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Wo die Angst lauert

DIE GESCHICHTEN FÜR DEN 5. FREIBURGER KRIMIPREIS RANKEN SICH UM VERLASSENE ORTE

Vor einem knappen Jahr war an dieser Stelle zu lesen, dass Anne Grießer „schon ziemlich gespannt auf den 25. Juni wartet“: auf den Einsendeschluss für die Beiträge zum Wettbewerb um den Freiburger Krimipreis, den der gleichnamige Verein alle drei Jahre auslobt. Inzwischen stehen die drei Gewinner·innen fest; am 22. April werden sie zur feierlichen Preisverleihung in der Villa Ganter in Freiburg erwartet.

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„Vergessene Orte“ in Bildern (r.): Lost Places in und um Freiburg von Jasmin Seidel

Verlag: Gmeiner, 2023

192 Seiten, Broschur

Preis: 26 Euro

Sie müssen von weiter her anreisen: Anja Puhane, die sich mit „Die Band“ den ersten Platz erschrieb, aus Mönchengladbach, Daniel Walter, dessen „Kein Schwarzwaldmädel, keine Operette“ auf Rang zwei landete, aus Stuttgart. Und Beatrix Erhardt, die mit „Kernzone“ Drittplatzierte wurde, lebt in Schwäbisch Hall.

Grießer, Vereinsvorsitzende und selbst Kriminalgeschichtenerfinderin, freut sich sehr darüber: Die rege Teilnahme überwiegend auswärtiger Autor·innen zeige, „dass wir inzwischen weit über Freiburg hinaus wirken“. Dieses Mal gingen mehr als 50 Kurzkrimis ein – so viele wie nie. Möglicherweise, räumt sie ein, habe das auch mit der Wahl des Themas zu tun: Es ging um „Lost Places“ – und sie kann sich „gut vorstellen“, dass allein dieser oft mit düsteren oder rätselhaften Assoziationen belegte Begriff die „morbid-kriminelle Fantasie“ der Teilnehmer·innen angeregt hat. Und auch, dass der aus Renate Klöppel, Verena Saller und Werner Weimar-Mazur zusammengesetzten Jury die Auswahl der Gewinner „schon sehr schwerfiel“.

Waldlust bei Freudenstadt als Schauplatz für einen rasanten Stairway to Heaven. Und Beatrix Erhardt lässt ihren ziemlich dystopischen Historienkrimi am sagenumrankten Petermännle-Stein im Tonbachtal spielen.

Dass Lost Places derzeit hoch im Kurs sind, zeigen nicht zuletzt die Fotobände der Denzlingerin Judith Seidel; der jüngste ist gerade erschienen. Er präsentiert verlassene Orte in Freiburg und Umgebung –und bietet mit dem Mösleschacht des früheren Bergwerks am Schönberg, dem Interieur des ehemaligen Kaufhaus Krauss in Emmendingen, einer komplett eingerichteten Edelsteinschleiferei und einer alten Schmiede ideale Tatorte für fantasierte Verbrechen.

Schwarzwald morbid von Anne Grießer (Hrsg.)

Verlag: Gmeiner, 2023

264 Seiten, Paperback

Preis: 16 Euro

Die prämierten Texte sind ebenfalls nicht in Freiburg zu lokalisieren: Alle drei Storys ereignen sich im Nordschwarzwald. Anja Kuhane verlegt ihr angstmachendes mörderisches Geschehen in ein Badhaus in Bad Liebenzell, das lange als Band-Probenraum diente. Daniel Walter wählt das spukberüchtigte Nebengebäude des Grandhotels

Wie in der gleichfalls druckfrischen Krimipreis-Anthologie „Schwarzwald morbid“ nachzulesen ist, fanden die Autor·innen aber auch im Schlossbergbunker oder in der Andreas-Kapelle unter dem Münsterplatz geeignete Schauplätze. Insgesamt 14 spannende Storys sind im Buch versammelt – selbstverständlich auch die drei, die nun in der Ganter-Villa prämiert werden. Im Belle-Époque-Saal, der mit seinen weinroten Damastvorhängen, den erlesenen Stofftapeten und den schweren Kristalllüstern selbst wie ein Lost Place wirkt – allerdings ein bestens erhaltener.

Maman

von Sylvie Schenk

Verlag:

Hanser, 2023 174 Seiten, gebunden

Preis: 22 Euro

Deckname im Totenschein

(ewei). „Maman war eine Unglückliche, die ihr Unglück nicht reflektieren konnte“, beschreibt Sylvie Schenk ihre Mutter Renée. Mit knapp 80 Jahren sucht sie nach Spuren ihres Lebens – und fragt sich immer noch, ob sie lieber eine andere Mutter gehabt hätte. Eine, die heiter und kommunikativ war, die „wusste, wo es langging“.

