Kleine Basler Weltgeschichte Matthias Buschle Daniel Hagmann Christoph Merian Verlag
Kleine Basler Weltgeschichte Matthias Buschle, Daniel Hagmann
Christoph Merian Verlag
Inhalt S. 9 Einleitung S. 13 «Zucker … Spinat … Hämoglobin». Die Messung von Gustav von Bunge S. 20 ‹Der Stoff, aus dem die Träume sind›. Die Entdeckung von LSD
S. 28 Freidorf und Bauhaus. Weltarchitektur mit Basler Fundament S. 34 Eiskunstläufer, Sprichwort, Slang und Erasmus von Rotterdam
S. 39 Von der Kunst des Kunsthandels. Die ‹Art Basel› S. 45 Die Glocken von Basel. Von der modernen Frau und dem Weltfrieden S. 51 Wo bitte ist Basel III? Die Stadt und die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich S. 56 Ein «Bild zum Träumen». ‹Die Toteninsel› S. 61 Tierliebe, Knochenschrauben, Börsengang. Vom Aufschwung der Unfallchirurgie
S. 66 Kortison und Vitamin C. Tadeus Reichstein, ein Meister im Aufspüren von Kleinstem S. 72 Eine bittersüsse Erfolgsgeschichte. Mission, Sklavenbefreiung und Kakaohandel S. 78 Habent sua fata libelli. ‹Über den Prozess der Zivilisation› S. 83 Ein krankes Bein. Paracelsus und die Reform der modernen Medizin
S. 91 Romantisches Matriarchat. Johann Jakob Bachofen und das Mutterrecht S. 98 Stein des Anstosses. Die Ursprünge des Weltnaturschutzes S. 105 Gift für die Welt. Aus Dichlor diphenyltrichlorethan wird DDT S. 110 Ein Lied für den Frieden. Vermittlung zwischen Revolution und Monarchie in Basel
S. 116 S.P.Q.B. statt S.P.Q.R. Konklave und Papstkrönung in Basel S. 123 Nietzsches Erstling. Die Tragödie bei der Geburt seiner Philosophie S. 131 Explosiv! Christian Friedrich Schönbein und die Schiessbaumwolle S. 136 Kampf der Kulturen. Der Aufruhr um den ersten Korandruck
S. 143 Neue alte Musik. Die ‹Schola Cantorum Basiliensis› und Paul Sacher S. 150 «In Basel gründete ich den Jüdischen Staat.» Die Zionistenkongresse in Basel S. 156 Eine Schrift geht um die Welt. Wie aus der ‹Haas Grotesk› die ‹Helvetica› wurde
S. 162 Das Jahrhundert der Bernoulli. Acht Vertreter einer Familie beeinflussen die Welt S. 166 Die russische Kehrseite. Eine andere Basler Weltgeschichte S. 174 Dank S. 175 Impressum
Einleitung «Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?» Diese Frage stellte 1972 der Mathematiker, Meteorologe und Miterfinder der Chaostheorie Edward N. Lorenz. In unserer ‹Kleinen Basler Weltgeschichte› wird diesem Schmetterlingseffekt nachgegangen, und zwar von einer lokalen Perspektive aus: Zentrum der Welt in diesem Buch ist Basel. Auch hier geschahen Ereignisse, Erfahrungen und Entdeckungen, die letztlich die Welt als Ganzes verändert haben – ungeachtet ihrer ursprünglichen Zufälligkeit, scheinbaren Irrelevanz oder nachgeordneten Bedeutung. «Weltstadt im Taschenformat», so nannte das deutsche Nachrichtenmagazin ‹Der Spiegel› die
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Stadt Basel. Doch ist Basel wirklich eine Weltstadt? Obwohl hier Global Player mit Weltruf tätig waren und sind – man denke an Erasmus von Rotterdam, Friedrich Nietzsche, Herzog & de Meuron und die Basler ‹Chemischen› –, ist Basel eher Provinz als Metropole. Dies durchaus im ursprünglichen Sinn des Wortes Provinz: ein selbstständiger Teil eines grösseren Ganzen. Wenn kleine Ereignisse ein System langfristig unvorhersehbar verändern können, dann kann auch von Basel aus Weltgeschichte gemacht werden. Der Schmetterling in Brasilien fände seine Entsprechung in der Lachmöwe über dem Rheinknie… Dieses Buch spürt solchen Wirkungen nach. Es blickt von Basel aus auf die Welt und fragt: Was geschah hier, das globale Folgen gezeitigt