Inhalt Vorwort der Herausgeber
7
Einleitung
11
Teil 1
Anfänge 1859 – 1914
17
Teerfarbstoffe – Gründer im Farbenrausch
21
Vergiftet – Wasser, Boden, Luft
30
Pioniere der zweiten Welle – Die bekannten Namen
37
Moderne Industrie – Wissenschaft, Patente, Kartelle
45
Juniorpartner – Erfolg in der Abhängigkeit
55
Wagemut – Über Basel hinaus
62
Amerika, Amerika! – Schwieriger Start
71
Teil 2
Selbstbehauptung 1914 – 1945 Der Grosse Krieg – Umsturz auf den Märkten
85 89
Nach dem Krieg – Geschäfte und Katastrophen
100
Die lange Verhandlung – Kräftemessen mit IG Farben
110
Zwischen Basel und Shanghai – Ein Streit um Opium
120
Mehr als Farben – Pharmazeutika im Aufwind
128
Von Ost nach West – Internationalität
137
Fern, exotisch, tropisch – Kleine Märkte
148
Politik als Geschäftsrisiko – Alte Reiche und neue Diktaturen
157
Zweiter Weltkrieg – Flexible Verteidigung
166
Die Autokraten – Ein Zwischenspiel
177
Teil 3
Wachstum 1945 – 1986
193
Nachkriegszeit – Der unerwartete Boom
197
Pharmazie – Glücksfälle und Grundlagenforschung
206
Weltweit – Expansion und Kommunikation
217
Hochkonjunktur – Diversifizieren, Bauen, Fusionieren
227
Bruchstellen – Umweltkrisen und Imageschäden
235
Teil 4
Umbrüche 1986 – 2016 Globalisierung – Die Festung öffnet sich
251 255
Kein Stein auf dem anderen – Kartelle und Trennungen, Gründerglück und Allianzen
265
Der Weg einer Industrie – Wandlung in Permanenz
Anhang
276
291
Anmerkungen
293
Abkürzungen
316
Umsatzentwicklung wichtiger schweizerischer chemischer Unternehmen 1863–2015
317
Archivalien
322
Literatur
324
Abbildungsverzeichnis
338
Personenregister
339
Dank, Erinnerung
343
Impressum
344
85
Teil 2
Selbstbehauptung 1914 – 1945
86
Der grosse europäische Krieg stürzte die chemische Industrie Basels im Sommer 1914 in eine existenzielle Krise. Um eine Belieferung von Deutschlands Gegnern aus der Schweiz zu unterbinden, schnitt die deutsche Kriegs partei die Schweiz von der lebenswichtigen Versorgung mit Zwischenprodukten ab. Theoretisch hätten die Welt farbenmärkte infolge Ausschaltung der deutschen Konkurrenz Basel gehört, zugleich drohte aber die Lahm legung der Produktion. Die schwierigen Umstände relativieren die enormen Kriegsgewinne einzelner Firmen. Der Krieg wurde zur grossen Wende, was das symbio tisch enge Verhältnis zur deutschen Industrie betraf – die Herren der Basler Fabriken strebten nach ‹Emanzipation›. Die Beziehung nach Deutschland blieb über den Krieg hinaus schwierig, wenn auch nach 1925 die Kooperation und mit ihr die Abhängigkeit des Basler Standorts wieder zunahmen. In der Farbenproduktion einigte man sich ab 1928/29 auf ein weltweites stabilisierendes Preiskartell, das Energien freisetzte für andere Aktivitäten. Erst in den frühen 1930erJahren realisierte man in Basel, dass die Pharmazie und andere neue Produkte wie zum Beispiel Vitamine attraktive Ergänzungsfelder darstellten. Dank deren Aufschwung kam die Branche besser durch
87
die Weltwirtschaftskrise als die übrige Exportwirtschaft. Sie stieg zur drittgrössten industriellen Exportkraft auf und stiess auf immer neue und entlegenere Märkte vor, die in ihrer politischen und kulturellen Fremdheit herausfordernd waren. Die führenden Konzerne internatio nalisierten zugleich ihre Produktion, um sich gegen protektionistische Abschliessung zu wehren – ab 1933 wurde definitiv der angelsächsische Raum zum Hoffnungs träger. An der Ostküste der USA entstanden Zentren, die während des Zweiten Weltkriegs zum Teil ihre Mutter häuser in der Schweiz überflügelten und die von Basel abgeschnittenen Märkte bedienten, soweit das unter Kriegs bedingungen noch möglich war. Die Bedrohung durch das nationalsozialistische Deutschland beschleunigte nur diesen Vorgang. Am Basler Heimstandort war der deutsche Würgegriff noch stärker spürbar als während des Ersten Weltkriegs. Rechtlich bereitete man sich für den Notfall vor: die Weiterexistenz der Konzerne im Falle einer tempo rären deutschen Besetzung der Schweiz. Dazu kam es nicht; die Abschottung des Aktienbesitzes gegenüber Ausländern sollte jedoch lange nachwirken.
