Das Freidorf - Die Genossenschaft

Page 1


DAS FREIDORF DIE GENOSSENSCHAFT

LEBEN IN EINER AUSSERGEWÖHNLICHEN SIEDLUNG

SIEDLUNGSGENOSSENSCHAFT FREIDORF (HG.) CHRISTOPH MERIAN VERLAG


Das Freidorf Gestern, heute und in Zukunft Das Leben Die Welt verändern Die Verspielten – Guila, Leanda und Marvin Der Gründer – Bernhard Jaeggi

Die Architektur Vom Bild zum Bau – zum Baudenkmal

4 10 32 34

36

Der Meisterarchitekt – Hannes Meyer 70 Die Gastgeberin – Christine Hofer-Gerber 72

Die Genossenschaft «Genosse wird, wer schafft!»

74

Der Bauwart – Heinz Bender 98 Der Nachwuchsarchitekt – Dominic Kegreiss 100

Die Natur Der Blick zurück ist ein Blick nach vorne

102

Der Baumeister – Hans Schneiter 138 Der Unternehmer – Marc Wenger 140

Die Wirtschaft Geld, Schulden und Kontrolle

142

Die Verwurzelten – Familie Salathe 162 Die Neuen – Familie Stadler-Besset 164

Die Geschichte Eine Chronik

166

Anhang 196


4

Das Freidorf – Gestern, heute und in Zukunft Der helle Klang eines fröhlichen Glockenspiels ertönt über der Siedlungsgenossenschaft Freidorf in Muttenz bei Basel. Das «Freidorfglöckli», das auf dem imposanten Genossenschaftshaus im Zentrum des Freidorfs thront, ist weitherum hörbar. In seinen Ursprüngen war das Genossenschafts­haus die Lebensader, und damit das geistige, ökonomische und kulturelle Zentrum dieser historischen Siedlung. Viel hat sich seither verändert. Heute erscheint das Freidorf als eine Wohngenossenschaft, wie es sie in der Schweiz und in Europa viele gibt. Doch die architektonische und die räumliche Gestaltung zeugen von einer Vergangenheit, in welcher der Genossenschaftsgedanke weit mehr als günstiger Wohnraum bedeutete. Auch heute noch ist das Freidorf eine Gemeinschaft, welche sich nicht auf das rein Ökonomische reduziert, sondern durch ein vielfältiges genossenschaftliches Leben geprägt ist. Im Unterschied zur Lebensge­meinschaft der ersten Siedlergenera­ tion basiert der genossenschaftliche Geist von heute auf einem individuellen Engagement und ist nicht mehr strikten Vorgaben und Reglementen unterworfen.


5

Gestern – Gartenstadt und erste Vollgenossenschaft der Schweiz Die aufblühende Industrie in Basel Anfang des 20. Jahrhunderts zog tausende einkommensschwache Familien an. Doch Wohnraum war knapp und teuer. Die Lebensumstände dieser einfachen Arbeiter­ familien waren zumeist erbärmlich, geprägt von schlechten hygieni­ schen und sozialen Verhältnissen. Der Verlust der Arbeit führte häufig direkt in die Armut. Ausgangspunkt für den Bau der Siedlungs­ genossenschaft Freidorf bildete diese allgemeine soziale Not sowie die Erkenntnis einer Handvoll Männer, dass im Gedankengut der internationalen Genossenschaftsbewegung ein Weg aus dieser Notlage enthalten war. Sie beschlossen, eine Siedlungsgenossen­ schaft zu gründen.

← G enossenschaftshaus mit Glockenturm: Der charakteristische Glockenturm steht zentral auf dem Genossenschaftsgebäude. Im Viertelstundentakt ist das unverkennbare Glockenspiel über dem Freidorf zu hören.

