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7. Warum ich trotzdem Christ bin. Über den Glauben und seine unglaubwürdigen Vertreter

7. Warum ich trotzdem Christ bin.

Über den Glauben und seine unglaubwürdigen Vertreter

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Man kann an Christen manches lustig finden. Eine Straßenbahn hält an einer Haltestelle, mehrere Menschen steigen aus, unter ihnen auch eine ältere Ordensschwester, eine Nonne in vollem Ornat. Das Aussteigen fällt ihr schwer, sie ächzt. Ein kleiner Junge neben ihr reicht ihr die Hand und hilft. Die Nonne, ganz gerührt: „Danke, mein Junge, das ist wirklich nett von dir.“ Darauf der kleine Junge großzügig: „Keine Ursache. Batmans Freunde sind auch meine Freunde.“ (Hochgeschätzte katholische Freunde und Kollegen von mir bestätigen, dass sie dies auch lustig finden.)

Man kann an Christen manches lustig finden. Was aber viel wichtiger ist: Man kann an Christen manches unglaubwürdig finden.

Im Theologiestudium im Fach Kirchengeschichte, also Geschichte des Christentums, habe ich lernen müssen, wie Christen in den 1930er-Jahren reihenweise auf die Nazis hereingefallen sind. Wir ehren heute gern die Aus-

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nahmen, die kirchliche Opposition, Christen im Widerstand gegen Hitler, und das zu Recht. Das waren beeindruckende Menschen, aber eben leider nur: Ausnahmen. Die große Mehrheit des Kirchenvolks war dafür – für die „nationale Erweckung“, für Hitler als „Führer“. Sie stimmten ein in den nationalen Wahn und wir können heute noch die Glückwunschnachrichten und Ergebenheitsadressen nachlesen, die Kirchenleitungen dem „Führer“ schickten, wenn er wieder mal einen „Sieg“ errungen hatte in seinem wahnwitzigen Krieg. Schrecklich.

Oder denken wir an ein neueres Beispiel, weniger eindeutig und keinesfalls direkt vergleichbar, dafür aktueller: die Unterstützung des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump durch eine große Mehrheit der (weißen) evangelikalen Wähler in den USA, in zwei aufeinander folgenden Wahlen. Oft begründeten sie dies mit Trumps Positionen zu Abtreibung oder Religionsfreiheit, auch wenn sie sein rüpelhaftes Auftreten kritisierten. Doch der Preis war zu hoch:64 die Unterstützung eines gewohnheitsmäßigen Lügners, mehrfach überführt als Betrüger, mehrfach wurde ihm die Belästigung von Frauen vorgeworfen. Am Ende weigerte er sich lange, seine Abwahl anzuerkennen, redete beharrlich und ohne Begründung von Wahlbetrug, seine Anhänger stürmten sogar das Kapitol in Washington, die amerikanische Demokratie wackelte. Alles „zweitrangig“, solange er die gewünschten Richter für den Supreme Court ernannte? Auf viele wirkte diese Haltung heuchlerisch. Wie kann man da noch Christ sein?

Vielleicht ist für manche von Ihnen das Thema auch

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näher. Und Sie erleben die Unglaubwürdigkeit von Christen weniger drastisch, dafür unmittelbarer. Wenn jemand das eine sagt, aber das andere tut. Wenn jemand hohe Maßstäbe vertritt, gerne und oft von seinem Glauben spricht, und man merkt auf einmal, er denkt gar nicht daran, sich selbst entsprechend zu verhalten. Er verbiegt die Wahrheit, wie es ihm passt, ist unzuverlässig oder auch einfach gemein. Das gibt es. Wie kann man da trotzdem glauben – wenn Christen so unglaubwürdig sein können?

Überzeugungen und ihre Vertreter

Nun könnte dieses letzte Kapitel kurz ausfallen. Ich könnte sagen: Ja, Christen können unglaubwürdig sein und sind es auch – vielleicht zu oft. Aber das ist gar nicht mein Thema. Ich bin ja nicht deswegen Christ, weil Christen mich überzeugten, sondern weil Christus mich überzeugt. Der Inhalt meines Glaubens ist nicht die Vorbildlichkeit oder Überzeugungskraft von Christen, sondern Jesus Christus; mit seinem Anspruch, Gott zu verkörpern, mit seinem Angebot von Vergebung und Hoffnung über den Tod hinaus. Ich glaube, dass Jesus damit recht hat. Ich glaube, dass dies alles wahr ist.

