Archäologie unter dem Musiksaal des Stadtcasino Basel Archäologische Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt Christoph Merian Verlag
Abb. 1  Blick auf die Ausgrabung unter dem Musiksaal des Stadtcasinos. Im Vordergrund der Klosterkeller, dahinter die Kreuzgangsfundamente, im Hintergrund links der Kreuzgarten und rechts der Kaufhauskeller. Foto: Philippe Saurbeck.
Abb. 2  Im ehemaligen Kreuzgarten des Barfßsserklosters wurden bei den Ausgrabungen rund 260 Bestattungen aufgedeckt, darunter auch viele Mehrfachbestattungen. Foto: Philippe Saurbeck.
Abb. 3  Beim Freilegen des Kaufhauskellers wurde mit dem Bagger ein rund 600 kg schweres Rundbecken geborgen, das ursprßnglich als Taufbecken diente. Unklar bleibt, aus welcher Kirche es stammt. Foto: Philippe Saurbeck.
Abb. 4  Dokumentation einer Fläche, die direkt an eine Brßstungsmauer anschliesst, welche einst einen klosterzeitlichen Hinterhof unterteilt hat. Foto: Benedikt Wyss.
Inhalt
Elisabeth Ackermann Grusswort — 14
Guido Lassau Grusswort — 16
Herzog & de Meuron Einleitung — 20
Tausend Jahre Stadtgeschichte in sieben Metern von Guido Lassau — 30
1874—2020 n. Chr. Der Musiksaal und die Kulturmeile am Steinenberg von Sandra Fiechter — 48
Got behüt undz vor ubel alle zitt Das Areal zwischen Rhein und Birsig von Elias Flatscher — 194
Kurzbiografien — 208 Anmerkungen — 210
1843—1874 n. Chr. Das neue Kaufhaus und der Abbruch des Klosters von Peter Roth — 68
1529—1843 n. Chr. Das Almosen im Klosterkreuzgang von Peter Roth — 94
1529—1750 n. Chr. Der Friedhof im Kreuzgarten unter dem Musiksaal von Laura Rindlisbacher — 114
1254—1529 n. Chr. Das Barfüsserkloster und die Barfüsserkirche von Elias Flatscher und Marco Bernasconi — 138
1080—1250 n. Chr. Stadtmauern und eine hochmittelalterliche Siedlung von Elias Flatscher und Simon Graber — 176
Bibliografie — 212
Die fünf wichtigsten Bauphasen
1906—1938 n. Chr. Musiksaal Hans Huber-Saal — 44
Rekonstruktion: Marco Bernasconi
1843—1874 n. Chr. Kaufhaus Altes Stadtcasino — 88
1350—1450 n. Chr. Zweite Barfüsserkiche und Klosteranlage — 150
1250—1300 n. Chr. Innere Stadtmauer Erste Barfüsserkirche und Klosteranlage — 152
1080—1200 n. Chr. Romanische Siedlung Burkhardsche Stadtmauer — 184
Elisabeth Ackermann Grusswort
Wer wir sind, woher wir kommen und wie unsere Zukunft aussehen könnte, erfassen wir nur in der Auseinandersetzung mit dem Gegebenen. Das Sichern und Dokumentieren von archäologischen Zeugnissen trägt deshalb ganz wesentlich zu unserem Selbst verständnis und zu unserer Selbsterklärung bei. Diese Aufgabe liegt in unserem Kanton in den Händen der Archäologischen Bodenforschung Basel-Stadt, deren Motto «Wir sichern der Vergangenheit die Zukunft» den Kern der Aufgabe trifft. Ihre Arbeit legt die Grundlagen für wertvolle Erkenntnisse über unsere Stadt und unseren Lebensraum. Die Relevanz dieses Forschungsbereichs wird nicht zuletzt auch durch das grosse Interesse illustriert, das die Baslerinnen und Basler der Archäologie und der Stadt geschichte entgegenbringen. So geschehen auch anlässlich der Grabungen rund um den Neubau des Stadtcasino Basel, wo die Archäologische Bodenforschung im Jahr 2017 eine Rettungsgrabung unter dem denkmalgeschützten Musiksaal aus dem 19. Jahrhundert durchführte. Dieser Musiksaal ist der vorläufige Endpunkt einer wechselvollen, fast 1000-jährigen Geschichte des Ortes, von Stadtmauer über Kloster, Friedhof, Psychiatrie bis Lager- und nun Konzerthaus. Die Arbeit der Archäologinnen und Archäologen hat die spannende Entwicklung Schicht für Schicht abgetragen und sie für ein breites Publikum sichtbar gemacht. Der Einbezug der Bevölkerung zeigt, wie wichtig neben der Forschungsarbeit auch die Vermittlungsarbeit der Archäologischen Bodenforschung ist. Sie bewirkt, dass möglichst viele an den für unsere Stadt so wichtigen Erkenntnissen teilhaben können, und verdient grosse Wertschätzung. Durch die Vermittlungsarbeit dürfen wir alle an der Geschichte dieser Stadt teilhaben. Das stiftet Identität, das stärkt unsere Wurzeln.
