Leseprobe: Morgner, Ich will dem Durstigen

Page 1



Christoph Morgner (Hrsg.)

Ich will dem Durstigen geben von der Quelle des lebendigen Wassers umsonst Das Lesebuch zur Jahreslosung 2018

.


Pastor Burkhard Weber (1954–2016) dem langjährigen Direktor des Johanneums in großer Dankbarkeit gewidmet

Der Vers zur Jahreslosung wird abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB), Berlin. © 2017 Brunnen Verlag Gießen Lektorat: Eva-Maria Busch Umschlagfoto: shutterstock Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger Satz: DTP Brunnen Druck: CPI – Ebner und Spiegel, Ulm ISBN 978-3-7655-4319-7 www.brunnen-verlag.de


Inhalt

Zu diesem Buch

7

Johannes Berthold Ein merkw체rdiges Gespr채ch

9

Matthias Clausen Was ist mit den anderen?

15

Monika Deitenbeck-Goseberg Wir haben die Liebe gesp체rt

19

Michael Diener Durststrecke 24 Ulrich Fischer Im Sch체pfer Grund

28

Georg Grobe Sehnsucht nach Leben

31

Frank Heinrich Wasser ist Leben

36

Eva Hobrack Kein kalter Kaffee

41

Reinhard Holmer Drogendurst 45 3


Hartmut Hühnerbein 4200 Schritte

49

Frank Otfried July Ein funkelndes Juwel

55

Steffen Kern Auch Autos haben Durst

60

Ursula Koch Begegnung am Brunnen

63

Detlef Krause Wer aufnimmt, kann abgeben

68

Gerhard Krömer Der Garten der Drei

72

Cornelia Mack Wie ein inneres Aufatmen

75

Andreas Malessa Durst nach Ehe und Familie

79

Jürgen Mette Wasser umsonst

83

Christoph Morgner Die Quelle, die mich sucht

86

Axel Noack Lebensmittel Wasser

92

4


Luitgardis Parasie Den Nullpunkt verwandeln zum Pluspunkt

96

Annegret Puttkammer Ein Paradies an der Ilse

100

Margitta Rosenbaum Alles hat seinen Preis

104

Martin Scheuermann „Noch eine kurze Zeit, dann ist’s gewonnen“

107

Hartmut Schmid Doppeltes Umsonst

110

Theo Schneider Umsonst: frisches Quellwasser

114

Gerdi Stoll Der siebte Mann

117

Ekkehart Vetter Umsonst oder gar nicht

121

Dieter Weber Das Wasser des Lebens

124

Ernst Günter Wenzler Vergebung statt Rache

126

Elke Werner Wissensdurst 131

5


Rudolf Westerheide Mein afrikanischer Freund

135

Bärbel Wilde Schlimmer als Heimweh

139

Luise Wolfram Durst ist nicht gleich Durst

144

Christoph Zehendner Lehrstunden an der Bocca di Marsolinu

148

6


Zu diesem Buch „Die erste Morgenstunde ist das Ruder des Tages.“ So hat es der Kirchenvater Augustinus (354–430) formuliert. Er hat recht: Wie wir morgens in den Tag starten, das wirkt sich auf alle Stunden aus, die der Tag bringen wird: Quälen wir uns miesepetrig aus dem Bett, scheint uns alles trüb zu sein, was vor uns liegt. Wir gehen es verdrossen an. Und es dauert einige Zeit, bis wir in die Gänge kommen. Steigen wir dagegen frohgelaunt aus dem Bett, pfeifen oder trällern wir vor uns hin, geht uns alles leichter von der Hand. Unsere Stimmung ist bestens. Der Tag kann kommen! Ja, es trifft zu, was Augustinus vor 1.600 Jahren fest­gestellt hat: „Die erste Morgenstunde ist das Ruder des Tages.“ Was für einen einzelnen Tag gilt, trifft erst recht für den Beginn eines langen Jahres zu. Wie wir den ersten Tag angehen, wirkt sich auf das gesamte Jahr aus, das vor uns liegt und auf uns wartet. Mancher ist am Jahresbeginn mürrisch, weil er unweigerlich alt und älter wird, vielleicht grau und grauer noch dazu. Er befürchtet obendrein, es könnte mit ihm gesundheitlich bergab gehen. Solche Ängste schaffen ein düsteres Klima, das sich dann wie ein trüber Schatten durch ein Jahr zieht. Anders herum: Sind wir beim Start dankbar, weil wir das neue Jahr als ein Geschenk begrüßen, das Gott uns macht, dann hellt sich unsere Stimmung augenblicklich auf. Erwartungsvoll gehen wir das Jahr an: Was hat Gott mit mir vor? Auf welche Weise wird er mich leiten, segnen und über­ raschen? Welchen Menschen werde ich begegnen? 7