Wenn nun eine Überzeugung wahr ist, gilt ihre Wahrheit unabhängig davon, wer alles die gleiche Überzeugung vertritt. Eine Wahrheit wird nicht dadurch unwahr, dass sie von Menschen vertreten wird, die persönlich unglaubwürdig sind. Ihre Unglaubwürdigkeit sagt etwas

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über diese Menschen aus, über ihren Charakter, aber das heißt nicht, dass ihre Überzeugungen automatisch unwahr sind.

Ein einfaches und konstruiertes Beispiel: Stellen wir uns vor, ein Arzt gibt seinem Patienten den Rat: „Sie sollten nicht zu viel Alkohol trinken.“ Und hinterher stellt der Patient fest, dass der Arzt Alkoholiker ist. Dadurch wird der Ratschlag des Arztes nicht falsch, auch wenn er als Person unglaubwürdig wird.

Genauso könnte ich auch im Blick auf den Glauben argumentieren. Und könnte sagen: „Schaut dahinter“ – lasst euch nicht von den Fehlformen abhalten, die sind traurig und tragisch, aber sie ändern nichts am Kern des Glaubens. Wie Christen ihren Glauben leben, ist manchmal einfach eine irreführende Verpackung für einen an sich genialen Inhalt.

Und diese Verpackung kann äußerst irreführend sein. Manchmal ist es nicht einmal krasse persönliche Unglaubwürdigkeit von Christen, die Menschen vom Glauben abhält, sondern eine solche Verpackung. Wenn ein Jugendlicher in einen Gottesdienst geht, in einem kalten, schlecht beleuchteten Raum, sich niederlässt auf eine Bank und sich fragt, wo in der Bibel steht eigentlich der Satz: „Du sollst es nicht bequem haben“? Wenn dann der Geistliche erscheint, gekleidet in freundlichem Schwarz, und aus einem alten Text vorliest; die Sprache Jahrhunderte alt; die Stimme bekommt einen leichten Singsang, den sie vorher nicht hatte; das Ganze scheint vor allem – weit weg. Wer will es diesem Jugendlichen verdenken, wenn er den Eindruck hat: „Mit mir hat das nichts zu

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tun“? – Dann braucht es erst eine ganz andere Erfahrung von Christsein, mit einer ganz anderen Verpackung, damit dieser Jugendliche ahnt: Worum es im Glauben eigentlich geht, ist ganz anders, viel besser.

Unnötig zu sagen, dass man in traditionellen Gottesdiensten auch sehr schöne Erfahrungen machen kann. Wenn Menschen mit dem Herzen bei der Sache sind und man merkt: Das ist wichtig, das hat Tiefe. Aber darum geht es mir nicht. Es geht mir nicht um bestimmte Formen, es geht mir um die Wirkung, die unterschiedliche Formen auf unterschiedliche Menschen haben.

Vielleicht finden Sie das Wort „Verpackung“ unangemessen, aber ich wette, solche Erfahrungen spielen auch bei Ihnen eine Rolle. Dann löst fast alles, was Sie hören und lesen, ein inneres Bild aus. Oft reicht ein Schlüsselbegriff, eine einzige Formulierung, und schon sehen Sie das Gesicht einer Person vor sich, die früher auch so vom Glauben gesprochen hat – und vielleicht war diese Person glaubhaft und sympathisch, vielleicht auch unangenehm. Oder Sie sehen den Gemeinderaum vor sich, in dem Sie früher oft waren. Vielleicht waren Sie gerne dort, fühlten sich zu Hause, vielleicht auch nicht, vielleicht roch es dort merkwürdig oder die Menschen waren merkwürdig. Das alles prägt uns.

