Eberhard Havekost "You Say Love"

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EBERHARD H AV E KO S T U SAY LOVE



EBERHARD H AV E KO S T U SAY LOVE



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this HALF of reality Kito Nedo

DIESSEITS WIRKLICHKEIT Kito Nedo

Anfang Januar 2019 ging eine grob gepixelte Aufnahme um die Welt. Der Form nach ähnelte das abgebildete Objekt einem leuchtenden Bowling-Kegel bei Nacht – hinter einer gerasterten Sicherheitsglasscheibe. Tatsächlich aber handelte es sich um das erste Bild des Himmelskörpers 2014 MU69, auch Ultima Thule genannt, aufgenommen von der NASA-Raumsonde New Horizons. Am Neujahrstag war die Sonde in einem Abstand von 3500 Kilometern an Ultima Thule vorbeigeflogen, hatte dabei die Bilder gemacht und Daten gesammelt. 2014 MU69, der rund 32 Kilometer lange und 16 Kilometer breite Flugkörper befindet sich rund 6,6 Milliarden Kilometer von der Erde entfernt im sogenannten Kuipergürtel am Rande unseres Sonnensystems. Für eine Runde um die Sonne benötigt Ultima Thule ungefähr 293 Erdenjahre. Somit ist 2014 MU69 das am weitesten entfernte Objekt, das je von einer Raumsonde aus der Nähe erforscht wurde. Wegen der großen Entfernung und der geringen Bandbreite wird es rund zwanzig Monate dauern, bis die Datenübertragung von der Sonde zur Erde abgeschlossen ist, teilte die NASA mit.1 Ultima Thule bedeutet in etwa „letztes Land“ – in der Antike nannte man so den äußersten Nordrand der Welt. Auch manche Bilder von Eberhard Havekost wirken mitunter so, als wären sie monate- oder gar jahrelang in der Datenübertragung durch den Raum unterwegs gewesen, bevor sie sich auf einer

A pixelated image circulated global media on the first day of this year. It looked like a bowling pin flying through the night, spinning until impact with bulletproof glass. This grainy form is Ultima Thule, the most distant object to be seen by an earthly spacecraft, captured this year by NASA’s New Horizons spacecraft. Also called 2014 MU69, this trans-Neptunian object measures twenty by ten miles and is located 4 billion miles from earth in the Kuiper belt on the fringes of our solar system. It takes Ultima Thule 293 years to rotate the sun. The momentous glimpse on January 1, 2019 was taken from a distance of two thousand miles. NASA estimates it will take nearly two years for data collected during this encounter to transmit to earth.1 Ultima Thule means the last land. The term comes from the ancient Greek notion of a northernmost region of the world. Sometimes Eberhard Havekost’s paintings also look as if they have materialized on 45 x 80 centimeter canvases after months, years even, of data transmission through space. Havekost likens painting to “travelling to the unknown.” 2 You can almost see that deafening journey, marvel at its crackle and hiss, the static of a glitch. Maybe this is why Havekost deems the dimensions of his canva-


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der Leinwände im Format 45 x 80 Zentimeter materialisiert haben. „Reisen ins Unbekannte“ nennt Havekost das Malen seiner Bilder. 2 Man sieht das Rauschen und Knistern, staunt über bildgewordene Glitcheffekte. Vielleicht nennt der Maler das spezifische Leinwandformat auch deshalb „pseudowissenschaftlich“, dessen Entwicklungszeit er auf 15 Jahre ansetzt. Ähnlich wie in der Wissenschaft und Forschung scheint auch hier am Anfang eine unbewiesene Annahme aufgestellt, die sich nach Ende des Versuchsprozesses entweder bestätigt oder auch widerlegt findet. Wobei in der Kunstproduktion des Berliners der Akt der Widerlegung von Wunschbildern als das eigentlich Produktive und Angestrebte erscheint. „Bei der Malerei ist es ein Genuss, am Wunschbild zu scheitern, weil sich das Bild im Prozess des Malens in eine physische Qualität verwandelt.“ Das ist die Form von Realismus, die der Künstler meint, wenn er von seinen „realistischen Bildern“ (diejenigen, die beim Betrachten abstrakt wirken) spricht. Die Mutation der Bilder erscheint als das Entscheidende, die Widerlegung der eigenen Hypothesen ist das Ziel. Zum Teil besteht die Arbeit wohl auch darin, sich autonom formierenden Kompositionen auf dem Weg der Malerei zur Existenz zu verhelfen. Manche dieser Gemälde empfindet der Maler selbst als fremd, wie ein Blick auf die reine, „nackte“ Information, die mitunter Rätsel aufgibt. Obwohl sie von ihm stammen, wirken manche Bilder also wie „ein Affront“ auf ihren Produzenten. Welchen Sinn würde es auch machen, die bereits vorhandenen Medien- und Werbebilder dieser Welt einfach abzumalen? Neben den vom Maler als „realistisch“ bezeichneten Bildern produziert Havekost „reproduktive Bilder“. Die Begrifflichkeit der „gegenständlichen“ Bilder lehnt er ab. Trompe-l’œilEffekte interessieren ihn nicht. Im gegenständlichen Bereich ginge es – so der Künstler – schließlich nur um das Gezeigte. Im Gegensatz dazu zielten seine

ses, which he has narrowed down over the past fifteen years, “pseudo-scientific.” His paintings begin with a hypothesis and test it through a process of trial and error. Like a scientist, he works against this vaguely formulated starting point, waits for it to be supported or refuted. But the refusal is the heart of the matter for Havekost, an ideal is propped up in order to be missed, moved beyond. In his words: “In painting, it is a pleasure to fail in pursuit of the ideal image, because that is when the painting process becomes something physical.” It is this kind of reality that he refers to when describing his “realistic paintings,” where abstraction is pushed to its limit. When the painting mutates, when assumptions are contradicted: this is the key. It is about when the painting engenders something autonomous. As if the painting process were designed to facilitate this arrival. Some of the works are alien even to the artist himself, like an encounter with a form of pure, “bare” information. Here, the conundrum: the artist experiences his own works as an “affront.” What is the point of precisely copying an existing image from an advertisement or the news? Alongside the paintings Havekost regards as realistic, the painter also creates “reproductive” images. He objects to the term figurative painting. He has no interest in trompe-l’oeil. He sums up figurative painting as something occupied simply with what is shown. By contrast, his reproductive images aim to reveal “the un-seeable, the un-shown…they are about uncovering what is before the image.” He conceptualizes the image as something that takes up a space that stretches beyond the surface of the


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reproduktiven Bilder gerade auf das „Nicht-Sichtbare, das Ungezeigte, das, was vor dem Bild ist“. Der Raum des Bildes beschränkt sich also nicht nur auf die Fläche der Leinwand, sondern umfasst das Diesseits wie das Jenseits der Wirklichkeit. „Das Bild vor dem wir uns bewegen, schneidet die Realität in zwei Hälften – ähnlich wie ein Spiegel.“ Der Bereich des Unbekannten kann sich sowohl in die vorgelagerte wie auch die nachgelagerte Produktionsstufe erstrecken. Vor ein paar Jahren etwa malte Havekost eine Serie mit Bäumen, die er einmal in nächtlicher Dunkelheit vor einem Hotel in Wolfsburg mit einer Fotokamera angeblitzt hatte: Bilder die selbst der Maler also nicht wirklich gesehen hatte. Über sein Bild „We are Ocean“ (2008) sagt Havekost, dass es das erste einer ganzen Reihen von Gemälden gewesen sei, das zwar eine Fotogrundlage besitzen würde, aber diese Grundlage sei im Gemälde überhaupt nicht mehr sichtbar. Im Prozess des Malens war die fotografierte Vorlage einfach „abgestorben“. In ihrem Buch „Der Pilz am Ende der Welt“ stellt Anna Lowenhaupt Tsing den menschlichen Fortschrittsgedanken und die mit ihm verbundene eingeschränkte Wahrnehmung infrage: „Fortschritt ist ein Vorwärtsmarschieren, das fremde Zeitformen in seinen Takt hineinzieht. Ohne diesen treibenden Rhythmus wären wir vielleicht imstande, andere Muster wahrzunehmen. Durch jahreszeitliche Wachstumsimpulse, lebenslange Fortpflanzungszyklen und geografische Verbreitungsmuster gestaltet jedes Lebewesen die Welt immer wieder um. Auch innerhalb einer Art gibt es mannigfaltige, die Zeitabläufe formende Unternehmungen, da die Organismen einander in Anspruch nehmen und die Landschaftsformung koordinieren. [...] Die Neugier, für die ich mich starkmache, folgt solchen mannigfachen Zeitlichkeiten und impft die Beschreibung und die Fantasie mit neuem Leben. Dabei geht es nicht bloß um Empirie, bei der die Welt ihre eigenen

canvas into our own lived reality, and beyond that as well. He likens the painting to a fence or a mirror. Something that “dissects reality into two halves.” The creation process taps into the expanse of the unknown. In a series of trees Havekost painted a few years ago, for example, he worked from flash photographs taken at night from a hotel room in Wolfsburg. The series was thus based on scenes that the painter had not been able to really see or capture. Havekost cites his painting We are Ocean (2008), as the first in a group of paintings based on photographs, where the source material gradually disappeared in the painting process. Disintegrated into paint. In her 2015 book The Mushroom at the End of the World: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins, the anthropologist Anna Lowenhaupt Tsing questions the human belief in progress, deeming it a limited perspective. “Progress is a forward march, drawing other kinds of time into its rhythms. Without that driving beat, we might notice other temporal patterns. Each living thing remakes the world through seasonal pulses of growth, lifetime reproductive patterns, and geographies of expansion. Within a given species, too, there are multiple time-making projects, as organisms enlist each other and coordinate in making landscapes. […] The curiosity I advocate follows such multiple temporalities, revitalizing description and imagination. This is not a simple empiricism, in which the world invents its own categories. Instead, agnostic about where we are going, we might look for what has been ignored because it never fit the timeline of progress.” 3 Tsing points to the multitude of


