PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY 1840–1893
SYMPHONIE NR. 6 h-moll „Pathétique“
SYMPHONY NO. 6 in B minor “Pathétique” op. 74
herausgegeben von | edited by Martin Schmeling
Studienpartitur | Study Score
Partitur-Bibliothek 3628 Printed in Germany
PJOTR ILJITSCH TSCHAIKOWSKY 1840–1893
SYMPHONIE NR. 6 h-moll „Pathétique“
SYMPHONY NO. 6 in B minor “Pathétique” op. 74
herausgegeben von | edited by Martin Schmeling
Studienpartitur | Study Score
Partitur-Bibliothek 3628 Printed in Germany
3 Flöten (auch Piccolo) 2 Oboen 2 Klarinetten 2 Fagotte 4 Hörner 2 Trompeten 3 Posaunen Tuba Pauken Große Trommel Becken Tam-tam Streicher Kleinste zulässige Besetzung (Einrichtung Martin Schmeling): 2.1.2.1 - 2.2.1.0 - Pk - Schl - Str
3 Flutes (also Piccolo) 2 Oboes 2 Clarinets 2 Bassoons 4 Horns 2 Trumpets 3 Trombones Tuba Timpani Bass drum Cymbals Tam-tam Strings
Smallest possible scoring (arranged by Martin Schmeling): 2.1.2.1 - 2.2.1.0 - timp - perc - str
etwa 50 Minuten
Dazu käuflich lieferbar:
Orchesterstimmen OB 4959 Partitur PB 4959
approx. 50 minutes
Available for sale:
Orchestral parts OB 4959 Score PB 4959
„Wenn das Publikum auch heute noch nicht Tschaikowskys Sechste Sinfonie voll verstanden hat, so wird es ihr morgen und übermorgen näherkommen und sie lieb gewinnen.“1
Die Uraufführung in St. Petersburg am 16. Oktober 1893 unter Leitung des Komponisten war, wie dem Bericht des angesehenen Musikschriftstellers und -kritikers Hermann Laroche (1845–1904) zu entnehmen ist, in der Tat wenig ermutigend. Allzu sehr hatte das neue Werk Peter Tschaikowskys mit seinen ungewöhnlichen Neuerungen den Zuhörern in allen vier Sätzen gleich mehrfach Rätsel aufgegeben – zunächst im Kopfsatz, der durch die langsame Einleitung und durch den gewichtigen Andante-Seitengedanken (erstmals auf Seite 14) permanenten Tempowechseln unterworfen wird und das Hauptthema in der Durchführung derart strapaziert, daß die überaus kurze Reprise auf seine Wiederholung verzichtet und gleich mit dem Seitengedanken beginnt (S. 48). Der darauffolgende graziöse Tanzsatz im 5/4-Takt, oder besser: im ständigen Wechsel zwischen 2/4- und 3/4Takt, mochte wie ein ständig verzögertes, „hinkendes“ Menuett wirken, und das Scherzo stellte mit seinem ungewohnten Aufbau das Auditorium erneut auf die Probe. Zwar wird das markante Marschthema zu Beginn angedeutet (Oboe, S. 80/81), doch dann entwickelt sich das Geschehen in meisterhafter Instrumentation quasi räumlich zu einem ausgedehnten „Aufmarsch“, der erst nach mehr als 200 Takten beendet ist und zu einer doppelten Präsentation des jetzt endlich vollständigen Themas (ab S. 119) hinführt. Beendet wird das Werk nicht durch ein kräftiges, stretta-verdichtetes Finale, sondern durch einen langsamen Satz – ein Adagio, das Tschaikowsky explizit am 11. Februar 1893 während der Skizzierung in einem Brief an seinen Neffen Wladimir Dawydow, den Widmungsträger der 6. Symphonie, erwähnt, und das zweifelsohne eine Neuerung in der Geschichte der Instrumentalmusik darstellt, die in der 3. und 9. Symphonie Gustav Mahlers berühmte Nachfolger gefunden hat. Diese außergewöhnliche Partitur war dem Publikum der Uraufführung lapidar als 6. Symphonie präsentiert worden – „weder als Sinfonie The Giaour noch als Sinfonie Cymbeline oder als Purgatorium-Sinfonie“, wie Laroche in Anspielung auf Byron, Shakespeare und Dante ironisch bemerkt.2 Wohin, so mochte sich das Auditorium irritiert fragen, sollte der sinfonische Weg des 53jährigen Komponisten noch führen?