166
Zweiter Weltkrieg – Flexible Verteidigung
Bei Arbeitsantritt am Montag, 11. September 1939, erhielten alle Arbeiter und Angestellten von Roche Nutley (New Jersey) – es waren über sechshundert, weit mehr als beim Basler Stammhaus – ein Flugblatt ihres Arbeitgebers. Elmer Bobst hatte es verfasst, und er verbot darin strengstens, während der Arbeit über den europäischen Krieg zu sprechen oder Stimmungsmache, welcher Art auch immer, zu betreiben. Wer dagegen verstosse, werde augenblicklich entlassen; die Firma gab sich neutral wie die Vereinigten Staaten. «The Roche family in Nutley does not wish to contribute in any way, shape, or form to any mass emotional upset that may lead eventually to an involvement in a war that is not of our making. And, surely, the Roche family wants to see to it that, regardless of the many nationalities of which it is made up and the fact that some of these nations are at war with each other, it is going to observe a truly peaceful neutrality.» Das Management kenne keinerlei Unterschiede im Hinblick auf Nationalität, Rasse oder Glaube. «This is the attitude that employees ought to display toward each other.»648 Schon allein der Umstand, dass Roche über ein derart grosses Werk in den USA verfügte, machte einen fundamentalen Unterschied gegenüber der Situation im SomDie wirtschaftliche Lage im Krieg
mer 1914. Auch Ciba, Geigy und Sandoz waren sehr international geworden. Die US-Produktion von Geigy und Sandoz reichte allerdings noch kaum über das Gemeinschaftswerk in Cincinnati hinaus, während Ciba in Summit (New Jersey) neuerdings auch eine Pharmazeutika-Fabrik betrieb. Beim Vergleich der Situation zu Beginn der beiden Weltkriege muss zusätzlich in Rechnung gestellt werden, dass die Schweiz ab Frühjahr 1940 weitgehend von einer Kriegspartei umschlossen war. Die IG Farben nutzte die deutsche militärische Expansion, die bald ganz Kontinentaleuropa erfasste, um die Dominanz in der Teerfarbenindustrie von vor 1914 möglichst weitgehend wiederherzustellen. Ein neuer, kriegsbedingter Basler Exportboom, wie er ab 1914 – temporär und partiell – stattgefunden hatte, war also ausgeschlossen, ganz abgesehen von der Tatsache, dass inzwischen in vielen Ländern eine eigenständige Farbenindustrie aufgekommen war. Von den von deutschen Firmen beherrschten Märkten ganz verdrängen liessen sich die Basler allerdings nicht, da sie auch in Deutschland mit gewichtigen Produktionsbetrieben vertreten waren und eine treue deutsche Kundschaft hatten, die dankbar war für Alternativen zum Monopolisten IG Farben. Betrachten wir die Exportzahlen der schweizerischen chemischen Industrie während des Kriegs, so erweist sich der scheinbare Anstieg bis 1941 als Täuschung, da die amtliche Statistik der Schweiz – in der Absicht, die wachsenden Munitionsexporte
167
zu verdecken – diesen Posten neu der chemischen Industrie zuschlug. Bringt man ihn in Abzug, so ergibt sich bis 1941 ein Bild der nominalen Stagnation; dem folgte bis 1944 ein markanter Rückgang um rund ein Viertel.649 Letzteres galt beim Gewicht, im Unterschied zum Ersten Weltkrieg aber auch beim Wert. Es gab keine vergleichbare Preisexplosion. Nur der Wert der Pharmaexporte nahm von 1939 bis 1944 nominal leicht zu, bei den Farben schrumpften die Exporte nahezu auf die Hälfte. Bei Berücksichtigung der Teuerung erscheint der Rückschlag für die lokale Industrie rundum beträchtlich. Der relative Gewinner im Aussenhandel der Kriegsjahre war die Metall- und Maschinenindustrie, die in weit höherem Mass kriegsrelevante Güter anzubieten hatte. Die Basler Farbenindustrie hingegen, um deren Produkte sich die Westmächte zwischen 1914 und 1918 gerissen hatten, mit entsprechenden Folgen für die Preise, litt von 1939 bis 1945 schwer unter der Isolation vom Weltmarkt. Ihre Produkte wurden im ‹totalen Krieg› zurückgesetzt, im Schlepptau der niedergehenden zivilen Textilbranchen nahm die Nachfrage ab. Ohne ausgebaute pharmazeutische Sparte, andere neue Produkte und die Produktion von Ersatzstoffen hätte der Basler Standort erheblich gelitten. Beim Blickwechsel von den gesamtwirtschaftlichen zu den Firmenergebnissen ist – wie üblich – die fragmentarische Basis der vorliegenden Daten zu bedauern. Der Vergleich zeigt annähernd, dass die Resultate – vollständig konträr zum Ersten Weltkrieg – schlechter waren bei starker Konzentration der Produktion im Basler Stammhaus, besser bei einer dezentralen, internationalen Konzernstruktur und am besten bei starker Verankerung in der westlichen Hemisphäre, keineswegs nur im angelsächsischen Raum, sondern auch in Lateinamerika. Die Konzernresultate waren also entschieden besser als diejenigen der Stammhäuser. Wo es produktionstechnisch betrachtet nur das Stammhaus gab – bei Durand & Huguenin – war das Ergebnis besonders schlecht, am besten war es bei Roche, wo die Internationalisierung in westlicher Richtung am weitesten fortgeschritten war, am zweitbesten bei der Ciba. Der Krieg brachte – wenig überraschend – eine Fülle an Schwierigkeiten, einen halbwegs normalen Betrieb aufrechtzuerhalten. Die aggressiven Methoden der deutschen Konkurrenz weckten mitunter nicht weniger Zorn als die Art, wie Deutschland einen neuen europäischen Krieg vom Zaun gebrochen hatte. Anfang Oktober 1939 schrieb Hein Kamp, Vizepräsident der Ciba in Summit, einen deutlichen Brief an die Schering Corporation, mit der man um Absprachen im Hormonverkauf verhandelte. «The way your Mr. Hammer discussed the matter on the telephone was most objectionable in that he took the tone of a Prussian officer who could just dictate his will to others. As a matter of fact, we are more than sick of those Hitlerian tactics and the writer repeats that he is not willing to play the role of the British ‹umbrella man›.650 If you people want sincere and honest collaboration, you can have it, but we object to your methods in general, and believe that there are many more who do.»651 Von unbekannter Hand in Abschrift weitergereicht, gelangte der Brief zu Barell und Bobst,
Wut über die deutsche Politik
Inhalt
7
9
Der Standort Basel und die ungebremste Globalisierung
10
Georg Kreis Basel und ‹seine› Chemie Ein wenig aufgearbeitetes Verhältnis