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Kategorien erfindet. Gerade weil wir nicht wissen, wohin wir gehen, sind wir in der Lage, nach jenen Dingen Ausschau zu halten, die, da sie der Zeitachse des Fortschritts nicht entsprochen haben, stets übergangen worden sind.“ Tsing weist auf die Vielzahl von welterzeugenden Bestrebungen – ob menschlicher oder nichtmenschlicher Natur – hin, die neben der modernen menschlichen Einbildung existieren. Beim Betrachten der realistischen wie der reproduktiven Bilder von Havekost kann man förmlich spüren, wie sich diese moderne menschliche Einbildung gegen jene Form von Realismus beziehungsweise Reproduktivität sträubt, da sie entweder auf Naturerlebnisse, andere Ideen von Zeitlichkeit oder Wirklichkeitskonstruktionen verweisen. Manche der neuen realistischen Gemälde von Havekost erscheinen rätselhaft, kühl, mitunter sogar spröde. Sie spiegeln eine eigene Form von Existenz – so, wie vielleicht die Nahaufnahme einer Petrischale mit Millionen von Mikroorganismen. Eine sehr vertraute, wie zugleich fremde Form einer Kolonie. Das Realistische bildet den Nährboden für das Reproduktive. Der Maler scheint selbst eine gewisse Freude dabei zu haben, sich von den eigenen Bildern überraschen zu lassen. „Kunst ist Konstruktion und Rekonstruktion von Realität.“ Für Havekost sind Bilder „ein Instrument, um Komplexität sichtbar zu machen“. Darin liege auch der Grund für ihre Unterschiedlichkeit. „Wenn sich die Autorenschaft auflöst, dann ist das mit einem Glücksgefühl verbunden.“ Diese Sehnsucht nach Auflösung erscheint jedoch wie ein klassischer Zirkelschluss. Denn das Anfechten von Autorenschaft bekräftigt diese indirekt. „Malerei – das ist nicht mehr als das Verteilen von Farbe auf der Oberfläche.“, sagt Havekost. Vielleicht ist es den Bildern tatsächlich egal, wer sie gemalt hat. Doch je heftiger der Maler gegen eine eindimensionale Wiederkennbarkeit in seinem Werk

forces that create the world, human and non-human, besides the human imagination. When looking at Havekost’s realistic and reproductive paintings, one begins to grasp how the modern human imagination obscures other possible forms of realism and reproduction. We catch a glimpse here, as Havekost’s paintings refer to those other experiences of nature, time and reality. Some of his new realistic paintings appear enigmatic, distant, aloof even. They encapsulate a particular form of existence; similar, perhaps to a close-up of millions of microorganisms in a petri dish. That familiar and simultaneously strange colony. Havekost’s realism is the matrix, the breeding ground, for his reproduction. He takes a certain pleasure in being surprised by his own paintings. “Art is the construction and reconstruction of reality,” he says. Images are “a tool to render complexity visible.” This is why each image is so different from the next. “When authorship recedes, this kind of happiness takes its place,” he adds. This desire to disassociate sets a classic scenario of circular reasoning in motion, as relinquishing authorship also reinforces it. “Painting – that’s nothing more than spreading paint on a surface,” Havekost claims. Perhaps the painting would also not care who painted it. The more this painter works against the recognizability of his oeuvre, however, the more apparent his signature denial. Havekost describes the moment in the painting process when the work “snaps in.” But he is also the first to qualify the claim, because paintings never really snap in. “A painting is and shall remain


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arbeitet, desto mehr verhärtet sich eben jene Handschrift der Verweigerung womöglich auf einer anderen ästhetischen Ebene.

fluid. This is what makes it open to interpretation and what lets it mean many things.” To his students at the Arts Academy of Dusseldorf, the professor preaches: “You must paint with awareness of the painting’s flatness.” Ultimately, an image is not only imagination. It remains an object. Havekost has no interest in the myth of the artist. Reality is already mythical enough.

Beim Malen kommt der Künstler irgendwann an den Punkt, an dem ein Bild „einrastet“. Aber Havekost relativiert diesen Begriff sogleich. Denn Bilder rasten nicht wirklich ein. „Ein Bild ist und bleibt weich. Deshalb ist es mit unterschiedlichen Bedeutungen aufladbar.“ Seinen Studenten an der Düsseldorfer Kunstakademie sagt der Professor: „Ihr müsst Malerei im Bewusstsein ihrer Flachheit machen.“ Das Bild ist eben nicht nur Imagination, sondern bleibt Objekt. Havekost ist nicht an der Konstruktion von Künstlermythen interessiert. Nicht weil er den Mythos an sich ablehnen würde. Die Wahrheit ist für ihn einfach schon mythisch genug.

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See also / Vgl: Christoph von Eichhorn: Ein Bild vom Ende der Welt. In: Süddeutsche Zeitung, 3.1.2019, p. 16 / S. 16. All Havekost quotes are from several conversations in the studio during winter 2018/2019 / Alle Havekost Zitate entstammen Gesprächen mit dem Künstler im Atelier im Winter 2018/19. Anna Lowenhaupt Tsing: The Mushroom at the End of the Worlds: On the Possibility of Life in Capitalist Ruins, Princeton University Press: 2015, p. 20 / Der Pilz am Ende der Welt. Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Berlin: 2018, S. 37.


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In the late nineties, Eberhard Havekost painted a picture called Benutzeroberfläche 1 (“User Interface 1”). The painting is nearly two and a half meters tall and more than one meter wide. The work has been part of Frankfurt’s Städel Museum collection since 2007. The painting depicts a scene of undistinguished modern architecture: a balconied low-rise skyscraper, the upper foliage of a tree and a lot of blue sky. The Duden, the essential German dictionary, defines the term “Benutzeroberfläche” as the “display of a program visible on a computer screen.” Describing this painting, Havekost explains that to him, a painting functions similarly to the user interface of a computer. In this sense, Buch could be understood as a user interface too, a graphical representation of software, which is set in motion by means of certain commands or clicks. An abstract machine that gradually changes its state.

Buch 2018 Ende der Neunziger malte Eberhard Havekost ein Bild mit dem Titel „Benutzeroberfläche 1“. Das knapp zweieinhalb Meter hohe und reichlich ein Meter breite Gemälde befindet sich seit 2007 in der Sammlung des Städel Museum Frankfurt/Main. Das Hochformat zeigt die Balkonfront einer wenig signifikanten Hochhausarchitektur, das obere Blätterwerk eines Baumes und verhältnismäßig viel blauen Himmel. Der Duden definiert den Begriff der „Benutzeroberfläche“ so: „auf einem Computerbildschirm sichtbare Darstellung eines Programms“. Der Maler erklärte seinerzeit im Zusammenhang mit dem Bild, für ihn funktioniere Malerei ähnlich wie die Benutzeroberfläche eines Computers. Auch „Buch“ könnte man womöglich als eine Art Benutzeroberfläche begreifen: eine grafische Repräsentation von Software, die es mittels bestimmter Befehle beziehungsweise Clicks in Gang zu setzen gilt.


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On August 16, 1986, in the bottom, right-hand column of page twelve of its Saturday issue, the New York Times reported: “A Damaged Soviet Satellite May Make Striking Re-entry.” Space experts predicted the spectacular re-entry of a damaged Soviet satellite into the earth’s atmosphere on this summer day, but were unable to determine the exact location of its impact and collapse into the earth’s atmosphere. The Times quoted Saunders Kramer, a Soviet aerospace expert, who suspected that the device might have been a photo-reconnaissance satellite. According to Sanders, the satellite might have been unable to reach its planned orbit due to an engine failure, or was perhaps unable to steer due to a defect in its maneuvering rockets. Or maybe both things were true. In Havekost’s Re-Entry, shiny, zinc-white traces gesturally across a smooth, matte black oil primer.

Re-Entry 2018 In der Samstagsausgabe vom 16. August 1986 meldete die New York Times auf Seite 12 in der rechten äußeren Spalte unten: „A Damaged Soviet Satellite May Make Striking Re-entry“. RaumfahrtExperten zufolge würde noch für denselben Tag der spektakuläre Wiedereintritt eines beschädigten sowjetischen Satelliten in die Erdatmosphäre erwartet, allerdings ohne den genauen Ort des Auftreffens und Zerbrechens in der Erdatmosphäre vorhersagen zu können. Die Zeitung zitierte Saunders Kramer, einen Experten für die sowjetische Raumfahrt, der vermutete, dass es sich bei dem beschädigten Gerät um einen Satelliten für Fotoaufklärung gehandelt haben könnte. Sanders zufolge konnte der Satellit aufgrund eines Triebwerkausfalls möglicherweise nicht die richtige Umlaufbahn erreichen oder war durch den Defekt von Manövrierraketen nicht lenkfähig gewesen. Denkbar, so der Experte, wäre auch eine Kombination beider Faktoren. In dem „Re-Entry“ betitelten Bild finden sich gestische Spuren in glänzendem Zinkweiß auf einer gleichmäßig-matten schwarzen Ölgrundierung.


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On February 13, 1945, the city of Dresden was largely destroyed by allied air-strikes. Historians estimate that roughly 25,000 people were killed on that day. Shortly after, a Nazi propaganda campaign sought to politically instrumentalize the events. Their “myth of Dresden” as a victim of allied aggression lived on into the GDR era. Today, right-wing extremists refer to the 13th of February to bolster a ludicrous myth of German victimization as part of their historical revisionist project. These right-wing demagogues look to lessen or deny German guilt after the war. Havekost’s painting Krieg (“War”), evokes a thin film of gasoline across a muddy puddle. Its dark and pasty color palette recalls the work of Dresden-based painter Theodor Rosenhauer (1901-1996). After many of his paintings were destroyed in the allied air-strikes, Rosenhauer painted Nach dem Angriff, (“After the Attack”) in 1955. This dark ensemble of injured and traumatized human figures in front of a landscape of rubble belongs to Dresden’s Staatliche Kunstsammlungen Galerie Neue Meister.

Krieg 2018 Am 13. Februar 1945 wurden große Teile der Stadt Dresden durch Luftangriffe der Alliierten zerstört. Nach Schätzungen von Historikern kamen damals rund 25.000 Menschen ums Leben. Schon kurz nach den Ereignissen setzte die politische Instrumentalisierung durch die nationalsozialistische Kriegspropaganda ein. Der „Mythos Dresden“ lebte auch in der DDR-Zeit fort. Heute sind es vor allem Rechtsextreme, die das Datum im Sinne eines „Deutschen Opfermythos“ für ihre geschichtsrevisionistische Rhetorik missbrauchen. Ziel der rechten Demagogen ist es, die deutsche Kriegsschuld zu relativieren. Die Farbigkeit des Gemäldes „Krieg“ ähnelt einem Benzinfilm auf einer dunkelschlammigen Pfütze. Die pastose Manier und die dunkle Farbigkeit erinnert an den Dresdner Maler Theodor Rosenhauer (1901–1996). Der Künstler, der bei den Angriffen einen Großteil seiner Bilder verlor, malte 1955 das Bild „Nach dem Angriff“: ein düsteres Figurenensemble von Verletzten und Traumatisierten vor einer Trümmerlandschaft. Heute gehört es zur Sammlung der Galerie Neue Meister in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.


