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Einleitung

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Vorwort

Vorwort

Wenn wir heute an die Architektur der 1920erJahre denken, denken wir an das Neue Bauen, an das Bauhaus, an Architekten wie Walter Gropius, Mies van der Rohe, Le Corbusier oder Adolf Loos. Wir denken an weiße Flachdachbauten, fließende Grundrisse, Dachgärten, Industrieästhetik und Stahlrohrmöbel. Wir denken vielleicht auch an die Experimente der de StijlGruppe in den Niederlanden, an die der Konstruktivisten in Russland und sehr wahrscheinlich auch noch an den Expressionismus. Eventuell kommen uns auch noch die französischen oder amerikanischen Art DécoArchitekturen in den Sinn. Eher selten aber assoziieren wir im Zusammenhang mit den 1920er Jahren vermutlich all das, was sich unter dem Stichwort „Konservative Moderne“ subsummieren ließe, obwohl es den übermächtigen Löwenanteil dessen ausmacht, was damals mit und ohne explizite Beteiligung der Architektenschaft gebaut worden ist. Möglicherweise denken wir noch an einzelne prominentere Vertreter, wie die der Stuttgarter Schule. Was aber ist mit all den anderen, nicht explizit herausragenden Werken, die ebenfalls in der Zeit entstanden sind und sich gedanklich kaum mit den 1920ern in Verbindung bringen lassen? Sie stehen im Schatten der wenigen Leuchtturmprojekte, die heute für uns die Architektur der 1920erJahre ausmachen.

Ich frage mich, woran man sich in 50, 75, 100 Jahren erinnern wird, wenn es um die Architektur der 2020erJahre geht. Was wird von unserer gegenwärtigen Baukultur bleiben? Werden es die allgegenwärtigen Fertighäuser und Investorenarchitekturen sein, die unter maximalem Individualitätsversprechen modular konfiguriert werden können und dafür sorgen, dass einem beim Durchwandern dieser Neubausiedlungen immer das Gefühl beschleicht, gerade ein Déjàvu zu haben? Sehr wahrscheinlich wird es nicht das sein, was kommende Generationen mit unserer Baukultur assoziieren. Vielmehr ist zu erwarten, dass das bleiben wird, was heute Eingang in die Architekturmagazine, Jahrbücher oder „Häuser des Jahres“Bände, wie den hier vorliegenden, findet. Anfang der 2020erJahre, so könnte das Urteil derjenigen lauten, die in 50, 75 oder 100 Jahren das vorliegende Buch in den Händen halten, war der Holzbau die dominierende Bauweise, aber auch klassische Betonbauten lebten fort. Zu den übergeordneten Themen, die sich ableiten lassen, gehören das Bauen im Bestand und die Transformation von Bestandsbauten, was vermutlich als einhergehend mit dem erwachenden Nachhaltigkeitsbewusstsein des Bausektors im Angesicht der Fahrt aufnehmenden Klimaerwärmung gewertet wird, für die, wie man weiß, Anfang der 2000erJahre erstmals ein umfassenderes Bewusstsein entstand.

Vergessen sein werden die maximal versiegelten Fertighaussiedlungen mit ihren immer gleichen Bautypen – wahlweise mit oder ohne Säulen, mit Zeltdach in Weiß (mediterran), Ocker (toskanisch) oder Weißklinker (niederländisch), mit verstärkten Ecken (Typ Villa), tief gezogenem Walmdach (Typ Landhaus), Doppelturmfassade (Typ Schloss) oder Flachdach (Typ Bauhaus). Für Unglauben und Belustigung werden wahrscheinlich auch Überlieferungen sorgen, die von heute gängigen Moden – wie Schottergärten, in denen maximal beschnittener Buchsbaum (mit Vorliebe auch in der pflegeleichten Kunststoffvariante) und geschmackvolle Fototapetenzäune, mit aufgedruckten Holzzäunen, Steinmauern, Gabionen, Hecken oder ganzen Gartenansichten – berichten. Ich stelle mir immer wieder die Frage, was kommende Generationen in ferner Zukunft für Rückschlüsse auf unsere gegenwärtige (Bau)Kultur ziehen werden, sollten sie eines Tages eine solche Siedlung ausgraben. Da in den meisten Siedlungen nicht nur ein und derselbe Fertighaustyp in leichten Abwandlungen seriell wiederholt wird, sondern offensichtlich auch das Weiterreichen von Gartengestalterinnen und gestaltern von einem Nachbarn zum nächsten Usus ist, werden sie in vielen Siedlungen unweigerlich zum Schluss kommen, dass eine limitierte Auswahl von Standardgrundrisstypen zur Wahl stand, und eine Gestaltungssatzung vorsah, dass zumindest straßenseitig maximale Sterilität und Reduktion vorgesehen waren. Anhand der Grabungsbefunde dürfte sich zudem recht gut das umfangreiche Angebotssortiment von Bauund Gartenmärkten rekonstruieren lassen in Bezug auf Vordächer, Windfänge, Briefkästen und andere dekorative Elemente.