Meine simple Bitte lautet: Machen wir uns das alles bewusst, legen wir es offen. Und dann – sehen wir davon ab, schauen wir dahinter. Der Kern des Glaubens an Jesus, das, worum es eigentlich geht, ist zu genial, als dass wir uns durch irreführende Verpackungen ablenken lassen sollten.

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Und wenn es doch einen Zusammenhang gibt?

Darauf könnte ich mich also konzentrieren. Und doch will ich es dabei nicht belassen. Weil ich weiß, dass manche Erfahrungen, die Menschen mit Christen machen, einfach zu bedrückend sein können. Wenn ihre Art zu glauben lebensfern wirkt, sie keine Antenne für ganz normale Freuden zu haben scheinen, Witze nicht witzig finden und Genuss nicht genießen können. Oder, noch ernster: Wenn sie nach außen hin gerne von Liebe und Aufrichtigkeit reden, aber intern wie selbstverständlich über Abwesende lästern, abwertend und gemein sind. Oder Schlimmeres. Wie gesagt, das gibt es. In solchen Fällen kann ich zumindest verstehen, wenn Menschen fragen: Was, wenn es doch einen Zusammenhang gibt? Was, wenn diese schlechten Eigenschaften mancher Christen doch mit dem Inhalt ihres Glaubens zusammenhängen.

Für manche Menschen liegt hier das größte Hindernis auf dem Weg zum Glauben, das, was sie am wirksamsten davon abhält, sich ganz auf Jesus einzulassen. Weil sie sich fragen: „Ja, Glaube fasziniert mich, die Person Jesus überzeugt mich. Ich würde das alles eigentlich gerne glauben. Aber wenn ich damit Ernst mache – was wird dann aus mir? Werde ich zum Mitglied eines Clubs, zu dem ich vielleicht gar nicht gehören möchte?“

Dabei geht es nicht nur um Äußerlichkeiten wie die Frage: „Wenn ich glaube, darf ich dann nur noch ganz bestimmte Musik mögen? Nur noch sanfte Keyboard-

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Akkorde, die sich verlässlich nach Dur hin auflösen?“ Oder: „Darf ich nur noch ganz bestimmte Kleidung tragen, mit diesem organischen Strickmuster?“ Oder: „Darf ich über bestimmte Witze dann nicht mehr lachen?“

Nein, ganz ernsthaft fragen sich manche Menschen: „Macht dieser Glaube nicht vielleicht doch – selbstgerecht?“

Oder: „Macht er Menschen nicht doch gleichförmig, grau in grau, und alles wird abgeschliffen, was sie einzigartig und spannend macht?“

Mein Vorschlag: Schauen wir uns diese beiden Eigenschaften an: selbstgerecht und gleichförmig. Schauen wir uns dann den Kern des christlichen Glaubens an. Und fragen wir uns: Gibt es irgendetwas im Kern des Glaubens, das diese Eigenschaften nährt, fördert, verstärkt? Oder laufen diese Eigenschaften dem Kern des Glaubens nicht doch zuwider?

Macht Glaube selbstgerecht?

Wie gesagt, wir sind zu Recht skeptisch, wenn Menschen allzu sehr von sich überzeugt sind. Folgende (wohl erfundene) Geschichte habe ich über den berühmten Boxer Muhammad Ali gehört65, der ebenfalls von wenig Selbstzweifeln getrübt war. Eines Tages sitzt Muhammad Ali in einem Flugzeug. Das Flugzeug gerät in Turbulenzen, die Anzeige leuchtet auf: „Sicherheitsgurt anlegen“. Alle legen ihren Gurt an, nur Muhammad Ali nicht, er sitzt weiter breit in seinem Sitz. Eine Stewardess kommt zu

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ihm und sagt höflich: „Mr. Ali, auch Sie müssen Ihren Sicherheitsgurt anlegen.“ Darauf er: „Superman braucht keinen Sicherheitsgurt.“ Darauf die Stewardess: „Superman braucht auch kein Flugzeug.“ Sehr schlagfertig.