hat? Welche Ideen und Produkte aus Basel beeinflussten den Lauf der Weltgeschichte? Die ‹Kleine Basler Weltgeschichte› ist ein Heimatbuch, ein mit Heimatliebe geschriebenes Buch. Ganz im Sinne Gerhard Meiers, des grossen Schweizer Autors: «Ich glaube, dass man nur Weltbürger wird über den Provinzler. Man muss den Dienstweg einhalten: erst Provinzler, dann Weltbürger.» Die ‹Kleine Basler Weltgeschichte› mag eine Nabelschau sein, sie verzichtet aber auf Selbstüberhöhung. Sie gründet auf einem ganz anderen Motiv: dem ‹St. Mary Mead-Prinzip›. Dieser fiktive englische Ort kann mit einer bemerkenswerten Kriminalstatistik aufwarten: Innerhalb von etwa vierzig Jahren wurden dort sechzehn Morde verübt. In den
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Worten von Miss Marple: «Schlimme Sachen passieren in so einem Ort, das kann ich Ihnen sagen. Hier hat man Gelegenheit, die Dinge zu beobachten, wie man das in einer Stadt nie hat.» Agatha Christies Miss Marple, eine leicht schrullige ältere Dame, löst ihre Fälle mithilfe eines einfachen und äusserst wirkungsvollen Prinzips: Sie hinterfragt alltägliche Merkwürdigkeiten und erkennt darin den Schlüssel der Verbrechen. «Wer zerschnitt die Maschen von Mrs. Jones’ Einkaufsnetz? Warum trug Mrs. Sims ihren neuen Pelzmantel nur ein einziges Mal?» In der ‹Kleinen Basler Weltgeschichte› wird zwar keine Kriminalistik betrieben. Doch wie St. Mary Mead wird hier Basel zur Folie, um die Welt zu betrachten. Warum Basel? Für die Wahl der Stadt am Rheinknie spricht zumindest ein prominenter Zeuge. «Basel ist, wie mir scheint, entweder der Mittelpunkt der Christenheit oder liegt doch nicht weit von ihm entfernt.» Dies schrieb einst Enea Silvio Piccolomini, später bekannt als Papst Pius II., anlässlich des Konzils von Basel (1431 – 1449). In heutige Sprache übersetzt könnte man sagen: Das Besondere an Basel ist nicht, dass diese Stadt stärker als andere mit der Weltgeschichte verknüpft ist, sondern wie sie damit verwoben ist. Dabei meint ‹Welt› nicht ‹die ganze Welt›, sondern eher ‹Um-Welt›, die konzentrisch erweiterbare Region um die Stadt herum. Zuweilen mögen die Auswirkungen bis über die Weltmeere reichen, manchmal aber auch nur Europa bewegen.
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Das vorliegende Buch ist ein ‹Essay› im ursprünglichen Sinn, ein Versuch. Es setzt sich aus vielen Essays zusammen, aus frei gestalteten Texten jenseits wissenschaftlicher Sprache, die sich wohl an Fakten halten, Zusammenhänge zuweilen aber auch mit Lust und Humor schaffen. Demselben Prinzip gehorcht die Auswahl der Geschichten: Zwar wurde versucht, die wichtigsten ‹Weltereignisse› zu berück sichtigen; eine Leistungsschau sollte es aber nicht werden. Ebenso wichtig ist das Kleine, manchmal schon Vergessene. So könnte man die ‹Kleine Basler Weltgeschichte› noch um viele Seiten ergänzen: etwa um die Bedeutung von Karl Barth, dem Kirchenvater des 20. Jahrhunderts; das erste weltweit in einem Zoo geborene Panzernashorn; die Wirkungsgeschichte der kleinen Alltagshilfen Valium und Ritalin; die Geschichte des Fertigteigs; die Verbindung von Kapital, Rum und Sklavenhandel; die Ansiedlung des gefährlichen Riesenbärenklaus in Europa oder die Erfindung der Schmerzfreiheit. Matthias Buschle und Daniel Hagmann