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Across an even, gray-primed canvas, a form of colored streaks unfolds. The marks appear to be in a subtly balanced relationship with one another. Is this a depiction of an abstract sculpture or tools for a mysterious project? Is this a form that was once more defined, now disassociated in a kind of entropic retreat? “In a democracy, we hold the keys to the control of the demons,” writes political philosopher and science theorist Karl Popper (1902–1994), in his major work, The Open Society and its Enemies (1945). Popper positions an open society and its democratic institutions as safeguards against the abuse of power and the conversion of state power into tyranny. Art exists regardless of democracy. The current art world facilitates structures that are far from democratic, like hierarchies within artist studios or the power of the super wealthy collector, for instance.

Offene Gesellschaft 2018 Auf der gleichmäßig grau grundierten Leinwand entfaltet sich eine Form aus farbigen Schlieren, die untereinander in ein seltsam ausbalanciertes Verhältnis zu treten scheinen. Handelt es sich um das Bild einer abstrakten Skulptur oder einer Gerätschaft für einen geheimnisvollen Zweck? Wird hier eine vormals stärker definierte Form dargestellt, die sich auf einer Art entropischen Rückzug befindet? „In einer Demokratie besitzen wir den Schlüssel zur Kontrolle der Dämonen“, schrieb der politische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Karl Popper in seinem 1945 erschienen Hauptwerk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“. Gegen den Machtmissbrauch, das Umschlagen von staatlicher Macht in Tyrannei brachte Popper eine offene Gesellschaft und ihre demokratischen Institutionen in Stellung. Die Kunst ist nicht automatisch Teil der offenen Gesellschaft. Sie organisiert ihre Strukturen wohl nur in Ausnahmefällen nach dem Muster demokratischer Institutionen. Das allein macht den Künstler allerdings noch nicht automatisch zum Vertreter der Gegenseite.


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Giant salamanders are considered the largest living amphibians in the world. The species has been around for an estimated 170 million years. Now, they are threatened with extinction. In his essay “Why Look at Animals?” (1977), British author and cultural philosopher John Berger (1926-2017) describes the protracted alienation between humans and animals, a process that culminates in modern capitalism. He argues, however, that animals may still play the magical mediator between humans and their origins. This role also connects the animal to what art offers. He writes: “The first subject matter for painting was animal. Probably the paint was animal blood. Prior to that, it is not unreasonable to suppose that the first metaphor was animal.” According to Berger, the way animals have been culturally marginalized is a more complex process than a physical marginalization, as they remain present in the consciousness constructed by proverbs, dreams, games, stories and superstitions.

U Say Love 2018 Riesensalamander gelten als die größten lebenden Amphibien auf der Welt. Das Alter der Spezies, die zur Ordnung der Schwanzlurche gerechnet wird, wird auf 170 Millionen Jahre geschätzt. Sie sind vom Aussterben bedroht. In seinem Essay „Warum sehen wir Tiere an?“ (1977) beschrieb der britische Autor und Kulturphilosoph John Berger (1926–2017) den langwierigen Entfremdungsprozess zwischen Mensch und Tier, der im modernen Kapitalismus seinen Abschluss gefunden hat. Doch womöglich erfüllen Tiere weiterhin die Rolle als magische Vermittler zwischen dem Menschen und seinem Ursprung. Dieser Umstand verbindet sie auch in besonderer Weise mit der Kunst. „Das erste thematische Objekt für die Malerei war das Tier. Wahrscheinlich war die erste Farbe Tierblut. Und es ist nicht unsinnig anzunehmen, dass die erste Metapher das Tier war.“ Die kulturelle Verdrängung, so Berger, sei ein komplexerer Prozess als die physische. In Sprichwörtern, Träumen, Spielen, Geschichten oder im Aberglauben sind die Phantasietiere noch sehr präsent.


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Familiar with the conventions of a map, we involuntarily begin to read certain things into this picture: land, bodies of water, vegetation. But if this is a map, it seems to be so reluctantly: dry colors are mostly rubbed with a brush onto the surface. Perhaps this has something to do with the contradictory nature of maps. On the one hand, they are an abstraction, simplifying and consolidating geospatial features and cartographic conventions, like the northern orientation that has been standard since the end of the 19th century, for instance. The classical perspective, the view from above, suggests the status of an objective repository of knowledge. On the other hand, looking at historical maps makes it clear that maps represent a specific view of the world, the product of political, religious, economic or other interests. They always implicitly refer to the context of their creation. In that sense, distortions are not an exception, but the rule.

Landkarte 2018 Mit den Konventionen einer geografischen Karte vertraut, beginnt man als Betrachter unwillkürlich in dieses Bild, auf dessen Oberfläche Farben größtenteils trocken mit dem Pinsel verrieben wurden, bestimmte Dinge hineinzulesen: Land- und Wassermassen sowie Vegetation. Karten sind ein widersprüchliches Bildgenre. Sie sind einerseits Produkt einer kartografischen Abstraktion, der Vereinfachung und Verdichtung von georäumlichen Merkmalen und verschiedenen kartografischen Konventionen, wie etwa die Ausrichtung nach Norden, die sich am Ende des 19. Jahrhunderts als Standard durchsetzte. Die klassische Perspektive – die Draufsicht von oben – suggeriert den Status eines objektiven Wissensspeichers. Andererseits macht ein Blick auf historische Karten schnell deutlich, dass Karten meist ein bestimmtes Weltbild repräsentieren und das Produkt von politischen, religiösen oder anderen Interessen sind. Sie verweisen implizit auch immer auf den Kontext ihrer Entstehung. Insofern sind Verzerrungen nicht Ausnahme, sondern die Regel.


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In The Psychoanalysis of Fire (1949), the French philosopher of science Gaston Bachelard (1884– 1962) describes fire as a privileged phenomenon which can explain almost anything, given its attuned contradictions: “It is intimate and it is universal. It lives in our heart. It lives in the sky. It rises from the depths of the substance and offers itself with the warmth of love. Or it can go back down into the substance and hide there, latent and pent-up, like hate and vengeance. Among all phenomena, it is really the only one to which there can be so definitely attributed the opposing values of good and evil. It shines in Paradise. It burns in Hell. It is gentleness and torture. It is cookery and it is apocalypse. It is a pleasure for the good child sitting prudently by the hearth; yet it punishes any disobedience when the child wishes to play too close to its flames. It is wellbeing and it is respect. It is a tutelary and a terrible divinity, both good and bad.”

In seiner Untersuchung „Psychoanalyse des Feuers“ (1949) beschreibt der Wissenschaftsphilosoph Gaston Bachelard (1884–1962) das Feuer als ein allumfassendes Phänomen, das sogar zu sich selbst im Widerspruch stehen kann: „Das Feuer ist zutiefst innerlich, und es ist universal. Es lebt in unserem Herzen. Es leuchtet am Himmel. Es steigt aus den Tiefen der Substanz und triumphiert wie der Gott Amor. Es steigt wieder in die Materie hinab und verbirgt sich, ist untergründig und gezügelt wie der Hass und die Rachsucht. Unter allen Phänomenen ist das Feuer wahrhaft das einzige, dem sich mit der gleichen Bestimmtheit die beiden entgegengesetzten Werte zusprechen lassen: das Gute und das Böse. Es erstrahlt im Paradies. Es brennt in der Hölle. Es ist Labsal und Qual. Es ist das Feuer des Herdes und der Brand der Apokalypse. Für das Kind, das artig am Ofen sitzt, ist es wohlige Wärme; es bestraft indessen jede Übertretung, wenn man allzu nahe mit seinen Flammen spielen will. Es ist Geborgenheit, und es ist Ehrfurcht. Es ist ein schützender und ein strafender Gott, es ist gut und böse.“


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Feuer 2018


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The consistency of dry oil paint is like soft butter. Undiluted with turpentine, it can be rubbed on the canvas with a brush. Depending on the mixing ratio, Alizarin Krapplack and Prussian Blue produce a warm or bluish black. “Color is a natural phenomenon, of course, but it is also a complex cultural construct that resists generalization and, indeed, analysis itself. It raises numerous and difficult questions,” writes French cultural historian Michel Pastoureau. “Color is first and foremost a social phenomenon. There is no transcultural truth to color perception.” Color also changes with time, deviates more and more from its original state. The lighting conditions under which people looked at works of art in the past is also vastly different from how we light work today. And who knows how the light of the future will shine. Trockene Ölfarbe erinnert in ihrer Konsistenz an weiche Butter. Unverdünnt, ohne Terpentin ist sie mit dem Pinsel auf die Leinwand gerieben. Aus Alizarin Krapplack und Preußisch Blau lässt sich, je nach Mischungsverhältnis, ein warmes Schwarz oder ein Blauschwarz erzeugen. „Eine Farbe“ so schreibt Michel Pastoureau, „ist weniger ein natürliches Phänomen als eher ein vielschichtiges kulturelles Gebilde, das sich jeglicher Verallgemeinerung und letztlich jeglicher Analyse entzieht“. Der französische Kulturhistoriker sieht in der Farbe in erster Linie ein gesellschaftliches Phänomen, das der historischen Perspektive bedarf: „Es gibt keine transkulturelle Wahrheit über Farbe“. Farbe verändert sich mit der Zeit und weicht immer weiter von ihrem Originalzustand ab. Auch die Lichtverhältnisse unter denen die Menschen in der Vergangenheit Kunstwerke betrachteten, sind mit heutigen Beleuchtungen nicht zu vergleichen. Und wer weiß schon, wie das Licht in der Zukunft leuchtet.


