamkeit ist bei den Füssen, also an der Basis und von unten her baut sich eine Aktivität auf. Besonders bei hohen Koloraturpassagen wird so die nötige Energie geliefert, ohne dass man sie extra aufbauen muss. Die einzige Schwie14 Gutzwiller, Johanna: Körperklang-Klangkörper, Aarau 2001, S.26


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

rigkeit ist die, dass man beim Singen nicht zu sehr ausser Atem kommt. Da muss jeder selber spüren, wann es zu viel wird. Eine etwas weichere Form davon ist «Schlittschuhlaufen»: • Man stellt sich vor, auf Schlittschuhen zu stehen. Da muss man in ständiger Bewegung bleiben, die Bewegungen sind geschmeidig und fliessend. Bei dieser Übung ist die Fussbewegung nicht mit den Tönen gekoppelt. Das «Schlittschuhlaufen» hält die nötige Grundspannung aufrecht. Es verhindert körperliches Zusammenfallen oder verfrühtes Abspannen. Auch über die Pausen hinweg bleibt der Körper im Fluss.

Leseprobe

Übung 15: Beckenübungen

Auf dem Rücken liegen, Beine aufgestellt, so dass zwischen den Füssen ca. eine Fussbreite Abstand ist. Man sollte das Gefühl haben, die Beine nicht halten zu müssen; sie sind in einer balancierten Lage. • Wahrnehmung der Auflagefläche des Körpers auf dem Boden. Wo liegt er auf? Wo nicht? Die Hände auf den unteren Bauch legen. Einen leichten Druck auf den Vorderfuss geben. Spüren, wie dieser leichte Druck von unten eine Tonisierung des Unterbauchs hervorruft. • Beckenrollen I: Wieder etwas Druck auf den Vorderfuss geben, so weit, bis sich das Becken zu rollen beginnt. Dabei kann man die Vorstellung haben, das Schambein nähere sich dem Brustbein. In einem ersten Teil soll sich das Becken noch nicht vom Boden abheben. Nur soweit gehen, dass sich die Wölbung der Wirbelsäule, die normalerweise nicht aufliegt, in Kontakt mit dem Boden kommt. Dann kehrt man die Bewegung um, der Druck der Füsse auf den Boden lässt langsam nach, Brustbein und Schambein entfernen sich wieder voneinander, man kommt an den Ausgangspunkt zurück und geht dann noch ein paar Zentimeter weiter in diese Richtung (Richtung Hohlkreuz). Sich auf diese Weise einige Male hin- und her bewegen.

Sample page

• Beckenrollen II: Gleiche Anordnung. Man rollt nun aber von der Auflagestelle her die Wirbelsäule hoch, die Wirbel kommen der Reihe nach zuerst in Kontakt zum Boden und heben sich dann vom Boden ab. Das Becken schwebt irgendwann in der Luft. Nun beginnt man mit dem hängenden Becken leicht zu wippen. Der Atem strömt hörbar durch den Mund aus und wird durch dieses Wippen bewegt. Wippend lässt man nun den Körper Wirbel für Wirbel wieder in die Ausgangsposition absinken. Beim zweiten Durchgang wird das Hochkommen mit einer Einatmung und das Wippen und Absenken lassen mit einer Ausatmung verbunden. Nach einigen Durchgängen kann die Stimme in einem Seufzer mitklingen. • Variante: Wie Beckenrollen I, nur dass die Füsse an einer Wand aufgestellt sind und nicht am Boden. Die Beine stehen zum Becken in einem 90 Grad Winkel. Man kann mit der Atmung beide Varianten ausprobieren: Beim Einrollen ausatmen und beim Ausrollen

41


42

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

einatmen. Oder umgekehrt. Wichtig ist, dass man eine rutschfeste Unterlage hat, sonst wird alle Energie und Konzentration dafür verwendet, nicht weg zu rutschen. Nach den Übungen über die Seite aufrollend ins Sitzen kommen (sich mit einer Hand abstützen), einen Moment warten und erst dann aufstehen, damit der Körper im Gefühl der Übung bleiben kann und nicht durch hastiges Aufstehen gestresst wird.

