Reinhard Deichgräber Kleine Herzen – große Gaben Meditationen zu Sinnsprüchen von Angelus Silesius
Reinhard Deichgräber
Kleine Herzen – große Gaben Meditationen zu Sinnsprüchen von Angelus Silesius
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Reihe „Geistlich Leben“ Herausgegeben von Paul-Ulrich Lenz, in Zusammenarbeit mit Brigitte Horneber, Friedbert Neese, Ingrid Reimer und Peter Zimmerling im Auftrag der Stiftung Geistliches Leben Band 38
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MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen
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© 2017 Brunnen Verlag Gießen Umschlagfoto: Shutterstock Umschlaggestaltung: Eva Joneleit Satz: DTP Brunnen Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm ISBN: 978-3-7655-5468-1 www.brunnen-verlag.de
Inhalt Vorwort 7 11 Zur Einführung 17 Kleine Herzen – große Gaben Gottes Güte gibt den Ton an 20 Mein Herz sei deine Krippe 22 Gethsemane 25 28 Ein fröhlicher Tausch Werde wesentlich! 30 Von Kindern lernen 33 36 Gott sitzt auf der Orgelbank Schön wie ein Engel 39 Googeln bringt Segen 41 Die höchste Zahl 44 Zeitenreich und Ewigkeit 47 Die Botschaft der Rose 49 Du bist ein Adler! 52 Der Winter ist vergangen 54 Ein kostbarer Schrank 57 Alles predigt 59 Der kürzeste Weg 62 Keiner kann die Sterne zählen 65 Wider die Halbherzigkeit 67 Die Heilige Schrift 70 Gelassenheit 72 75 Der Meisterdieb Schlussreim 77 5
Vorwort von Peter Zimmerling, Leipzig Johann Scheffler (1624–1677) – dieser Name steht im Evangelischen Gesangbuch unter seinen Liedern – ist wahrscheinlich den meisten besser bekannt unter dem Namen Angelus Silesius, auf Deutsch: „schlesischer Bote“. Seine vier ins Gesangbuch aufgenommenen Dichtungen sind in Inhalt und Ausdruck mystisch geprägt. Sie gehören zu den Gesängen, die sich im Herzen vieler Gottesdienstteilnehmer einen besonderen Platz erobert haben: „Mir nach, spricht Christus, unser Held“ (EG 385); „Ich will dich lieben, meine Stärke“ (EG 400); „Liebe, die du mich zum Bilde“ (EG 401); „Gott, weil er groß ist“ (EG 411). Mystische Lieder durchziehen das Evangelische Gesangbuch wie eine Perlenkette und gehören zu den Lieblingsliedern der Gemeinde. Angelus Silesius war vielleicht der bedeutendste christliche Mystiker im 17. Jahrhundert. Er hat, obwohl mit 29 Jahren zum Katholizismus konvertiert, vor allem im Protestantismus eine beachtliche Wirkungsgeschichte entfaltet. Grund dafür war die Konzentration seiner Mystik auf die Liebe zu Jesus Christus. Gottfried Arnold, der Begründer der modernen Kirchengeschichtsschreibung, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, der Erfinder der „Losungen“, und Gerhard Tersteegen, der Hauptvertreter des niederrheinischen Pietismus, gehören zu den prominentesten Männern, die von Scheffler beeinflusst waren. Sie alle 7
waren selbst Mystiker und sind nicht zuletzt auch als Liederdichter hervorgetreten. Neben Liedern hat Johann Scheffler auch mystische Texte verfasst. Die Spruchdichtung „Cherubinischer Wandersmann“ mit 1675 Doppelzeilern ist heute Bestandteil der Weltliteratur und wird an vielen Stellen zitiert. Zu den bekanntesten gehören: „Und wäre Christus tausendmal in Bethlehem geboren, und nicht in dir: Du bliebest doch in alle Ewigkeit verloren.“ Im Zentrum des christlichen Glaubens steht für Scheffler nicht das Wissen über Jesus Christus, sondern die Erfahrung seiner Gegenwart. Ja, der Glaube kommt erst dann an sein Ziel, wenn Christus im Gläubigen geboren wird. Denn nur so kann auch für ihn wahr werden, was Paulus in Gal 2,20 als eigene Glaubenserfahrung beschreibt: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.