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Blaupause 2018


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The fine arts don’t stand a chance. Artists share their interest in the unpredictable, the territory of its phenomena, with composers, scientists, programmers, mathematicians, game theorists and philosophers. In the 1920s, artists began to use chance systematically and methodically. They experimented with alternative methods of applying paint which left some of the painting process and its result up to chance. The surrealists explored techniques like collage, frottage (rubbing the surface of objects or materials onto an overlying paper with the help of charcoal or pencil), grattage (scraping multi-layered canvas with the help of underlying metal objects such as metal grids) and decalcomania (color print – or Farbabklatschtechnik). Even today, the game of chance is not yet exhausted, though perhaps it comes to contain a caustic commentary on the point of painting itself. Recently, the art collective Reena Spaulings presented a series of paintings in the style of William Turner, which the group produced with the help of an automatic wiper robot (iRobot Scooba 450) and colors of the trendy interior brand Farrow & Ball (so-called “estate emulsions.”)

Die Bildende Kunst hat den Zufall nicht für sich. Im Gegenteil. Das Interesse an den Phänomenen des Unvorhersehbaren teilen sich Künstler selbstverständlich mit Komponisten, Naturwissenschaftlern, Programmierern, Mathematikern, Spieltheoretikern oder mit den Philosophen. In den Zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begannen Künstlerinnen und Künstler den Zufall systematisch und methodisch einzusetzen und mit alternativen Methoden des Farbauftrags zu experimentieren. Die Surrealisten etwa liebten Techniken wie die Frottage (das Durchreiben der Oberfläche von Gegenständen oder Materialien auf ein darüberliegendes Papier mit Hilfe von Kohle oder Bleistift), die Grattage (Abschaben von mit mehreren Farbschichten präparierten Leinwänden unter Zuhilfenahme von unterliegenden Metallgegenständen wie Gitter) die Décalcomanie (Farbabzug- oder Farbabklatschtechnik) oder die Collage. Auch in der Gegenwart scheint das Spiel mit dem Zufall noch nicht völlig ausgereizt, wenn es auch mitunter als ätzender Kommentar auf das Malerei-Business daherkommt: vor gar nicht allzulanger Zeit präsentierte die Künstlergruppe Reena Spaulings eine Serie von Gemälden im Stile William Turners, welche die Gruppe mit Hilfe eines automatischen Wischroboters (iRobot Scooba 450) und Farben der angesagten InteriorMarke Farrow & Ball (sogenannte „estate emulsions“) produzierte.


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Zufall 2018


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Lighting a cigarette at Berlin’s Friedrichstrasse station in March 2019 ended with blows and injuries to the face for the 61-year-old smoker. The attacker – an 81-yearold passerby – is now under police investigation for assault. First, the older man informed the smoker that he was not inside a designated smoking area. The smoker refused to stop and the verbal exchange escalated. Ultimately, the angry man hit his junior in the face with a wooden staff. The attacker was on his way to his garden and happened to have his timber picket with him, a police spokesman informed the news agency DPA. Lucy Gaston (1860-1924), a Presbyterian temperance and anti-tobacco crusader, who founded the Anti-Cigarette League of America, used to storm bars armed with an axe and bricks to combat her target vices.

Smokers Area 2018 Das Anstecken einer Zigarette auf dem Bahnhof Friedrichstraße in Berlin endete im März 2019 für einen 61-jährigen Mann mit Schlägen und einer dicke Lippe. Gegen den Angreifer, einen 81 Jahre alten Passanten wurde ein Ermittlungsverfahren wegen gefährlicher Körperverletzung eingeleitet. Der Ältere hatte den Raucher zunächst zurechtgewiesen, dass sich dieser nicht innerhalb einer so genannten Raucherinsel aufhalte. Als sich jener weigerte, seine Zigarette auszumachen, entzündete sich ein verbaler Streit, der sich in eine Handgreiflichkeit steigerte. Schließlich schlug der wütende Senior dem Jüngeren mit einer Holzlatte ins Gesicht. Wie ein Polizeisprecher später der Nachrichtenagentur dpa mitteilte, war der Angreifer auf dem Weg zu seinem Garten und hatte deshalb zufällig die Holzlatte dabei. Lucy Gaston (1860–1924), eine frühe christlich-militante USamerikanische Nichtraucher-Aktivistin, pflegte mit einer Axt und mit Ziegelsteinen bewaffnet in Bars zu stürmen und diese zu verwüsten, weil dort Zigaretten geraucht und Alkohol getrunken wurde.


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A dark room. On the left: a pedestal. On the pedestal stands a sculpture whose outlines have disappeared into darkness. The painting process dissolves the sculpture, molecularizes it even, into a shadow. Breaking down into simpler components. The display: a visually effective display of goods or displayable advertising material. In electronic data processing: optical data display. The abrasion of the brush on the coarse skin of the canvas creates a surface texture with an almost graphic character. Scraping noises. It’s almost like painting on sandpaper. The brush hits a seam and colors it black.

Display 2017 Ein dunkler Raum. Auf der linken Seite: ein Postament. Auf dem Sockel steht eine Skulptur, deren Umrisse in der Dunkelheit verschwunden sind. Dissoziation: die Auflösung einer sich andeutenden Assoziation mit Mitteln der Malerei. Der Zerfall von Molekülen in einfachere Bestandteile. Das Display: ein optisch wirksames Ausstellen von Waren oder aufstellbares Werbungsmaterial. In der elektronischen Datenverarbeitung: optische Datenanzeige. Beim Abrieb des Pinsels auf der groben Haut der Leinwand entsteht eine Oberflächenstruktur mit nahezu grafischem Charakter. Schabende Geräusche. Fast so, als würde man auf Schleifpapier malen. Der Pinsel stößt an eine Naht und färbt diese schwarz.


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DIE AUFLÖSUNG DES OBJEKTS

The Dissolution of the Object Louisa Elderton

Louisa Elderton Ein Mund öffnet sich, die Lippen sind an den Seiten gespannt, strapaziert. Normalerweise ein giftiger, gefährlicher Ort. Ist er das auch hier? Es ist schwer zu sagen, ob wir Angst haben sollten. Der abgebildete Riesensalamander in U Say Love (2018–19) ist kalt und schuppig, gescheckt mit braunen und gelben Flecken. Seltsam einladend und zart wirkt der hellrosa Raum zwischen seinen Fangzähnen. Man könnte einen Finger hineinstecken, nur um es auszuprobieren. Der Kopf der Kreatur ist scharf und klar, als wäre eine direkte Lichtquelle von oben auf sie gerichtet, in einer Komposition, die jedoch so flach ist, dass sie fast von der Oberflächenebene zu schwappen droht, um sich über den Galerieboden als Schlange oder Farbmasse zu schlängeln. Auf den ersten Blick bestimmt Diskontinuität die Arbeit von Eberhard Havekost. In ihrem Sinn für Realismus sind einige Gemälde perfekt. Hotel Opera (2018) zeigt ein liegen gebliebenes Feuerzeug auf einem Tisch. Das dargestellte Känguru auf Kein Foto bitte (2018–19) fixiert den Betrachter. Es wirkt geblendet von grellem, weißem Licht, möglicherweise die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Autos. Sein Körper ist erstarrt, die Haltung als Vorwegnahme der Rigor mortis. Andere Bilder sind vordergründig abstrakt. So zum Beispiel Feuer (2018), das dynamische, gestische Pinselstriche mit dem Abschaben von Farbe vereint, während Farbtöne wie leuchtendes Orange, Zitronengelb und Scharlachrot ineinander verschmieren und dabei einen Rauchnebel andeuten. Schwefel (2018) hingegen ist stiller, eine gleichförmige Fläche aus schwefligem Grün, so gelblich, dass sie sauer, stickig und beißend wirkt. Vielleicht wird sie durch die Leinwand ätzen. Der Vorgang des Malens wird chemisch, wenn Havekost Schicht für Schicht Farbe mit Terpentin entfernt, um sie erst zu verflüssigen, so dass sie sich dann auflöst. Wir stecken fest in der Bedeutung des Äußeren. Wieso wollen wir so voreilig kategorisieren, in Schubladen stecken und präzise definieren? Dies ist figurativ, jenes ist abstrakt. Dieses kann ich einordnen, jenes nicht. Tatsächlich aber besteht zwischen diesen Werken eine Kontinuität, die nur nicht sofort erkennbar ist. Warum ist sie das nicht? Weil all das, was wir kennen, alles andere überschattet und so alles Vertraute

A mouth opens, lips taught, straining. It is normally a poisonous place, but here it is hard to tell if we should be afraid. U Say Love (2018–19) depicts a giant salamander, cold and scaly, mottled with flecks of brown and yellow. The space between its fangs is strangely appealing. It’s light pink and gentle. You could poke a finger in there, just to see. The creature’s head is sharp, edges crisp, as if lit from directly above, though the entire composition is so flat that it could almost spill off the surface plane, slither along the gallery floor as a serpent or a mass of colour. At first sight, Eberhard Havekost’s work is one of discontinuity. Some paintings are perfect in their sense of realism: a lighter rests on a table in Hotel Opera (2018); a kangaroo gazes at the viewer in Kein Foto bitte (‘No photos please’, 2018–19), stunned by bright white light – perhaps from an oncoming car – its body frozen, pre-empting rigor mortis. Others are ostensibly abstract. Take, for example, the dynamic gestural sweeps and scrapes of colour in Feuer (‘Fire’, 2018), its zingy orange, lemon yellow and scarlet red tones smearing together in places to hint at a mist of smoke. Schwefel (‘Sulphur’, 2018) is calmer, an even plane of sulphurous green, so yellow as to seem acidic, stifling and corrosive. Perhaps it is burning through the canvas. The act of painting becomes chemical, Havekost removing paint, layer by layer, using turpentine to liquefy and dissolve. We become so het up over appearance. Why do we want to jump in so quickly, to box things, to categorise and neatly define? This is figurative; that is abstract. I can place this, but I can’t place that. In fact, there is continuity between these works – you just can’t immediately see it. Why? Because what we recognise overpowers everything else and creates a stark division between what is familiar and what is not. To our eyes, instinctively, they’re not the same thing. However, whether abstract or figurative, it is the flatness of Havekost’s images that traverses his oeuvre. His paint privileges the surface, evading