65
Tilo Richter Bauten für Basels chemisch-pharmazeutische Industrie Die Vorläufer von Novartis Campus und Roche-Turm
88
90
Ulrike Jehle-Schulte Strathaus Vom Industrieareal zum Campus Industriebauten als Sehenswürdigkeiten – Architektur von Roche und Novartis Felix Erbacher Eine ungewisse Zukunft für Syngenta Das Übernahmeangebot aus China BAK Basel, Larissa Müller Die Life-Sciences-Industrie Ihre Bedeutung für den Wirtschaftsraum Basel
Fortschritte und Rückschläge 95
119
Alois Unterkircher Sirolin
122
Robert Labhardt Mutterkorn und Calcium
134
Beat Bächi Vitamine
137
Lea Haller Cortison
142
Patrick B. Moser Kupfer, DDT und Bacillus thuringiensis
154
Beat Bächi LSD
159
Patrick B. Moser Araldit
162
Manuel Dür Serpasil
167
Alois Unterkircher Ritalin
169
Niklaus Ingold Voltaren
174
Tilo Richter Glivec/Gleevec und Herceptin
177
Tilo Richter Tamiflu und Gilenya
Georg Kreis und Beat von Wartburg Vorwort
Chemie- und Pharmastadt Basel
72
Wirkstoffe und Produkte
Innovation als Garant der globalen Wettbewerbsfähigkeit
Die Kehrseite des Fortschritts 181
Thilo Jungkind Die Dioxin-Katastrophe von Seveso Der Störfall als Teil der Unternehmensgeschichte
191
Georg Kreis Die Dioxin-Katastrophe von Seveso Basler Reaktionen
Wissenschaft und Forschung 97
Jakob Wirz-von Planta Die Chemie an der Universität Basel Lehre, Forschung und Aussenbeziehungen seit dem 19. Jahrhundert
193 108
112
Adrian Knoepfli Brückenbauer zwischen Polytechnikum (ETH) und Industrie Robert Gnehm bei Bindschedler & Busch, Ciba und Sandoz Martin Hicklin Das Institut für Immunologie, das Friedrich-Miescher-Institut und das Biozentrum Morgenrot der Life-Sciences
Felix Erbacher Die Brandkatastrophe von Schweizerhalle Das Ereignis und der technisch-juristische Umgang damit
205
Georg Kreis Die Brandkatastrophe von Schweizerhalle Die Folgen in Basel
216
Martin Matter Altlasten auf den Deponien Die Schatten der Vergangenheit
224
Beat von Wartburg Der Hochkamin WKL-40 und die Auseinandersetzungen um seinen Abbruch Eine «Dreckschleuder als negatives Zeugnis» der Geschichte
Arbeitswelt, Arbeiterorganisationen und patronale Wohlfahrt 235
236
247
Soziale Aspekte Bernard Degen Vom Internationalen Arbeiterverein bis zur Unia Die Arbeiterschaft der Basler Chemie und ihre gewerkschaftliche Organisation Mario König Werkfotografie Arbeiter und Angestellte im fotografischen Blick
276
Eva Gschwind Firmeneigener Wohnungsbau in der Region Grösser, besser, günstiger – und ohne Staat
286
Sportmuseum Schweiz, Noëmi Rohner und Thilo Mangold Sport- und Freizeitangebote der Basler chemisch-pharmazeutischen Industrie Kleinkaliberschiessen, Fussball, Fitness
Mäzenatentum, Marketing und Kultur 295
Dank der Chemie – Kulturelle Leistungen
296
Georg Kreis Vergabungswesen, Sponsoring und Mäzenatentum Förderung von der Kultur über den Sport bis zur Politik
310
Hans-Peter Wittwer Die chemische Industrie Basels als Auftraggeber, Vermittler und Sammler von Kunst Ein Fallbeispiel: ‹Les Constructeurs› von Fernand Léger
322
Hansmartin Siegrist Cibas Eidophor Ein ‹missing link› in der Entwicklung der Bewegtbildmedien
330
Dominique Rudin Tele-Visionen Roche und ‹Neue Medien› um 1970
336
Tilo Richter und Sylvia Goeschke Medikamentenwerbung von Roche Subtile Botschaften
353
Patrick Kury Chemie und Pharmazie an den Basler Messen Auf der Suche nach der richtigen Mischung
361
Hans-Peter Wittwer Ein Blick in die Firmenzeitschriften von Ciba, Geigy und Sandoz in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Das zur Welt erweiterte Haus
370
Franz Egger Die chemisch-pharmazeutische Industrie und das Historische Museum Basel Späte Sammeltätigkeit
Materialien 379
Dominique Rudin Chronologie
Dominique Rudin Biografien Forscher, Verwaltungsratspräsidenten, Direktoren, Finanzstrategen
392
Dominique Rudin Firmenstammbaum
395
Lea Hofmann Firmenatlas
384
Verzeichnisse 405 407 416 421
Abbildungsverzeichnis Literatur und Quellen Personenregister Impressum
Roche-Areal im Wettsteinquartier, 1924
1955
1966
2015
Fortschritte und Rückschläge
95
Innovation als Garant der globalen Wettbewerbsfähigkeit Chemie und Pharma leben seit jeher von der Innovation. Deshalb ist die wissenschaftliche Forschung für diese Industrie von eminenter Bedeutung. Im ersten Beitrag dieses Kapitels geht es um die Beziehungen zwischen der Industrie und der Universität. Der Wissenstransfer zwischen der ETH und der Industrie wird an einem Fallbeispiel – dem Wirken des Professors und späteren Forschungsleiters Robert Gnehm – untersucht. Schliesslich werden drei industrieexterne Forschungsinstitute vorgestellt, die auf Initiative der Pharmaindustrie entstanden und von ihr hauptsächlich oder massgeblich unterstützt wurden. Sie alle haben durch ihre Forschungserfolge internationales Renommee erlangt. Im zweiten Teil des Kapitels werden die industrielle Forschung, ihre Erfolge und Produkte an ausgewählten Beispielen vorgestellt. Die einzelnen Wirkstoff- und Produktbiografien können nur Hinweise auf die gesamte Forschung und Produktepalette der Basler Chemie- und Pharmaindustrie geben. Auch hier zeigt sich, welche historiografischen Forschungsdefizite in Bezug auf die industrielle Forschungstätigkeit und die wirtschaftlichen Erfolge (und Misserfolge) bestehen. Abgesehen von DDT und LSD, über die bereits viel publiziert wurde, gäbe es zahlreiche andere Forschungen und Produkte, an denen sich einerseits die Nähe von Nutzen und Gefahren und andererseits die Geschichte der perfektiblen Innovation aufzeigen liesse. Dass der Fortschritt mitunter auch Kehrseiten hat, wird im dritten Teil dieses Kapitels dargestellt. Eben noch als Heilsbringer gefeiert, wurde ‹die Chemie› in einer Zeit, in der Ölkrise und Atomenergie ohnehin Fortschrittsskepsis und zunehmendes Umweltbewusstsein auslösten, durch verschiedene ‹Ereignisse› zum Prügelknaben. Die Katastrophenerfahrungen von Seveso und Schweizerhalle, haben – vor allem in ihrer Kumulation – die Bevölkerung der Region stark erschüttert und Chemie und Bevölkerung vorübergehend stark entfremdet. Aber auch die Spätfolgen der chemischen Produktion sind noch heute durch Deponie-, Bauten- und Geländesanierungen ein Thema. Hg.