Manche Menschen haben nun im Blick auf Christen die Sorge: „Christen vertreten so steile ethische Maßstäbe. Sie haben einen so hohen Anspruch an ihr eigenes Leben. Kann es nicht sein, dass man sich dies dadurch versüßt, dass man sich wenigstens besser fühlt als andere? Zumindest etwas besser, sodass man ein klein wenig auf andere herabsehen kann?“ Anders gefragt: Ist es nicht doch der Glaube selbst, der Christen selbstgerecht macht?

Dazu kann man nur sagen: Das gibt es. Es gibt glaubende Menschen, die häufig und deutlich erkennen lassen: Sie halten sich für besser als andere. Der große christliche Satiriker Adrian Plass lässt in seinen Büchern eine solche Person auftreten: Mrs Flushpool. Einmal beklagt sie sich wieder über den pubertär-frechen Sohn des Ich-Erzählers. Und schließt dann, scheinbar großmütig: „Dennoch verurteile ich ihn nicht. Ein anderer wird das tun.“66 Natürlich ist Mrs Flushpool eine Erfindung, aber gar nicht so weit weg von der Wirklichkeit.

Das gibt es also. Aber es ist nicht im Sinne des Erfinders, ganz wörtlich: des Erfinders des christlichen Glaubens. Wenn man sich den Kern des christlichen Glaubens anschaut, ist Selbstgerechtigkeit sogar schizophren, ein Widerspruch in sich. Denn im Kern des Glaubens an Jesus steckt ja die Überzeugung: Gott begegnet uns in Jesus mit einer Liebe ohne Wenn – einer Liebe, die keine Bedingungen stellt, keine Vorleistungen fordert. So habe ich

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es schon in Kapitel 2 zu beschreiben versucht: Der Kern des christlichen Glaubens ist nicht Ethik, nicht das, was wir tun. Der Kern ist das, was Gott tut. Das theologische Fachwort dafür ist Gnade. Gnade ist Liebe ohne Wenn.

Das Paradox ist nun: Je mehr man das begreift, dass es im Glauben an Jesus darum geht – desto ehrlicher kann man auch dem eigenen Versagen ins Gesicht sehen. Glaube heißt nicht, dass man die eigenen Fehler mit einem falschen Lächeln übertüncht. Glaube heißt, dass man weiß: Gott nimmt mich, wie ich bin, mit meinen Fehlern. Gott liebt mich, trotz allem.

Deswegen ist es gerade ein Zeichen von Wachstum im Glauben, von zunehmender Reife, wenn einem die eigene Fehlbarkeit immer deutlicher wird. Nicht weil man mehr Fehler machen würde als früher oder gar weil man an seinen Fehlern nicht mehr arbeiten würde. Sondern weil man sensibler dafür wird. Das ist ein Fortschritt und es ist gerade die Voraussetzung dafür, an sich zu arbeiten. Gnade macht ehrlich und Gnade macht so auch großzügig anderen Menschen gegenüber. Sie sind wie ich, also brauchen sie auch Vergebung so wie ich.

„Ich hab’s nötig“

Gerade Vorbilder im Glauben, die viel vom Glauben begriffen und sich ihr ganzes Leben lang damit beschäftigt haben, wissen das. Martin Luther hat noch auf dem Sterbebett auf einen kleinen Notizzettel geschrieben: „Wir sind Bettler, das ist wahr.“

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Der große Martin Luther – der sicher auch dunkle Seiten hatte, der dennoch unbestritten vom Glauben an Jesus elektrisiert war – schreibt dies am Ende seines Lebens. Nach allem, was er erlebt und bewegt hat, nachdem er halb Europa auf den Kopf gestellt und zur Guten Nachricht von Jesus zurückgerufen hat. Nach all dem ist er nach wie vor: ein Bettler. Jemand, der nur empfängt, nichts zu bieten hat.