Ich stelle mir immer wieder die Frage, was kommende Generationen in ferner Zukunft für Rückschlüsse auf unsere gegenwärtige (Bau)Kultur ziehen werden, sollten sie eines Tages eine solche Siedlung ausgraben.

Aber zurück zu den Einreichungen, vor denen wir als Jury stehen: Eine ist qualitativ hochwertiger als die andere. Die Entscheidung ist nicht einfach – welche der abgebildeten Architekturen überzeugt noch mehr als die anderen? Ich schweife schon wieder ab. Wie gern würde ich genau diesen Gedanken hin und wieder in einer klassischen EinfamilienhausNeubausiedlung formulieren. Wie interessant und aufregend könnte das Flanieren durch unsere Stadtränder sein, wenn zumindest Teile der Siedlungen von Architektinnen und Architekten gestaltet würden und in ähnlicher Weise meine Aufmerksamkeit fesselten? Seit nunmehr 21 Jahren durchstreife ich Deutschlands Städte – insbesondere auch die Privathaussiedlungen – und dokumentiere die baukulturelle Realität, wobei insbesondere das untere Ende der architektonischen Fahnenstange, die sogenannten Bausünden in meinem Fokus stehen. In Ermangelung guter Architektur in den Siedlungen habe ich die „hässlichen Entlein“, die aus der Reihe tanzen, weil sie extravagant gestaltet, überformt oder dekoriert wurden, zu schätzen gelernt. Diese liebevoll gestalteten Exzesse, die die Lebensträume, Wohnwünsche und manchmal auch Hobbys ihrer Bewohnerinnen und Bewohner zum Ausdruck bringen, übernehmen die Aufgabe, die eigentlich den gut gestalteten Werken von Architektinnen und Architekten gebühren sollte: die Spazierengehenden zu unterhalten, für Abwechslung zu sorgen, dem Auge hin und wieder Halt zu geben. Nach knapp 1.500 publizierten „Bausünden“, über die ich im Laufe der Jahre zufällig auf meinen Streifzügen durch deutsche Städte und Ortschaften gestolpert bin, muss ich die bittere Bilanz ziehen, dass ich nicht einmal ansatzweise eine Publikation füllen könnte mit guten oder gar sehr guten Einfamilienhäusern. Es fällt mir schwer zu beziffern, wie viele qualitativ hochwertige Bauten mir zufällig auf diese Weise begegnet sind. Sind es 15 oder 25 Beispiele? Ich befürchte, es sind eher 15 – ich weiß es aber nicht genau. Eine wirklich lebhafte Erinnerung habe ich nur an vier Gebäude – sie stehen meinen 1.500 publizierten und den tausenden unveröffentlichten Fundstücken gegenüber, die ich zusammengetragen habe. Wenn mir auf meinen Streifzügen tatsächlich zufällig gute Architektur begegnet, stammt sie meistens aus den 1950erJahren – manchmal auch noch aus den 1960ern und seltener aus den darauffolgenden Dekaden. Nur äußerst selten handelt es sich um überzeugende Beispiele der Gegenwartsarchitektur. Selbstverständlich weiß ich, wie ich diese finden könnte – ich müsste ja nur einen Blick in die Architekturmagazine und die „Häuser des Jahres“Bücher werfen, in denen sie liebevoll dokumentiert werden. Warum ich sie nicht auf meinen zufälligen Streifzügen finde, wird mir mit Blick auf die eingereichten Beiträge

klar. Die wenigsten von ihnen stehen in einer Siedlung – zumindest erscheint es so auf den meisten Abbildungen. Die Einfamilienhäuser stehen im Wald, am See, in den Bergen, in idyllischer Landschaft (das zumindest vermitteln die Fotografien). Und meistens haben sie Platz um sich herum.