“ Als Grund für seine Konversion gibt Scheffler die Ablehnung der Mystik durch die altprotestantische Orthodoxie seiner Zeit an. Wir wissen heute, dass die Stellung der lutherischen Orthodoxie differenzierter gesehen werden muss. Viele ihrer Hauptvertreter waren von einem breiten Strom mystischer Gedanken erfasst. Das gilt gleichermaßen für bedeutende Theologen wie Johann Gerhard und Liederdichter wie Paul Gerhardt – man denke nur an dessen Lied „Ich steh an deiner Krippen hier“. Die gegenwärtige Forschung geht sogar davon aus, dass schon Martin Luther selbst 8
eine eigenständige, reformatorisch geprägte Form von Mystik geschaffen hat. Dennoch ist es richtig, dass sich die Beziehung zwischen Mystik und Protestantismus in späterer Zeit häufig als eine Problemgeschichte darstellte. Luther, Paul Gerhardt, Gerhard Tersteegen und viele andere zeigen jedoch, dass ein Mystik-freier evangelischer Glaube eine Unmöglichkeit darstellt und dass in der Mystik Potenziale stecken, die in Zukunft helfen könnten, die Selbstsäkularisierung und Selbstbanalisierung des Protestantismus zu überwinden. Reinhard Deichgräber ist vielen als Lehrer des geistlichen Lebens bekannt geworden. Er gehörte zu den wenigen evangelischen Theologen, die schon früh auf die mangelnde Pflege der Spiritualität im Raum des Protestantismus hingewiesen haben. Zeit seines Lebens hat er sich mit geistlicher Lyrik befasst und sie evangelischen Christen als geistliches Lebensmittel erschlossen. Gerade bei geistlicher Lyrik verschwimmt häufig die Grenze zwischen Spiritualität und Mystik als einer Intensivform des Glaubens. Deichgräber ist ein Kenner und Liebhaber der Mystik. Er legt hier Meditationen zu 24 Texten von Angelus Silesius aus dem „Cherubinischen Wandersmann“ vor. Die Beschäftigung mit mystischen Texten stellt eine Bereicherung des geistlichen Lebens dar: im Sinne einer Vertiefung und Erweiterung durch neue Impulse. Zum Mystiker wird man gewöhnlich durch das Lesen und Meditieren mystischer Texte – nicht anders als man Christ wird durch das Verkosten von Bibelworten. So erfüllt das vorliegende Büchlein 9
in hervorragender Weise die Aufgabe der Reihe „Geistlich Leben“. Leipzig, im Spätsommer 2017 Peter Zimmerling
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Zur Einführung Angelus Silesius oder Johann Scheffler, wie er mit bürgerlichem Namen hieß, gehört nicht zu den ganz großen, den hochberühmten Gestalten der Kirchengeschichte. Er war kein Heiliger, und als theologischen Denker kann man ihn nicht auf eine Stufe mit Augustinus oder Martin Luther oder Karl Barth stellen. So ist er heute auch Fachkundigen kaum bekannt. Wer war dieser Angelus Silesius, der sich in der Überschrift zu einem seiner Werke als den „Cherubinischen Wandersmann“ bezeichnete? Seine Lebensgeschichte zeigt: Er war eine zerrissene Persönlichkeit. Ein Mensch mit vielen Angriffsflächen. Eine mitunter sogar geradezu abschreckende Gestalt. Ein Mann voller Extreme. Medizinisch würde man ihn heute wohl als bipolar diagnostizieren. Und doch war er ein frommer Mann. Und auch dies lässt sich nicht gut bestreiten: Er war ungewöhnlich sprachbegabt, ein hochbegabter Dichter. Vielleicht dürfen wir ihn sogar als sprachgewaltig bezeichnen. Geboren wurde er im Dezember 1624, sechs Jahre nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges. Sein Vater, ein Landedelmann, war bei der Geburt des Knaben Johann bereits 63 Jahre alt. Wegen seines lutherischen Glaubens hatte er seine Heimat in Südpolen verlassen und sich in Schlesien angesiedelt, wo sich das dortige Luthertum in harten Kämpfen gegen die von den Jesuiten vorangetriebene Gegenreformation wehrte. Johann Scheffler war erst dreizehn Jahre alt, als sein Vater starb. 11
