Regina Rosenkranz: Ein kleiner weißer Zettel

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Regina Rosenkranz

Ein kleiner weisser Zettel Fabian hatte mich schon vor Tagen um ein schönes Bild seines Opas gebeten. Darum muss ich mich aber heute gleich kümmern, ging es mir durch den Kopf, schließlich möchte auch ich mit meinen Fragen und Bitten in der Familie ernst genommen werden. Nachdem ich schon einige digitale Fotoordner durchforstet hatte, saß ich – mit Fotoalben um mich herum und einer Schachtel auf dem Schoß – auf dem Wohnzimmerteppich und schaute mir Papierbilder an. „Was veranstaltest du denn da?“, fragte mein Sohn, kaum dass er den Kopf zur Tür hereingesteckt hatte. „Ach, ich suche ein gutes Foto von Opi. Das hatte ich dir doch versprochen.“ „Ach, Mam“, meinte Fabian, „das hab ich doch längst. Hängt in meinem Zimmer.“ Sprach’s und verschwand in die Küche. Okay?! Nun verrate ich kein Geheimnis, wenn ich sage, dass ich neugierig bin. Und dieser Begierde musste ich jetzt unbedingt nachgehen. „Darf ich“, fragte ich noch in Richtung Küche, schon mit der Hand an der Türklinke. „Klar. Ich bin gespannt, ob du es findest“, fügte mein Sohn tatsächlich noch hinzu. Ich weiß, er hält mich öfters für retro, aber ich werde ja wohl ein Bild meines Vaters 52


finden! Als ich in seinem Zimmer stand, suchte ich die Wände ab. Es lag nicht am häufig beanstandeten Chaos in diesem Raum – ich konnte das Bild einfach nicht finden. Fabian trat hinter mich und amüsierte sich über meine Verwirrung. „Siehst du es wirklich nicht? Schau doch mal überm Schreibtisch.“ Mensch, klar! Das war ein passendes Bild meines Papas! Sie werden gleich verstehen, warum ich es nicht auf den ersten Blick entdecken konnte. Fabian hatte eine ungelenke Bleistiftzeichnung auf einem kleinen weißen Zettel mit Tesa an der Wand befestigt. „Opi, Weihnachten 2009“ las ich als Notiz darunter. Und plötzlich stand dieser Weihnachtsabend wieder ganz deutlich vor meinen Augen. Wie meistens feierten wir auch in jenem Jahr das Weihnachtsfest bei meinen Eltern. Zur Weihnachtstradition gehörte neben dem Kirchgang an den Feiertagen und dem Fondue-Essen am Heiligabend seit vielen Jahren schon unser Activity-Spieleabend. Mein Mann und ich hatten dieses Gesellschaftsspiel bei den Eltern eingeführt, bei dem man einen Begriff – je nach Spielfeld, auf das man gelangt – pantomimisch oder zeichnerisch darstellen oder erklären musste. Und kaum war unser Sohn ein Dreikäsehoch, machte er eifrig mit und unterhielt die ganze Familie in den Pausen mit seinen eigenen Ratekompositionen. Wir haben immer sehr viel gelacht bei diesem Spiel. Während es meiner Mutter beim Erklären schwerfiel, ihre Hände ruhig zu halten, entschlüpfte ihr bei den Pantomi53


men gar manches Mal ein Hinweiswort. Aber am schönsten war das Activity-Spiel mit meinem Papa, der anfangs gar nicht mitmachen wollte, sich dann aber doch von uns breitschlagen ließ und mit Begeisterung und Ernsthaftigkeit bei der Sache war. Mein Vater war ein guter Rechner, allerdings ­gehörte das Zeichnen nicht unbedingt zu seinen Fähigkeiten. Deshalb hatte es das Rateteam rund um Papa bei Activity nicht leicht, seine Bilder zu erkennen. Er malte entweder etwas winzig Kleines auf den Zeichenblock oder er überlegte so lange, dass seinem Rateteam die Zeit nicht reichte. Und nun also war er an besagtem Weihnachtsabend 2009 mit der Kategorie „Zeichnen“ dran. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit las er die K ­ arte kurz, legte sie kopfüber auf den Tisch, murmelte noch „Das ist ganz einfach“ und malte dann ein enorm breites, schuhähnliches Gebilde. Die klobige Spitze des Schuhs zeigte nach rechts, ein angedeuteter Schnürsenkel hing lose herab. Schwups, noch drei Striche von oben nach unten, die den Schuh teilten. Er blickte stolz auf, war mit seiner Darstellung zufrieden und außerdem noch in der Hälfte der Zeit fertig geworden. Jetzt wartete er auf die richtige Antwort seines Teams. Wir als gegnerische Mannschaft waren natürlich neugierig, was er da für einen Begriff darzustellen hatte. Einer nach dem anderen schaute auf das Begriffskärtchen und dann lachten wir Tränen. Wir wussten, das raten die nie! Ich sehe Fabian noch lachend auf den Boden sinken und auch ich konnte mich kaum noch einkriegen. 54


In der Mitte saß Papa in stoischer Ruhe und erklärte (die anderen hatten es natürlich nicht erraten!) seine Zeichnung: Der klobige Stiefel war Italien und die drei Striche, die den Stiefel durchtrennten, das Mittelmeer – das war der Begriff. Diese Zeichnung vom Mittelmeer hatte sich Fabian aus der Activity-Box herausgesucht, wo besondere Zeichnungen aufgehoben waren, und als Erinnerungsbild an seinen Opa aufgehängt. Ich dachte: Wie recht er hat! Dieses Bild war so typisch für meinen Papa. Da brauchte ich gar nicht weiter in Foto­ kisten zu wühlen. Während ich mir das Bild in F ­ abians Zimmer anschaute, wurde mir klar, was für ein Geschenk uns dieser Nichtzeichner da hinterlassen hatte. Er ­schenkte uns nicht nur diese kleine Zeichnung, er machte mit und malte, obwohl er es eigentlich nicht konnte. Er ließ sich nicht beirren durch unser Lachen. Er war und blieb er selbst, war mittendrin und mitten unter uns. Mir sagt das: Du kannst dich nicht lächerlich machen. Auch wenn du etwas nicht gut kannst, sei du selbst und bleib authentisch – und alles ist gut. Vier Jahre später wollte Papa das erste Mal W ­ eihnachten nicht mehr mitspielen. Er meinte, er sei zu müde, und schaute uns vom Sessel aus zu. Im Jahr darauf stand sein Pflegebett im Weihnachtszimmer. Und noch ein Jahr ­später kam das erste Weihnachten ohne ihn. Doch auch in der Trauer hielten wir an der Tradition fest: Kirchgang, Fondue und Spiele. „Aber kein Activity“, meinte Fabian, „das passt einfach nicht mehr.“ 55


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