Leseprobe

Übung 16: Beckenboden aktivieren

Im Sitzen: • Sitzbeinhöcker gut spüren, mit dem Becken auf den Sitzhöckern vor und zurück «wandern» • Becken aufstellen und zurückfallen lassen • Oberkörper auf beide Seiten hin abdrehen • Abstand zwischen den Sitzbeinhöckern enger oder weiter werden lassen • Vorstellung, auf dem Stuhl sitzend einige Zentimeter zu wachsen Alle diese Übungen wecken die Beckenbodenmuskulatur auf. Sie empfehlen sich bei langen Sitzproben. Es ist wichtig, die Übungen langsam auszuführen und die aktivierte Muskulatur bewusst wahrzunehmen. Übung 17: Abklopfen Hände gut reiben, dann den Körper vom Kopf her abklopfen. Besonders auf der Brust sanft bleiben. Es soll eine allgemeine Aktivierung und Tonussteigerung erreicht werden. Übung 18: Zungendehnen Die Zungenspitze liegt hinter den unteren Schneidezähnen. Sie bleibt dort gewissermassen «eingehängt», wenn nun der Zungenrücken sich nach aussen wölbt. Der Kiefer ist dabei geöffnet, aber nicht aufgesperrt.

Sample page

Diese Rollbewegung lässt sich besonders gut vor dem Spiegel erlernen, manche Schüler lernen jedoch auch besser, wenn sie es beim Lehrer abschauen können. Das Zungendehnen ist für den ganzen Vokaltrakt sehr entspannend. Oft löst es Gähnen aus, was zu einer weiteren Lockerung führt. Beim Gähnen auch versuchen, die Zunge vorne zu lassen. Am Anfang erscheint dies oft unmöglich, aber es lässt sich trainieren und es kann dadurch zu einem wirksamen Mittel gegen Verkrampfungen werden. Man kann das Zungendehnen sehr gut auch in Übungen mit der Stimme verpacken. Notenbeispiel 2

& b 42 œ œ œ œ œ œ œ œ œ Œ ä a ä a

ä a ä a

ä


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Diese Übung wird im piano-Bereich ausgeführt. Für den ersten Ton dehnt sich die Zunge nach vorne und es entsteht, ohne dass man den Vokal zusätzlich willentlich verändern würde, ein Vokal, der einem «ä» ähnlich ist. Dann rollt man die gedehnte Zunge in eine «a»-Position zurück. So wechselt man immer zwischen gedehnter runder und entspannter flacher Zunge ab. Dann dreht man die Übung um und beginnt mit gedehnter und Zunge, was den Vorteil hat, dass die Kehle zu Beginn offen ist und der Stimmeinsatz daher erleichtert wird.

Leseprobe

Beispiel: Man kann mit den Schülern folgendes Experiment machen. Bitten Sie sie, die Zunge zur Vorbereitung auf die Übung zu dehnen, mit der Übung zu beginnen, ohne wissen zu wollen, auf welcher Tonhöhe die Stimme einsetzen wird. Bitten Sie sie dann, ein paarmal zu hüpfen und die Übung zu wiederholen. Daraufhin bitten Sie sie, sich zu strecken, die Rippen so zu dehnen, die Hände wieder fallen zu lassen, jedoch in der Dehnung der Rippen zu bleiben und die gleiche Übung noch einmal zu singen. Alle Schüler sind erstaunt, dass die Anfangstonhöhe sich jedes Mal ändert, je nachdem, was für eine körperliche Vorbereitung bzw. was für ein Tonusaufbau der Übung vorausgeht. Diese Übung hilft erstens herauszufinden, für welchen Ton welche Vorbereitung benötigt wird, und zweitens zu merken, wie verschiedene Parameter, wie Stärke der Zungendehnung, Rippendehnung, Aktivität von den Füssen und Beinen her usw., den Spannungszustand verändern. Mit der Zeit entwickelt der Körper ein Gefühl dafür, was es für welchen Ton braucht; dann kann man die ganze Sache umdrehen und man weiss, was in den Stücken, die man singt, an jeder Stelle benötigt wird, um eine ideale Atemführung zu erreichen. Übung 19: Gehör für die Aufmerksamkeit trainieren