Zwei Jahre später starb auch seine Mutter. Nach dem Besuch des Elisabethgymnasiums zu Breslau begann er ein weitgefächertes Studium mit den Fächern Medizin, Politik und Geschichte. Er studierte zunächst in Straßburg, dann im holländischen Leiden und schließlich im italienischen Padua. Schon früh öffnete er sich den großen Mystikern seiner Zeit: Jakob Böhme, Daniel Czepko, Valentin Weigel und Abraham von Franckenberg. Hier fand er vielfache praktische Inspiration und Anregung für sein Glaubensleben. Damit entfremdete er sich allerdings je länger, je mehr dem lutherischen Glauben seines Elternhauses. Beruflich wurde er als Leibarzt des schlesischen Herzogs von Oels tätig. Am 12. Juni 1653 konvertierte Johann Scheffler zur katholischen Kirche. Dabei nahm er den Namen Angelus an, den er später zu seinem Dichternamen Angelus Silesius (das heißt: der schlesische Bote) erweiterte. Als Katholik entwickelte er eine maßlose und streitbare Leidenschaft gegen Martin Luther und gegen die lutherische Kirche, aus der er gekommen war. Er studierte katholische Theologie, und im Jahr 1661 ließ er sich zum Priester weihen. Bei einer Prozession in Breslau ging er demonstrativ mit. Dabei trug er ein Kreuz, eine Dornenkrone und eine Fahne mit sich. Im Jahr 1677 ist Angelus Silesius gestorben. So bietet die Lebensgeschichte Johann Schefflers insgesamt das Bild einer zerrissenen Persönlichkeit. Unter seinen Dichtungen aber gibt es Texte, die zum Besten gehören, das die Christenheit in jener Zeit hervorgebracht hat. So ist sein Lied „Ich will dich lieben, meine 12
Stärke“ (mein persönliches Lieblingslied!) bis heute fester Bestandteil aller evangelischen wie katholischen Gesangbücher, und auch sein Lied von der Nachfolge Christi „Mir nach! spricht Christus, unser Held“ hat eine lange, bis heute währende kräftige Wirkungsgeschichte. Unter den vielen Zweizeilern, die Angelus Silesius gedichtet hat (nicht weniger als 1675 sind in der Sammlung „Der Cherubinische Wandersmann“ enthalten), gibt es eine ganze Menge kostbarer Perlen, ja, sogar einige funkelnde Diamanten, die ihresgleichen suchen. Vielen Lesern wird – als Kanon gesungen – der folgende Vers vertraut sein: Gott, weil er groß ist, gibt am liebsten große Gaben. Ach! Dass wir Armen nur so kleine Herzen haben. Und in vielen Weihnachtspredigten wird der Vers zitiert: Wird Jesus tausendmal zu Bethlehem geboren und nicht in dir, du bleibst doch ewiglich verloren. Auch der Zweizeiler Es kann in Ewigkeit kein Ton so lieblich sein, als wenn des Menschen Herz mit Gott stimmt überein ist vielen frommen Menschen bekannt und wird von vielen geschätzt und geliebt. Ein kurzes Wort zur Form dieser Sprüche: Sie beste13
hen in der Regel aus zwei Zeilen mit einem festen Versmaß. Als Versform dient dem Dichter der Jambus (zwei Silben, von denen die zweite betont ist). Jede Zeile besteht aus sechs solcher Jamben. Die erste der beiden Zeilen schließt gelegentlich mit einer überschießenden unbetonten Silbe. Es ist unglaublich, welche Fülle und welche Tiefe der Gedanken der Dichter in einem solchen kurzen Zweizeiler unterbringen kann. Die zeitgenössische Dichtung (des Barock) neigte eher zur Weitschweifigkeit und – für unseren heutigen Geschmack – zur Umständlichkeit. So wirken ihre Werke auf den