Tel Aviv Photo Series

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Wacht auf! 46

Protestcamp auf dem Rothschild Boulevard im Zentrum Tel Avivs

In Tel Aviv ist der Ausnahmezustand Alltag. Doch jetzt geht auch die Kunstszene der Stadt auf die Straße. Sebastian Frenzel hat Künstler und Kuratoren getroffen – sie alle träumen vom großen Aufbruch fotos eyal dinar

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Yehudit Sasportas vor ihrem Atelier im Süden Tel Avivs. Rechts: Protestplakat auf dem Rothschild Boulevard

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n der amerikanischen Fernsehserie „Mad Men“ kommt es zu einem Treffen zwischen den Bossen von Lucky Strike und Don Draper, dem Chef ihrer Werbeagentur. Die Gesundheitsbehörden haben soeben Studien über die Gefahren des Rauchens veröffentlicht, der Konzern will mit einer neuen Kampagne gegensteuern. Draper präsentiert den Claim: „Lucky Strike. It’s toasted.“ Die Bosse verstehen nicht. „Toasted“, geröstet, sei doch der Tabak jeder Marke. Nein, sagt Don Draper, alle anderen Zigaretten sind gesundheitsgefährdend. Langsam beginnen die Lucky-Strike-Leute zu verstehen: Wenn du die Debatte nicht lösen kannst, ändere das Thema. Die Szene kommt in der kleinen Runde vor einer Bar in den Altstadtgassen Tel AvivJaffas auf, als es darum geht, zu erklären, was in Israel gerade vor sich geht. Am Tisch sitzen die Kunst- und Literaturredakteure

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der Tageszeitung „Haaretz“, eine junge Galeristin und eine Moderatorin des Militärrundfunks. Wir wollen über Kunst sprechen, sind aber dann doch wieder bei der Politik gelandet, anders scheint es dieser Tage nicht möglich zu sein. Das Land, vor allem Tel Aviv, hat einen außergewöhnlichen Protestsommer hinter sich. Darin sind sich die Kulturschaffenden so einig wie die Taxifahrer und der Mann vom Spätkauf, unter dessen Tresen ein Porno läuft. Nur wofür, wogegen oder von wem da eigentlich demonstriert wird, kann keiner genau sagen. So vielfältig ist die Bewegung, dass sie nicht einmal einen Namen oder eine Farbe hat. „Strudel-Revolution“ wird in der Bar vorgeschlagen. Strudel sagen sie zum @-Zeichen, und in den sozialen Netzwerken hat der Widerstand ja begonnen. Mitte Juli hinterließ die 25-Jährige Daphni Leef auf ihrer Facebook-Seite einen Appell: Ihr Vermieter habe die Preise erhöht, sie werde auf dem Rothschild Boulevard im Zentrum Tel Avivs ein Protestzelt errichten, ob irgendwer mit-

mache. Erst waren es ein paar Dutzend, dann Hunderte, schließlich Zehntausende. Anfangs ging es gegen horrende Miet- und Lebensmittelpreise, dann um Sozialpolitik, am Ende um nichts weniger als ein besseres Leben, das sie im allabendlichen Festival aus Konzerten, Lesungen und Diskussionsrunden schon mal ausprobierten.

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uch die Friedensaktivisten haben ihren Bereich auf dem von Bauhaus-Villen gesäumten Boulevard, und die Siedler aus der Westbank propagieren ihre Vorstellung, wo billiger Wohnraum zu holen sei. Doch das ist nicht ihr Protest. Diesmal geht es nicht um links oder rechts, orthodox oder säkular. „Hört auf, Klischees zu reproduzieren“, steht auf einem Banner, „Die schweigende Mehrheit erwacht“, auf einem anderen. Und immer wieder ist von „change“ die Rede. „Change“ bedeutet für die Demonstranten, was für Don Draper „toasted“ war: ein Slogan, auf den sich alle einigen können. Risi49