Sample page

Indirekte Tonussteigerung durch erhöhte Aufmerksamkeit ist z.B. durch Übungen möglich, welche das Gehör trainieren. Für die Chorarbeit helfen besonders diejenigen, die Zuhören erfordern. • Man kann die Sänger und Sängerinnen innerhalb ihres Registers umplatzieren, oder auch alle Register miteinander mischen. Wenn man beim Einsingen Übungen einbaut, welche das Zuhören in den Mittelpunkt der Aufgabe setzen, kann man die Aufmerksamkeit um ein Mehrfaches steigern. • Ein Akkord (Dur oder Moll, später auch Dominantseptakkord oder verminderter Vierklang) wird zwei Vierertakte lang ausgehalten. Jedes Register hat einen Ton, also beispielsweise c, g, e´ und c´´. Auf dem einen Takt gibt es ein crescendo, auf dem anderen ein decrescendo. Jetzt hat der Chor die Aufgabe, während der ganzen Übung jeweils auf eine Stimme zu hören. Alle müssen so singen, dass sie sie in jedem Moment hören. So hören sie der Reihe nach auf alle Stimmen.

43


44

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

In den meisten Laienchören sind die Männer allgemein und die Tenöre im Speziellen stark in der Minderheit und gehen daher leicht unter. Es lohnt sich deshalb, Wert darauf zu legen, auf die Männerstimmen und im Besonderen auf den Tenor zu hören. Solche Zuhörübungen haben eine grosse Auswirkung auf die darauffolgende Chorprobe. Es entsteht eine aufmerksame Stimmung und zudem ein gemeinsames Chorgefühl. Die Choristen «spitzen die Ohren», was sich in allen Bereichen positiv auswirkt. Auch mit der «Hörrichtung» lässt sich experimentieren: • Während einer Übung oder eines Stücks, welches die Choristen bereits gut kennen, dreht jedes Chormitglied langsam den Kopf und achtet darauf, ob eine Änderung des Raumklangs wahrgenommen werden kann. Viele Räume strahlen nicht regelmässig ab. In der Kirche, wo das Konzert stattfindet, ist die Akustik meist ganz verschieden von der des Probenlokals. Darauf muss man den Chor vorbereiten. Hörübungen helfen, das Entstehen von Unsicherheit zu vermindern.

Leseprobe

3.3.6. Haltung Haltung ist immer ein Thema. Da unsere Aufrichtung alle Körperregionen umschliesst, gibt es kein einfaches Rezept, mit Hilfe dessen man zur «richtigen» Haltung kommt. «Es gibt nur eine Ruhehaltung, aber mehrere Arbeitshaltungen, die unterschiedlich ausgeprägt sind. Je höher die stimmliche Leistung, umso mehr Aufrichtung wird verlangt.»15 Singen ist ein körperlich aktiver Zustand; die Haltung verändert sich je nach den Erfordernissen der jeweiligen Gesangslinie (siehe Kapitel Tonus). Im Übungsteil finden sich viele Übungen zum Thema Haltung und Tonus. Halsmuskeln und Halsvenen: Wenn Halsmuskeln und Halsvenen beim Singen hervortreten, ist dies ein Hinweis auf eine starke Muskelanspannung im Nacken- und Halsbereich. Das sollte beobachtet und vorsichtig (vielleicht indirekt) korrigiert werden.

Sample page

Übungsbeispiel: Man bittet den Schüler, den Kopf ganz weit nach vorne zu strecken und ihn danach so weit wie möglich zurückzuziehen. Somit hat man die ganze Palette der möglichen Kopfbewegung vorne/hinten. Nun soll er diese Bewegung mehrmals wiederholen und immer kleiner werden lassen, so dass er sich mit der Zeit auf eine Kopfhaltung «einmittet», welche möglichst wenig Muskelaufwand erfordert. Wenn man diese Übung regelmässig macht, nimmt die Sensibilität für die Kopfhaltung enorm zu, und man kann auch im Alltag merken, wie man den Kopf hält. Mit der Zeit beginnt der Körper, sich dementsprechend zu verändern, und die angespannte Muskulatur kann sich immer besser lösen.

15 Wirth, Günter: Stimmstörungen, Köln 1995, S.29


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Oft haben Verspannungen in Nacken und Hals aber auch in Kiefer und Zunge ihren Grund in tiefer gelegenen Körperteilen, im Becken oder gar in den Füssen. Deshalb ist es wichtig auszuprobieren, ob man Haltungsänderungen auf die betroffenen Körperstellen bezogen angehen soll oder indirekt. Man sollte immer die ganze Person sehen. Mit der Zeit lernt man die körperlichen Zusammenhänge immer besser kennen.