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« Zucker … Spinat … Hämoglobin ». Die Messung von Gustav von Bunge « 100 g Trockensubstanz enthalten mg Eisen: Zucker … 0 / Blutserum … 0 / Weisses vom Hühnerei … Spur / Honig … 1,2 / Reis … 1,0 – 2,0 / Gerstengraupen … 1,4 – 1,5 / Birnen … 2,0 / Datteln … 2,1 / Kuhmilch … 2,3 / Frauenmilch … 2,3 – 3,1 / Pflaumen … 2,8 / Hundemilch … 3,2 / Feigen … 3,7 / Himbeeren … 3,9 / Geschälte Haselnüsse … 4,3 / Gerste … 4,5 / Kohl, innere gelbe Blätter … 4,5 / Roggen … 4,9 / Geschälte Mandeln … 4,9 / Weizen … 5,5 / Trauben (Malaga) … 5,6 / Heidelbeeren … 5,7 / Kartoffeln … 6,4 / Erbsen … 6,2 – 6,6 / Kirschen, schwarze ohne Stein … 7,2 / Bohnen, weisse … 8,3 / Karotten … 8,6 / Weizenkleie … 8,8 / Erdbeeren … 8,6 – 9,3 / Linsen … 9,5 / Mandeln, braune Häute … 9,5 / Kirschen, rothe ohne Stein … 10 / Haselnüsse,
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braune Häute … 13 / Aepfel … 13 / Löwenzahn, Blätter … 14 / Kohl, äussere grüne Blätter … 17 / Spargel … 20 / Eidotter … 10 – 24 / Spinat … 33 – 39 / Schweineblut … 226 / Hämatogen … 290 / Hämoglobin … 340 » Es war eine dieser Tabellen des Basler Physiologen Gustav von Bunge (1844 – 1920), die den Siegeszug des Spinats als das Gemüse mit dem höchsten Eisenanteil begründen sollte. Gedruckt wurde sie in seinem ‹Lehrbuch der Physiologie des Menschen›, in der ersten Auflage von 1901. In dieser Liste steigen die Eisenwerte mit den Substanzen an: Zucker enthält kein Eisen, Hämoglobin, also der Farbstoff der roten Blutkörperchen, am meisten (übrigens ist das Hämatogen ein Stoff, dem von Bunge selbst erst auf der Spur war; die Wortbildung ‹Hämatogen› – als Übergangsbegriff von ihm geprägt – heisst übersetzt ‹Bluterzeuger›). Spinat ist das letzte Gemüse auf der Liste, also das Grünzeug mit dem meisten Eisen. Es gibt jedoch eine entscheidende Einschränkung, und die steht in der ersten Zeile der Liste: «100 g Trockensubstanz enthalten». Nun essen wir nicht Spinatpulver, die Pflanze besteht zu gut neunzig Prozent aus Wasser. Das heisst: Was wir zu uns nehmen, enthält nur 3,3 bis 3,9 mg Eisen pro 100 g – das macht Spinat zwar zu einem eisenreichen Gemüse, ergibt aber nicht die überragenden Werte der Pulverform. Ein Denkfehler. In Fachtexten ebenso wie in Zeitungsartikeln wird das Spinat-Beispiel gerne ange
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führt, wenn von einem Denkfehler berichtet werden soll. Die Auswirkungen dieses Irrtums waren schliesslich weitreichend: Über Generationen wurden Kinder mit Spinat gefüttert, obwohl nur die wenigsten dieses bitter schmeckende Ge müse mögen. Es gibt sogar Erzählungen, dass die Mutter Vanillepudding mit Spinat gekocht habe, um in dieser süssen Tarnung das gesunde Essen den Kleinen genehm zu machen. Einen ähnlichen Trick stellte 1929 in den USA die Erfindung der Comicfigur Popeye dar, die es ein Jahr später sogar in die Kinos schaffte. In kritischen Situationen – nicht in seinen ersten Jahren, sondern erst, als Popeye in Ernährungskampagnen eingesetzt wurde – öffnet der Matrose eine Büchse mit Spinat und verschlingt diesen. Prompt wandelt er sich zum Kraftprotz, der dank Spinat-Kraft seine Gegner besiegt. Sicherer Gewinner dieser frühen PR-Aktion war in jedem Fall die Herstellerfirma des Dosenspinats: Sie verzeichnete in der Folge eine Steigerung des Dosenspinatkonsums um einen Drittel. Ein Denker. Doch zurück nach Basel, zu Gustav von Bunge. Er war gebürtig aus Dorpat (heute Tartu, Estland), die Familie gehörte der schmalen deutschen Oberschicht an. In Dorpat schloss er auch das Studium der Chemie ab und habilitierte sich in Physiologie. Anschliessend studierte er Medizin in Leipzig und Strassburg und wurde an der Universität Leipzig als Mediziner promoviert. 1885 erhielt er einen Ruf an die Universität Basel. Hier lebte, forschte und lehrte er bis zu seinem Tod.