heutigen Leser oft ermüdend und erdrückend. Angelus Silesius’ Zweizeiler aber sind in sich unglaublich konzentriert. Nur in der großen Zahl der Sprüche, die er hinterlassen hat, zeigt sich die barocke Neigung zur (Über-)Fülle. So ist es dann allerdings auch kaum sinnvoll, den „Cherubinischen Wandersmann“ so herunterzulesen, wie man sonst ein Buch zu lesen pflegt. Darum haben wir für dieses Büchlein eine eigentlich bescheidene Auswahl von 24 Sprüchen getroffen. Für den praktischen Umgang mit solchen Sprüchen empfiehlt es sich, für eine bestimmte Zeit (zum Beispiel für eine Woche) einen solchen Zweizeiler auszuwählen. Man kann ihn sich auf ein Kärtchen schreiben, das man in seiner Wohnung an geeigneter Stelle aufstellt oder in einer Tasche mit sich trägt. So ist es gut möglich, mit dem Spruch vertraut zu werden und ihn sich im vollen Sinn des Wortes einzuprägen. Nicht umsonst hat Angelus Silesius seinem Werk den 14
Titel „Cherubinischer Wandersmann“ gegeben. Da wird uns ein Cherub, ein Thronengel Gottes also, vorgestellt, und dieser erscheint im Gewand eines Wandersmannes. Gerhard Wehr (in seiner Einleitung zu einer Auswahl aus Angelus Silesius’ Werken, „Der Himmel ist in dir“) hat diesen Titel mit dem Engel in Verbindung gebracht, der im Buch Tobias den jungen Tobias in menschlicher Gestalt auf seiner Reise in ein fernes Land begleitet. So möchte auch die Spruchsammlung des schlesischen Mystikers Angelus Silesius ein Wegweiser und Wegbegleiter sein, der den Christen auf seinem Weg zur Ewigkeit führt. Die einzelnen Sprüche gleichen Wegemarken, die den Wanderer vor möglichen Irrwegen bewahren möchten. Darum sprechen auch so viele dieser Sprüche von Dingen, vor denen wir uns in Acht nehmen sollen, damit wir unser Lebensziel nicht verfehlen. Unser Lebensziel? Angelus Silesius würde antworten: Dein Lebensziel ist, den zu lieben, der dich geschaffen hat, der dich erlöst hat und der dich ewig liebt. Ja, IHN von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller deiner Kraft zu lieben und nicht fremdzugehen, dazu bist du berufen. So können wir die Sprüche des Cherubinischen Wandersmannes auch als eine lebenslang zu besuchende Schule der Gottesliebe bezeichnen. Was wir in dieser Liebesschule lernen können und sollen, ist nicht totes Wissen, sondern alles das, was aufrichtige Liebe so kostbar macht, was den Liebenden und den Geliebten eins werden lässt, sodass sie nichts mehr trennen kann. Es geht um die immer neu zu ma15
chende Erfahrung: Du bist, was du liebst. Liebst du, was tot ist, dann bist du des Todes. Liebst du, was vergänglich ist, dann musst du selbst vergehen. Liebst du aber, was ewig bleibt, dann hast du Teil an Gottes Ewigkeit. Das ist eine überaus köstliche, eine wahrhaft beglückende und beseligende Botschaft. Man kann von ihr schlecht in trockener, gefühlloser Prosa reden. Aber ihr dichtend die ihr angemessene Sprachgestalt geben, sie besingen, sie musizieren, ihr in tänzerischer Freude Ausdruck verleihen – das ist sehr wohl möglich und angemessen. Singen und spielen – so muss es sein! Die schöne, die angemessene Gestalt aber entsteht meistens gerade da, wo die äußeren Voraussetzungen eher miserabel scheinen. Darum ist es gut, wenn wir uns durch die zerrissene Persönlichkeit des Cherubinischen Wandersmanns nicht abschrecken lassen. Tragen wir nicht selber unseren größten Schatz in zerbrechlichen Tongefäßen (2. Korinther 4,7)? Dieser Schatz aber übersteigt alles, was unser begrenzter Verstand sich vorstellen kann. Er ist einfach zu wunderbar, zu schön, zu kostbar, zu süß.