Leseprobe

In der chinesischen Medizin mit ihren Meridiansystemen, aber auch in vielen westlichen Methoden wie beispielsweise Feldenkrais, besteht ein grosses Wissen über Körperentsprechungen. So besteht beispielsweise ein Zusammenhang zwischen Hals und Fussbzw. Handgelenken. Über eine sanfte Drehung der Fuss- und Handgelenke während des Singens kann man oft eine stärkere Öffnung im Hals erwirken, als wenn man die Aufmerksamkeit direkt auf den Hals richtet. Kopfhaltung Ist die gewohnte Kopfhaltung eines Schülers beim Singen nicht gerade, sondern auf eine Seite gekippt, sollte dies unbedingt angesprochen werden und im Sinne einer Erweiterung der Flexibilität angegangen werden. Bei Schrägstellung des Kopfes während des Sprechens oder Singens werden die Kehlkopfmuskeln und das Stimmband nicht gleichmässig benutzt. Das kann mit der Zeit dazu führen, dass die Stimme bei gerader Kopfhaltung ganz anders klingt, weil die Muskeln das «richtige» Spannungsverhältnis nicht mehr gewohnt sind. Die Stimme sollte sich beim Drehen des Kopfes nicht verändern. Ist dies der Fall, soll die Haltung genau überprüft werden. Manche Therapeuten lassen diese Sänger dann für eine festgelegte Zeit den Kopf beim Üben auf die andere Seite legen, damit sich ein Gleichgewicht herstellen kann. In einer solchen Umgewöhnungsphase ist es wichtig, dass der Schüler sich mit Übungen begnügt und auf die Stücke verzichtet, da erstens der Körper durch die Umstellung schon genügend beansprucht wird und zweitens die Stimme meist eine Weile lang ungewohnt schlecht klingt und die Gefahr besteht, dass der Schüler aus Enttäuschung darüber zu drücken beginnt.

Sample page

Übung 20: Kiefergelenk ≠ Kopfgelenk

• Kiefer lockern, seitlich bewegen, auf und zu, Kreisbewegungen in beide Richtungen. Das Kiefergelenk ist in der Vorstellung oft viel weiter unten als es tatsächlich liegt.

• Kiefergelenk mit den Händen ertasten. • Den Unterschied merken zwischen dem Kiefergelenk und demjenigen Gelenk, durch welches der Kopf und die Wirbelsäule verbunden sind. Die Gelenke liegen vom Gefühl her nicht weit voneinander (besonders in der Höhe). • Abwechslungsweise den Kopf leicht bewegen und dann den Kiefer, damit man den Unterschied spüren lernt. • Kiefer auch vor- und zurückschieben.

45


46

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

Schiefe Haltungen Nicht nur die schräge Kopfhaltung, sondern auch schräges Mundöffnen oder eine hochgezogene Schulter können einseitige Belastungen hervorrufen. Üben vor dem Spiegel kann bei der Änderung einer solchen Gewohnheit eine grosse Hilfe sein. Mit der Zeit sollte versucht werden, die aufrechte, «symmetrische» Haltung ohne Hilfe des Spiegels nur über das Gefühl herzustellen. Danach erfolgt ein Vergleich der inneren Wahrnehmung mit dem Bild im Spiegel. Ein solches Vorgehen führt dazu, dass der Schüler sich von äusseren Bedingungen (manchmal ist kein Spiegel vorhanden) unabhängig macht und so eine innere Sicherheit, ein Vertrauen in sein Wahrnehmen finden kann. Es sollte kein Verbot für die bisherige Haltung ausgesprochen werden. Man sollte davon ausgehen, dass eine Haltung immer ihre Gründe hat. Nicht selten sind es auch körperliche Ursachen, wie zum Beispiel eine Krümmung der Wirbelsäule oder ein kürzeres Bein. Eine Haltungsänderung braucht Zeit und muss von innen vorgenommen werden. Sonst verlieren die Schüler das Vertrauen in ihren eigenen Instinkt. Ungleiche Beinlängen sind extrem häufig. Überschreitet der Unterschied ein gewisses Mass, muss der Schüler zum Ausgleich eine ständige Haltungsanpassung vornehmen. Häufig stellt er beim Stehen instinktiv ein Bein vor das andere, um den Unterschied auszugleichen. Beobachtet man eine solche gewohnheitsmässige Haltung, kann man den Schüler darauf ansprechen. Sehr oft weiss man selber nicht, dass die Länge der Beine verschieden ist. Einlagen können bei diesem Problem Abhilfe schaffen. Es ist daher wichtig nachzufragen, bevor man dem Schüler die «richtige» Haltung beibringt. Jeder hat seine eigene richtige Haltung. Hat ein Schüler eine Skoliose (Wirbelsäulenverkrümmung), muss die bestmögliche Haltung in Zusammenarbeit mit Spezialisten gefunden werden.