In den üblichen Neubaugebieten ist Platz dagegen Mangelware. Die Wohnhäuser – in der Regel sind sie viel zu voluminös für die handtuchgroßen Grundstücksflächen – stehen dicht aneinander gemetert, sodass rechts und links in der Regel nur ein schmaler Streifen Abstandsgrün entsteht, der allerding nur noch in Ausnahmefällen, sofern es sich nicht um Kunstrasen handelt, grün ist. Die eingereichten Beiträge zeigen unmissverständlich, wie schön es sein könnte, wenn sich die Architektinnen und Architekten das Feld des Einfamilienhauses zurückerobern würden und nicht erst im Rückblick in 50, 75 oder 100 Jahren, sondern schon in der Gegenwart unsere Baukultur deutlich sichtbarer mitprägen könnten. Es sollten alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, um das zu ermöglichen! Der Erfolg der Bauindustrie liegt in der Bezahlbarkeit der Fertighäuser durch die große Menge – daran besteht kein Zweifel. Aber es würde sich lohnen, nach preisgünstigen Alternativen zu suchen. Wie wäre es beispielsweise, wenn begabte Absolventinnen und Absolventen der Architekturstudiengänge unmittelbar nach ihrem Studium zu sehr günstigen Tarifen (das Einstiegsgehalt in den Architekturbüros ist ebenfalls nicht gut) an Bauherren vermittelt würden und – ggfls. beraten von erfahrenen Architektinnen und Architekten – im Niedrigpreissegment

Die eingereichten Beiträge zeigen unmissverständlich, wie schön es sein könnte, wenn sich die Architektinnen und Architekten das Feld des Einfamilienhauses zurückerobern würden und nicht erst im Rückblick in 50, 75 oder 100 Jahren, sondern schon in der Gegenwart unsere Baukultur deutlich sichtbarer mitprägen könnten.

individuelle Lösungen erarbeiten würden? Als eine Art Gesellenstück? Vielleicht wäre es sogar ein Modell der Bauindustrie, junge Absolventinnen und Absolventen zu engagieren für limitierte Serienentwürfe. Die Tiroler Supermarktkette MPreis macht es seit 30 Jahren vor, wie es gelingen kann, günstig individuelle, qualitativ hochwertige Baukultur hervorzubringen. Und auch in diesem Fall lohnt der Blick zurück in die 1920erJahre: In Städten wie Berlin, Hamburg, Frankfurt am Main, Magdeburg oder Karlsruhe ist es mithilfe prominenter Architekten gelungen, innovativen Siedlungsbau herzvorzubringen, in denen die Einheit in der Vielheit zum Programm gemacht wurde. Ein Architekt wie Bruno Taut hat allein in Berlin 12.000 Wohnungen gebaut, von denen viele heute unter Denkmalschutz stehen und etliche sogar den WeltkulturerbeStatus tragen. Es wäre zu schön, wenn sich die Architektinnen und Architekten den Privathausbau großflächig zurückerobern würden und ihre Werke nicht erst im Rückblick – in 50, 75 oder 100 Jahren – für unsere gegenwärtige Baukultur stehen, sondern schon heute.

Dr. Turit Fröbe ist freie Autorin und Gründerin der Stadtdenkerei, mit der sie unkonventionelle Vermittlungsstrategien entwickelt und über Baukulturelle Bildung forscht. Als Architekturhistorikerin, Urbanistin und passionierte Baukulturvermittlerin interessiert sie sich nicht nur für das Herausragende und Besondere, sondern genauso für das Alltägliche und Sperrige.

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