Mit der Bezeichnung „Pathétique“, die der Bruder Modest Tschaikowsky wohl unmittelbar nach dem ersten Konzert (er)fand, ließ sich mit dem Werk erheblich verständnisvoller umgehen. Die Partitur in der „Todestonart“ h-moll wurde schon wenige Tage später zum Requiem erklärt, als der Komponist am 25. Oktober 1893 starb, nachdem er – wissentlich oder versehentlich – verseuchtes Flußwasser getrunken und sich so mit der Cholera infiziert hatte. Als Beleg für den außergewöhnlichen biographischen Stellenwert der neuen Symphonie werden meist zwei Passagen aus dem bereits erwähnten Brief an Dawydow zitiert, in denen Tschaikowsky ein Programm erwähnt, das „für alle ein Rätsel bleiben soll“, und wenig später hinzufügt: „Dieses Programm ist durch und durch von meinem eigensten Sein erfüllt, so daß ich unterwegs in Gedanken komponierend, oft heftig weinte ...“3 An Versuchen, dieses Programm zu enträtseln – und dies begreiflicherweise meist im Hinblick auf den Tod des Komponisten kurz nach der Uraufführung –, hat es in der Literatur nicht gefehlt.4
Aufschlußreich sind in diesem Zusammenhang die Erinnerungen des Musikkritikers Nikolai Kaschkin ( 1839–1920), der mit Tschaikowsky befreundet war: „Es sei noch erwähnt, daß nach meiner Meinung überhaupt kein Grund dafür besteht, zwischen der Sechsten Sinfonie h-moll (Pathetique) und dem Ableben ihres Komponisten irgendeinen Zusammenhang erblicken zu wollen. Es gibt Stimmen, die in ihr einen Ausdruck von Todesahnung zu hören meinen, als wäre sie das letzte Vermächtnis an die Lebenden. Bei
meinem letzten Treffen mit Tschaikowski [am 9. Oktober 1893, also eine Woche vor der Uraufführung] gab es nicht den geringsten Anhaltspunkt, der auf etwas Derartiges hätte schließen lassen. Peter Iljitsch erwähnte beiläufig seine ursprüngliche Absicht, ein ganzes Programm zu dieser Sinfonie zu schreiben – ein Vorhaben, das er dann wieder fallengelassen hatte, sprach von seiner Sechsten wie von jedem anderen seiner Werke und machte sich, nachdem er im August die Komposition dieser Sinfonie abgeschlossen hatte, unverzüglich an andere Arbeiten.“ Kaschkin erteilt überdies in seinen Erinnerungen nicht nur den Requiem-Spekulationen eine klare Absage, er wartet zuvor auch mit einer Detailbemerkung auf, die die Unabdingbarkeit des Adagio-Finales und damit letztlich auch das Motiv der Todessehnsucht als zentralen Inhalt der gesamten Partitur infrage stellen würde: „Tschaikowski sagte mir [ebenfalls am 9. Oktober 1893], daß er sich hinsichtlich der ersten drei Sätze völlig sicher sei, zum letzten Satz jedoch bei ihm noch einige Zweifel bestehen, so daß dieser Satz möglicherweise nach der Petersburger Uraufführung gestrichen und durch einen neuen ersetzt werden könnte.“5
Eine eingehendere Betrachtung der Partitur wird freilich nicht außer acht lassen dürfen, daß sich hinter allen Innovationen, mit denen Tschaikowsky in seiner letzten Symphonie auf Schritt und Tritt aufwartet, konstruktive Gestaltungselemente verbergen, die für den satzübergreifenden Zusammenhalt sorgen und daran zweifeln lassen, ob Tschaikowsky wirklich noch einen anderen Schlußsatz komponiert hätte. Verwiesen sei beispielsweise zu Beginn auf die absteigende chromatische Linie in den Kontrabässen, die an barocke Klage-Ostinati erinnert, im Seitengedanken thematisch verarbeitet (S. 14) und am Ende des Kopfsatzes zur diatonisch absteigenden Oktave erweitert wird (S. 52/53). Der Finalsatz basiert dann ausschließlich auf absteigenden Themenverläufen, selbst wenn dies im Notenbild nicht sofort ersichtlich ist, weil Tschaikowsky – auch dies ein frappierend neuer Einfall - die fallende Linie zu Beginn Note für Note abwechselnd zwischen erster und zweiter Violine verteilt (S. 142). Und schließlich ein Detail, das über das Werk hinaus zurückweist: Tschaikowsky verschleiert zu Beginn die Haupttonart. Die „Pathétique“ beginnt zunächst in e-moll und schlägt so deutlich die Brücke zur vorangegangenen 5. Symphonie, deren Entstehung ebenfalls biographisch-schicksalhafte Züge trägt. Anton Bruckners unvollendet gebliebene 9. Symphonie, Antonín Dvořák’s Symphonie „Aus der Neuen Welt“ und Tschaikowskys „Pathétique“ beschließen um 1895 gemeinsam die Tradition der romantischen Symphonie – es sind Bekenntniswerke, die bei allen zukunftsweisenden Elementen eine lange Entwicklung zusammenfassen. Tschaikowskys individuelle Ausformung seiner künstlerischen Resignation, die in den tiefen Registern des Adagio lamentoso verlöscht, erfolgt fast zeitgleich mit dem Aufbruch in die Orchestermusik des 20. Jahrhunderts, den der 32jährige Claude Debussy mit der Uraufführung seines Prélude à „L’Après-midi d ’un faune“ am 22. Dezember 1894 einleitet. Wiesbaden, Frühjahr 1994 Frank Reinisch