Leseprobe

Hände und Arme Viele Verkrampfungen zeigen sich über die Hände. Verkrampfte Hände, starre Handstellungen kann man auch bei Vortragsübungen sehr oft sehen. Sie sind ein Hinweis auf Verspannungen, welche die Singfähigkeit direkt oder indirekt beeinflussen können. Beispielsweise behindern an den Körper gepresste Arme die Ausdehnung der Rippen massiv.

Sample page

Hochgezogene Schultern

Hochgezogene Schultern sind auch sehr häufig anzutreffen. Sie gehen oft mit einem eingesunkenen Brustkorb einher. Auch hier Haltungsänderungen von innen her aufbauen, d.h. über die Sensibilisierung auf den eigenen Körper. Sonst wird eine neue Haltung aufgezwungen, die oft zu entgegengesetzten Extremen und somit zu neuen Verspannungen führt. Übung 21: Singen in verschiedenen Haltungen Indem wir während des Singens verschiedene Haltungen einnehmen, können wir «nebenbei» eine Tonisierung der gesangsrelevanten Muskulatur erreichen.


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

• Vierfüsserposition: (Bei den folgenden Übungen als Variante immer auch ausprobieren: Kontakt von Fussrücken mit dem Boden intensiveren; das tonisiert den Unterbauch. Bewirkt es Veränderungen für die Übungen?) Die Kehle hängt, der Bauch hängt. Der Nacken? Hängt er oder ist er Verlängerung der Wirbelsäule? Wenn der Kopf wirklich locker hängt, so ist der ganze Kehlbereich in einer Entspannungshaltung. Das kann die Stimme oft positiv beeinflussen; denn Nackenverspannungen zählen zu den häufigsten Verspannungen.

Leseprobe

Nach einer Weile in der ganz entspannten Haltung kann man sich vorstellen, dass auf dem Boden, im Abstand von ungefähr einem Meter vor uns, eine Perle liegt. Wir versuchen, den Kopf sachte zu heben, während wir im Gefühl der Entspannung von vorher bleiben. Bevor es wirklich anstrengend wird, gehen wir wieder in die entspannte Haltung und versuchen es ein weiteres Mal. So können wir auf schonende Weise langsam eine Tonisierung erreichen, die uns auf die aufrechte Haltung gewissermassen vorbereitet.

Das Aufrechtstehen auf zwei Beinen beim Menschen erfordert aus Stabilitätsgründen eine sehr viel höhere Muskelaktivität als bei den Vierbeinern. Es ist nicht immer einfach, diesen erhöhten Grundtonus bei der aufrechten Körperhaltung von der gesangsbedingten Muskelaktivität unterscheiden zu können. In der Vierfüsserposition hingegen ist z.B. die Bauchmuskulatur entspannt, und man kann die Bauchaktivität einer Staccato-Übung sehr gut spüren. Deshalb lohnt es sich, während des Singens von der Vierfüsserposition über die Sitzposition langsam in die aufrechte Haltung zu gelangen und dabei die Unterschiede der verschiedenen Haltungen ganz genau wahrzunehmen.

• Ein Bein auf einen Stuhl stellen. Was bewirkt das für das Gefühl beim Singen? Das bewegt das Becken weg von der Hohlkreuzhaltung, der Rücken wird rund. Da das Zwerchfell hinten eine grössere Ausdehnungsmöglichkeit hat als vorne, kriegt es durch die Entspannung des unteren Rückens mehr Freiraum, nach unten fallen zu können.