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ken und Nebenwirkungen bleiben zunächst ausgeblendet. Im Grunde sei Israel eben „a complicated country“. Das antworten sie auf die Fragen, welche Forderungen die Bewegung habe, wie es politisch weitergehe, wie die Reaktion ausfiele, würden die Palästinenser Ende September einen eigenen Staat ausrufen, und ob die Amerikaner oder die Europäer mehr oder weniger Einfluss haben sollten. „Israel ist ein kompliziertes Land“, sagt auch Yehudit Sasportas. „Versuch nicht, es zu verstehen. Weil du dann keinen Spaß haben wirst. Und weil du es sowieso nicht schaffst.“ Die 41-Jährige, eine der renommiertesten israelischen Gegenwartskünstlerinnen mit Zweitwohnsitz Berlin, hat das Alcalai Café im Norden Tel Avivs als Treffpunkt gewählt. Ein paar Schritte weiter liegt der Independence Park, in den Sasportas jeden Samstag zum Meditieren geht, eine der wenigen Oasen dieser smogverpesteten, lauten, klebrigen Stadt, in der offenbar die ganze Welt zusammenkommt, jüdische Russen und Marokkaner, Franzosen und Argentinier. Vom Park aus schaut man auf den kilometerlangen Sandstrand. Rechts liegt der Bereich für orthodox-gläubige Frauen, abgeschirmt durch ein Bollwerk aus Beton und Holz. Daneben der Schwulenstrand, an dem auch Hunde erlaubt sind, ein Stück weiter der Hilton Beach, der jede Nacht zum Technoclub wird. Im Süden ragt der Felsen des alten arabischen Jaffa ins Mittelmeer, und dahinter beginnt irgendwann der Gazastreifen.

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ine einheitliche Perspektive zu haben ist unmöglich“, sagt Yehudit Sasportas. „150 Standpunkte brächten dich vielleicht der Wahrheit näher. Das liegt an der Struktur und Geschichte des Landes, und es führt dazu, dass nichts in Harmonie verläuft.“ Im Moment jedoch fühle sich Israel ganz gut an. „300 000 Menschen auf der Straße, jeder ruft einen anderen Slogan, aber wir sind zusammen! Das ist fast schon zu gut.“ Ihre Sicht ist klar eine künstlerische. Sasportas wurde bekannt mit großformatigen Zeichnungen, es muss sich dabei um psychogeografische Ausschläge handeln, wenn sie jetzt von der „Matrix der Gesellschaft“ spricht, von Meridianen und Achsen. „Was gerade passiert, ähnelt der Lage in Ägyp50

ten oder Tunesien. Die Oberfläche ist anders, aber die Schichten darunter sind die gleichen. Ich glaube, dass wir mehr denn je Mut brauchen. Kunst zu machen meint jetzt einen ethischen Job.“ Sichtbarer Teil des Aufstands sind die Künstler spätestens Mitte August geworden, als eine Gruppe namens The Invisible Hand auf dem Rothschild Boulevard eine Guillotine errichtete, ein Werk des Bildhauers Ariel Kleiner. Tags darauf besetzten Künstler und Kritiker das Tel Aviv Museum of Art und eroberten damit eine Bühne, die ihnen bislang zu oft verwehrt bleibt. An kreativer Energie mangelt es der Stadt bestimmt nicht, aber gerade die junge Szene leidet nicht nur unter finanziellem Druck, sie fühlt sich auch von den Institutionen nicht repräsentiert. Die Galerien, rund 60, können die Lücke nicht schließen. „Die Museen vergeuden eine riesige Chance“, sagt die Galeristin Irit Sommer. „Wenn Künstler überhaupt eingeladen werden, dann zu Preisausstellungen oder weil gerade von irgendwoher eine Spende kam. Doch es gibt keine Kontinuität.“ 1999 zog Sommer von der Schweiz nach Tel Aviv, die

Es stimme, dass man in Tel Aviv kaum Ausstellungsmöglichkeiten habe, sagt Yehudit Sasportas. „Und trotzdem leben so viele Künstler hier, weil dies ein so inspirierender Ort ist. Es gibt keine feste Basis für Kommunikation, sondern ständig neue Brüche, und die interessieren mich. Konflikt ist der Normalzustand, was dich sehr neurotisch machen kann, was aber auch gut ist, weil es dich frisch hält als Künstler: Sobald du eine Form gefunden hast, musst du sie schon wieder verwerfen“ Hinter einem Bretterzaun liegt der Bereich für orthodox-gläubige Frauen an Tel Avivs Strand. Rechts: Sigalit Landau „Barbed Hula“, 2000