1 Hermann Laroche, Tschaikowskys Sechste Sinfonie h-moll op. 74, in: Laroche, Peter Tschaikowsky. Aufsätze und Erinnerungen, S. 161
2 Laroche, S. 161
3 zitiert nach Attila Csampai in: Attila Csampai/Dietmar Holland (Hrsg.), Der Konzertführer, Reinbek 1987, S. 548
4 zuletzt in psychoanalytischer Hinsicht: Henry Zajaczkowski, Not be born were best ... , in: The Musical Times, Oktober 1993, S. 561–566
5 Nikolai Kaschkin, Meine Erinnerungen an Peter Tschaikowski, Berlin 1992, S. 175f und 174
“Though the public may not fully understand Tchaikovsky’s Sixth Symphony today, it will begin to grow accustomed to it and to love it tomorrow and the day after.” 1 Indeed, as can be inferred from the report of the esteemed music author and critic Hermann Laroche (1845–1904), the first performance of the Sixth Symphony in St. Petersburg on 16 October 1893 under the direction of the composer did not bode well for it. Abounding in peculiar innovations, the “Sixth” proved far too baffling for its listeners. Each movement contained a new source of bewilderment. In the opening movement, for example, the slow introduction and the weighty Andante secondary theme (which first appears on page 14) subject the motion to a permanent change of tempo. Moreover, the main theme is so overworked in the development that the succinct recapitulation does not even bother to repeat it and goes right on to the secondary theme (page 48). The following movement is a gracious dance piece in a 5/4 meter, or, more precisely, in a permanent alternation between 2/4 and 3/4 time. lt moves along like a continuously retarding, “limping” minuet. The Scherzo with its unusual structure tried the audience again. Though the striking march theme is hinted at from the very start (oboe, page 80/81), the movement develops in a practically spatial manner with a masterfully orchestrated and expansive march which does not end until more than 200 bars later, after it has presented the theme twice, now in its completed form (from page 119). The work is closed not by a forceful, concentrated, stretta-like finale, but by a slow movement, an Adagio. Tchaikovsky explicitly referred to it in a letter of 11 February 1893 to his nephew Vladimir Davidov, the dedicatee of the Sixth Symphony, while he was still working on the sketches. This is something utterly new in the history of instrumental music, and can claim such celebrated successors as Gustav Mahler’s Third and Ninth Symphonies. This exceptional work was first performed under the simple title “Sixth Symphony”. Alluding to Byron, Shakespeare and Dante, Laroche remarked ironically that it was called “neither The Giaour Symphony, nor the Cymbeline Symphony nor the Purgatory Symphony”.2 lt is quite possible that the perplexed public was asking itself what path the 53year-old composer had taken in this symphony, and where he was now heading. The designation “Pathétique”, which Tchaikovsky’s brother Modest seems to have suggested immediately after the premiere, helped make the work a good deal more accessible to audiences. The more so since its composer died only a few days later, at which time the work in the “death key” of B minor was declared a Requiem. Tchaikovsky had contracted cholera by drinking – knowingly or accidentally – contaminated river water. To underscore the extraordinary links of this symphony with the composer’s life, two passages from the aforementioned letter to Davidov are generally quoted. In them, Tchaikovsky mentions a program which “should remain a puzzle for all”, and adds shortly thereafter that “this program is filled through and through with my innermost being, so much that I often wept bitterly as I walked about composing it in my head ... ” 3 There has been no lack of attempts to decrypt this program; they are understandably usually undertaken in the light of the composer’s death shortly after the world premiere.4 The recollections of the music critic