Das wusste Renée nicht. Sie wusste nicht einmal, wo sie herkam. Vielleicht kannte sie auch ihren Geburtsnamen nicht, den die Tochter in den Archiven von Lyon recherchierte. In jenen Registern mit den Neugeborenen, die als elternlos galten: Bei Renées Geburt Ende 1916 verstarb ihre 45-jährige Mutter Cécile, der Vater war unbekannt.

Beinahe poetisch rekonstruiert Schenk das freudlose Dasein von Renée, die in einer Bauernfamilie ausgebeutet, misshandelt und missbraucht wurde – und emotional so verstummte, dass ihre späteren liebevollen Adoptiveltern sie nicht mehr zum Sprechen bringen konnten. Mit viel Empathie bringt sie auch Licht in die dunklen Lebenswege von Cécile und deren gleichfalls alleinstehender Mutter, die als schlecht bezahlte Seidenarbeiterinnen einem Nebenerwerb nachgehen mussten. In ihren Totenscheinen ist „menagère“ als Beruf angegeben: „der Deckname von Berufslosen, Dienstmädchen, Straßenmädchen“.

von Ute Bales Verlag:

Rhein-Mosel, 2023 202 Seiten, gebunden

Preis: 22,80 Euro

In der fremden Haut

(ewei). Helga Kaiser ist elf, als sie Ende der 1970er-Jahre zur Erholungskur auf die Insel Föhr verschickt wird. Sie leidet seit Langem an einem juckenden Hautausschlag, der aber auch an der heilenden Nordseeluft nicht besser wird. Im Verschickungsheim ist sie zudem dem strengen Regiment der Aufseherinnen ausgesetzt, zu deren Erziehungsmethoden Esszwang und Demütigung gehören.

Mit Narben auf der Haut und auf der Seele kehrt sie nach langen Wochen nach Hause zurück, wo niemand eine Ursache für ihre Beschwerden findet. Oder finden will. Denn möglicherweise hätte ihr Vater Hans eine Erklärung. Doch er schweigt. Er schweigt auch, als 1985 der Stern ein Kriegsverbrechen aufdeckt, das sich 40 Jahre zuvor am Rheinufer bei Nierstein ereignete. In dem er der Haupttäter war. Seit Helga das weiß, fühlt sie sich „wie in Säure getaucht“, hofft vergeblich auf ein Wort des Vaters.

Hier verknüpft die Freiburger Autorin Ute Bales Fiktion und Realität: Hans Kaiser gab es wirklich; als 18-jähriger glühender Nazianhänger erschoss er sechs Zivilisten, die in den letzten Kriegsstunden auf die bereits befreite andere Seite des Rheins fliehen wollten. Helga, das Täterkind, das durch das Verschweigen zum Opfer wird, ist hingegen historisch nicht verbürgt.

Die Ungleichzeitigen

von Philipp Brotz Verlag:

8 Grad Freiburg, 2023 320 Seiten, gebunden

Preis: 24 Euro

Kein Zurückzugsort

(ewei). Nach 13 Jahren im fernen Berlin kehrt Hagen zurück in sein Dorf im Schwarzwald. Zurück in das Haus, in dem er bis zum Abi lebte – bis der herrische Vater ihn zwang, sein Studium fern von daheim zu absolvieren. Das angebliche Muttersöhnchen sollte selbstständig mit der rauen Realität zurechtkommen, sollte für die Zukunft abgehärtet werden.

Das ist gründlich misslungen: Hagen ist ewiger Student geblieben, hat nichts zu Ende gebracht, war an seinem letzten Berliner Tag genauso fremd in der Stadt wie an seinem ersten, hätte ohne heimliche Geldüberweisungen mütterlicherseits seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten können.

Doch nun sind die Eltern tödlich verunglückt, Hagen erbt das Haus, das Ersparte und ein Auto. Ein sorgloses soziales Leben winkt – doch niemand nimmt von ihm Notiz, niemand erkennt ihn. Er versucht, sich in Elternhaus und Vergangenheit zurückzukuscheln. Vergeblich: Sein Kindheitswäldchen direkt neben dem Haus soll gerodet werden, für eine Flüchtlingsunterkunft. Das will er mit teils skurrilen Mitteln unbedingt verhindern und trifft sich sogar mit einem ultrarechten Typen aus dem Nachbarort. Doch es gibt unverhofft eine bessere Lösung.

Lesung mit dem Freiburger Autor: Do., 4. Mai, 19.30 Uhr, Stadtbibliothek

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