Anders gesagt: Eigentlich sagt man mit dem Satz „Ich bin Christ“ immer auch: „Ich hab’s nötig.“ Ich kann mir Gottes Gnade nicht verdienen. Sie ist reines Geschenk. Eigentlich sollte es daher gerade Markenzeichen von Christen sein, dass sie ihre Fehlbarkeit kennen. Und es sollte sie freundlich und großzügig anderen gegenüber machen. Natürlich: Sie sind es in der Realität oft nicht, Christen können hartherzig und selbstzufrieden sein. Nur widersprechen sie damit dem, was eigentlich das Herz ihres Glaubens ausmacht. „In Ordnung“, sagen Sie jetzt vielleicht, während Sie dies lesen. „Das klingt ja ganz gut, so habe ich das bisher noch nicht gesehen. Und trotzdem: Wenn man nun Christ wird, heißt das nicht doch, dass man sich festlegt? Auf diesen Glauben und damit auch auf diese Gemeinschaft von Menschen – und will ich das überhaupt? Passt das zu mir?“

Damit sind wir bei der zweiten Eigenschaft, die ich mir näher anschauen wollte:

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Macht Glaube gleichförmig?

Anders gesagt: Werde ich als Christ zu einem Mitglied eines Clubs mit ganz bestimmten Merkmalen? Und werde ich dabei nicht gewissermaßen weniger ich selbst, weniger individuell? Dazu holen wir erst einmal Luft und stellen uns eine grundsätzliche Frage: Was ist das eigentlich, was uns einzigartig macht? Ich weiß, das klingt etwas akademisch, aber Sie werden hoffentlich merken, wie relevant dies an dieser Stelle ist: Was genau macht Menschen einzigartig? Typisch für unsere westliche Kultur ist die Vorstellung vom In-dividuum, wörtlich „das Unteilbare“, damit verbunden ist meist die Idee: Was Menschen einzigartig macht, sei das, was sie von allen anderen abhebt, was sie von allen anderen unterscheidet; das, was „übrig bleibt“, wenn man die Prägung durch alle anderen abzieht.

Dieses Bild halte ich für einseitig. Denn aus meiner Sicht ist das, was Menschen einzigartig macht, was sie zu sich selbst macht, gerade auch das, was sie mit anderen Menschen verbindet. Und das meine ich zunächst ganz schlicht. Ich als Mensch habe mich ja nicht aus einem Vakuum heraus materialisiert, sondern ich bin ich immer als Teil einer Geschichte, und diese Geschichte gäbe es nicht ohne meine Beziehungen zu anderen Menschen.

Ich bin ich zum Beispiel als Sohn meiner Eltern. Mit zunehmendem Alter merkt man ja, wie viele Eigenschaften der eigenen Eltern man auch selbst entwickelt. Manchmal ist das schön, manchmal merkwürdig, manchmal auch amüsant. Wenn ich meinen Kindern Anregungen zum angemessenen Verhalten gebe, rutschen

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mir öfters Lieblingszitate meines Vaters heraus, etwa bei Tisch: „Der Primat zeichnet sich durch den Gebrauch von Werkzeugen aus.“

Oder: Ich bin ich als Bruder meiner Brüder. Ich habe drei ältere Brüder und ich sage gern, dass dies vielleicht auch meine Sprechgeschwindigkeit erklärt (die ist berüchtigt). Ich bin ich als Mann meiner Frau, mit der ich schon seit vielen Jahren sehr gerne und mit voller Absicht verheiratet bin. Ich bin ich als Vater meiner Kinder, als Freund meiner Freunde, als Kollege meiner Kollegen. Alles das macht mich aus und die Beziehungen zu all diesen Menschen machen mich ja nicht etwa weniger zu mir selbst, sondern sie prägen mich als Person.

Natürlich sind nicht alle Beziehungen auch gesund, nicht alle Beziehungen fördern unsere Persönlichkeit und helfen uns, uns zu entfalten. Es gibt auch Beziehungen, die uns einengen und Teile unserer Persönlichkeit abschneiden. Das liegt aber nicht an der Tatsache von Beziehungen an sich, sondern daran, mit wem wir was für eine Beziehung haben.

Die wichtigste Beziehung

Stellen wir uns nun vor: Da gibt es diese eine, entscheidende Beziehung, zu der wichtigsten Person, diejenige, die uns wie kein anderer kennt. Die es wie kein anderer gut mit uns meint, besser als wir selbst es mit uns meinen können. Stellen wir uns vor, diese Beziehung wäre möglich und diese Person existiert.