Die Art, wie wir das Ruder eines neuen Jahres anpacken, wirkt sich nicht nur auf uns selber aus, sondern auch auf alle, die mit uns zu tun bekommen. Deshalb ist es gut, wenn wir gleich zu Jahresbeginn auf die Losung hören, die uns 2018 begleiten wird. Mit diesem Ruder schlägt unser Lebensschiff eine optimale Richtung ein. Wir fahren einen guten Kurs und kommen voran. Weil ein Jahr bekanntlich nicht nur aus dem Start besteht, muss das Ruder die gesamte Strecke über präzise eingesetzt werden. Deshalb reicht es nicht aus, lediglich am Neujahrstag über die Jahreslosung zu predigen, um sie dann in der Versenkung verschwinden zu lassen. Nein, es lohnt sich, die Jahreslosung als roten Faden zu nutzen, der sich durch das gesamte Jahr zieht: in Predigten, in Hauskreisen, Seniorennachmittagen und anderen Veranstaltungen. Dabei können immer neue Seiten der Jahreslosung entdeckt und entfaltet werden. Dazu liefern die unterschiedlichen Artikel dieses Buches reiches Material. Man muss vor Ort nicht immer das Rad neu erfinden, sondern darf getrost auf das zurückgreifen, was andere gedacht und niedergeschrieben haben. Hauptsache, der Segen wird weitergegeben! Ich danke allen, die sich mit ihren Artikeln an diesem Buch beteiligt haben. Keiner von ihnen musste dazu gedrängt werden. Sie geben gern und freiwillig den Segen weiter, den sie selbst empfangen haben. Ebenso danke ich meiner Frau Elfriede, die geduldig die Korrekturen gelesen hat. Dr. Christoph Morgner, Garbsen im Juni 2017 8


Johannes Berthold

Ein merkwürdiges Gespräch In Johann Wolfgang Goethes „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“ heißt es: „Was ist herrlicher als Gold?“, fragte der König. „Das Licht“, antwortete die Schlange. „Was ist erquicklicher als Licht?“, fragte jener. „Das Gespräch“, antwortete diese.“ Nun gilt das sicher nicht für jedes Gespräch, auch nicht am Jakobsbrunnen, wo Jesus eines Tages Rast machte. Immerhin glichen Brunnen damals „sozialen Netzwerken“. Hier trafen sich die Frauen des Dorfes zum Wasserholen, Hirten tränkten ihre Viehherden. Wanderer kamen vorbei – wie Jesus und seine Jünger –, um ihren Durst zu stillen. Gewiss plätscherten viele Gespräche belanglos dahin. Doch manche waren tatsächlich herrlicher als Gold und erquicklicher als Licht – und klar und tief wie ein Brunnen. So wie das Gespräch zwischen Jesus und der Samariterin, nachzulesen im Johannesevangelium im 4. Kapitel. Schon nach wenigen Worten wird deutlich, dass es in dem Gespräch nicht um den Durst der „Kehle“, sondern der „Seele“ geht – im Hebräischen übrigens ein und dasselbe Wort. Es mag in dieser sprachlichen Gleichheit das kluge Wissen liegen, dass nicht nur der Leib, sondern auch die Seele hungert und dürstet und nach Atem ringt. Zwar meinte der berühmte Arzt Rudolf Virchow, er habe schon viele Menschen seziert und noch nie eine Seele gefunden. Doch die Seele ist kein Organ – sie ist das Selbst des Menschen, sein ICH mit der 9