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Gustav von Bunge war ein ausgezeichneter Wissenschaftler von exzellentem Ruf. Obwohl ihm andere Professuren angeboten wurden, zog er es vor, in Basel zu bleiben. Auf vielen Forschungsgebieten der Physiologie gilt er als Wegbereiter: So legte er Grundlagen in der Vitaminforschung, er war ein Pionier der Erforschung der Milch- und der Mineralstoffe und ein früher Warner vor Industriezucker wie auch vor Alkohol und Nikotin. Heute allerdings wird von ihm meist nur in zwei Zusammenhängen gesprochen: wegen der Spinat-Frage und wegen seines Eintretens für die Abstinenzbewegung. Denn von Bunge war der Meinung, dass übermässiger Alkoholkonsum zu einer möglichen Schädigung des Erbguts führe. Ein Gedanke. Eine bedeutende Entdeckung Gustav von Bunges war die Rolle von Eisen in der Ernährung. Im Laufe seiner Forschungen zur Milch stellte er fest, dass dieses Getränk an sich sehr wenig Eisen enthält (siehe die obige Tabelle). Da Eisen jedoch bereits damals als lebensnotwendiger Stoff galt, forschte von Bunge an neugeborenen Tieren. Er stellte sich die Frage, woher Jungtiere das wichtige Eisen erhielten. Und er kam – auch hier untersuchte er die Trockenmasse – zu erstaunlichen Ergebnissen: Bei Säugetieren bekommen die Neugeborenen eine grosse Menge an Eisen von der Mutter mit. In den ersten Lebenswochen wird dieses Depot abgebaut, aber es reicht so lange aus, bis die Jungen selbst eisenhaltige Nahrung zu sich nehmen können. Von Bunges Paradebeispiel waren
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die Meerschweinchen: Sie fressen sofort nach der Geburt Grünzeug, weshalb ihr Vorrat an Eisen gering ist. Aus diesem Grund untersuchte der Physiologe den Eisengehalt verschiedener Lebensmittel. Seine Ergebnisse publizierte er in insgesamt drei erfolgreichen Lehrbüchern, die mehrere Auflagen und Übersetzungen erlebten. Auf diese Weise kam auch seine Tabelle mit Eisenwerten unters Volk. Er war nicht nur Theoretiker, ihm lag ebenso die Umsetzung am Herzen. Deshalb machte er konkrete Er nährungsvorschläge. Zum Beispiel fand von Bunge heraus, dass Weissmehl nur sehr wenig Eisen enthält: «Nächst der Eisenarmuth der Milch ist die überraschende Thatsache die Eisenarmuth der wichtigsten vegetabilen Nahrungsmittel, der Cerealien [also Ge treide], wenigstens in der Form, wie sie gewöhnlich genossen werden, d.h. befreit von den Samenschalen, der sogenannten Kleie. Das Reiskorn, wie es in den Handel kommt, ist bereits von der Schale be freit; es entspricht nicht dem Gerstenkorn oder Weizenkorn, sondern den Graupen oder dem Weiss brodmehl. Beim Beuteln des Mehles wird die Schale, die sogenannte Kleie, von dem Mehl getrennt. […] Das Eisen der Cerealien steckt in den Schalen. Die Weizenkleie enthält 5mal soviel Eisen wie das Weizenmehl.» Aus diesem Grund propagierte von Bunge das Vollkornbrot: «Das Kleiebrod hat einen 4fachen Vorzug vor dem Weissbrod: 1. ist es eisenreicher, 2 . ist es kalkreicher […], 3. regt es durch