Den Gründern um Bernhard Jaeggi, Präsident des Verbands schweize­ rischer Konsumvereine (VSK, heute Coop), schwebte neben fairen Waren­preisen und einem Leben in Würde für Familien noch viel mehr vor: eine genossenschaftliche Gesellschaftsform nach den sozialreforma­torischen Gedanken eines Heinrich Pestalozzi und eines Heinrich Zschokke. Nicht das ökonomische, sondern das ganze Leben war das Ziel, eine Alternative zu Sozialismus und Kapitalismus. Die Gemein­schaft stand im Mittelpunkt und damit das gemeinschaftliche Wohnen, Wirtschaften und Zusammenleben. Das Freidorf war bei seiner Gründung getrieben von der Vision des Gemeinsinns, der Selbstver­sorgung und der Selbstverwaltung über die sozialen Schichten hinweg. Die Siedlungsgenossenschaft Freidorf wurde am 20. Mai 1919 von 93 Siedlerinnen und Siedlern gegründet (alles Angestellte des VSK und seiner Betriebe). Mitten auf der grünen Wiese zwischen Basel und Muttenz erbaute Architekt Hannes Meyer eine Mustersiedlung aus 150 Reiheneinfamilienhäusern in Form einer Garten­stadt. Die Siedlung verstand sich als Vollgenos­senschaft, eine Kombination aus Konsum- und Wohngenossenschaft. Die Utopie, die für Familien ein geräumiges Haus im Grünen mit eigenem Nutzgarten vorsah, war mit dem Einzug der Siedler im Jahre 1921 Realität geworden. Die Wohnhäuser sahen unabhängig von ihrer Grösse alle gleich aus. Jedes war mit Wandschränken, fliessend warmem und kaltem Wasser, einem Bad und Elektrizität ausgestattet. Zu jedem Haus gehörte ein mindestens 200 Quadratmeter grosser Garten. In seinen Anfängen war das Freidorf eine nahezu autonome Dorf­ gemeinschaft mit über 600 Bewohnerinnen und Bewohnern und einer eigenen Schule. Was der eigene Nutzgarten oder die gemein­ schaftlich bewirtschafteten Pflanzplätze nicht hergaben, wurde im eigenen Freidorf-Laden bezogen und mit Freidorfgeld bezahlt. Die Freizeit verbrachten die Siedlerinnen und Siedler innerhalb der Freidorf-Mauern. Es gab ein Restaurant, eine Kegelbahn, eine Bibliothek, einen Volkschor und ein Orchester, Sportvereine für Männer


6

und Frauen, einen Kleintierzuchtverein und eine Sparkasse. Die Erziehungskommission sorgte für ein vielfältiges Bildungsangebot. Es wurde gemeinsam geturnt, musiziert, Theater gespielt, getanzt und gefeiert. Ort dieses Treibens war das Genossenschafts­haus und die grosse Spielwiese im Zentrum der Siedlung. Der Anspruch der Gründerväter um Bernhard Jaeggi war umfassend. Ziel war nicht weniger, als einen «besseren Menschen» zu erziehen. Die Überalterung der Siedlerschaft und der wirtschaftliche Aufschwung in den 1960er- und 1970er-Jahren führten zu einem von tiefgreifenden Krisen begleiteten Umbruch. Aus Mangel an Nachwuchs oder Interesse mussten viele soziale und kulturelle Angebote aufgegeben werden. Das «Genossenschaftliche Seminar» und die Schule verliessen das Genossenschaftshaus. Der Freidorf-Laden wurde zu klein für die vielen Bewohner der neuen Überbauungen um das Freidorf herum. Er wurde vom Allgemeinen Consumverein beider Basel (ACV) übernommen und auf der gegenüberliegenden Seite der St. Jakob-Strasse neu gebaut. Mit dem Wegfall des Ladens verlor das Freidorf den Status der Vollgenossenschaft, auf den sie so stolz gewesen war, und damit ein Stück der eigenen Identität. Das Genos­ senschaftshaus stand jetzt leer und man wusste nicht, was man damit anfangen sollte. Es dauerte 15 bis 20 Jahre, bis sich das Freidorf von dieser Sinnkrise erholte und sich eine neue Form der Genossenschaftlichkeit etablierte. Aus der Spielwiese wurde ein Spiel- und Fussballplatz, der Freidorf-Flohmarkt und weitere neue gemeinsame Aktivitäten entstanden. Die meisten Räume des Genossenschaftshauses wurden an Firmen vermietet. Der Bau der «Wohnalternative», eines Mehr­ familienhauses mit 50 Wohnungen gleich gegenüber an der St. Jakob-Strasse, signalisierte 2006 ein Ende des schwierigen Übergangs.