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In diesem Fall ist es besonders spannend zu entdecken, dass mit dem Bau des Musiksaals der stadtplanerische Grundstein gelegt wurde für die «Kulturmeile» am Steinenberg, wo neben dem Casino und dem Theater auch die Kunsthalle, das Schweizerische Architekturmuseum oder inzwischen die Arthouse Kinos die Kulturgeschichte und die Gegenwart unserer Stadt prägen. Einst sogenannte Peripherie, ist der Ort zu einem Zentrum der Kulturstadt geworden. Die äusserst spannende Entstehungsgeschichte nun sorgfältig recherchiert und dokumentiert nachvollziehen zu können, stellt eine wertvolle Bereicherung dar. Ich freue mich auf die nächsten Entdeckungen der archäologischen Erkundungen und wünsche Ihnen viel Vergnügen mit dem Einblick in einen spannenden Teil Basler Stadtgeschichte. Elisabeth Ackermann Regierungspräsidentin des Kantons Basel-Stadt
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Guido Lassau Grusswort
Der prachtvolle und für seine Akustik international berühmte Musiksaal von 1876 steht direkt neben der Barfüsserkirche an einem geschichtsträchtigen Ort Basels. Mit der Einweihung des erweiterten Musiksaals im Jahr 2020 beginnt hier ein neues Kapitel einer tausend Jahre langen Geschichte. Am 1. Juli 2016 spielte das Klezmer-Ensemble Kolsimcha gemeinsam mit dem Sinfonieorchester Basel im Musiksaal des Stadtcasinos das letzte Konzert «Abschied auf Zeit» mit Musik aus dem Ballett «Tewje» von Richard Wherlock. Tewje, der Milchmann, ist die Hauptfigur im Roman von Scholem Alejchem, der zu den Klassikern der jiddischen Literatur zählt. Der Roman diente als Vorlage für das Broadwaymusical «Fiddler on the Roof» und dessen gleichnamigen Verfilmung. Das Konzert war somit auch eine Reminiszenz an die Geschichte des Musiksaals. 1897 fand im Konzertsaal der erste Zionistenkongress statt. Er war Auftakt einer Reihe von weiteren Kongressen, die 1948 in der Gründung Israels mündeten. Am 18. Oktober 2016 startete die Archäologische Bodenforschung des Kantons Basel-Stadt im Vorfeld der Bau arbeiten für die Erweiterung des Musiksaals und den Einbau eines Instrumentenkellers mit einem Team von 16 Mitarbeitenden umfangreiche Rettungsgrabungen. Sie legten direkt unter dem Parkett des Konzertsaals erste archäologische Schichten frei. Im Juli 2017 endeten die Ausgrabungen in einer Tiefe von sieben Metern innerhalb des vereinbarten Zeit- und Budgetrahmens. Während knapp zehn Monaten wurde 2300 m3 Erdmaterial archäologisch untersucht und abtransportiert. Den Mitarbeitenden der Archäologischen Bodenforschung eröffneten sich faszinierende Einblicke in die wechselvolle Geschichte der Stadt Basel vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Sie legten zuerst die Fundamente
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des Kaufhauses frei, auf denen der Musiksaal gebaut worden war. Wenig später stiessen sie auf die hervorragend erhaltenen Reste des Kreuzgangs des 1843 abgerissenen Barfüsserklosters und auf zahlreiche, im ehemaligen Kreuzgarten angelegte Gräber aus nachreformatorischer Zeit, als die Klostergebäude als Almosen genutzt wurden. Franziskanermönche hatten das Kloster um 1250 an der Peripherie der mittelalterlichen Stadt Basel gegründet. Rund 200 Jahre zuvor waren in unmittelbarer Nähe des Geländes im Bereich der Barfüsserkirche erste Wohn- und Handwerks bauten aus Holz und Stein entstanden. Die Ausgrabungsarbeiten stiessen in der Öffentlichkeit auf ein enormes Interesse. Die Medien berichteten in 25 Presseartikeln sowie sechs Fernseh- und Radiobeiträgen über die archäologischen Funde. Knapp 4000 Personen besichtigten die freigelegten Klostergebäude und Gräber im Kreuzgarten anlässlich von über 70 Führungen. Viele der Besucherinnen und Besucher waren tief beeindruckt, dass unter der ehemaligen Bühne des Musiksaals nun Skelette und unter dem ehemaligen Parkett, wo die Stuhlreihen für das Publikum standen, der Kreuzgang eines knapp 800 Jahre alten Klosters zum Vorschein kamen. Die umfangreiche Grabungsdokumentation und die zahlreichen Funde werden aktuell im Rahmen eines interdisziplinären Forschungs projekts ausgewertet. In den kommenden Jahren werden die Resultate der Forschung in wissenschaftlichen Publikationen zugänglich gemacht. Bereits drei Jahre nach Abschluss der Ausgrabungen präsentieren die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im vorliegenden Buch einem breiten Publikum erste Ergebnisse ihrer Arbeit. Guido Lassau Kantonsarchäologe Basel-Stadt
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Abb. 5 Visualisierung der Rückseite des neuen Musiksaals mit dem Durchgang zum Steinenberg vom Barfüsserplatz aus gesehen. Visualisierung: © Herzog & de Meuron.