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seinen Cellulosegehalt die Darmperistaltik an […], 4. reinigt es die Zähne.» Als Hauptquelle von Eisen schlug er Fleisch vor, ergänzend dazu Gemüse: «Dahin gehören ausser dem bereits er wähnten Kleiebrod die Kartoffel, die Karotte, der Kohl, die Leguminosen.» Seine Anliegen illustrieren die veränderte Rolle der Ernährung in der Industriegesellschaft: nicht mehr definiert von Hunger und Sättigung, Mangel und Vorrat, sondern auch von gesundheitlichen Überlegungen. Ein Erfolg. Von Bunges Vorschläge fanden weite Verbreitung. Stellvertretend sei hier eine Stimme auf einem Medizinerkongress von 1895 zitiert, ein Professor Heubner: «Ich kann wohl sagen, dass ich persönlich sehr glücklich gewesen bin, als ich die erste Arbeit des Herrn Bunge in dieser Beziehung kennen lernte und mit grösstem Interesse alle seine Untersuchungen verfolgte. Es hat sich mir inzwischen als von ausserordentlichem Vortheil erwiesen, diesen jungen Kindern frühzeitig sogar Ge müse zu geben. Ich bin in meinem Wirkungskreise – wo man sich ja das Vertrauen erst zu erwerben hat – in dieser Beziehung manchmal ausserordentlich grossem Erstaunen begegnet, wenn ich Eltern, die mich consultirten, sagte: Geben Sie dem Kinde – das vielleicht 8 Zähne hatte – jeden Tag ein Löffelchen Spinat oder Möhren oder dergleichen. Ich habe das aber auf Grund einer langen und gründlichen Erfahrung gethan. Ganz neuerdings muss sich auch in Berlin die Wahrnehmung von dem Nutzen dieses Verfahrens doch verbreitet haben.»
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Und hier – von Bunge selbst führte diese Stimme in seinem Lehrbuch an – kommt durch die Hintertür der Spinat doch noch zu seinem unverdienten Ruhm aus des Mitforschers Mund, denn von Bunge liess in diesem Zitat den Spinat unwidersprochen stehen. Ganz unschuldig ist er an den Spinat-Qualen so vieler Kinder also nicht. Ein Gedankenexperiment. Aber es hätte schlimmer kommen können. Denn eigentlich schlug Gustav von Bunge ein anderes Lebensmittel als Eisenquelle vor – zum Glück, ohne damit Gehör zu finden: «Ein Stückchen Blutwurst leistet dieselben Dienste.» Man stelle sich vor: Vanillepudding mit Blutwurst. Bu. � Bunge, Gustav von: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Leipzig 1905. � Féron, François: Spinat enthält viel Eisen. In: Bouvet, JeanFrançois u.a. (Hg): Vom Eisen im Spinat und anderen populären Irrtümern. Beliebte Volksweisheiten und kuriose Denkfehler unter die Lupe genommen. München 1999, S. 183 – 186. � Schmidt, Gerhard: Das geistige Vermächtnis von Gustav v. Bunge. Basel 1973. � Winkler, Willi: Die grosse Spinat-Verschwörung. In: Süddeutsche Zeitung, München, 7. August 2010.