Sample page

• Auf dem Rücken liegen. Die Stimme ist in dem Sinne frei, dass alle Muskeln, welche sonst für die Aufrichtung des Körpers und die Balance in Aktion sind, nicht arbeiten müssen. Ist es eine Befreiung, so zu singen? Oder bringt es eher Verwirrung? • Auf einer leicht schiefen Ebene (gegen vorne abfallend) stehend singen (Absätze an den Schuhen bewirken das gleiche, vorausgesetzt, dass sie nicht zu hoch sind). Dadurch wird automatisch der Vorderfuss belastet und die untere Bauchmuskulatur wie bei der ersten Beckenübung aktiviert. Bringt dies Erleichterung? Wo ist diese Erleichterung spürbar? Es geschieht eine Beckenaufrichtung über die Oberschenkelmuskulatur hinten. • Ganz locker in einem Stuhl sitzend singen. Ist es angenehm? In dieser Position werden die grossen geraden Bauchmuskeln total entlastet. Oft sind dort grosse Spannungen zu finden, und singen in dieser «coolen» Position hilft. Für manche Stücke ist diese Position vielleicht zu schlaff. Wo könnte ich trotzdem Tonus herholen, wenn ich auf der Bühne

47


48

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

in einer solchen Position zu singen hätte? Z.B. durch Verstärkung des Bodenkontaktes in den Fussballen. • In die Knie gehen. Gewicht im Rhythmus des Stücks oder frei von einem Fuss auf den anderen verlagern. Darauf achten, dass die Bewegung horizontal verläuft, d.h. dass man immer in den Knien bleibt, auch beim Verlagern des Gewichts. Der Bauch wird entlastet, da die Kraft jetzt aus den Beinen kommt. Um diesen Effekt noch zu verstärken, hilft die zusätzliche Vorstellung, dass Bauch und Kehle frei sind.

Leseprobe

• In der Hocke singen. Der Rücken ist lang und daher gut fühlbar. Man muss darauf achten, dass der Kopf nicht einknickt, sondern als Verlängerung der Wirbelsäule gedacht wird. Sinnvoll nur für bewegliche Leute. Übung 22: Übungen für den Brustkorb Vorwärts- und Rückwärtsbewegung • Den Brustkorb dehnen: Hände hinter dem Rücken verschränken und nach oben ziehen. Dadurch wird der Brustkorb gedehnt. Danach in die Gegendehnung gehen, also die Hände vor dem Körper verschränken und den Schulterbereich und den oberen Rücken rund machen. Nicht vergessen zu atmen, am besten durch den Mund. • Im Stehen den Brustkorb einsinken lassen. Wahrnehmen, welche Auswirkungen diese Haltung auf das Becken, die Atmung, die Kopfhaltung, den Nacken und die Gewichtsverteilung hat. Anschliessend den Brustkorb vom Brustbein her wieder aufrichten, bis man eine angenehme Position erreicht hat. Dann aber noch weiter aufrichten, so weit es geht. In dieser übertrieben gestreckten Haltung auch wahrnehmen, wie sich der Rest des Körpers anfühlt. Von dieser Haltung aus langsam das Brustbein wieder einsinken lassen. Auf diese Weise das Brustbein einige Male zwischen diesen Extremhaltungen hin- und herbewegen, um dann in eine angenehme Haltung zu kommen, bei der im Brustkorb das Gefühl von Offenheit und Durchlässigkeit entsteht.

Sample page

Dem Brustbein gegenüber steht auf der Wirbelsäule der 9. Brustwirbel. Bei Frauen befindet er sich meist ungefähr auf der Höhe des unteren BH-Randes. Man kann ihn sich sonst einmal von jemandem abzählen lassen. Die Einsink- und Aufrichtebewegung sollte ein Zusammenspiel dieses 9. Brustwirbels und des Brustbeines sein. Anatomisch gesehen ist dort die grösste Flexibilität der Brustwirbelsäule zu finden. • Man kann sich während des Singens öfters vorstellen, dass beim Einatmen das Brustbein und der 9. Brustwirbel sich voneinander entfernen. Diese Vorstellung verhindert ein Einsinken im Brustkorb oder eine zu starke Dehnung in die eine oder andere Richtung. Der Brustkorb öffnet sich dann wie ein Ballon in beide Richtungen. Rotation und Diagonale • Die Arme kreisen (hinten hoch und vorne runter), die Ellbogen sind gebeugt, die Daumenliegen auf den Schultern. Fast wie eine Crawl-Bewegung. Die Schulterblätter be-


Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

wegen sich, es entsteht abwechslungsweise (immer in einer Schulter) eine Öffnung in den Rippen. Die Brustwirbelsäule dreht sich. Es ist eine zugleich aktivierende und entspannende Übung, die oft sehr gut bei Verengungen im Rippenbereich wirkt. Viele Menschen empfinden diese Übung zudem als sehr wohltuend.