7

Heute – Wandel im genossenschaftlichen Zusammenleben Auch wenn die Situation heute eine andere ist; Parallelen zur Gründungszeit gibt es nach wie vor. Wieder ist günstiger Wohnraum in städtischen Gebieten knapp. Es ist weniger der Verlust der Arbeit als vielmehr das Auseinanderbrechen von Familien, welches zu sozialer Not führt. Der gesellschaftliche Leistungsdruck, die Individualisierung und Digitalisierung führen weniger zu materieller und körper­ licher als vielmehr zu seelischer Not. Einsamkeit, das Alter und die Suche nach Sinnhaftigkeit, Identität und Geborgenheit sind die heutigen Triebkräfte neuer Wohn- und Lebensformen. Das Leben im Freidorf von heute unterscheidet sich sehr von der ursprünglichen Lebensform. Der Anspruch, die Menschen im Freidorf zu «besseren Menschen» zu erziehen und diesen damit zu «vollum­ fänglichem Lebensglück» zu verhelfen, besteht heute nicht mehr. Das klar Geregelte und die strikten Vorgaben sind im Laufe der Zeit einer neuen, zeitgemässen Form des genossenschaftlichen Zusam­ menlebens und Gestaltens gewichen. Das heutige Zusammenleben orientiert sich nicht an den neusten Trends des genossenschaftlichen Wohnens, es wird nicht mit neuen Wohnformen experimentiert. Die Architektur der Häuser macht es schwer, sich hier andere Formen als das Zusammenleben in der Familie vorzustellen. Fast am deutlichsten sichtbar wird der Wandel der Wohnkultur an der Gartengestaltung der 150 Freidorfhäuser. Die Gemüsebeete sind mobilen Pools und Trampolins gewichen. Pflegeleicht muss der Garten heute vielfach sein. Gemüse wird, wenn überhaupt, aus Vergnügen und nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit kultiviert. Seit den 1990er-Jahren hat sich im Freidorf ein neues Verständnis genossen­schaftlichen Lebens manifestiert. Die Aktivitäten von heute heissen Kinderfest, Seniorenausflug, Racletteplausch, Müttertreff, Männer­hock, Kasperlitheater, Flohmarkt und Adventsfenster. Es gibt Jass- und Tanzabende im Siedlersaal des Genossenschaftshauses. Geblieben ist die 1921 gegründete Wohlfahrtskasse und der dörfliche Charme und Charakter. Diese architekturhistorisch einmalige Siedlung beeindruckt auch heute noch durch ihre grosszügige räumliche Gestaltung der Häuser und Grünflächen – ein Idyll der Ruhe in heute urbaner Umgebung. Auch wenn sich das genossenschaftliche Leben gewandelt hat, so ist ein tief verwurzelter genossenschaftlicher Geist spürbar. Dem allem gilt es heute und in Zukunft Sorge zu tragen.


8

In Zukunft – Nachhaltige Lösungen und neue Perspektiven Eine zentrale und stete Herausforderung ist der Wandel der Familien und damit der Menschen, die im Freidorf leben. Bei 200 Wohn­ einheiten ist die Zusammensetzung für ein aktives genossen­schaft­ liches Leben entscheidend. Dabei braucht es eine gute Mischung aus jungen Familien, Familien mit grossen Kindern sowie älteren Personen. Die unterschiedlichen Phasen, welche das Freidorf durch­ lebt hat – von pulsierender Pionierzeit über die tiefe Krise der 1970er-Jahre hin zu neuem Aufbruch –, sind eng mit der demografischen Entwicklung innerhalb des Freidorfs sowie dem gesellschaftlichen Wandel verknüpft. In den letzten fünf Jahren sind in mehr als dreissig Häusern junge Familien eingezogen. Sie werden die Gemeinschaft im Freidorf für die nächsten zwei Jahrzehnte prägen. Viele der neu eingezogenen Familien engagieren sich gerne für ein vielfältiges Genos­senschaftsleben und räumen dem Kollektiv- und Gemeinwohl­ gedanken einen wichtigen Platz ein. Gleichzeitig besteht das intensive Bedürfnis nach Raum für Individualität und Zwanglosigkeit. Es ist nicht nur die Gestaltung des Zusammenlebens, die unsere Sorgfalt verlangt. Beim Unterhalt der historischen Bausubstanz müssen die Verantwortlichen ständig zwischen den Bedürfnissen der Bewohner, den technischen und finanziellen Möglichkeiten und den sich ändernden Anforderungen von Umweltschutz und Denkmalpflege abwägen. Eine Sanierung der Hausdächer wird im kommenden Jahrzehnt wohl nötig werden und es ist sicher vernünftig, über die Solartechnik der Zukunft nachzudenken. Die konstruktive Zusam­ menarbeit nicht nur mit den Fachplanern, sondern auch mit den Umweltschutzbehörden und der Denkmalpflege ist ein wichtiger Teil der Vorstandsarbeit. Verdichtetes Wohnen und der Bedarf nach zusätzlichem Wohnraum werden auch in den kommenden Jahrzehnten an Bedeutung gewinnen. Das Grundstück, auf dem der Freidorf-Coop steht, gehört dem Freidorf. Der Baurechtsvertrag läuft bis 2075. Die Wohnalternative wird dann auch schon 70 Jahre alt sein. Es wird für die Siedlungsgenos­ senschaft Freidorf wichtig sein, rechtzeitig Ideen und Visionen zu entwickeln, wie diese Fläche zukunftsorientiert in neuen Wohnraum umgewandelt werden kann. Und es wird wichtig sein, wieder einen begabten Städteplaner wie Hannes Meyer zu finden.