amüsanten oder auch quälenden Frage: „Wer bin ich – und wenn ja wie viele?“ (Richard David Precht). Jedenfalls zieht uns unsere „Seele“ ständig ins Gespräch. Sie redet über Gott und die Welt, über die anderen – und vor allem über mich selbst. Manchmal ist sie mit mir zufrieden, oft aber unzufrieden. Manchmal sagt sie: „Du bist der Beste!“, doch dann wieder: „Du bist nichts!“ Sie schlüpft in tausend Rollen – ist Richter und Verteidiger, Herr und Sklave, Sieger und Verlierer. Und vor allem: Sie dürstet – eben wie ihr gleichnamiges Organ, die Kehle. In diesem Sinne schrieb eine Studentin vor Kurzem in einem Gedicht: Woher nur immer dieser Durst, dass ich fast knistere wie welkes Laub? Trinken, trinken – und nichts, was ihn löschen kann. Nun, was hat das alles mit jenem Gespräch hier am Jakobsbrunnen zu tun? Bei diesem Gespräch ist vieles merkwürdig. Schon die Uhrzeit, die ausdrücklich genannt wird. Es war um die sechste Stunde, heißt es. Nach damaliger Zählung war das nicht früh am Morgen, was eigentlich die ideale Zeit zum Wasserschleppen gewesen wäre, sondern die Mittagszeit, in der die Luft vor Hitze flimmert und die Straßen leergefegt sind, weil alle ein schattiges Fleckchen suchen. Es verwundert schon sehr, dass die Frau gerade zur heißesten Tageszeit ihr Wasser holt. Auf alle Fälle kann sie ziemlich sicher sein, dass ihr dann niemand begegnete. Mag sein, dass sie das sogar wollte. Manchmal will man eben mit sich allein sein, weil Gespräche auch anstrengen und der übliche Klatsch einfach auf die Nerven geht. 10


Dass da heute ausgerechnet ein Mann am Brunnen sitzt, mag dieser Frau nicht recht gewesen sein. Andererseits konnte sie sicher sein, ihre Ruhe zu haben. Nicht nur, weil Männer wortkarger sind, sondern weil es nach damaliger Sitte einfach nicht üblich war, dass ein Mann eine fremde Frau ansprach, noch dazu eine ausländische. Immerhin war sie Samariterin. Doch Jesus hielt sich selten an gesellschaftliche Konventionen. „Gib mir zu trinken!“, spricht er zu ihr. Natürlich rea­ giert die Frau verwundert. Doch Jesus antwortet auf ihr Zögern: „Kenntest du die Gabe Gottes und wüsstest du, wer der ist, der zu dir sagt: Gib mir zu trinken, so hättest du ihn gebeten, und er hätte dir lebendiges Wasser gegeben.“ Eine geheimnisvolle Andeutung, die zunächst erst einmal Missverständnisse produziert, aber es sind gerade die Missverständnisse, die das Gespräch in die Tiefe führen. Die Frau fragt: „Ohne Schöpfgefäß? Schau doch, wie tief der Brunnen ist! Lebendiges Wasser? Woher denn? Wie denn?“ Aber dann siegt ihr praktischer Verstand: „Gib mir solches Wasser, solches Zauberwasser mit Langzeitwirkung, das den Durst ein für alle Mal löscht und mir das Wasserschleppen erspart!“ Wie soll sie schon gleich begreifen, dass Jesus von einem anderen Durst und einem anderen Wasser redet? Aber ein Leben ohne tägliches Wasserholen, das begreift sie schon. Was Jesus jetzt sagt, ist merkwürdig: „Geh hin, rufe deinen Mann und komm hierher!“ Ganz abgesehen davon, dass kein orientalischer (und vielleicht auch kein deutscher) Mann seinen Mittagsschlaf unterbrochen hätte und Wasserholen ohnehin Frauensache 11