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‹Der Stoff, aus dem die Träume sind›. Die Entdeckung von LSD Ist es auch Zufall, so hat es doch System: Die Entdeckung der halluzinogenen Wirkung von Lysergsäurediäthylamid ( besser bekannt unter dem Kürzel LSD ) verdankt sich einem Laborunfall. Am 16. April 1943 kehrt der Chemiker Albert Hofmann (1906 – 2008) nach der Mittagspause in sein Labor im Basler Pharmaunternehmen Sandoz zurück. Er will an seinen Versuchen mit dem Wirkstoff weiterarbeiten. Dazu muss er diesen in einem Syntheseverfahren erneut herstellen. In der Schlussphase dieser Synthese passiert es: Hofmann kommt mit der Flüssigkeit in Berührung. Vorerst bemerkt er nichts, im Laufe des Nachmittags aber wird ihm etwas sonderbar zumute. Er muss seine Arbeit ab brechen und nach Hause gehen, «da ich von einer
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merkwürdigen Unruhe, verbunden mit einem leichten Schwindelgefühl, befallen wurde». Zu Hause legt er sich hin und versinkt in einen nicht unangenehmen, rauschartigen Zustand, der sich durch eine äusserst angeregte Phantasietätigkeit auszeichnet. Zwei Stunden lang lebt Albert Hofmann in einer anderen Welt. Später erinnert er sich: «Die Aussenwelt verwandelte sich wie in einem Traum. Die Gegenstände erschienen immer reliefartiger, sie nahmen ungewöhnliche Ausmasse an; und die Farben wurden leuchtender. Sogar die Selbstwahrnehmung und das Zeitgefühl waren verändert. Blieben die Augen geschlossen, so kam ein ununterbrochener Strom phantastischer Bilder von ausserordentlicher Plastizität und Lebendigkeit über mich, die von einem intensiven, kaleidoskopartigen Farbenspiel begleitet waren.» Als Hofmann aus diesem Zustand auftaucht, denkt er sofort an eine Vergiftung. Der Naturwissenschaftler in ihm will der überraschenden Wirkung des Stoffs auf den Grund gehen. So startet er am darauffolgenden Montag einen Selbstversuch – zum Glück informiert er seine Laborantin über das Vorhaben. Eine Reise ins Unbekannte. Denn obwohl Hofmann nur eine verschwindend kleine Menge LSD schluckt (0,25 mg), beginnt nun das, was man heute einen Horrortrip nennen würde. Nach etwa einer Dreiviertelstunde wird dem Forscher schwindlig und übel, er leidet unter Sehstörungen und Lachreiz. Kopf und Hände fühlen sich kalt an, die Kehle trocken, aufwühlende Gefühle wechseln sich ab mit
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Taubheitsempfindungen. Alles in seinem Gesichtsfeld schwankt und ist verzerrt wie in einem ge krümmten Spiegel. Knapp schafft es Hofmann mit dem Fahrrad nach Hause, begleitet von der Laborantin. Seine Nachbarin bringt ihm literweise Milch zur Entgiftung, er nimmt die Frau nur noch als bösartige Hexenfratze wahr. Der herbeigerufene Hausarzt ist ratlos: Puls, Blutdruck und Atmung zeigen normale Werte. Nur die Pupillen sind extrem geweitet, und der Chemiker kann keinen zusammenhängenden Satz mehr formulieren. In seinem Innern fühlt sich Hofmann wie von einem Dämon ergriffen, machtlos, fremd. Erst spätabends schläft er er schöpft ein – um am nächsten Morgen als neuer Mensch zu erwachen: Das Frühstück schmeckt herrlich, der Garten glitzert und glänzt im Sonnenlicht. Den ganzen Tag über hält diese ausserordentliche Empfindsamkeit an. Das Wundermittel. Die Wirksamkeit einer solch geringen Stoffmenge überrascht die Forscher. Weitere Selbstversuche folgen, die Substanz wird von Sandoz in einer Versuchsreihe an Tieren getestet. In der Folge entwickeln die Chemiker verschiedene Abwandlungsprodukte von LSD ohne halluzinogene Wirkung. Das wirksamste kommt unter dem Markennamen ‹Deseril› auf den Markt, als Arzneimittel zur Behandlung von Migräne. Weitaus folgenreicher ist der Einsatz von LSD in der Psychiatrie. Die erste systematische Anwendung bei Menschen findet 1947 in der psychiatri-