9

Zu diesem Buch Dieses Buch ist insofern einmalig, als es die Siedlungsgenossenschaft Freidorf in einer Innen- und Aussensicht darstellt. Nicht die schöne Fassade steht dabei im Vordergrund, sondern die Siedlung mit ihren Siedlerinnen und Siedlern in ihrer «wirklichen» Umgebung. Damit erzählt dieses Buch von guten und schwierigen Zeiten, von wichtigen Meilensteinen und Anekdoten von der Geburt der Genossenschafts­­ idee bis zur 100-Jahr-Feier des Freidorfs, wobei oft Verknüpfungen von damaligen zu heutigen Entwicklungen geschaffen werden. Dieses Buch stellt jedoch keinen Anspruch an chronologische oder inhaltliche Vollständigkeit. Die einzelnen Kapitel werfen jeweils einen Blick auf einen bestimmten Zeitabschnitt oder einen interes­ santen Sachverhalt rund um das Freidorf. Das Buch macht anhand dieser Kapitel und zusammen mit einer Vielzahl historischer und aktueller Bilder sowie originalen Bauplänen die spannende Geschichte des Freidorfs greifbar. Die kurzen Personenportraits zwischen den Kapiteln schaffen zudem einen persönlichen Bezug und Einblick in das Leben im Freidorf. Wir wünschen viel Vergnügen beim Lesen und Entdecken. Im Namen des Herausgebers, der Siedlungsgenossenschaft Freidorf Conradin Bolliger Maiolino, Philipp Potocki, Maria Wermelinger-Jäggi


36

Vom Bild zum Bau – zum Baudenkmal Das Freidorf in seinen ersten hundert Jahren


Dorothee Huber

Den Ruhm der Siedlung Freidorf in Muttenz, erbaut 1919 – 1924 im Auftrag der Siedlungs­ genossenschaft Freidorf durch den Architekten Hannes Meyer (1889 – 1954), prägten in der Frühzeit nicht zuletzt die Bilder, die Bauherr­ schaft und Architekt in ihren Schriften von ihrer genossenschaftlichen Pioniertat verbreiteten. Diese zeugen vom Stolz der Siedler, denen es gelungen ist, in den politisch und wirtschaft­ lich ungewissen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die «erste Vollgenossenschaft» der Schweiz zu verwirklichen: 150 Wohnhäuser in Gärten, ein Genossenschaftshaus, Wohnwege, einen Dorfplatz und eine Spielwiese.33


38


39


58

59

← Plan Vierer-Block Hannes Meyer, Vierer-Block, Haustypen I und II, Baueingabepläne, September 1919. Ob etwas grösser oder kleiner bemessen, die Grundrisse der einzelnen Häuser sind haushälterisch geschnitten. Die annähernd quadra­tisch propor­ tionierten Räume erlauben unterschied­ liche funktionale Zuordnungen. Der Gangraum ist auf ein Minimum reduziert. Jedes Haus verfügt über ein Bade­ zimmer und – neben dem Wohnzimmer – über ein Esszimmer mit Ausgang auf den Sitzplatz (in der Mittelachse östlich der Spielwiese).