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Wenn Gott Gott ist, wenn er so ist, wie er im christlichen Glauben beschrieben wird, dann ist die Beziehung zu ihm die wichtigste von allen. Und dann, das ist der Clou, macht die Nähe zu Gott unsere Einzigartigkeit gerade sichtbar. Ich möchte das mit einem Bild veranschaulichen, das ich in Grundzügen von C. S. Lewis übernommen habe. Ich beschreibe es mit meinen eigenen Worten:67

Stellen wir uns vor, da gibt es eine Gruppe von Menschen, die verbringen ihr ganzes Leben in einer Höhle, mit nur wenig Licht. (Das ist nicht Platons Höhlengleichnis, auch wenn es ähnlich beginnt.) Stellen wir uns nun vor, durch einen Felsspalt ruft jemand von draußen den Menschen in der Höhle zu: „Kommt nach draußen, kommt ins Licht!“ Was werden die Menschen in der Höhle denken? Sie werden sich vielleicht überlegen: „Es gibt also Menschen, die draußen leben – mitten in diesem gleißenden Licht, das auch durch den Felsspalt fällt und in unseren Augen wehtut? Wahrscheinlich“, so die Menschen in der Höhle, „werden die Menschen von diesem intensiven Licht geradezu verbrannt. Wahrscheinlich sehen sie alle gleich aus.“

In Wirklichkeit natürlich treten die Besonderheiten von Menschen erst im Sonnenlicht zu Tage. Die Pointe, nach C. S. Lewis: So ist es auch in der Beziehung zu Gott. Größere Nähe zu ihm lässt uns nicht etwa „verschwinden“, sondern je näher wir ihm kommen, desto mehr werden wir zu uns selbst. Und wir merken im Rückblick, dass vieles, was wir vorher für einzigartig an uns gehalten haben, gar nicht entscheidend war. Wie wir aussehen,

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was wir mögen, wie wir uns geben – alles interessant, alles nicht entscheidend. Was uns wirklich ausmacht, wie wir von Gott gemeint sind, wird umso deutlicher, je enger die Beziehung zu ihm wird.

Wir stehen hier also noch ganz am Anfang. Wie wir wirklich gemeint sind, merken wir erst in Gottes Ewigkeit. Ich vermute, die meisten werden recht überrascht sein, zuallererst von sich selbst. „Ach, so war ich gemeint! Verzeihung, dass das nicht schon vorher deutlicher wurde.“ Dieser Prozess dauert also noch an. Wir brauchen nur keine Sorge zu haben, irgendetwas an unserer Persönlichkeit vor Gott „schützen“ zu müssen. Er ist gerade der, der unser Wesen zum Vorschein bringt, behutsam und kreativ.

Wieder kann man sagen: „Das klingt alles schön und gut, vielleicht auch eine Spur zu poetisch. Es ändert nur nichts daran, dass real existierende Christen oft gar nicht so wirken. Manche wirken durchaus gleichförmig, grau in grau, als hätten sie sich abgewöhnt, eigene Gedanken zu denken.“

Das stimmt, das gibt es. Es ist nur – wieder – nicht im Sinne des Erfinders. Und es wäre ja auch nicht damit getan, nur etwas an den Äußerlichkeiten zu ändern, am Kleidungsstil oder am Musikgeschmack. Nichts gegen eine Vielfalt an Gemeinde- und Gottesdienstformen, die brauchen wir dringend. Aber dass man Gott genauso gut klassisch wie modern loben kann, mit Orgel wie mit Mischpult – das ist ein alter Hut. Es ist auch wichtig, dass Christen hier eine Vielfalt unterschiedlich gestrickter Menschen ansprechen, aber es trifft gar nicht den Kern

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der Frage. Menschen werden nicht zu Persönlichkeiten durch einen neuen „Anstrich“; auch wenn Reality-Soaps zu Unrecht manchmal das Gegenteil versprechen.