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Kleine Herzen – große Gaben Gott, weil er groß ist, gibt am liebsten große Gaben. Ach, dass wir Armen nur so kleine Herzen haben! Auch von diesem kleinen Zweizeiler gilt: Es handelt sich hier nicht um Lernstoff; der Dichter will nicht Wissen vermitteln. Er gibt auch nicht den Denkanstoß, auf den heute so mancher Prediger in fataler Bescheidenheit die biblische Botschaft reduziert. Dieser Zweizeiler ist ein Weckruf oder, wie wir es auch ausdrücken können, ein Lockruf, ein Lockruf des wahren Lebens, ein Lockruf zur Freiheit, zur Echtheit und Wahrhaftigkeit. Angelus Silesius möchte den Leser auf etwas aufmerksam machen, was normalerweise übersehen wird, und zwar gerade von den Wissenden, den „Weisen dieser Welt“. Und was ist es, was wir so leicht übersehen oder überhören? – Der merkwürdige Zusammenklang von jubelnder Gottesfreude mit einer unbeschreiblichen tiefen Traurigkeit. Eine zunächst sehr unangenehm klingende Dissonanz sollen wir wahrnehmen, einen scheinbaren Missklang, der sich immer da einstellt, wo die wahre Freude uns ergreift. Denn wahre Freude ist nicht Comedyhumor, sondern Jubel, der die Traurigkeit gleichsam als Gütesiegel und Echtheitskriterium bei sich hat. Viele Leser werden den Text als vierstimmigen Kanon kennen und singen können. Wer den Kanon einmal selbst dirigiert hat, weiß, man muss ihn hoch anstim17
men. Und kräftig: Das erste Wort, Gott, ist als einziges in diesem Kanon mit drei Achteln notiert. Aber im zweiten Teil scheint die Melodie in einen dunklen Abgrund zu stürzen. Ausgerechnet bei der Silbe Her-(zen) erreicht sie ihren tiefsten Punkt. Aber Höhe und Tiefe, Helligkeit und Dunkel, Freude und Trauer fügen sich in diesem Kanon zu einem wunderbaren Klang. Sie brauchen sich gegenseitig, können eines nicht ohne das andere sein und halten sich so die Balance. Es ist nicht leicht, diese Dissonanz auszuhalten. Wir hätten gerne eine leichtere Freude, einen reineren Jubel, eine Heiterkeit, der keine Erdenschwere mehr anhaftet. Aber eine Freude, bei der wir uns an der Wahrheit vorbeimogeln, ist Selbstbetrug. Solange wir als Menschen auf dieser Erde leben, wird immer dieses Missverhältnis da sein zwischen Gottes großen Gaben und unseren kleinen Herzen. Und wer im Glauben wächst, wird im Lauf der Jahre für dieses Missverhältnis eher immer sensibler werden und nicht an einen Punkt kommen, wo er es als Bagatelle abtun könnte. Ja, Gott und Gottes Gaben sind größer als unser Herz – Gott sei Dank! Nicht unser oft so ängstliches Fühlen und unser begrenztes Fassungsvermögen sind der Maßstab, sondern Gottes großes Herz, der Quellort aller guten Gaben. Unsere kleinen Herzen? Was heißt das? Wir können es auch so umschreiben: Wir sind kleinmütig, kleingläubig, kleingeistig, vielleicht auch schlichtweg kleinkariert. Wir trauen Gott nicht viel zu, wir erwarten wenig vom Leben. Und darum unterschätzen wir Gott immer wieder, zwängen seine un18
endlich weite Ewigkeit in unsere engen Schemata und versäumen so den Reichtum seiner Gaben. Und doch redet Angelus Silesius nicht dem Missmut das Wort oder der Depression oder der Selbstverachtung oder gar dem Ekel an der eigenen Person. Die Traurigkeit, zu der uns sein Spruch erwecken möchte, ist nicht die „Traurigkeit der Welt“, vor der Paulus mit Recht warnt (2. Korinther 7,10), sondern die „göttliche Traurigkeit“, die Traurigkeit, die selbst eine der größten Gaben Gottes ist. Was unterscheidet die göttliche Traurigkeit von jeder neurotischen Verstimmung? Diese Traurigkeit ist die Kehrseite aller echten Freude und von ihr genauso wenig zu trennen, wie sich ja auch die Vorderseite einer Münze nicht von ihrer Rückseite lösen lässt. Die „Unfähigkeit zu trauern“ ist verrückterweise immer gleichzeitig die Unfähigkeit zur Freude! Und umgekehrt gilt: Niemand ist fröhlicher als derjenige, dem das Missverhältnis zwischen Gabe und Gefäß, zwischen Gott und Menschenherz, schmerzlich bewusst ist. So lädt uns der Zweizeiler zu einer paradoxen Übung ein: Wir sollen uns einüben in eine höchst traurige Freude, in eine über alle Maßen fröhliche Traurigkeit, und die wahre Gottesfreude wird der Lohn unseres Übens sein.
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