60

61

← Plan Doppelhaus Hannes Meyer, Doppelhaus, Haustyp II B, Baueingabepläne, September 1919. Aufgrund ihrer besonderen Lage an der Spielwiese gegenüber dem Genossenschaftshaus zeigen die vier Doppelhäuser eine geschlossene Hausfront und einen seitlich angeordneten Hauseingang. Die Waschküche im Keller, separate Schlafzimmer für Buben und Mädchen sowie die geheizte Dachkammer bedeuten zusammen mit dem Garten gegenüber dem Wohnen in der Mietwohnung für die Genossenschafter einen unschätz­ baren Vorzug.


Der Baumeister «S’Deggeli muess halt ufs Häfeli passe.» Ein Satz, der die langjährige Partnerschaft zwischen der Siedlungsgenossenschaft Freidorf und dem Bauunternehmen Stamm Bau AG treffend zusammenfasst. Hans Schneiter, stellvertretender Geschäftsführer der Stamm Bau AG und Autor des Zitats, betont, dass die Zusammenarbeit zwischen den beiden Organisationen immer schon gut gepasst hat. In der Tat, die beiden verbindet unterdessen eine 100-jährige Partnerschaft. Denn schon beim Bau des Freidorfs von 1919 bis 1921 war Stamm für einen Teil des Häuser- und Strassenbaus verant­ wortlich. Das ist eine aussergewöhnliche, vielleicht eine einmalige Geschichte. «Mit dem Freidorf verbinde ich drei Schlagworte – nachhaltig, herausfordernd und persönlich», erklärt Hans Schneiter. «Das Wichtigste dabei ist die Nachhaltigkeit», präzisiert er, «denn vieles, was im Freidorf umgesetzt wurde und umgesetzt wird, ist auf einen langfristigen Zeithorizont ausgelegt.» Nachhaltigkeit ist mit Sicherheit ein charakteristisches Attribut, um das Freidorf zu beschreiben. Schon bei der Planung der 150 Wohneinheiten wurden für Fenster und Türen Normen definiert, was zur damaligen Zeit neu war. Damit konnte die Produktion rationalisiert, der Einbau vereinfacht und die Kosten gesenkt werden. Um die Stoffkreisläufe zu schliessen und wertvollen Dünger für die Gemüsegärten zu gewinnen, verfügte jedes Haus bis 1936 über eine eigene Fäkalgrube, wohin auch alle menschlichen «Geschäfte» verbracht wurden. Von grosser Bedeutung ist zudem die Gemeinschaft, auch wenn sich diese im Verlauf der 100 Jahre deutlich gewandelt hat. «Gemeinschaft heisst für mich auch Genossenschaftlichkeit und umgekehrt. Die konnte ich in den 30 Jahren, die ich nun schon für Stamm arbeite und dabei mit dem Freidorf zu tun habe, stets beobachten. Das ist für uns als Baugeschäft manchmal auch eine ziemliche Herausforderung», erläutert Schneiter mit einem Lachen. «Alle grossen Bauprojekte müssen von der Generalversammlung genehmigt werden. Wird ein Projekt verworfen, dann heisst es zurück auf Feld eins, sowohl für den Freidorf-Vorstand als auch für uns.» Eine andere Herausforderung stellen die Renovationsarbeiten der einzelnen Häuser vor einem Mieterwechsel dar. Neumieter haben bei der Wahl von Ausstattung und Materialien ein gewisses Mitspracherecht, wobei spezielle Wünsche durch die Genossenschafterinnen und Genossen­ schafter selber finanziert werden müssen. «Damit haben wir es eigentlich mit einer doppelten Bauherrschaft zu tun», erklärt Schneiter, «was vor allem dann schwierig ist, wenn von den Neumietern stets alles kritisch hinterfragt wird.» Schneiter ist deshalb froh, dass die Zusammenarbeit mit dem Freidorf-Vorstand reibungslos funktioniert und eine gute Vertrauensbasis da ist. Nicht nur heute, sondern auch in den Epochen zuvor. Was er besonders zu schätzen weiss, ist der offene und direkte Umgang und dass Stamm frühzeitig bei Bauprojekten ins Boot geholt wird und Vorschläge einbringen kann. Erfreut zeigt er sich insbesondere über den Umgang bei Schwierigkeiten: «Wenn mal ein Fehler passiert, finden wir stets einen gemeinsamen Lösungsweg, das ist nicht selbstverständlich.» Zudem funktioniert die Zusammenarbeit auf praktischer Ebene unkompliziert. Viele Arbeiten werden direkt zwischen den Bauwarten des Freidorfs und den verschiedenen langjährigen Handwerkern von Stamm erledigt. Deshalb hat ihn im vergangenen Jahr der Wechsel des langjährigen Stamm-Mitarbeiters Claude Meyer zum neuen vollamtlichen Freidorf-Bauwart besonders gefreut. «Letztlich sind die persönlichen Kontakte dafür verantwortlich, dass wir heute auf eine solch lange Partnerschaft zurück­ blicken können. Darauf dürfen wir beide stolz sein. Das ist insbesondere in der heutigen Zeit aussergewöhnlich», betont er und ergänzt, «der Genossenschaftsgedanke hilft, nachhaltig zu sein.»