Sondern Menschen werden Persönlichkeiten durch die Nähe zu Gott. Und wo davon unter Christen nicht viel zu spüren ist, ist die Lösung nicht, es mit der Nähe zu Gott nicht „zu übertreiben“, sondern sich eher zu fragen: Ist es wirklich Gott, dem ich hier nahe bin? Oder eine „geschrumpfte Version“ von Gott, der Gott nur meiner Prägung, meiner Gemeinde-Tradition? Vielleicht ist unser Bild von Gott ja zu harmlos geworden, kraftlos und „selbstverständlich“, weit weg von dem leidenschaftlich liebenden, anspruchsvollen Gott der Bibel.

Die überzeugendsten Menschen, denen ich begegnet bin, sind ihr Leben lang bei diesem Gott in die Schule gegangen. Oft sind es ältere Leute, oft wirken sie unspektakulär, sie tun auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches, sehen nicht außergewöhnlich aus. Aber sie gehören zu den originellsten Menschen, die ich kenne. Und die Erfahrungen eines Lebens mit Gott haben sich in ihre Gesichter eingegraben, man spürt: Mit diesen Menschen kann ich reden. Die wissen etwas vom Leben und sie wissen etwas von Gott. Und: So wie sie möchte ich später auch einmal sein. Die lebenslange Nähe zu Gott hat ihr Leben keinesfalls leichter gemacht; aber sie hat ihnen sichtlich gut getan.

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Zum Schluss

Was also, wenn wirklich etwas dran ist am Glauben an Jesus? – Auch wenn Sie bisher wenig damit anfangen konnten, oder auch: wenn Sie schon lange nicht mehr ernsthaft etwas damit anfangen können? Was, wenn Sie doch zu sehr auf die irreführenden Verpackungen des Glaubens geschaut haben und Ihnen der Kern entgangen ist?

Dann wäre das Grund genug, sich mit diesem Kern des Glaubens neu zu befassen. Natürlich zuerst, indem Sie darüber nachdenken oder auch mit anderen darüber sprechen. Allerdings ist der Kern unseres Glaubens ja nicht ein „Etwas“, nur ein „Thema“, über das man halt diskutiert oder auch nicht. Sondern es ist ein Jemand, eine Person – Gott in Jesus wartet darauf, dass wir mit ihm sprechen, ihn kennenlernen.

Wieder kann es sein, dass Ihnen diese Sätze bekannt vorkommen: „Aha, jetzt biegt er in die Zielgerade ein. Und lädt zum Gebet ein.“ Ich gebe zu, das tue ich. Ich finde nur auch hier: Was immer Sie vielleicht schon mit Gebet erlebt haben oder mit der Einladung zum Gebet – lassen Sie nicht zu, dass Ihnen das den Weg zu Gott versperrt. Es gibt für das Reden mit Gott tatsächlich keine Voraussetzungen. Sie müssen nicht allem zustimmen, was ich über Gott gesagt habe. Sie müssen auch nicht alles verstanden haben. Sie müssen noch nicht einmal etwas Bestimmtes fühlen, schon gar nicht eine bestimmte religiöse Temperatur in sich „erzeugen“. Sie können mit Gott reden, leise und in Gedanken, ohne dass sonst je-

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mand etwas davon merkt. Und Sie können ihm sagen, was Sie wirklich denken. Alle Begeisterung, Neugier, auch alle Vorbehalte, Zweifel, vielleicht sogar Ärger. Wenn Gott Gott ist, kann er eins nicht sein: überrascht. Wenn er Gott ist, kennt er sie sowieso in- und auswendig. Und freut sich umso mehr, wenn Sie das Gespräch mit ihm suchen.

Sie könnten das jetzt gleich tun. Wenn Sie mögen, lassen Sie das Buch kurz sinken und reden Sie, in Gedanken, vielleicht so: „Jesus – ich weiß nicht, was ich von alldem halten soll. Ich würde das eigentlich gerne glauben, oder auch: wieder glauben. Wenn du mich hörst, dann hilf mir bitte dabei.“

Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass daraufhin alles einfacher wird.

Wovon ich aber zutiefst überzeugt bin: dass Gott Sie hört, dass er sich freut über jedes Wort aus Ihrem Herzen. Und dass seine Liebe zu Ihnen feststeht.

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