98
Die Alchemie wurde um 1800 allmählich von der mo-
science française» in der Einleitung seines ‹Dictionnaire
dernen Chemie abgelöst. Erklärungen, die noch stark
de chimie pure et appliquée› (1868).
in der antiken Naturphilosophie wurzelten, mussten
Im 19. Jahrhundert übernahmen Wissenschaftler
naturwissenschaftlichen Theorien weichen, die auf
aus dem deutschsprachigen Raum eine führende Rolle
empirischen, stark verfeinerten Einzelmessungen be-
in der Chemie. Friedrich Wöhler (1800 – 1882) und Jus-
ruhten. Die Chemie ist somit im Vergleich zur Mathe-
tus von Liebig (1803 – 1873) gelten als Pioniere der or-
matik oder Physik eine relativ junge Naturwissen-
ganischen Chemie. Wöhler synthetisierte anno 1824
schaft. Ein Verständnis der Chemie auf molekularer
Oxalsäure durch Hydrolyse von Dicyan und vier Jahre
Ebene wurde erst 1808 mit der wissenschaftlich fun-
danach Harnstoff aus Ammoniumcyanat; damit wurden
dierten Atomtheorie von John Dalton (1766 – 1844)
zum ersten Mal Stoffe, die bisher nur als Produkte von
möglich. Ein weiterer wichtiger Chemiker aus der An-
lebenden Organismen bekannt waren, aus ‹unbelebter›
fangszeit war der Franzose Antoine Laurent de Lavoi-
Materie künstlich erzeugt.
sier (1743 – 1794), der ausserdem als Rechtsanwalt, Hauptzollpächter und Leiter der französischen Pulververwaltung tätig war. Mit seinem Nachweis der Rolle von Sauerstoff bei der Verbrennung widerlegte
NC – CN + 4 H2O
H
/ H2O
Dicyan
HOOC – COOH + 2 NH3 Oxalsäure
er die im 18. Jahrhundert vorherrschende Phlogistontheorie, gemäss der bei der Verbrennung die in allen
O
brennbaren Körpern enthaltene hypothetische SubsNH4
tanz ‹Phlogiston› entweiche. Er schuf auch eine systematische Nomenklatur chemischer Verbindungen, die 4
OCN
Ammoniumcyanat
Δ
H2 N
NH2
Harnstoff
zuvor mit historischen Trivialnamen bezeichnet worden waren. Lavoisier beteiligte sich an der Entwicklung
Die Hypothese des Vitalismus, nach der lebenden
des metrischen Systems und sprach sich nach Aus-
Dingen eine mysteriöse ‹vitale Kraft› innewohne,
bruch der Französischen Revolution für eine Reform
weshalb organische Stoffe streng von anorganischen
des Bildungswesens aus. Als Mitglied der Steuerpäch-
zu unterscheiden seien, behielt ihre Anhänger jedoch
ter der Pariser Zollmauer wurde er im November 1793
noch jahrzehntelang. Liebig, ein Gegner des Vitalis-
inhaftiert, als Erpresser und Steuereintreiber angeklagt
mus, der 1816 eine Hungersnot infolge des vulkani-
und am 8. Mai 1794 durch die Guillotine hingerichtet.
schen Winters erlebt hatte, entwickelte Düngemittel
Der vorsitzende Richter des Revolutionstribunals soll
und neuartige Methoden des landwirtschaftlichen
gesagt haben: «La république n’a pas besoin de savants et
Anbaus, Apparate für die Elementaranalyse sowie die
de chimistes, le cours de la justice ne peut être suspen-
konzentrierte Fleischbouillon, die noch heute unter
du.» Schon am Tag nach der Hinrichtung Lavoisiers
dem Namen Liebig Fleischextrakt erhältlich ist. Um
bemerkte der Mathematiker Louis Lagrange: «Il ne
die Erkenntnisse der Chemie einem breiteren Publi-
5
leur a fallu qu’un moment pour faire tomber cette tête
kum zugänglich zu machen, veröffentlichte er ab 1841
et cent années, peut-être, ne suffiront pas pour en re-
viel beachtete ‹Chemische Briefe› in der ‹Augsburger
produire une semblable.»6 Die Prägung der Chemie
Allgemeinen Zeitung›.7 August Kekulé (1829 – 1896)
durch Lavoisier verleitete Charles-Adolphe Wurtz zur
erarbeite die Grundlagen der Strukturtheorie organi-
berühmt-berüchtigten Aussage «La chimie est une
scher Verbindungen, welche sich mit der räumlichen
4
Lavoisier (1787).