139


166

Eine Chronik Von der Geburt der Genossenschaftsidee bis zur 100-Jahr-Feier


Philipp Potocki

Die Chronik illustriert eindrücklich die bewegte Geschichte der Siedlungs­genossenschaft Freidorf. Von der Entstehung genossenschaft­ licher Ideen in England über die Aufbruch­ stimmung in der Siedlungsgenossenschaft Freidorf in den ersten Jahren, über die Ernüch­ terung und die Kollision mit der wirtschaftli­ chen und gesellschaftlichen Realität bis zum Bau der Wohnalternative und der 100-JahrFeier werden in der Chronik die wichtigsten Meilensteine präsentiert.


168

Vorgeschichte 1844 – Die «Redlichen Pioniere von Rochdale», eine Gruppe von 28 Webern und anderen Arbeitern, gründen in der Stadt Rochdale in der Nähe von Manchester, England, eine Konsumgenossenschaft und eröffnen am 21. Dezember ihren ersten Laden. Ihre Grundsätze und Statuten werden weit über die Grenzen von England hinaus beachtet: – Mitgliedschaft offen für alle – Demokratische Führung mit einer Stimme pro Person – Rückvergütung der Überschüsse im Verhältnis zu den getätigten Einkäufen – Strikte Begrenzung der Kapitalverzinsung – Politische und religiöse Neutralität – Verkauf nur gegen Barzahlung – Förderung der Aus- und Weiterbildung Wichtige Bestandteile einer früheren Fassung der Grundsätze waren auch: – Reinheit der verkauften Waren – Exakte Einhaltung der Masse und Gewichte 1864 – In Schwanden (GL) wird die erste Schweizer Konsumgenossenschaft gegründet, die sich auf die Grundsätze der «Redlichen Pioniere von Rochdale» beruft. 1890 – Weitere Genossenschaften werden gegründet. – A m. 1. Februar konstituiert sich der Verband schweizerischer Konsumvereine (VSK), um die Arbeiten der Genossenschaften zu koordinieren. Später übernimmt der VSK weitere Dienstleistungen für den gesam­ten Verband wie den gemeinsamen Einkauf, die Herstellung von Nahrungsmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs und die Propaganda für die Genossenschaftsbewegung. Aus dem VSK wird später «Coop Schweiz» und schliesslich die heutige «Coop». Die Siedlung entsteht 1919 – A m 14. Februar verabschiedet die Bundesversammlung der Eidgenossenschaft einen Verfassungsartikel, der eine Kriegssteuer einführt, um die Ausgaben für das Truppenaufgebot während des Weltkriegs zu decken. Stiftungen, die einen gemeinnützigen Zweck verfolgen, sind von der Steuer ausgenommen. Mit der eidgenössischen Volksabstimmung vom 4. Mai tritt der Verfassungs­ artikel in Kraft. – In den Kriegsjahren kauft der Verband schweizerischer Konsumvereine (VSK) zur Sicherung der Landesversorgung für grosse Beträge Waren im Ausland ein. Da zu befürchten ist, dass ein Teil der Waren nicht ankommt, werden grosse Rückstellungen gebildet, um allfällige Verluste ersetzen zu können. Die Rückstellungen werden zum Glück nicht gebraucht. Nach langen Verhandlungen genehmigt die Eidgenössische Steuerverwaltung die Befreiung dieser Rückstel-

→ B au der Siedlung (1920) Die Hausnummern wurden im Verlauf des Baus geändert. Deshalb ist nicht klar, welches Haus hier gebaut wird.

→ B au der Siedlung (1920) Aufnahme der Häuser am Spielplatz und einiger Häuser in der Mittleren Strasse, die schon weit fortgeschritten sind.


169


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.