war – was soll das? Warum will Jesus noch ihren Mann kennenlernen? Dazu kann man sich doch mal abends verabreden, wenn es kühler ist – bei einem Glas Wein statt einem Glas Wasser. Die Frau antwortet: „Ich habe keinen Mann!“ Jesus sagt zu ihr: „Mit Recht sagst du: Ich habe keinen Mann! Denn fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann! Du hast die Wahrheit gesagt.“ Für die Frau wird plötzlich der Kontakt mit dem fremden Mann zum Kontakt mit der eigenen Lebensgeschichte. Woher weiß er das nur, der Fremde? Offenbar schaut er in die Herzen der Menschen wie in einen tiefen Brunnen. Und in dieser Tiefe liegt bei jener Frau ein schmerzhaftes Erleben. Fünf Männer hast du gehabt. Fünf Ehen, fünf Ringe – das ist schon olympischer Rekord! Und die letzte Ehe liegt voll im Trend: Ehe ohne Trauschein. Bei dieser Scheidungsstatistik sage keiner, die Zeiten seien schlechter geworden. Jesus rührt mit seinen Worten an eine Stelle, die sie tief in sich verschlossen hält, weil sie hier so schwer gescheitert ist. Denn wenn Ehe Ort der Liebe ist, nach der der Mensch dürstet wie nach Wasser, Ort der Sehnsucht und letzter Hingabe, in der man ganz heraustritt aus sich selbst und sich dem Du öffnet wie nirgends woanders – wenn Ehe also der offenste Ort ist, dann ist er auch der verletzlichste. Vor allem muss man wissen, dass nach damaligem Scheidungsrecht in aller Regel die Frau das Opfer war. Eine Frau konnte sich nicht scheiden lassen, nur der Mann. Und dazu genügte schon der geringfügigste Anlass. Fünf Mal verstoßen zu werden – das mag ihre Sehnsucht nach Berührung, nach Kontakt, nach Liebe verschüttet haben wie einen 12


Brunnen. Das mag sie unsicher gemacht haben, ob es an ihr überhaupt noch etwas Liebenswertes gibt, auch unsicher und scheu im Umgang mit Menschen, denen sie am ­liebsten aus dem Weg geht. Holt sie deshalb mittags ihr Wasser, wenn die Straßen leer sind? Nur niemanden sehen, nur niemandem begegnen, nur keine schiefen Blicke und kein Getuschel. Möchte sie gar sich selbst aus dem Weg gehen? Wieso spricht Jesus gerade diesen Punkt an? Vielleicht will er sagen: Ich kenne den Schmerz und die Sehnsucht deines Herzens. Doch bevor etwas in dir neu werden kann, bevor im Inneren wieder das Wasser des Lebens sprudeln kann, musst du den Schutt wegräumen. Musst du das Vergangene aufarbeiten, damit deine Seele gesund wird – all das Scheitern und die Verletzungen und die zerbrochenen Beziehungen. Wir sind hier an einem wichtigen Punkt. Wonach hungert und dürstet die Seele? Was sucht sie? Leipziger Straßenkinder – hart geworden im Geben und Nehmen – wurden einmal gefragt, was sie denn am liebsten hätten. Und sie sagten: „Eine Kuschelecke!“ Also Sehnsucht nach Wärme, Annahme, Geborgenheit – nach Liebe! Noch ein Gesprächskreis schließt sich an, in dem das Thema „Wasser“ in eine letzte Tiefe gelangt. „Ich merke, du bist ein Prophet! Sag mir, wo betet man Gott an – in Jerusalem oder auf dem Garizim wie wir Samariter?“ Vom Brunnen zum Tempel – das ist nicht zufällig. Auch zu einem Tempel gehen Menschen wie zu einem Brunnen, um Durst zu löschen – den Durst ihrer Seele! Jesus erklärt: Der Ort dazu ist weder Jerusalem noch Garizim. Der Weg ist kürzer, viel kürzer. Die wahre Anbetung Gottes geschieht 13