Leseprobe

• Mit der Einatmung gehen die Arme in einem Kreis auseinander nach aussen und oben und mit der Ausatmung kommen sie den Kreis vollendend in einer nach innen gerichteten Fallbewegung wieder nach unten, schwingen dort aus und erheben sich erneut. Es soll keinen Unterbruch geben zwischen der Ein- und der Ausatmung und auch die Armbewegung ist fliessend, ohne Stopp oben. Die Bewegung verlangsamt sich zwar gegen oben hin, aber sie bricht nie ab. Die Übung bewirkt eine Öffnung der Rippen durch das Heben der Arme. Sie gibt im zweiten Teil ein Gefühl des Gewichts der Arme und ein Gefühl für die Schwerkraft. Ausserdem koordiniert sie Atem und Bewegung, kann also auch als Atemübung angesehen werden. Übung 23: Kreisbewegungen für ein Gefühl für die Mitte Beine hüftbreit, Füsse parallel. Gewicht langsam verlagern • nach vorne und hinten, • nach rechts und links, • und dann in Kreisbewegungen; am Ende die Kreise immer kleiner werden lassen. Man soll das Gefühl für die eigene Mitte finden. Wann stehe ich in der Mitte, wann ist die Muskelanstrengung am geringsten? Wann fühlt sich der Körper an, als trage er sich selbst, ohne meine Beihilfe?

Sample page

3.3.7. Bewegung

Es sind die Nebenwirkungen der Lebensweise in der heutigen Gesellschaft, welche die Menschen leider immer mehr von ihrem Körpergefühl wegbringen: «Bewegungsarmut, begrenzte Bewegungen, verlangsamte und gestaute Bewegungen, steife und starre Bewegungen, schematische, stereotyp wiederholte Bewegungsmuster» zählt Horst Hildebrandt in seinem Buch «Musikstudium und Gesundheit» auf. «Der selbstverständliche Zusammenhang zwischen Gefühlsregungen und dem spontanen Ausdruck in Bewegungen scheint oftmals verloren gegangen zu sein. Dabei stockt der freie ‹Fluss› der Bewegungen als das unbekümmerte Zusammenwirken verschiedener Körperpartien, z.B. von Rumpf, Kopf und Armen. Auf diesen, verschiedenste Bewegungskomponenten verbindenden Fluss und die Fähigkeit, körperlich ‹durchlässig› für vielfältig abgestimmte, feinste Impulse zu sein, sind wir aber beim Erlernen eines Musikinstrumentes bzw.

49


50

Der Aufgabenbereich der Gesangslehrpersonen

des Gesangs angewiesen.»16 Bewegungen können helfen, den Körper auf das gewünschte Energieniveau zu bringen, sie können die Atmung unterstützen, Blockaden lösen, Inspirationsquelle sein. Mit Übungen vor dem Spiegel kann man seine eigenen typischen Bewegungen zuerst kennen lernen, um dann neue, noch unbekannte Bewegungsformen zu entdecken. Auch Videoaufnahmen der Gesangsstunde können manchmal zu grossen Erkenntnissen führen. Ähnlich wie bei den Tonaufnahmen mögen es die meisten Menschen nicht, sich im Spiegel zu sehen. Wenn man sich beim Beobachten auf bestimmte Bewegungen konzentriert (z.B. auf die Bewegungen der Hände), lenkt das von der Frage ab, ob man sich gefällt oder nicht. Bei Übungen mit dem Spiegel ist es deshalb wichtig, dem Schüler genaue Aufgaben zu geben.