7
5
Demazière (1980), S. 285.
6
Serret (1867), Bd. I, S. XL.
Die Texte der 6. Auflage können im Internet gelesen werden: http://www.liebig-museum.de/justus–liebig/ chemische–briefe/, Zugriff 18.7.2016.
99
Anordnung der Atome im Molekül befasst. Er postulierte die ringförmige Struktur von Benzol (C6H6) .
Benzol
Lehrstühle für Chemie an der Universität Basel Vor bald zweihundert Jahren hielten die ersten naturwissenschaftlichen Fächer Einzug an der Philosophischen Fakultät der Universität Basel.8 Im Jahr 1818 wurde Christoph Bernoulli (1782 – 1863) mit einem Lehrstuhl für Naturgeschichte betraut. Zwei Jahre später wurde Peter Merian (1795 – 1883) auf den ersten Lehrstuhl für Physik und Chemie berufen. Er amtierte in der Folge drei Mal als Rektor. Da eine Krankheit ihn daran hinderte, seinen Lehrverpflichtungen weiter nachzukommen, suchte er einen Stellvertreter. Christian Friedrich Schönbein (1799 – 1868)9 aus Metzingen bei Stuttgart übernahm diese Aufgabe 1828 vorerst für ein halbes Jahr. Schönbein hatte damals einige Studienjahre in Erlangen und Tübingen sowie in Paris an der Sorbonne verbracht, hatte aber nicht promoviert. Schliesslich wurde er 1835 aufgrund seiner guten Leistungen zum Nachfolger Merians als Ordinarius für Physik und Chemie ernannt. Sein Labor befand sich in der Waschküche im Keller des Falkensteinerhofs (Münsterplatz 11). Er war wissenschaftlich äusserst erfolgreich. So gelangen ihm 1839 die Entdeckung des Ozons (‹Riechender Sauerstoff›, O3) und 1846 die Erfindung der Schiessbaumwolle (Nitrozellulose), die wesentliche Vorteile gegenüber dem Schiesspulver aufwies und über viele Jahre in der traditionellen ‹Sprengvorlesung› der Chemiestudierenden in Basel ausgiebig verwendet wurde. 8 9
Simon (2010). Nolte (1999).
Christian Friedrich Schönbein, 1857
Sirolin-Werbung, 1937
121
er den (Geschmacks-)Nerv der Zeit: Verkaufte Roche 1898, im Jahr der Einführung des Sirolin, rund 700 Flaschen, so waren es 1899 bereits 33 000 und im Jahr darauf 78 000. 1913 konnte man nicht zuletzt dank einer geschickten Werbestrategie (Sammelbildchen und Sammelpostkarten) den Absatz dieses Präparats auf rund eine Million Flaschen steigern. Roche hatte die Marktführerschaft bei Hustensäften errungen und legte mit dem Gewinn aus dem Sirolin-Geschäft den Grundstein für den weltweiten Aufstieg des Unternehmens.2
Sirolin-Werbung (Sammelbild), um 1900
2
Text unter Verwendung von: Dietrich-Daum (2007); F. Hoffmann-La Roche & Cie. (1904); Peyer (1996).
122
Mutterkorn und Calcium
Robert Labhardt
Anfänge sind gefährdet. Es ist jeweils offen, was aus
allen voran der Firma Sandoz, einen Geschäftserfolg,
ihnen wird. Deshalb sind sie für den Historiker inte-
der den Sprung zur global agierenden Industrie er-
ressanter, lebendiger als abgeschlossene Erfolgsge-
möglichte und die Chemie zur Basler Leitindustrie
schichten. Die Gründung der pharmazeutischen Ab-
werden liess. Bei Sandoz verdoppelten sich die 6 Mil-
teilung bei Sandoz im Jahr 1917 durch Arthur Stoll ist
lionen Franken Jahresgewinn von 1914 im Laufe des
zweifellos der Beginn einer imposanten, soliden Er-
Krieges. Man gewinnt aus den Geschäftsberichten je-
folgsgeschichte in Basels Wirtschaftshistorie, wenn
ner Jahre bisweilen den Eindruck, dass die Firma fast
man sie aber bloss in ihrer Stringenz nachzeichnet
nicht wusste, wie sie das Geld sinnvoll investieren
und feiert, auch etwas langweilig. Spannend wird sie,
sollte. Gleichzeitig musste sie damit rechnen, dass
wenn man ihrer jeweiligen Offenheit, ihren Risiken
nach dem Krieg das Auftragsvolumen in der Farben-
und Konflikten folgt. Dem Beginn der pharmazeuti-
produktion rasch schrumpfen würde. Deshalb lag der
schen Forschung bei Sandoz als noch ungeschützter,
Entscheid nahe, die chemische Produktion zu diversi-
durchaus gefährdeter Prozess – dem gelten die folgen-
fizieren und zwar in einen Bereich, der im Laufe des
den quellengestützten Beobachtungen. Dabei rücken
Kriegs zunehmend vernachlässigt worden war: in den
drei konstitutive Merkmale der Pharmaindustrie in
Bereich der Medikamente.
den Blick: die Spannung zwischen wissenschaftlicher
Im Jahre 1916 gelangte der technische Direktor
Innovation und kommerziellem Druck, die Verlänge-
der Sandoz, Melchior Böniger, an Robert Gnehm, den
rung der Entwicklungs- und Einführungsdauer phar-
Präsidenten des Schulrats der ETH Zürich und Schlüs-
mazeutischer Produkte und die Notwendigkeit inter-
selfigur der Schweizer Chemie, mit der Anfrage, ob er
disziplinärer Zusammenarbeit in der Forschung.
einen «hervorragend ausgebildeten und vielseitig be-
1
gabten» Chemiker wüsste, der befähigt wäre, für Sandoz eine pharmazeutische Abteilung aufzubauen.2 Sandoz Sandoz beruft Arthur Stoll
bekam den Aargauer Arthur Stoll empfohlen. Stoll war damals Oberassistent beim Nobelpreisträger Richard
Der Erste Weltkrieg hatte der Basler Chemie eine enor-
Willstätter in München und unterstützte diesen bei sei-
me Schubkraft verliehen. Der Wegfall der deutschen
nen Forschungen zum Chlorophyll. Eben hatte der erst
Konkurrenz, der Farbenhunger der alliierten Kriegs-
29-Jährige in München den Professorentitel verliehen
mächte und das kriegsverschonte Umfeld der neutra-
bekommen. Im April 1917 kam der Vertrag mit Sandoz
len Schweiz erbrachten den chemischen Betrieben, und
zustande, und am 1. Oktober trat er seine Stelle an.