„im Geist“, der keinem von uns fern ist. Gottes Geist, der uns beten lehrt, uns tröstet und heilt und der unseren Durst nach Leben stillt. Gottes Geist, der uns den Mut gibt, uns selbst zu begegnen, um dann in Offenheit auch wieder anderen begegnen zu können. „Gut“, meint die Frau, „das alles wird uns der Messias sagen, wenn er kommen wird, der versprochene Retter. Dann wird klar sein, welche Religion recht hat – eure oder unsere.“ Jesus sagt zu ihr: „Ich bin es!“ Ungläubig starrt sie den Fremden an. Entsetzt, doch auch irgendwie erleichtert und froh. Dann rennt sie los. Sie, die anderen gern aus dem Weg geht, ruft jetzt alle Dorfbewohner zusammen. „Hört, dieser Mann hat mir alles gesagt, was in mir ist, als würde er mich kennen. Ob er nicht der Messias ist, der Retter, der Befreier?“ Am Abend geht für die Frau ein aufregender Tag zu Ende. Ihr bleibt die Erinnerung an ein unvergessliches Gespräch – herrlicher als Gold und erquicklicher als Sie kann wieder Licht. Und an eine Begegnung, die sie in den Spiegel verwandelt hat. Sie spürt es, als sie in den schauen, ohne Spiegel schaut. Denn sie kann wieder in sich selbst zu den Spiegel schauen, ohne sich selbst zu hassen. hassen. Prof. Johannes Berthold war Dozent für Theologie an der Fachhochschule für Religionspädagogik in Moritzburg und ist seit 2008 Vorsitzender des Sächsischen Gemeinschaftsverbandes.

14


Matthias Clausen

Was ist mit den anderen? Ich gehe jede Wette ein, dass viele Beiträge in diesem Buch sich um das Thema Durst drehen. Auch wenn ich noch nicht weiß, was die anderen Autoren schreiben werden, bin ich mir ziemlich sicher: Es geht um Durst … Durst an einem heißen Urlaubstag in den Bergen, Durst nach einer sportlichen Höchstleistung, den beeindruckenden Durst e­ ines Säuglings um drei Uhr nachts. Und dann, im nächsten Gedanken, geht es um den Unterschied zwischen körperlichem und geistlichem Durst. Den einen kann man mit gewöhn­lichem Wasser stillen, den anderen nur mit lebendigem Wasser, dem Wasser, das Gott schenkt. Zu alldem hätte ich auch so manches beizutragen (mit Ausnahme vielleicht der sportlichen Höchstleistungen). Ich habe mich aber gleich gefragt: Stimmt das eigentlich – dass jeder Mensch einen solch tieferen Durst nach Leben verspürt, einen geistlichen Durst, sodass man diesem Menschen deutlich machen kann: Diesen Durst kann nur Gott stillen? Dass man mich richtig versteht: Ich begegne vielen Menschen, bei denen das ganz genauso ist. Und die ganz n ­ eugierig werden, wenn ich ihnen zu erklären versuche, in Vorträgen oder Predigten: Es gibt eine Sehnsucht nach „mehr“, die in dieser Welt nie gestillt wird. Ich nenne es eine produktive Unruhe, die auch in den besten und schönsten Momenten des Lebens nicht zur Ruhe kommt. Sie fällt vielen Menschen nicht von selbst auf – bis man sie darauf hinweist. 15