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vom Unvertrauten gänzlich spaltet. Instinktiv sind diese beiden Dinge in unseren Augen nicht dasselbe. Es ist allerdings die Flachheit der Bilder von Havekost, ob abstrakt oder figurativ, die sich durch sein Oeuvre zieht. Seine Malerei bevorzugt die Oberfläche, um der Tiefe auszuweichen und den Fokus auf den Vordergrund zu richten. Ob er die Farbe geschmeidig aufträgt oder sanft entfernt, in beiden Fällen wird uns die Leinwand als Oberfläche bewusst – ein Bereich, der für Neuinterpretation vorgesehen ist. Versuche hinter das Identifizierbare zu blicken und dabei den Zusammenhang des Entstehens zu betrachten. Havekost hat gesagt: „Ich erschaffe Bilder mit dem Bewusstsein ihrer Flachheit.“ Einen Blickwinkel für den Betrachter zu erarbeiten, ist für den Künstler nicht wichtig. Linear-, Zentral- und umgekehrte Perspektive haben hier keinen Platz mehr. Sie sind zwar nach wie vor willkommen, spielen aber keine Rolle mehr. Wahrscheinlich gibt es dafür drei wichtige Gründe. Erstens hat die Fotografie unser Wahrnehmen von Realität verschoben. Zweitens hat die Abstraktion den Umbruch eingeleitet, die Reproduktion der Realität von einer direkten Wiedergabe der bildlichen Illusion zu trennen. Drittens ist unser Bewusstsein bereits ein Bewusstsein von den Dingen. Dies bedeutet für Havekost, dass „die Art, wie wir die Realität verstehen, bereits flach ist und somit reproduziert werden kann“. Mit anderen Worten, wir erlangen durch ein verkörpertes Erlebnis Wissen über ein dreidimensionales Objekt, dann entmaterialisieren wir dieses Objekt bereits in unseren Gedanken, somit wird die Realität flach. In manchen Fällen können wir sie in ein Gefühl oder auch eine Atmosphäre verwandeln. So gehen die Bilder von Havekost weiter als die Realität. Sie flehen um die Auflösung des Objekts. Es geht in seinem Werk um Rekonstruktion. Etwas sehen und wieder aufbauen. Es verwundert wohl nicht, dass sein Ausgangspunkt häufig die Fotografie ist. Er schießt nicht nur Bilder, sondern eignet sie sich auch an, indem er das Ausgangsmaterial digital manipuliert. Er modifiziert, vergrößert und verkleinert das Bild, um es zu verschieben, zu verändern und von seiner Ursprungsform zu trennen. Dies druckt er dann aus, um es auf der Leinwand in neue Formen wiederzugeben, wobei er das bereits Komprimierte weiter verflacht. So entfernt es sich mit jeder Phase weiter weg von seinem eigentlichen Anfang. Landschaft (2017) ist eine abstrakte Landschaft aus drei Teilen. Blau, Grün und Braun - Himmel, Gras und Erde. Alle drei sind in ihrer Farbgebung ähnlich gestaltet mit verschiedenen Farbtönen in unregelmäßigen Flecken und Strichen gemalt. Augenscheinlich

depth, keeping the eye in the foreground. He either smoothly applies it, or indeed, gently removes it, but either way we are aware of the canvas as a surface, as a designated area for reinterpretation. Try to look beyond what you can identify to consider the contiguity of how it has come into existence. He has said: ‘I create pictures with a consciousness of their flatness.’ He feels no need to map in an angle for the viewer; the linear, central and reverse perspectives of old have no place here. It’s not that they’re not welcome, it’s more that they no longer matter. There are perhaps three reasons or, let’s say, precedents for this: one, that photography shifted the way we perceive reality; two, that abstraction set the tone for disassociating the reproduction of reality from a direct equation with pictorial illusion; and three, that our consciousness is a consciousness of something, of objects, which for Havekost means that ‘the way we conceive of reality is already flat and thus can be reproduced.’ In other words, when we gain knowledge of a three-dimensional object through an embodied experience, we are already dematerialising the thing in our thoughts, and as such, we flatten reality. And in some instances, we turn it into a feeling, an atmosphere. In this way, Havekost’s paintings have moved on from reality. They implore the dissolution of the object. They are about reconstruction. Seeing something and building it up again, distilled and essential. Perhaps unsurprisingly, his starting point is often photography. He both shoots and appropriates images, manipulating the source material digitally: taking cuts, altering, enlarging and reducing to shift the picture, changing it, disassociating it. He prints these out and then uses the canvas to render the forms anew, further flattening what has already been compressed. These stages of removal take it further and further away from where it began. Landschaft (‘Landscape’, 2017) is an abstract landscape of three parts. Blue, green and brown: sky, grass and earth. All three are similarly variegated, different colours painted in irregular patches and streaks. They are ostensibly abstract, and were it not for their collective title, your eyes might simply sink into the colour – gauge the moment at which gray disperses into blue; the tinge of yellow that sickens green; or the yellowish-blue patch that bruises the soft peachy brown. Yet you read the title and,


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sind es abstrakte Gemälde, deren kollektiver Titel den Betrachter davon abhält, in den Farben zu versinken. Den Augenblick justierend, wann sich das Grau im Blau verliert, die Gelbnuance das Grün vergiftet oder der gelblich-blaue Fleck das sanfte Pfirsichbraun stößt. Dann liest man jedoch den Titel und die Perspektive verschiebt sich. Es ist nun eine mit winzigen Wassertröpfchen gefüllte Atmosphäre, gesammelt in einer Wolke aus trübem Weiß übergehend in ein nebeliges Hellblau. Dies ist ein Feld, vielleicht aus der Vogelperspektive, an manchen Stellen grün und üppig, während es an anderen ausgetrocknet und abgenutzt ist. Die Schleusen des Himmels sollen sich öffnen, denn das Feld braucht Wasser. Was die Erde betrifft, so sind wir unter ihr, unter der Haut der Welt – subkutan. Für Schlamm ist sie überraschend rosa. Müsste er nicht brauner wirken? Aber wer sind wir, dass wir Mutter Natur in Frage stellen? Diese Farben sind uns alle nah. Direkt vor uns füllen sie den Raum aus und ebnen ihn ein. Ob erkennbar oder nicht, die Motive von Havekost sind ein Gefährt für eine Reise. Wie das Malen ein körperlicher Akt des Künstlers ist, genau so möchte er auch uns in einen anderen somatischen Raum mitnehmen. Wir sollen piktographische Effekte und wie sie uns physisch und mental beeinflussen hinterfragen. Diese körperliche Wahrnehmung reflektiert er, wenn er sagt, „nicht nur für den Betrachter, auch für mich ist der physische Aspekt der Malerei die Grundvoraussetzung, den eigenen Körper wieder spüren zu können.“ 1 Wenn der Betrachter also die von Hand bemalte Leinwand sieht, so fühlt er einen Körper, der sich durch den Raum bewegt und diese Bilder kreiert. Havekost vermeidet die Massenauflage digitaler Bilder. Sein Werk ist im Hier und Jetzt. Es ist physisch. Als solches erkennen wir es und verinnerlichen es in unserem eigenen Körper. Ganz gleich, ob unser Blick auf etwas Figuratives oder Abstraktes fällt, es sind Farbe und Oberfläche, die Verbindungen erzeugen und dabei viszerale Gemeinsamkeiten schaffen. Grau (2018), ein besonders eigenartiges, dreiteiliges Gemälde, wurde mit Hilfe einer Spachtel geschaffen. Die vielfarbigen Striche ziehen sich über eine flache, graue Leinwand. Indem er dicke Linien miteinander verbindet, beschreibt Havekost kryptische Formen und isolierte geometrische Muster auf einer flachen Ebene, die auch Bestandteile einer Hauptplatine sein könnten. Sie könnten lesbare Symbole sein, wenn wir nur Zugang zu dieser unbekannten Sprache hätten. In einem Teil des Triptychons befindet sich ein dünnes, grünes Rechteck in der oberen rechten Ecke der Leinwand. Es ist wie ein Block im Spiel „Tetris“, der darauf wartet, nach unten zu fallen. Hier hängt es aber in der Zeit fest. Warum sind diese launischen,

suddenly, perspective shifts. This is an atmosphere filled with minute water droplets. They gather as a cloud of hazy white, break into a misty light blue. This is a field, perhaps seen from above, one verdant in places, while parched in others. It needs water; let the sky break open. And as for the earth, we are underground, beneath the world’s skin – subcutaneous. It is surprisingly pink for mud that has always seemed so brown. But who are we to argue with Mother Nature. All of these colours are close to us, right there filling space, levelling it. Whether recognisable or not, Havekost’s motifs are a vehicle for a journey. In the same way that painting is a physical act for the artist, he wants to take us into another somatic space, so that we question pictorial effects and what they attempt to do to us physically, not just mentally. He reflects on such embodied perception in saying: ‘The physical act of painting is the prerequisite for feeling one’s own body again, not only for the viewer, but also for me.’ 1 So in seeing his pigments placed by hand onto canvas, we sense that a body moving in space – rather than a machine per se – has made these images. He sidesteps the mass circulation of digital images; his work is here, now, and it is bodily. We perceive it as such and root into our own flesh, moving from brain to bone. Whether our gaze falls on something figurative or abstract, it is colour and surface that create connections, lending them visceral commonality. Created using a spatula that drags lines of multi-coloured pigment across a flat gray canvas, the threepart painting Grau (‘Gray’, 2018) is particularly curious. Havekost joins thick lines together to delineate cryptic forms. They could be the components of a computer chipboard – isolated geometric patterns placed on a flat plane. They could be legible symbols, if only we had access to this unknown language. In one part of the triptych, a thin green rectangle sits in the top right-hand corner of the canvas like a tile in the game of Tetris, waiting to fall to the ground – though here it is suspended in time. Why are these volatile lines smeared with colour combinations – brown into orange, red into blue, blue into green – so perfectly outlined, so clean in their messiness? An outline is a surface too. Perhaps it is precisely the outline that we should take note of – an angular perimeter that is drawn into existence. We can see