1
2
Ich danke Walter Dettwiler, dem Leiter des Archivs der Firma Novartis AG, für Unterstützung und Anregung. Stolls privater Nachlass wurde mir freundlicherweise von Beat Stoll zur Verfügung gestellt. Ausführlich finden sich Stolls Anfänge bei Sandoz auch bei Studer (1986), Fritz (1992) und Schaad (2001) behandelt.
Carl Maurice Jacottet in: ‹Unser Weg und Werk›, Hauszeitung der Sandoz AG, Januar 1957, S. 3. Ähnlich auch: Dettwiler (2013), S. 4.
123
Mehrere Gründe verlockten Stoll zum Wechsel in die
Gebiet der Biochemie neu betritt, wird sich bald daran
Basler Chemie. Einmal der Krieg, welcher in München
gewöhnen müssen, in aller Bescheidenheit zu versu-
seiner jungen dreiköpfigen Familie bei einer Lebens-
chen, von den Lebensvorgängen etwas zu lernen, d.h.
haltung am Rande des Hungers mehr und mehr zu-
der Natur etwas abzulauschen. Er kann nicht, wie in
setzte.3 Da musste die Aussicht auf eine existenziell
der reinen organischen Chemie, schöne Formeln für
gut abgesicherte Position in der Schweiz reizen. Das An-
eine Synthese aufschreiben und sagen: ‹So muss es ge-
gebot der Sandoz versprach ausserdem Vielseitigkeit
hen›, und der Materie befehlen.»5 Beobachtung, Fein-
und relativ grosse Autonomie. Und schliesslich bedeu-
gefühl, Fantasie, Enthusiasmus und Ausdauer seien
tete der Neuanfang wohl auch eine biografisch fällige
nötig, um in die komplexen Wirkungszusammenhän-
Emanzipation von seinem Übervater Willstätter. Mit der
ge lebendiger Organismen vorzustossen und deren
Drucklegung ihrer gemeinsamen Chlorophyllstudien
wirksame Essenz in ihrer Reinheit zu extrahieren. Jah-
war diese nun möglich. Willstätter wandte sich der En-
re später lobte der Pharmazie-Ordinarius Karl Heinrich
zymforschung zu, Stoll der Extraktion reiner Natur-
Zörnig Stolls behutsam-intuitiven Ansatz als zukunft-
stoffe und ihrer industriellen Verwertung.
weisend:
4
«Sicher sei, dass die pflanzlichen Arzneimittel im Wiederaufstieg begriffen seien, man könne von einem Wissenschaft und Industrie – Stolls Vision
gewissen Rückschlag gegen die rein chemisch-synthetischen Präparate sprechen. Über diese Ansicht könne
Stoll setzte sich bei Sandoz von Anfang an ab von der
er gute Belege bringen. Es gäbe auch Pharmakologen,
Vorherrschaft der synthetischen Chemie. Diese analy-
die das schon einsehen und ihre Meinung, dass man
sierte die molekulare Konstitution natürlicher Roh-
ein Arzneimittel nur anerkennen soll, wenn sein Wir-
stoffe und ahmte sie in künstlichen Synthesen nach.
kungsträger ein chemisch erfasster Körper sei, umstel-
Stoll dagegen liess sich von der in der Chlorophyllfor-
len. – Der Aufstieg der Homöopathie hänge auch et-
schung gewonnenen Erfahrung leiten, dass viele Na-
was zusammen mit der Erkenntnis, dass die Natur,
turstoffe hochempfindlich sind, sich bei chemischer
der lebende Organismus, in dem Falle die Pflanze, eine
Behandlung ausserhalb der schützenden Zellsubstanz
unendlich reichere, feinere, kompliziertere syntheti-
leicht zersetzen und damit ihre spezifische Wirkung
sche Produktionsstätte sei als das chemische Labor
verlieren. Es ging ihm nicht um synthetische ‹Nach-
der Fabriksynthetiker. Er glaubt, dass Sandoz auf dem
schöpfung› der Natur, sondern um die behutsam-scho-
rechten Weg sei, der sich in Zukunft immer besser
nungsvolle Freilegung, chemisch: ‹Reindarstellung›,
lohne.»6 Stolls Suche nach reinen, medizinisch wirksamen
empfindlicher Naturstoffe, um sie dem Menschen therapeutisch nutzbar zu machen.
Pflanzensubstanzen war riskanter als die relativ rasche
Stoll selber hat seine Differenz zur traditionellen
und günstige Produktion synthetischer Arzneimittel.
organischen Chemie in einer Art selbstbewusster De-
Sie nahm aber zukunftweisend teil an jenem Para-
mut so charakterisiert: «Der junge Forscher, der das
digmenwechsel, der einer pharmazeutischen Chemie
3 4
5 6
Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft (1961), S. XIV. Stolls Verehrung für Willstätter blieb bis an dessen Lebensende 1942 ungebrochen. Er verhalf ihm 1938 zur Flucht in die Schweiz. Willstätter scheint reservierter geblieben zu sein, so jedenfalls der Eindruck aus seinen Lebenserinnerungen. 1933 erlebte er, wie Stoll ihm «unter dem Druck der Verhältnisse» das Verwaltungsratspräsidium bei Sandoz Nürnberg aufkündigte.