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ersten Jahre seien Pionierarbeit in Sachen Professionalisierung und Vernetzung gewesen, verkauft habe sie anfangs fast nur ins Ausland. Es nerve, dass internationale Kuratoren immer politische Arbeiten erwarteten. Aber natürlich: Der Nahostkonflikt ist stets präsent. „Zwölf Jahre Galerie, vier Kriege. Abgesehen von den persönlichen Verlusten bedeutet das: keine Kunstwerke aussenden können, keine Messeteilnahmen. Ausnahmezustand.“ Sommer vertritt 30 Künstler, darunter 18 Israelis, als Tendenzen sieht sie eine neue, explizit nicht politische Malerei sowie Videos und Fotografien, die den Nahostkonflikt in einer Mischung aus Dokumentation und Fiktion behandeln. Vieles davon ist anschlussfähig an Arbeiten, wie man sie aus dem Libanon, Iran oder den nordafrikanischen Ländern kennt, gut möglich, dass eine Gruppenausstellung „Tel Aviv–Beirut“ eine ganze Biennalesaison in den Schatten stellen würde. Aber dazu wird es in absehbarer Zeit nicht kommen. Abseits der Einreisebestimmungen: Die Teilnahme eines libanesischen Künstlers an einer Schau in Israel würde einem Todesurteil gleichkommen.

Isolation, Provinzialität, Krieg: Viele der bekanntesten israelischen Künstler haben das Land verlassen. Von einer öffentlichen Unterstützung der Künste wie in Deutschland könne man nur träumen, sagt Shuli Kislev, kommissarische Direktorin des Tel Aviv Museum of Art. Mit dem Neubau ihres Hauses soll der kreativen Szene endlich eine Plattform gegeben werden

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solation, Provinzialität, Krieg: Themen, die eine Künstlerin wie Sigalit Landau, die den israelischen Pavillon der diesjährigen Venedig-Biennale bespielt, offensiv angeht. Und Gründe, warum viele andere, Omer Fast etwa, Keren Cytter, Mika Rottenberg, Ariel Schlesinger oder Yael Bartana, ihr Land verlassen haben. Die geblieben sind, sehen jetzt die Zeit für wirkliche Veränderung gekommen, sie fordern Unterstützung und konkret Mitbestimmung bei der Ausrichtung der wichtigsten Ausstellungsplattform ihrer Stadt.

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Yehudit Sasportas „The Lightworkers“, 2010, Filminstallation mit Ton, projiziert auf eine mittelgraue Oberfläche. Unten: Der Neubau des Tel Aviv Museum of Art

Das Tel Aviv Museum of Art befindet sich in einer Umbruchphase. Ende Oktober eröffnet das 1932 gegründete Haus einen Erweiterungsbau, das Herta and Paul Amir Building. Gefragte Büros wie Sanaa hatten Vorschläge geliefert, doch am Ende entschied man sich für einen scheinbar zurückhaltenden Entwurf des Büros Preston Scott Cohen. Der dreieckige, mit einer Fassade aus Betonpaneelen bestückte Bau schließt an die modernistische Nüchternheit seiner Umgebung an, im Inneren erwartet die Besucher allerdings ein spektakulärer, knapp 30 Meter tiefer Lichthof, um den sich die einzelnen Galerien gruppieren. Die Struktur erinnert an das Guggenheim in New York, nur dass der Hof nicht rund ist, sondern kantig, und wunderbare Sichtachsen durch die fünf Stockwerke wirft. Auch konzeptuell soll Neuland betreten werden. Die drei Hauptgalerien geben erstmals einen kohärenten Überblick über die israelische Kunst, deren Anfangszeit hier mit der Gründung der Bezalel-Kunstschule 1906 angesetzt wird. Dazu kommen eine eigene Fotoabteilung und ein Raum für Design. Zum Glück verzichtet man dabei auf den üblichen Mies-Jacobsen-Sottsass-Querschnitt und lässt stattdessen Yaacov Kaufman, den angesehensten Designer Israels, die Wände mit Variationen einfacher Grundformen wie einem Ring oder einer Schüssel bestücken. Das Gebäude wird Maßstäbe setzen in dieser Stadt, die seit den Bauhaus-Jahren mit architektonischen Prachtstücken nicht gesegnet wurde. Die weitläufige Halle im Untergeschoss, die Wechselausstellungen zeitgenössischer Künstler vorbehalten ist, legt auch das etwas provinzielle Image ab: Anselm Kiefer füllt den 300 Quadratmeter großen Raum zum Auftakt mit einer Schiefer-Bibliothek,