Herzog & de Meuron Einleitung
Am südlichen Rande der Basler Innenstadt entstand mit der Schleifung der inneren Stadtbefestigung und dem Abbruch der angrenzenden Areale des Barfüsser- und St. Magdalenen klosters im Verlaufe des 19. Jahrhunderts entlang des neu angelegten Steinenbergs eine eigentliche Kulturmeile, die stark von den städtebaulichen und architektonischen Visionen der damaligen Zeit geprägt war. Der Errichtung des Casinos (1826) und des Blömleintheaters (1831) nach Plänen von Melchior Berri folgten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwischen Barfüsserplatz und St. Alban-Graben weitere Grossbauten in neubarockem Stil von Johann Jacob Stehlin: die Kunsthalle (1872), das Stadttheater (1875), der Musiksaal (1876), das Steinenschulhaus (1877) und schliesslich die Skulpturhalle (1887). Das alte Casino wich 1939 dem heutigen Bau der Architekten Kehlstadt & Brodtbeck, und 1975 entstand mit dem Abbruch des alten Stadttheaters eine Lücke als Vorplatz des neu errichteten Stadttheaters, womit die städtebauliche Einheit der ehemaligen Kulturmeile endgültig auseinanderfiel. Von den ursprünglichen Gebäuden sind nur noch die Kunstund Skulpturhalle sowie der Musiksaal erhalten. 2007 wurde in einer Volksabstimmung ein Neubauprojekt, welches den Casinosaal von 1939 ersetzen sollte, abgelehnt. Das abgelehnte Projekt von Zaha Hadid war als Sieger projekt aus einem Architekturwettbewerb hervorgegangen, fand beim Volk aber – vor allem wegen seiner mächtigen Kubatur – keine Akzeptanz. Ein paar Jahre später – 2012 – wurden wir mit einer städtebaulichen Studie beauftragt für eine Neuordnung des knappen Raumangebots, welches dem historischen Musiksaal von 1876 infrastrukturell zudienen soll (Foyer, Bau, Garderobenplatz). Diese Anstrengungen sollten sich in einem ersten Schritt
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auf den eigentlichen Musiksaal konzentrieren, der heute zu den ältesten und bedeutendsten Musiksälen Europas zählt. Er ist Stammhaus des Sinfonieorchesters Basel und auch das renommierte Kammerorchester Basel und die Basel Sinfonietta ver anstalten dort ihre Sinfoniekonzerte. Der Saal mit seinen 1500 Plätzen wird für seine hervorragende Akustik international gerühmt. Beim Bau mussten 1876 jedoch aus Kostengründen erhebliche Abstriche bei den Servicebereichen in Kauf genommen werden, was 1939 teilweise durch den Saal umschliessende Anbauten behoben werden konnte. Diese Anbauten mit ihrer in die Jahre gekommenen Atmosphäre vermögen aber die sich in den letzten 75 Jahren stark veränderten Anforderungen an ein zeitgemässes Konzerthaus bei weitem nicht mehr zu erfüllen. Neben der dringend erforderlichen baulichen Sanierung ist also insbesondere eine Erweiterung mit grosszügigen Foyers, Künst lerbereichen und Serviceräumen für das künftige Fortbestehen dieses wertvollen Musiksaales unumgänglich. Um dem bestehenden Musiksaal mehr Freiraum für die benötigte Raumerweiterung zu verschaffen, wurden diverse Möglichkeiten und Varianten untersucht. Dazu konzentrierten wir uns auf den Raum zwischen dem Musiksaal und der Barfüsserkirche, der im Mittelalter mit Klosteranlagen verbaut war und deshalb aus der Sicht des Denkmalpflegers für bauliche Veränderungen freigegeben wurde. In Analogie zu diesen ehemaligen Klosteranlagen haben wir in ersten Studien kreuzgangartige Anbauten zwischen Barfüsserkirche und Musiksaal geprüft. Aus städtebaulichen, architektonischen und betrieblichen Gründen haben wir diese jedoch bald schon verworfen. Der Stehlinsche Musiksaal war als souveräner Palazzo konzipiert und sämtliche Versuche, Aufbauten anzudocken, wirkten wie eine lächerliche Bastelarbeit.