Stoll (1933), S. 8. FA Novartis: Sandoz H 104.006, 16.4.1926 (Reisebericht von Ed. Wagner).
Grossflächige Pestizid-Versprühung, um 1950
Werbeplakat fĂźr Gesarol, 1946
Werbung der Sandoz fĂźr den Tranquilizer Melleretten (Ritalin-Konkurrenzprodukt) gegen kindliche VerhaltensstĂśrungen, ca. 1960
167
Ritalin
Alois Unterkircher
«Ob der Philipp heute still // wohl bei Tische sitzen will?» Diese Frage stellten sich die Eltern des zappeligen Knaben im ‹Struwwelpeter›, jenem 1845 erschienenen Klassiker der schwarzen Pädagogik, vor jedem Nachtessen. Doch an diesem Abend geht die vom Arzt Heinrich Hoffmann erdachte Geschichte böse aus: Der Sohn wird vor den Augen der genervten Eltern unter einem Berg von Geschirr begraben. Wäre die Familie entspannter zum gemeinsamen Mahl geschritten, wenn es zu dieser Zeit bereits Ritalin gegeben hätte? Heute ist Ritalin unter den Präparaten auf Amphetamin-Basis das meistverschriebene Medikament zur Behandlung von Kindern mit der Diagnose AD[H]S (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivität-Syndrom). Tendenziell vervielfachten sich während der letzten zwanzig bis dreissig Jahre in nahezu allen Industrienationen die Verkaufszahlen dieses Medikaments, in der Schweiz etwa stieg der jährliche Verbrauch des Wirkstoffs zwischen 1997 und 2000 von 5,9 auf 27,3 Kilogramm an. Die USA sind mit rund 90 Prozent aller verkauften Packungen der weitaus grösste Markt für die Firma Novartis, die dieses Produkt 1954 (damals noch als Ciba) unter der Handelsbezeichnung Ritalin auf den Markt brachte. Dabei war diese Substanz zunächst gar nicht für die Behandlung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten gedacht. Aufgrund ihrer euphorisierenden Wirkung sah Leandro Panizzon, der 1944 als Chemiker bei der Firma Ciba die Substanz Methylphenidat erstmals synthetisierte, das Einsatzgebiet in erster Linie bei Erwachsenen mit einer depressiven Verstimmung oder einer chronischen Müdigkeit. Die Kinderpsychiatrie der 1950er-Jahre wurde allerdings schnell auf Ritalin, dessen Bezeichnung sich aus dem Kurznamen von Panizzons Frau Marguerita (‹Rita›) ableitete, aufmerksam. Denn es zeigte bei gleicher Wirkung deutlich
Ritalin-Packung, um 2005
Voltaren-FachbroschĂźre (Ă–sterreich), 1976
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Packung weisser, nicht so grau
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2009 – 2010 in Krankenhäuser kamen, das Sterberisiko
behandelt, die entweder an rasch fortschreitender oder
um 25 Prozent gesenkt» hätten. Tamiflu ist heute das
hochaktiver, schubförmig-remittierend verlaufender
5
meistverkaufte Grippemittel der Welt. Die Umsätze im
Multipler Sklerose erkrankt sind – zwei der häufigsten
Zeitraum von 2002 bis 2015 beliefen sich auf mehr als
Verlaufsformen der MS, die insgesamt circa 60 Prozent
11 Milliarden US-Dollar. Die USA sind dabei mit Ab-
der Patienten betreffen. Wegen erheblicher Risiken
stand der umsatzstärkste Markt. Umsätze durch staat-
und Nebenwirkungen ist das Medikament nur für spe-
liche Einkäufe in Europa gingen im Jahr 2015 stark
zifische Patientengruppen zugelassen und wird vor-
zurück, nachdem im Vorjahr grosse Vorräte angelegt
nehmlich für eine Zweitlinientherapie gewählt.7 Mit weltweiten Einnahmen in Höhe von knapp
worden waren.
2,8 Milliarden US-Dollar im Jahr 2015 ist Gilenya Zu den umsatzstarken Medikamenten von Novartis
nach dem Krebsmedikament Glivec / Gleevec das um-
zählt Gilenya (ursprünglich Gilenia), dessen Wirkstoff
satzstärkste Novartis-Pharmazeutikum; zudem ver-
Fingolimod seit 2010 zur Behandlung von Multipler
zeichnete das Unternehmen eine deutliche Steigerung
Sklerose (MS) in den USA, seit 2011 auch in der Schweiz
der Verkäufe im Vergleich zum Vorjahr.8
und der EU zugelassen ist. Der therapeutische Einsatz von Gilenya geht zurück auf die Entdeckung der immunsuppressiven Wirkung des Naturwirkstoffs Myriocin zu Beginn der 1990er-Jahre an der Universität Kyoto. Die Lizenz zur Verwendung des zu Fingolimod veränderten Myriocins erwarb Novartis im Jahr 1997 von der japanischen Firma Yoshitomi. «Fingolimod ist das synthetisch hergestellte Stoffwechselprodukt des Pilzes Isaria sinclairii, der in der traditionellen chinesischen Medizin eingesetzt wird. Das Immuntherapeutikum Fingolimod ist der erste Vertreter einer neuen Wirkstoffklasse, den sogenannten S1P-Rezeptor-Modulatoren.»6 Ein über sieben Jahre angelegtes Studienprogramm mit etwa viertausend Patienten machte diesen MS-Wirkstoff zu einem der bestuntersuchten weltweit. Fingolimod verhindert die Wanderung von Immunzellen (Lymphozyten) aus den Lymphknoten und Immunorganen in die Blutbahn und ins zentrale Nervensystem, wodurch die Zerstörung der für die Erregungsleitung in Nervenzellen zuständigen Myelinscheiden verhindert werden soll. Mit Gilenya werden nahezu ausschliesslich jene Patienten 5
6
http://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2014-04/tamiflugrippemittel-wirksamkeit (publiziert 10.4.2014), Zugriff 27.6.2016. https://www.dmsg.de/multiple-sklerose-infos/index.php? kategorie=msbehandeln&kategorie2=&kategorie3=basistherapie& msbnr=11&menusub2=1&menusub3=2&menusub4=1, Zugriff 28.6.2016.