Ich mache das oft so: Kennen Sie das Gesetz von der Erhaltung der Unzufriedenheit? Das funktioniert so: Da ist man in der Schule, und die ist ganz in Ordnung, aber auch anstrengend. Also denkt man sich: Wenn ich erst einmal die Schule abgeschlossen habe, dann – ist mein Leben gut, hat mein Leben Sinn. Dann hat man die Schule abgeschlossen, ist in der Ausbildung oder an der Uni und denkt: Na gut, wenn ich erst einmal die Abschlussprüfung, das Examen in der Tasche habe, dann hat mein Leben Sinn. Und weiter: Wenn ich erst einmal eine Arbeitsstelle gefunden habe … – Wenn ich erst einmal die Partnerin, den Partner fürs Leben gefunden habe … – Wenn wir erst einmal Kinder haben … – Wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind … – Wenn ich die Midlife-Crisis hinter mir habe … – Wenn ich eines Tages in Rente bin, dann … Und so weiter. Natürlich ist es gut, wenn man sich Ziele setzt und sich vom Erreichen dieser Ziele Glück verspricht. Das kenne ich auch. Ich würde aber niemals erwarten, dass allein dadurch diese grundlegende Sehnsucht zur Ruhe kommt. Dafür kenne ich das Leben zu gut. Was also, so frage ich weiter, wenn diese Unruhe berechtigt ist? Wenn es also noch mehr gibt – und wir bisher nur an der falschen Stelle gesucht haben? Was, wenn die einzig richtige Adresse für unsere Sehnsucht Jesus ist? Genau das sagt Jesus ja von sich selbst ( Johannes ­4,13-14): „Wer von diesem (Brunnen-)Wasser trinkt, den wird wieder dürsten, wer aber von dem Wasser trinken wird, das ich ihm gebe, den wird in Ewigkeit nicht dürsten.“ Und genau das verspricht Gott in der Jahreslosung 2018: dass er dem Durstigen lebendiges Wasser schenken will. 16


So weit, so gut. Viele Menschen macht das sehr nachdenklich. Und manchen hilft es auf dem Weg zum Glauben. Das freut mich ungemein. Aber was ist mit den anderen? Mit denen, die glaubhaft versichern: „Ich bin nun mal religiös unmusikalisch“? Das sind zwar nicht viele, aber es gibt sie. In meiner Zeit im äußersten Nordosten Deutschlands bin ich einigen von ihnen begegnet. Die sagen von sich (und das meist ganz unaufgeregt): „Ich bin zufrieden. Ich erwarte nicht viel vom Leben. Und ganz bestimmt habe ich kein Bedürfnis nach irgend­ etwas, das über mein Leben hinausgeht. Ich bin mit meinem Alltag vollauf beschäftigt.“ Wie geht man damit um? Natürlich könnte man entgegnen: „Aber das kann dir doch nicht reichen! Stell dir vor, es gibt doch noch einen tieferen Sinn! Stell dir vor, es gibt Gott – und du verpasst ihn!“ Das kann man sagen. So ähnlich, wenn auch etwas vorsichtiger, habe ich das auch schon gemacht. Aber es gibt Menschen, an denen so etwas einfach abperlt. Die mit den Schultern zucken und sagen: „So ist es eben.“ Und jetzt? Schüttelt man den Staub von den Füßen und sagt sich: „Das wird nichts. Die sind nun mal nicht glaubenskompatibel“? Nein, ganz entschieden nein! Denn ich glaube nach wie vor: Gott sucht jeden Menschen. Und er macht sich dabei von nichts abhängig. Nicht von dem, was Menschen moralisch oder religiös zu bieten haben. Nicht von ihrem Vorwissen über den Glauben. Nicht einmal von ihrem geistlichen Durst. Er schenkt das lebendige Wasser umsonst – dem, der immer schon Durst hatte, aber auch dem, der diesen Durst 17


erst verspürt, nachdem er vom Wasser gekostet hat. Denn dieser Gott ist ein Gott, der jeden Menschen zu sich führen will. Manchmal kommt der Appetit erst beim Essen. Manchmal stellt sich der geistliche Durst erst da ein, wo einem Menschen von Jesus erzählt wird – von seiner Liebe, seinem Einfallsreichtum, seinem Humor und Stimmt es eigentlich, seiner Macht über den Tod. Man darf dass jeder Mensch nicht immer darauf warten, dass aneinen geistlichen dere darum bitten, davon zu hören. Durst verspürt? Man darf einfach loserzählen … Solange man höflich und freundlich bleibt, kann man dabei nur gewinnen. Es wäre doch schade, wenn andere das beste Geschenk von allen verpassen, nur weil wir sie nicht im Blick hatten. Prof. Dr. Matthias Clausen ist Dozent an der Ev. Hochschule Tabor in Marburg und bundesweit unterwegs als Vortragsredner für das Institut für Glaube und Wissenschaft (IGUW).

18


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.