Leseprobe

Es gibt Menschen, welche sich grundsätzlich beim Singen gerne bewegen, und solche, welche lieber ruhig dastehen. Beides hat seine Vor- und Nachteile. Man sollte immer die Vorteile dessen, was der Schüler von Natur aus besitzt, zuerst aufnehmen und daraus etwas entwickeln. Wenn sich also jemand sehr gerne bewegt, soll man diese Fähigkeit und diese Freude im Unterricht unbedingt brauchen, auch wenn man ihn vielleicht am Ende zu einer Ruhe führen möchte. Diese Ruhe muss jedoch von innen her kommen, denn eine aufgezwungene Ruhe ist keine Ruhe. Umgekehrt neigen Schüler, welche sich ungern bewegen, oft zu einer Trägheit, welche Nachteile für das Singen bringt. Andererseits sind sie oft bodenständiger, und diese Fähigkeit kann für den Unterricht eine grosse Hilfe sein. Übung 24: Arme schwingen Arme schwingen, in beide Richtungen, Dann auch gegengleich, wenn möglich. Auch Schulterkreisen in beide Richtungen, auch von hinten nach vorne. Gewicht der Arme spüren, Arme wirklich fallen lassen und nicht führen.

Sample page

Übung 25: Schwungvolle Übungen

Viele Chorsänger mögen besonders die «schwungvollen» Stimmübungen, von denen schon mehrere in früheren Kapiteln aufgeführt wurden (siehe die Übungen in den Abschnitten «Körperliches Aufwärmen» und «Tonus»). In Chorproben besteht immer wieder die Ambivalenz zwischen der allgemeinen Tendenz, keinen Aufwand betreiben zu wollen und der Freude, welche die Choristen dann doch bekommen, wenn ihre Körper tonisiert werden. Gerade bei den Sopranistinnen ist diese Tonisierung über die folgenden Übungen ein lohnendes Bestreben: • Bei Stimmenproben kann man ohne weiteres die Sopranistinnen vor jeder hohen Passage einige Male hüpfen lassen. Sie kommen zwar etwas ausser Atem, was dazu führt, dass sie öfter atmen müssen, dafür verbessert sich die Intonation meist umgehend erheblich.

16 Hildebrandt, Horst: Musikstudium und Gesundheit, Bern 2002, S.35


Dies ist eine Leseprobe. Nicht alle Seiten werden angezeigt. Haben wir Ihr Interesse geweckt? Bestellungen nehmen wir gern über den Musikalienund Buchhandel oder unseren Webshop entgegen.

This is an excerpt. Not all pages are displayed. Have we sparked your interest? We gladly accept orders via music and book stores or through our webshop.


Julia Schiwowa studierte in ihrer Heimatstadt Zürich Gesang mit Auszeichnung und war 2007–2009 Mitglied des Schweizer Opernstudios. 2007 gewann sie den Berti-Alter-Preis und den Marguerite Meister-Preis. 2009 gründete Julia Schiwowa ihr eigenes Ensemble (Julia Schiwowa & Band). Ihre erste CD-Einspielung („c’est la vie“) erschien 2010. Sie brachte seither eigene Produktionen auf die Bühne: „Soll und Haben – ein Finanzliederabend!“ (2010/11), „The Fatal Hour“ (2012), „Paris, je t‘aime!“ (2013) und „Incroyable!“ (2014). 2016 erschien ihr Album „Le Röschtigraben“ mit neuen Chansons von Marbour/Schiwowa bei Spring & Fall Music zum gleichnamigen Bühnenprogramm. Julia Schiwowa ist seit 2012 Teil der Close Harmony Formation The Sam Singers. Julia Schiwowa ist Mitbegründerin der internationalen Initiative „art but fair“. Seit 2015 ist sie Geschäftsführerin des SingStimmZentrums Zürich.

Die Stimme ist unser wichtigstes Kommunikationsmittel. Für viele Menschen ist sie ausserdem unabdingbar mit dem Berufsleben verknüpft und ihre Gesundheit somit von höchster Bedeutung. Das vorliegende Buch beleuchtet die Möglichkeiten der sängerischen Stimmarbeit in Bezug auf die Gesunderhaltung der Stimme. Im Zentrum stehen dabei die Zusammenhänge zwischen Stimmarbeit und Körperarbeit. Die einzelnen Kapitel sind mit themenbezogenen Übungsvorschlägen ergänzt. Auch gesundheitsrelevante Aspekte aus 9dem Berufsalltag 783765 199202 von Sängern und Gesangspädagogen werden berücksichtigt. Ausgewähltes medizinisches Fachwissen bietet einen Überblick über das Gebiet der Stimmstörungen und deren Ursachen. Der Leser erhält eine Hilfestellung, um auf Warnsignale des Körpers besser reagieren und dadurch zur Vorbeugung von Stimmstörungen beitragen zu können. ISBN 978-3-7651-9920-2

9 783765 199202 B 21

MN 722


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.