7
Umfangreiche Informationen zu Indikation und Bewertung unter http://www.akdae.de/Arzneimitteltherapie/NA/ Archiv/2011021-Gilenya.pdf, Zugriff 28.6.2016.
8
https://www.novartis.com/investors/financial-data/productsales, Zugriff 18.7.2016.
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Der Hochkamin WKL-40 und die Auseinandersetzungen um seinen Abbruch" Eine «Dreckschleuder als negatives Zeugnis» der Geschichte
Beat von Wartburg
«Er ist 122 m hoch, 44 Jahre alt, das Gedeih der Firma
der ‹chemischen› Vergangenheit und als Zeichen der
Ciba, bzw. Ciba-Geigy AG fand in seinem Schatten-
Umwelt- respektive Luftverschmutzung ein Dorn im
kreis statt und er ist, entgegen anderslautender An-
Auge. Für aktive und ehemalige Mitarbeitende der
gaben, bestens erhalten. Wenn man den Rhein über-
Ciba-Geigy, für Denkmal- und Heimatschützer und
quert, sticht er einem unweigerlich ins Auge. Von den
insbesondere für die umliegenden Quartiere Klybeck
Anhöhen rings um Basel wirkt er als Orientierungszei-
und Kleinhüningen hingegen war die Vorstellung, dass
chen. Viele haben dank ihm den Weg ins Werk Klybeck
der Kamin aus dem Stadtbild verschwinden sollte, un-
gefunden. Die Rede ist vom weissen Hochkamin an
erträglich. Sie empfanden den Bruch mit der Vergangen-
der Klybeckstrasse.»1
heit als Identitätsverlust, als Sakrileg. Nachfolgend die
Der «gewaltige Schornstein»2 wurde 1955/56
Chronik einer spannenden Auseinandersetzung und
mit dem Ziel erbaut, die Produktionsabgase in grosser
des letztlich vergeblichen Kampfs um ein industrielles
Höhe auszustossen, um auf diese Weise die Quartier-
Baudenkmal.
bevölkerung vor den Werkemissionen zu verschonen.
Mit den eingangs zitierten Zeilen hatte sich der
Nachdem 1985 die Luftreinhalteverordnung in Kraft
Neutrale Quartierverein (NQV) ‹Pro Kleinhüningen›
getreten war, mussten die Produktionsabgase fortan
am 9. März 1998 an die Novartis AG gewandt. Aus gut
direkt an der Quelle erfasst und gefiltert werden. Der
unterrichteter Quelle wisse man, dass das Wahrzeichen,
Hochkamin wurde dadurch nutzlos, sein Betrieb ab
das auch die Geschichte der Basler Chemie wesentlich
Anfang der 1990er-Jahre eingestellt.
geprägt habe, verschwinden solle. Dies dürfe unter
Nach der damals weltweit grössten Firmenfusion
keinen Umständen geschehen, denn «das Kamin ge-
der beiden Basler Pharma- und Chemieunternehmen
hört zu Kleinhüningen und zum Novartis Werk Kly-
Sandoz und Ciba-Geigy AG machte sich 1996 das neue
beck, wie der Rhein zu Basel».3
Unternehmen Novartis an die Nutzungsplanung der
Doch die Novartis hielt an ihrem Vorhaben fest.
verschiedenen Basler Werkareale. Dazu gehörte auch
Am 15. August 2001 orientierte sie anlässlich eines soge-
das Werk Klybeck mit seinem markanten Kamin. Die
nannten Feierabendgesprächs Quartiervertreter über
Geschichte seines Rückbaus ist ein metaphorisches
ihre Absicht. Die Quartiervertreter hätten dabei – an-
Stück Desindustrialisierungsgeschichte in der Stadt
ders als der NQV ‹Pro Kleinhüningen› – den Wunsch
Basel. Einst Landmarke und Symbol der industriel-
geäussert, dass nun nach dem Abbruch des Kamins
len Prosperität war er der Novartis, die sich als ein Unter-
K-355 der Ciba Spezialitätenchemie auch der Hochka-
nehmen der Gesundheitsindustrie verstand, als Relikt
min der Novartis weichen möge.4 Bestärkt durch diese
1
3
2
Schreiben des Neutralen Quartiervereins ‹Pro Kleinhüningen› an Novartis Services, 9.3.1998. Vgl. für diese und die folgenden Quellenhinweise die letzte Anmerkung dieses Beitrags. Ciba-Blätter, 1956, Zitat in: Erweitertes Inventar, Beilage zum Unterschutzstellungsantrag der Basler Denkmalpflege, 2002, S. 1.
4
Schreiben des Neutralen Quartiervereins ‹Pro Kleinhüningen› an Novartis Services, 9.3.1998. Stellungnahme der Novartis gegen die geplante Unterschutzstellung des Kamins, Schreiben des Novartis-Anwalts an den Vorsteher des Erziehungsdepartements, 12.6.2002.
Hochkamin WKL-40, erbaut 1955/56
Videokonferenz, International Communication Display Center auf dem Novartis Campus, 2013
Letzte Forschungssitzung mit Arthur Stoll, Sandoz, 1956
Eidophor-Projektionsapparat, um 1959
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Standbilder aus dem Auftragsfilm ‹Die Geburt der Farbe› von Hans Richter für die Basler IG der Chemiekonzerne Ciba, Geigy und Sandoz anlässlich der Landesausstellung 1939, mit einem Auftritt von Meret Oppenheim als Mannequin