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miteinander verlaufenden Farbkombinationen, verschmierten Linien so perfekt umrissen, so sauber in ihrer Unordnung? Ein Umriss ist auch eine Oberfläche. Vielleicht ist es genau dieser Umriss, den wir beachten sollten. Ein kantiger Umkreis, der in die Existenz hineingezogen wird. Diese Konturen können wir auch in anderen Bildern sehen, wie zum Beispiel bei Fresh Meat (2018) und Old Meat (2018). In diesen beiden figurativen Arbeiten verwandelt Havekost rohes Fleisch in Farbe. In der ersten wird die weiche Textur eines Koteletts in einer Rot-Ebene wiedergegeben, mit gewundenen Kurven und Windungen und einer anziehenden Geschmeidigkeit. Wahrscheinlich wird man erneut dazu verleitet, das Bild an zu stupsen, um zu sehen, ob die Oberfläche nachgibt. Die Linie der Fleischkante ist mit der Form auf der linken Tafel von Grau vergleichbar. Eine Außenlinie, die vorübergehend ihren Höchststand erreicht, um dann wieder zu ihrem Plateau zurückzukehren. Eines dieser Werke ist figurativ und das andere abstrakt, aber natürlich stellt keines der beiden eine konkrete Realität dar. Sie arbeiten mit Hilfe von Farbe eine imaginäre Reproduktion von Dingen ab, die Havekost gesehen und gefühlt, eingefangen und verändert hat. Er fügt hinzu und entfernt, während er seine Hand dazu benutzt, Bilder zu reproduzieren, die versuchen, etwas von unserer Welt zu umreißen. Es gibt vielleicht nur eine Ausnahme: Raum (2017– 18). Eine gestische Arbeit mit skizzenhaften Pinselstrichen in Grün, Ocker und Grau. Der Tetrisblock ist endlich nach unten gefallen. Ebenso gibt es einen hellen, kirschroten Kreis, der nahe dem Mittelpunkt ruht. Die Komposition ist ganz Havekost mit seiner ganzen Oberfläche und Flachheit. Daneben ist jedoch eine runde Dunkelheit, ein Schatten! Dieser Kreis hat Tiefe. Es ist eine Sonne, die ihre eigene Silhouette auf das Gemälde wirft und ein Gefühl von dreidimensionalem Raum erzeugt. Die abstrakte Szene wird zu einer Landschaft aus Gras, Himmel und Wärme. Diese Sonne ist jedoch kalt und verletzlich, fast ein nachträglicher Einfall, den Havekost in letzter Minute hinzugefügt hat. Sie ruht auf dem Gemälde und setzt sich ab von der dynamischen Komposition aus fleckigen Strichen und Schwüngen. Es scheint, als könnte man auf sie zugehen, den Finger fest um den Umfang legen und sie aus dem Bild zupfen. Der Schatten würde verschwinden und mit dem Entfernen des Objekts würde das Bild wieder eben werden. Es ist eine spielerische Erinnerung Havekosts, dem Realismus nicht zu trauen, dass die Malerei eigen ist, ein imaginärer Raum, der als solcher die Realität absichtlich entmaterialisiert.

these contours elsewhere too: in Fresh Meat (2018) and Old Meat (2018), for example. In these two figurative works, Havekost turns raw flesh into paint. The former renders the soft texture of a chop into a plane of red with sinuous curves and turns, and an appealing suppleness. You might want to prod that finger into the painting again, to see if the surface gives. The line of the meat’s edge is directly comparable to the shape in the left-hand panel of Grau, an outline that peaks momentarily before returning to its plateau. One of these works is figurative and the other abstract, but of course, neither depicts concrete reality. They are a working through with paint, an imaginary reproduction of things that Havekost has seen and felt, captured and changed; adding and removing, using his hand to reproduce images that try to outline something of our world. There is just one exception, perhaps: Raum (‘Room’, 2017–18). A gestural work of sketchy brushstrokes in green, ochre and gray, not only has that Tetris shape finally fallen to the ground, there is a bright cherry-red circle that rests near the centre. The composition is Havekost as we know him best: all surface and flatness. However there is a round darkness too: a shadow! This circle has depth; it is a sun casting its own silhouette, creating a sense of threedimensional space. The abstract scene becomes a landscape of grass, sky and warmth. This sun is cold and vulnerable, however, almost an afterthought that Havekost inserted last-minute. It rests on the painting, not integrated into the dynamic composition of marks and sweeps. It seems as if you could walk up to it, place your fingers firmly around the circumference and pluck it from the painting. The shadow would disappear and, with the dissolution of the object, the painting would once again become level. It is Havekost’s playful reminder not to trust realism, that painting is its own thing, a space that that is imaginary and, as such, purposefully dematerialises reality.

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Dematerialized Seeing: A Conversation with Eberhard Havekost / Entmaterialisiertes Sehen: Ein Gespräch mit Eberhard Havekost, Deutsche Bank Artworks, accessed 5 April 2019: https://db-artmag.com/en/59/feature/dematerialized-seeing-a-conversationwith-eberhard-havekost/


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Landschaft 2017




“The Landscape,” as Lucius Burckhardt once put it, “appears to be an everyday thing, something we encounter whenever we glance out of a train window and the image of which adorns those travel brochures printed in great numbers to promote our tourist destinations. But the fact that we perceive it as a single entity, as a “landscape,” those many and various things that surround us – the tops of fence posts dotting a snow-covered field, the smoke rising gradually from a factory chimney amid the evening clouds, and the group of workers in blue flat caps, returning home – the fact that we calmly pack the blanket term “landscape” around the sum of such diverse phenomena and the wealth of information they convey, just as we’d use a net to capture all kinds of small animals, is an artistic feat with an ideological dimension. For “landscape” is to be found not in the nature of things but in our mind’s eye; it is a construct that serves as a means of perception for any society that no longer lives directly from the land.” This triptych brings three different qualities of landscape together: the view from above, the view from below and the view of yourself in between. „Die Landschaft“, so der Soziologe und Landschaftsforscher Lucius Burckhardt 1977, „scheint ein alltägliches Ding, das uns entgegentritt, sowie wir aus dem Eisenbahnfenster schauen, und dessen Abbild in großen Auflagen die Prospekte unserer Fremdenverkehrsorte schmückt. Dass wir aber die vielen und verschiedenen Dinge, die uns umgeben, das verschneite Feld mit den Zaunstummeln, den Rauch des Fabrikschlotes, der allmählich in den Abendwolken aufgeht, und die Gruppe der heimkehrenden Arbeiter mit ihren blauen Schirmmützen als eines, als „Landschaft“ sehen, dass wir über die Summe dieser verschiedenen und informationsreichen Phänomene beruhigt den Begriff der „Landschaft“ stülpen können wie einen Kescher, mit dem wir Kleintiere aller Art gefangen haben, dieses Kunststück hat ideologischen Charakter. Nicht in der Natur der Dinge, sondern in unserem Kopf ist die „Landschaft“ zu suchen; sie ist ein Konstrukt, das einer Gesellschaft zur Wahrnehmung dient, die nicht mehr direkt vom Boden lebt.“ Das Triptychon bringt drei verschiedene Landschaftsqualitäten zusammen: der Blick nach oben, der Blick nach unten sowie der Blick auf das Ich dazwischen.


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A gray area seems to shimmer: brownish, bluish, greenish. It could be a stone or a concrete surface beginning to weather, a first, light moss. Maybe it is a not-veryclean tombstone. In the upper left-hand corner of the image a rounding is indicated, on the right, a hard-edged gray stripe is visible and over the whole lower edge a kind of dark shadow, a gap, pulls. Gravestones are meant to represent eternity. But this final rest is fleeting. When a grave is cleared after twelve to twenty-five years, the stone is crushed at a recycling plant. Then the material is reused in road construction, as gravel, for example.

Grab 2017 Eine graue Fläche, die bräunlich, bläulich oder grünlich zu changieren scheint. Es könnte sich um eine Stein- oder Sichtbeton-Oberfläche handeln, die Verwitterungseffekte und eine erste leichte Bemoosung zeigt. Vielleicht eine nicht ganz saubere Grabsteinplatte. Im oberen linken Bildfeld deutet sich eine Rundung an, rechts ein grauer Streifen und über den ganzen unteren Rand zieht sich eine Art dunkle Schattenfuge. Für gewöhnlich symbolisieren Grabsteine Ewigkeit. Aber auch die letzte Ruhe ist endlich. Wird ein Grab nach Ablauf der Ruhezeit nach zwölf bis fünfundzwanzig Jahren abgeräumt, landen die Steine meist auf einer Deponie, wo sie geschreddert werden. Anschließend findet das Material dann Wiederverwendung im Straßenbau – zum Beispiel als Schotter.


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The work of the Indonesian sulfur miners in the poisonous clouds of the Ijen volcano is considered one of the dirtiest and most dangerous jobs in the world. The sulfur they collect is used, for example, to bleach sugar cane or in the fertilizers and medicines produced by chemical and pharmaceutical industries. This work is also somehow strangely obsolete, as in industrialized countries, the toxic-yellow substance is produced as a cheap by-product of petroleum processing. “No color has a neat unambiguous symbolism, but yellow gives some of the most mixed messages of all,” writes British journalist and author Victoria Finlay. “It is the color of pulsating life – of corn and gold and angelic haloes – and it is also at the same time a color of bile, and in its sulphurous incarnation it is the color of the Devil. [...] But it is also the color of declining power. A sallow complexion comes with sickness; the yellow of leaves in autumn not only symbolizes their death, it indicates it.”