Nikolay Kashkin (1839–1920), who was a friend of Tchaikovsky, shed a particularly revealing light on this matter: “lt should be pointed out that, in my opinion, there is absolutely no reason to look for a connection of any sort between the Sixth Symphony in B minor (Pathétique) and the demise of its composer. Some seem to discern in it an expression of the composer’s premonition of death, as if it were his final legacy to the living. When I last saw Tchaikovsky [on 9 October 1893, thus one week before the premiere], there was not the slightest intimation that could lead one to assume this. Peter Ilyich mentioned in passing his original intent of writing an entire
program for this symphony – a plan which he subsequently abandoned. He then spoke about his Sixth the way he spoke about all his works, and set out to work on other projects immediately after he had completed the composition of this symphony in August.” In his memoirs, Kashkin also clearly debunks all speculations about the work being a Requiem, and brings up a detail which would call into question the inalienability of the Adagio finale and, consequently, would challenge the interpretation that the “death wish” motif is central to the entire score: “Tchaikovsky told me [also on 9 October 1893] that he felt absolutely sure about the first three movements. But since he still had doubts about the last one, he felt that it could be eliminated after the Petersburg premiere and replaced with a new one.” 5
When looking at the score more closely, however, one should not forget that the innovations which come fast and furious in Tchaikovsky’s last symphony conceal constructive formative elements which help produce an overall consistency among the four movements and give cause to doubt that Tchaikovsky would really have composed another finale. For example, let us point to the beginning of the descending chromatic line in the double basses, which recalls plangent Baroque ostinatos and is thematically interwoven into the secondary subject (page 14) and expanded to a diatonically descending octave at the end of the opening movement (page 52/53). The closing movement is based exclusively on descending thematic lines, even when this is not immediately visible in the notation: when it enters, the falling line is distributed between the first and second violins (page 142) which play each successive note in alternation – this, too, a striking new idea. Finally, there is another detail which points beyond the work itself: the fact that Tchaikovsky obscured the main key at the opening. The E-minor beginning of the “Pathetique” thus clearly creates a bridge to the preceding symphony, the Fifth, whose genesis also bears fateful traits pertaining to Tchaikovsky’s biography. Together, Anton Bruckner’s Ninth Symphony which remained unfinished, Antonín Dvořák’s Symphony “From the New World” and Tchaikovsky’s “Pathétique” close the tradition of the romantic symphony around 1895. They are works of self-revelation, which, though containing a number of elements pointing to the future, summarize a long development. Tchaikovsky’s personal shape of his artistic resignation which ebbs away in the low registers of the Adagio lamentoso occurs nearly at the same time as the breakthrough into the orchestral music of the 20th century; the beginning of the new era is marked by the 32-year-old Claude Debussy with the premiere of his Prélude à “L’Après-midi d ’ un faune” on 22 December 1894.
Wiesbaden, Spring 1994
1 Hermann Laroche, Tschaikowskys Sechste Sinfonie h-moll op. 74, in: Laroche, Peter Tschaikowsky. Aufsätze und Erinnerungen, p. 161
2 Laroche, p. 161
3 Quoted by Attila Csampai in: Attila Csampai/Dietmar Holland (editors), Der Konzertführer, Reinbek 1987, p. 548
4 The latest interpretation has been a psychoanalytical one: Henry Zajaczkowski, Not be born were best ... , in: The Musical Times, October 1993, p. 561–566
5 Nikolai Kaschkin, Meine Erinnerungen an Peter Tschaikowski, Berlin 1992, p. 175f and 174
Frank ReinischPartitur-Bibliothek 4959
Studienpartitur PB 3628
W. L. Dawydow zugeeignet
h-moll „Pathetique“
Pjotr Iljitsch Tschaikowsky op. 74 herausgegeben von Martin Schmeling
© Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
© Breitkopf & Härtel, Wiesbaden
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