es folgen Einzelpräsentationen von Douglas Gordon und Peter Greenaway. Offen bleibt, wer das Haus künftig leitet – der langjährige Direktor Mordechai Omer starb vor ein paar Monaten überraschend. Die widerständigen Künstler werfen dem Museumskuratorium autoritären Herrschaftsstil und Realitätsferne vor. In dem Komitee, das über die Nachfolge Omers entscheidet, seien weder Künstler noch Kuratoren vertreten, das Museum, sagt der Kritiker Yonatan Amir, wandle sich von einer öffentlichen Institution zum privaten Spielplatz der Reichen und Sammler. Shuli Kislev, kommissarische Direktorin des Museums, weist solche Vorwürfe zurück, sagt aber auch, dass von einer öffentlichen Unterstützung der Künste wie in Deutschland nur zu träumen sei. Ein Museumsleiter in Israel sei immer auch Fundraiser, nur ein Drittel des Etats komme von der Stadt, der Neubau sei ebenfalls nur dank einer Zehn-Millionen-Dollar-Spende des kalifornischen Sammlerpaars Amir mög-

lich gewesen. „Und selbst solche Mäzene gibt es selten, denn gerade die Amerikaner geben ihr Geld lieber dem Israel Museum in Jerusalem mit seiner Sammlung alter judäischer Kunst. Die zeitgenössische hat es viel schwerer, Unterstützer zu finden.“ Es stimme, dass Tel Aviv kaum Ausstellungsmöglichkeiten biete, auch gebe es praktisch keinen Kunstmarkt, sagt Yehudit Sasportas. „Und trotzdem leben so viele Künstler hier, weil dies ein so inspirierender Ort ist. Wir sitzen jetzt da und reden, aber du musst dir vorstellen, dass der Boden ständig schwankt. Es gibt keine feste Basis für Kommunikation, sondern ständig neue Brüche. Und die interessieren mich. Konflikt ist der Normalzustand, was dich sehr neurotisch machen kann. Aber auch gut ist, weil es dich frisch hält als Künstler. Sobald du eine Form gefunden hast, musst du sie schon wieder verwerfen.“ Und der Zweitwohnsitz Berlin? Den brauche sie, um ein Bein draußen zu haben, um alles vergessen und wiederkom-

men zu können. Und wegen der Kontraste. 1992 sei sie zum ersten Mal dort gewesen, die Stadt schien ihr zu 50 Prozent tot, zur anderen Hälfte lebendig. „Diese unglaubliche Stille, wenn du durch die Straßen gehst. Wie auf einem Friedhof. Ich habe Berlin nie horizontal, sondern immer nur vertikal angucken können. Es gibt tief unten im Bewusstsein dieser Stadt eine ausgestorbene Schicht, und darüber wächst etwas Neues. Aber der kulturelle Sauerstoff kommt von außen, nicht von innen.“ In den kommenden Tagen wird Yehudit Sasportas wieder die Koffer packen. Herbst und Winter verbringt sie in Berlin. Grautöne seien gut, sagt sie. Und dass eine Stadt auch die Dunkelheit kenne. „In Tel Aviv gibt es nur dieses blendende Weiß. Tel Aviv kann einfach nicht abschalten, wie ein offenes Nervensystem. Die Stadt bringt unablässig Neues hervor. Doch es gibt nicht genug Raum, deswegen überschreitest du ständig Grenzen und kommst anderen in die Quere. Vielleicht ist Tel Aviv einfach zu lebendig.“


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