Schwefel 2018 Die Arbeit der indonesischen Schwefelstecher in den giftigen Nebelschwaden des Ijen-Vulkan gilt als eine der schmutzigsten und gefährlichsten Jobs der Welt. Das so gewonnene Schwefel wird beispielsweise zur Bleichung von Zuckerrohr verwendet oder dient in der chemischen und pharmazeutischen Industrie bei der Herstellung von Dünger und Medikamenten. Es ist aber auch eine seltsam aus der Zeit gefallene Arbeit, denn in den Industrieländern entsteht der giftig-gelbe Stoff als billiges Nebenprodukt bei der Erdölverarbeitung. „Keine Farbe ist in ihrem Symbolgehalt eindeutig, aber Gelb weckt ganz besonders unterschiedliche Assoziationen“ schreibt die britische Journalistin und Autorin Victoria Finlay. Es ist die Farbe des pulsierenden Lebens – von Mais und Gold und Heiligenscheinen –, und gleichzeitig ist es die Farbe von Galle, und in seiner schwefelhaltigen Erscheinungsform ist es die Farbe des Teufels. [...] Gelb steht aber auch für schwindende Kraft. Kranke bekommen eine gelbliche Hautfarbe, im Herbst färbt sich das sterbende Laub gelb.“


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Kosmos 2017




The view reaches up into the night sky. The universe is an empty, cold and hostile place. One could also call it, like Ulrich Walter did, a “perfect freezer.” The former German astronaut, who travelled in outer space in 1993, observed that the body cools down to about -270° Celsius in the depths of the vacuum, due to the low energy of the cosmic background radiation. In zero gravity, on the sun-facing side of drifting objects, it can also get very hot: the glistening rays of the sun produce temperatures of up to 120° Celsius. White, light-reflecting space suits, which cover the body like a multi-layered membrane, offer protection. These heavy shells are also intended to repel radioactive rays and protect against the impact of micrometeorites. In his 1969 Operating Manual for the Spaceship Earth, Richard Buckminster Fuller, the space-age architect, writes: “We are all astronauts.” Or Kosmonauts, as they were called in the GDR. It’s all a matter of perspective. Der Blick geht nach oben in den Nachthimmel. Das Weltall ist ein leerer, kalter, menschenfeindlicher Ort. Man könnte es auch, wie Ulrich Walter, als „perfektes Gefrierfach“ bezeichnen. Dem ehemaligen deutschen Wissenschaftsastronauten zufolge kühlt jeder Körper aufgrund der geringen Energie der kosmischen Hintergrundstrahlung in der Tiefe des Alls auf ungefähr -270° Celsius ab. In der Schwerelosigkeit, auf der sonnenzugewandten Seite, kann es aber auch sehr heiß werden: die gleißenden Lichtstrahlen der Sonne produzieren Temperaturen bis zu 120° Celsius. Davor schützen weiße, lichtreflektierende Raumanzüge, die sich wie ein vielschichtiges Membransystem um den Körper legen. Die schweren Hüllen sollen auch andere Strahlen, etwa Radioaktivität oder den Einschlag von Mikrometeoriten abwehren. Wie schrieb Richard Buckminster Fuller, der Space-Age-Architekt in seiner 1973 auf Deutsch erschienenen „Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde“? „Wir sind alle Astronauten.“ Oder Kosmonauten. Alles eine Frage des Betrachtung.


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Someone turning away – a classic subject across visual media. For Havekost, however, this body language serves neither to create a spatial impression, nor to allow the viewer a sense of identification to enter the image, as might be typical. We can see a naked back, but we’re too close to discern to whom it belongs. The spine is strongly contoured, the back unusually long. What kind of being is this? The painting’s title underpins its ambiguity. In English, the term alien encompasses the strange and foreign, used today both to describe extraterrestrials and to refer derogatorily, and occasionally legally, to foreign nationals. Die Rückenfigur ist ein klassisches Sujet, welches sich durch alle visuellen Medien zieht. Bei Havekost dient sie jedoch weder dazu, einen räumlichen Eindruck zu erzeugen, noch als Identifikationsangebot zum Bildeinstieg für die Betrachter. Ein Rücken ist sichtbar, doch zu wem er gehört, das enthüllt dieses Bild aufgrund der Nähe des Gezeigten und der Größe des Ausschnittes nicht. Die Wirbelsäule ist stark konturiert, der Rücken wirkt ungewöhnlich lang. Um was für ein Wesen handelt es sich? Die Ambiguität wird durch den Bildtitel noch untermauert: der Begriff „Alien“ steht in der englischen Sprache sowohl für fremd als auch außerirdisch.


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Alien 2018


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Eine Zeitlang, so bekannte Francis Bacon in einem Gespräch mit David Sylvester 1966, habe er gehofft, eines Tages die „überzeugendste aller Darstellungen des menschlichen Schreis“ zu produzieren. „Ich habe es nicht fertiggebracht, es ist Eisenstein in dem Film [Panzerkreuzer Potemkin] viel besser gelungen, und das genügt.“ Neben dem Filmstill der schreienden Kinderfrau in der Sequenz auf der Treppe in Odessa nennt Bacon Poussins Gemälde „Der bethlehemitische Kindermord“ (1625/1629) als „vermutlich beste Darstellung eines Schreis in der Malerei“. Faszination, wenn nicht gar Besessenheit weckte allerdings ein medizinisches Fachbuch: „Noch etwas anderes brachte mich dazu, über den menschlichen Schrei nachzudenken – ein Buch, das ich bei einem Pariser Buchhändler gekauft hatte, als ich noch ganz jung war, es war ein antiquarisches Buch, das wunderschöne handkolorierte Tafeln mit Darstellungen von Mundkrankheiten hatte, schöne Tafeln des geöffneten Mundes und Ansichten des Mundinneren.“ Heute werden Bilder von kranken Mündern aufgrund einer EU-Verordnung millionenfach auf Tabak- und Zigarettenpackungen gedruckt. Eines dieser Ekelbilder bildet einen der Ausgangspunkte für das Gemälde „AH“.

For a while, Francis Bacon was determined to produce the “most convincing of all depictions of the human cry.” He ultimately realized that he probably wouldn’t succeed: “I did not manage it, Eisenstein did a lot better in the movie [Battleship Potemkin], and that’s enough.” After the screaming nanny’s silent cry in the film’s opening sequence on the Odessa steps, Bacon names Nicolas Poussin’s The Massacre of the Innocents (1625/1629) as “probably the best representation of a cry in painting.” Bacon’s fascination, or perhaps obsession, with the cry grew from an encounter with a medical textbook: “Another thing that made me think about the human cry was a book I bought when I was very young from a bookshop in Paris, a second-hand book with beautiful handcolored plates of diseases of the mouth, beautiful plates of the mouth open and of the examination of the inside of the mouth.” Today, images of the diseased mouth are printed millionfold on tobacco and cigarette packs, a measure implemented by the EU. Havekost takes one of these disgusting images as the starting point for his painting AH.


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AH 2018


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Grau 2017




The color of office machines, boredom and bad weather. Darker than white and brighter than black: gray is a transition stage, as far as colors go. For Havekost, even-gray has a basic function in his artistic process: “Gray is an intermediate tone that allows you to set the highest brightness. Between the greatest brightness and the greatest darkness, one can then mediate abstract or figurative expression.” The three colored, gestural constructions on the gray background of this three-part work appear quite suddenly, however. Here, Havekost uses a paint spatula rather than a brush to apply paint. The colored bars with their paste-like surface structure drift into something almost object-like. Dunkler als Weiß und heller als Schwarz: Im Reich der Farben erscheint Grau oft als eine Art Zwischenstufe im Übergang von einem Zustand zum anderen. Es ist die Farbe von Büromaschinen, Langeweile und Schlechtwetter. Im malerischen Prozess von Havekost kommt der gleichmäßig grundierten grauen Farbe eine grundlegende Funktion zu: „Grau ist ein Zwischenton, der es ermöglicht, die größte Helligkeit festzulegen. Zwischen der größten Helligkeit und der größten Dunkelheit kann man dann abstrakt oder figürlich vermitteln.“ Ganz unvermittelt erscheinen hingegen die drei farbig-gestischen Konstruktionen auf grauem Grund dieser dreiteiligen Arbeit. Statt einem Pinsel benutzte der Künstler einen Farbspachtel um die Farbe aufzutragen. Die farbigen Balken mit ihrer pastosen Oberflächenstruktur scheinen fast ins Objekthafte zu driften.


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Dead animals, raw meat and arranged meals were recurring motifs in the work of the Lithuanian-French expressionist Chaim Soutine (1893–1943). The artist’s childhood was impoverished, hunger was familiar. Later, he suffered from stomach ulcers, thus unable to eat the meat, poultry and fish he painted. In the mid-twenties, Soutine created his “Slaughtered Cattle” series in homage to Rembrandt. In order to study his subject, Soutine visited slaughterhouses and even brought a skinned steer to his studio to study it in greater detail. The meat disintegrated before the painter’s eyes, forcing him to paint faster. For this reason, Soutine is said to have pressed the paint directly from the tube onto the canvas. In his two meat pictures, Havekost simply reverses the process of decay: after Old Meat he produced Fresh Meat. Meat is perishable, as life is fleeting, but here the transitory is preserved by way of reversal. Art promises a foreverness, at least for a moment.

Fresh Meat 2018 Tote Tiere, rohes Fleisch und arrangierte Mahlzeiten waren immer wiederkehrende Motive im Werk des litauisch-französische Expressionisten Chaim Soutine (1893–1943). Die Kindheit und Jugend des Künstlers waren von bitterer Armut und Hunger geprägt. Später litt er an Magengeschwüren: das, was er malte – Fleisch, Geflügel, Fisch – konnte er selbst oft nicht essen ohne krank zu werden. Mitte der Zwanziger produzierte er als Rembrandt-Hommage seine Serie „Geschlachtete Rinder“. Zum Zweck des Naturstudiums besuchte Soutine Schlachthöfe und ließ sich sogar einmal einen gehäuteten Ochsen ins Atelier bringen. Das Fleisch zersetzte sich vor den Augen des Malers und zwang ihn dazu mit großer Geschwindigkeit zu malen: aus diesem Grund soll Soutine die Farbe direkt aus der Tube auf die Leinwand gedrückt haben. In seinen beiden Fleischbildern hat Havekost den Verfallsprozess auf magische Weise umgekehrt: Nach „Old Meat“ produzierte er „Fresh Meat“. Die mit der Vergänglichkeit des Lebens korrespondierende Verderblichkeit des Fleisches findet sich im Ewigkeitsversprechen der Kunst zumindest für einen kurzen Moment umgekehrt oder aufgehoben.


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Like a bobber on a fishing rod or a small clown’s nose, a red dot hovers in the central area of an otherwise green color field. A kind of green hell, really. The red sphere casts a dark, circular shadow on this jungle. Is there a light source, just outside the canvas? Pictorial space opens and an infinite game begins. As viewers, we can jump back and forth between focus points – shadow, surrounding, shadow, surrounding – like a kind of ping-pong game. Bottom right: an empty legend. Left-hand side: traces of an undefined architecture stretch out.

Raum 2017–2018 Wie eine Angelpose oder eine kleine Clownsnase schwebt ein roter Punkt über dem zentralen Bereich eines ansonsten grünen Farbfeldes, einer Art grünen Hölle. Er scheint einen dunklen, ebenfalls kreisförmigen Schatten auf den Urwald zu werfen. Existiert eine Lichtquelle im Außenraum der Leinwand? Ein Bildraum öffnet sich und ein unauflösbares Spiel beginnt. Als Betrachter kann man wie bei einer Art Pingpong-Spiel zwischen dem Fokus, seinem Schatten und dem grünen Umraum hin- und herspringen. Am unteren Bildrand rechts: eine leere Legende. Auf der linken Bildseite recken sich die Schemen einer nicht weiter definierten Architektur empor.