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Wie schon die Zubauten von 1939 wurden die kirchenseitigen Anbauten als Rückseiten wahrgenommen, minderwertig im Vergleich zur Schaufassade am Steinenberg. Die einzige Lösung, die uns überzeugte, war, den Musiksaal als autonomen, vom Casinobau von 1939 freigespielten Baukörper zu begreifen. Dieser autonome Baukörper musste natürlich grösser werden als der bestehende Kernbau von 1876. Er musste sozusagen aus dem Altbau herauswachsen, so als sei es schon immer so gewesen. Darum war es wichtig, den zu ergänzenden Teil, welcher die Räume für Foyer, Service und Künstleraufenthalt enthalten soll, in der zumindest für den flüchtigen Blick gleichen neobarocken Architektursprache zu gestalten. Als Modell dazu diente uns die bestehende, durch Anbauten heute weitgehend verdeckte Stehlinsche Rückfassade, welche wir mit digitaler Technologie erfassten und in originaler Grösse nachbauen wollen. Die Verbreiterung des Volumens bietet nun, auf mehreren Ebenen und unmittelbar am Konzertsaal gelegen, neuen Raum für Foyers und Bars, aber auch für Künstlerbereiche und Serviceräume. Auch der Hans Huber-Saal, der als Kammermusiksaal erhalten bleiben soll, erschliesst sich künftig direkt von diesen neuen Foyers her. Mit der betrieblichen Entkoppelung von Musiksaal und Stadtcasino und dem damit einhergehenden Abbruch des heutigen Eingangs- und Treppenbereichs entsteht zwischen Steinenberg und Barfüsserplatz wieder eine direkte Verbindung in Form einer offenen Gasse, so wie diese als Kutschenvorfahrt bis zum Abbruch des Berri-Baus im Jahre 1939 und dem Neubau des heutigen Stadtcasinos bestand. Der Musiksaal orientiert sich damit künftig sowohl hin zur ehemaligen Kultur meile des Steinenbergs als auch zum Barfüsserplatz. Der Musik-
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saal steht nun wirklich auch auf dem Barfüsserplatz und tritt neben der mächtigen Barfüsserkirche als gleichwertiger Bau körper in Erscheinung. Es entsteht so ein neuer öffentlicher Raum zwischen Kirche und Musiksaal, der bisher bloss als eine Art Hinterhof wahrgenommen wurde. Diese volumetrische und städtebauliche Klärung lenkt unseren Blick jedoch auf weitere städtebauliche Mängel – den Casinobau von 1939 und die Platzgestaltung des Barfüsserplatzes mitsamt dem Tramhäuschen. Herzog & de Meuron, 2019
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Abb. 6 Blick von der Theaterpassage aus auf den rückwärtigen Bereich des Stadtcasinos. Visualisierung: © Herzog & de Meuron.
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Abb. 8 Die Vorderfassade des Musiksaals mit dem neuen Durchgang vom Steinenberg zum Barfüsserplatz. Visualisierung: © Herzog & de Meuron.
Abb. 7 Die Trennung des Musiksaals vom Stadtcasinobau lässt diesen als eigenständigen und gegenüber der Barfüsserkirche gleichwertigen Baukörper in Erscheinung treten. Visualisierung: © Herzog & de Meuron.
Abb. 9 Das Klezmer-Ensemble Kolsimcha und das Sinfonieorchester Basel spielen als letztes Konzert im alten Musiksaal des Stadtcasinos «Abschied auf Zeit» aus dem Ballett «Tewje» von Richard Wherlock. Foto: Casino Gesellschaft Basel.