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schen Klinik der Universität Zürich statt. Der Pharmakonzern vertreibt LSD unter dem Handelsnamen ‹Delysid› zur psychiatrischen Behandlung und wissenschaftlichen Forschung. Auf dem Beipackzettel wird das Medikament empfohlen «zur seelischen Auflockerung bei analytischer Psychotherapie, besonders bei Angst- und Zwangsneurosen», aber auch «experimentelle Untersuchungen über das Wesen der Psychosen» gehören zum möglichen Wirkungsfeld. Schizophrenie, Depression, Alkohol abhängigkeit, Arthritis und vieles mehr glaubt man in den Fünfzigerjahren dank LSD heilen zu können. Das Sakrament des ‹Summer of Love›. Statt zum Kassenschlager für die Pharmafirma und zum Ruhmesblatt für den Entdecker wird LSD über die Jahre zum Sorgenkind – so formuliert es Albert Hofmann 1979 im Rückblick selbst. Denn in den Sechzigerjahren mutiert der Wirkstoff zum ‹chemischen Sakrament›, wie es ein Anhänger nennt. Für die amerikanische Gegenkultur, die aus der Bürgerrechtsbewegung und dem Vietnam-Protest heranwächst, gehört der Konsum von Drogen zum neu en Lebensstil. Es gilt, das Gehirn neu zu programmieren und von erlernten Mustern wie Aggression, konventionellem Denken oder mangelnder Selbstreflexion zu befreien – durch den Einsatz psychedelischer Drogen. Waren diese in den Fünfzigerjahren noch einem vergleichsweise kleinen Kreis von Wissenschaftlern und Künstlern vorbehalten, so machen nun Millionen von Amerikanerinnen und
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Amerikanern LSD -Erfahrungen. Hippies, Hells Angels, Rockmusiker: Sie alle wollen ‹Acid› probieren, wie der Stoff im Jargon auch genannt wird. Der ‹Summer of Love› macht LSD 1967 endgültig zur Partydroge – und bildet so etwas wie Höhepunkt und Abschluss der LSD -Welle. ‹Die Politik der Ekstase›. Eine Schlüsselrolle in dieser Drogenkultur, die Hofmanns Entdeckung ermöglicht hat, spielt Timothy Leary. Der Militärpsychologe und Arzt arbeitet in Kalifornien mit alternativen Therapiemethoden. Anfänglich experimentiert er mit Psilocybin, einem Wirkstoff aus mexikanischen Pilzen. Doch dann kommt LSD auf den Markt, eine viel potentere Droge. Leary glaubt damit den Schlüssel zum Therapieerfolg gefunden zu haben. Allerdings lassen sich seine Experimente nicht mehr überprüfen. Denn die LSD -Euphorie führt auch zu wahllosem Konsum, zu Horrortrips und Selbstmordversuchen. Dies ruft heftige Gegenwehr in Form einer neuen Anti-Drogen-Politik auf den Plan. 1966 wird der Wirkstoff in den USA verboten, wenige Jahre später auch in Deutschland. Das zentrale Glaubensbekenntnis von Timothy Leary, die Schrift ‹The Policy of Ecstasy› von 1968 (dt. ‹Die Politik der Ekstase›, 1970), steht in Deutschland fünfundzwanzig Jahre lang auf dem Index. Leary selbst wird wiederholt verhaftet. Er flieht aus dem Gefängnis und ersucht 1971 vergeblich in der Schweiz um politisches Asyl. Hingegen lehnen die Schweizer Behörden seine Auslieferung an die USA ab.
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Bewusstseinsveränderung mit Folgen. Das ist noch nicht das Ende der LSD -Geschichte. Zwar macht die Droge nicht süchtig und eignet sich auch nicht für den täglichen Konsum, weshalb sie nach ihrem Verbot schnell an Verbreitung einbüsst. Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts gewinnt LSD in der Technoszene wieder an Beliebtheit. Unumkehrbar aber sind die Auswirkungen auf das Kulturschaffen des ausgehenden 20. Jahrhunderts, zumindest in der ‹Legende vom LSD›, wie der deutsche Publizist Günter Amendt seine kritische Rückschau nannte. Verdankt sich die kulturelle Revolution der Sechzigerjahre, die Befreiung der Sexualität, der Durchbruch des ökologischen Denkens, der Höhenflug der Popmusik, wirklich nur der psychedelischen Kraft von LSD? Gäbe es keine Computerrevolution, kein Internet, keine Apple-Erfolgsgeschichte ohne LSD, wie überzeugte Anhänger argumentieren? LSD im Kalten Krieg. Mit Sicherheit ist LSD kein gewöhnlicher Wirkstoff. Ihm haftet ein Sonderstatus an, ein Versprechen von religiöser, spiritueller und sinnlicher Erfahrung zugleich. Zudem ist es nicht nur Medikament und Droge, sondern auch potenzieller chemischer Kampfstoff. Bereits 1953 startet die CIA das ‹Mind Control›-Projekt, eine auf Jahrzehnte angelegte Versuchsreihe mit LSD -Tests. Man versucht herauszufinden, wie ge sunde Menschen auf den Wirkstoff reagieren. An geblich will die CIA zu diesem Zweck von Sandoz zehn Kilo LSD beziehen; eine Menge, die ausrei-
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