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Toteninsel 2018




Melancholy, introspection and mysticism characterize the landscape that Swiss painter Arnold Böcklin (1827-1901) painted in several versions at the end of the 19th century. The rocky island with its dark and mighty cypresses represents something like the end point of the soul’s journey and has since been considered a prime example of the fin-de-siècle mood. Havekost cites motifs as if they were markers of fleeting memory. Faint blood stains on yellow-white cloth, the shadowed outlines of a rock formation, a cavernous entrance that reveals nothing about where it leads. Melancholie, Innerlichkeit und Mystik bestimmen das Bild, welches der Schweizer Maler Arnold Böcklin (1827–1901) Ende des 19. Jahrhunderts in mehreren Versionen malte. Die Felseninsel mit den mächtigen und dunklen Zypressen, dargestellt als Endpunkt einer Seelenfahrt, gilt seither als Paradebeispiel für Weltabkehr und Endzeitstimmung. Bei Havekost finden sich die Bildmotive in Form flüchtiger Erinnerungsfetzen zitiert. Spuren von geronnenem Blut auf gelblich-weißem Stoff, die schemenhaften Umrisse einer Felsformation und ein höhlenartiger Eingang, der nichts über das Dahinterliegende preisgibt.


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Cigarette butts contain significant amounts of nicotine and other toxic substances. According to research by a team of Mexican scientists published a few years ago, sparrows and bullfinches living in urban areas take advantage of this element of their habitats by padding their nests with shredded cigarette butts. The toxins in the butts defend against parasites and deter mites. The bird’s resourcefulness, or adaptive strategy, also confuses eco-moralist fantasies. “The more polluted we ourselves feel, the greater the desire for something edifying, something pure, on which we can straighten ourselves up,” writes the philosopher and artist Fahim Amir. “Anyone who smokes is not only irresponsible towards their own bodies, but also harms the environment (children, animals, bystanders), according to the new biopolitical common sense. Current research indicates that, at least from an environmental point of view, the opposite could be the case.”

Hotel Opera 2018 Zigarettenstummel enthalten große Mengen von Nikotin und andere giftige Substanzen. Einer vor ein paar Jahren veröffentlichten Untersuchung eines mexikanischen Forscherteams zufolge machen sich die in der Stadt lebenden Sperlinge und Hausgimpel diesen Umstand zunutze, indem sie ihre Nester mit zerrupften Zigarettenkippen auspolstern. Die darin enthaltenen Gifte funktionieren als Parasitenabwehr und schrecken Milben oder Federlinge ab. Sie bringen so auch bestimmte ökomoralische Ordnungsphantasien durcheinander. „Je verschmutzter wir uns selbst fühlen, desto größer wird der Wunsch nach etwas Erbaulichem, etwas Reinem, an dem wir uns aufrichten können“, schreibt der Philosoph und Künstler Fahim Amir. „Wer raucht, verhält sich nicht nur dem eigenen Körper gegenüber unverantwortlich, sondern schädigt auch die Umwelt (Kinder, Tiere, Gastropersonal, Unbeteiligte), so der neue biopolitische Common Sense. Die aktuelle Forschung weist darauf hin, dass zumindest in ökologischer Hinsicht das Gegenteil der Fall sein könnte.“


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To eat a steak rare, as Roland Barthes wrote in his 1957 Mythologies, “represents both a nature and a morality.” For the French philosopher of culture, the meat belonged to the same “blood mythology” as wine: “It is the heart of meat, it is meat in its pure state; and whoever partakes of it assimilates a bulllike strength.” Today, of course, meat has fallen into disrepute. In times of climate crisis, eating a bloody beefsteak becomes a decadent environmental sin, almost as shameful as the lonely turns of an SUV driving through the city. In Old Meat, Havekost works from an image of rotting meat he came across in a Greenpeace magazine and found “surreal.” The dark violet veil over the meat on the left side is evidence of rotting or pollutants.

Old Meat 2018 Das Essen eines blutigen Beefsteaks, so schrieb es Roland Barthes in seinen 1957 erschienenen Buch „Mythologies“ sei „zugleich ein natürlicher und ein moralischer Akt“. Für den französischen Kulturphilosophen zählte das Fleisch zur selben „Blutmythologie“ wie der Wein: „Es ist das Herz des Fleisches, es ist das Fleisch im Reinzustand, und wer davon ißt, nimmt Stierkräfte an.“ Heute freilich ist Fleisch in Verruf geraten. In Zeiten der Klimakrise gilt das Verspeisen eines blutigen Beefsteaks als dekadente Umweltsünde, fast so schäbig wie das einsame Kurven mit dem SUV durch die Innenstadt. Die Vorlage für „Old Meat“ (2018) entnahm Havekost einem Magazin der Umweltschutzorganisation Greenpeace – eine Fotografie die er als „surrealistisch“ empfand. Der dunkel-violette Schleier über dem Fleisch auf der linken Seite des Bildes deutet auf Verrottung oder auf Schadstoffe hin.


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Expression 2018




In his recently published dream notes, “Aus der Traum (Kartei)” the poet Durs Grünbein (born in Dresden in 1962) writes: “Only in a dream, this greatest experience of all natural phenomena can be experienced: the liberation from causality. It always begins with the body, after a few breaths, drifting like a logboat onto the ocean, before slowly dissolving into non-Euclidean space.” Left: a look into the blackberry hedge. Faded chalk marks on a house wall. Middle: a canvas with an unhealthy hue. Right: Art Informel with black border, applied with a soft paint spatula. In seinen kürzlich veröffentlichten Traumnotizen „Aus der Traum (Kartei)“ schreibt der Dichter Durs Grünbein: „Nur im Traum läßt sich dies größte aller Naturphänomene erleben: die Befreiung von Kausalität. Es beginnt immer damit, dass der Körper schon nach wenigen Atemzügen wie ein Einbaum hinaustreibt auf den Ozean Zeit, bevor er sich langsam auflöst im nichteuklidischen Raum.“ Links: ein Blick in eine Brombeerhecke. Spuren wie die von verblichener Kreide an einer Hauswand. In der Mitte: eine Leinwand mit einem ungesund wirkenden Farbton. Rechts: Informel mit Trauerrand, aufgetragen mit einem weichen Farbspachtel.


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Works / Werke Cover Kein Foto bitte 2018–2019 Oil on canvas Öl auf Leinwand 140 x 90 cm / 55 x 35 1/2 in EH/M 2018-020

p. 11 Landkarte 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-005

page 6 / Seite 6 Buch 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-001

p. 13 Feuer 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 80 x 45 cm / 31 1/2 x 17 3/4 in EH/M 2018-006

p. 7 Re-Entry 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-002

p. 15 Blaupause 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 80 x 45 cm / 31 1/2 x 17 3/4 in EH/M 2018-009

p. 8 Krieg 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-003

p. 17 Zufall 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 80 x 45 cm / 31 1/2 x 17 3/4 in EH/M 2018-007

p. 9 Offene Gesellschaft 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-004

p. 18 Smokers Area 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-010

p. 10 U Say Love 2018–2019 Oil on canvas Öl auf Leinwand 60 x 80 cm 232/3 x 31 1/2 in EH/M 2019-001

p. 19 Display 2017 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2017-002

p. 24/25 Landschaft 2017 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 257 cm 17 3/4 x 101 1/4 in EH/M 2017-003 p. 26 Grab 2017 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2017-005 p. 27 Schwefel 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-011 p. 28/29 Kosmos 2017 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 257 cm 17 3/4 x 101 1/4 in EH/M 2017-004 p. 31 Alien 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 80 x 60 cm 31 1/2 x 232/3 in EH/M 2018-012


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p. 33 AH 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 60 cm / 17 3/4 x 232/3 in EH/M 2018-013

p. 41 Old Meat 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-018

p. 34/35 Grau 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 257 cm 17 3/4 x 101 1/4 in EH/M 2018-014

p. 42/43 Expression 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 257 cm 17 3/4 x 101 1/4 in EH/M 2018-019

p. 36 Fresh Meat 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-015 p. 37 Raum 2017–2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-021 p. 38/39 Toteninsel 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 257 cm 17 3/4 x 101 1/4 in EH/M 2018-016 p. 40 Hotel Opera 2018 Oil on canvas Öl auf Leinwand 45 x 80 cm / 17 3/4 x 31 1/2 in EH/M 2018-017


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Eberhard Havekost 1967 Born / geboren in Dresden Lives and works / lebt und arbeitet in Berlin Selected solo exhibitions / Einzelausstellungen (Auswahl) 2017 Logik, Galerie Rudolfinum, Prague / Prag 2016 Inhalt, KINDL–Zentrum für zeitgenössische Kunst, Berlin 2013 Titel, Museum Küppersmühle, Duisburg 2012 Eberhard Havekost. Die Sammlung MAP, Museum der Moderne Salzburg, Salzburg 2010 Retina, Schirn Kunsthalle, Frankfurt/Main 2008 Entrée, FRAC Auvergne, Clermont-Ferrand 2006 Harmony 2, Stedelijk Museum, Amsterdam 2005 Harmonie, Kunstmuseum Wolfsburg, Wolfsburg 2001 Driver, Museu de Arte Contemporânea de Serralves, Porto 1998 Fenster-Fenster, Kunstmuseum Luzern, Lucerne / Luzern


This catalogue is published on the occasion of the exhibition / Dieser Katalog erscheint anlässlich der Ausstellung Eberhard Havekost U Say Love 26 April – 1 June 2019 Contemporary Fine Arts, Berlin Bruno Brunnet & Nicole Hackert Grolmanstraße 32/33 10623 Berlin, Germany Tel. +49 (0) 30-88 77 71 67 www.cfa-berlin.com gallery@cfa-berlin.de © 2019 Contemporary Fine Arts, Snoeck Verlagsgesellschaft, the authors and photographers / die Autoren und die Fotografen Texts / Texte Louisa Elderton Kito Nedo Editor / Redaktion Camila McHugh Translation / Übersetzung Franziska Dittrich Design / Gestaltung Imke Wagener Photography / Fotografie Matthias Kolb Lithography / Lithografie Farbanalyse, Köln Published by / erschienen in Snoeck Verlagsgesellschaft mbH Nievenheimer Straße 18 50739 Köln www.snoeck.de ISBN 978-3-86442-286-7 Printed in Germany





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