Wie ein Fisch in der Wüste - Texte von Jugendlichen

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WIE EIN FISCH IN DER WÃœSTE TEXTE VON JUGENDLICHEN

CHRISTOPH MERIAN VERLAG


WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE TEXTE VON JUGENDLICHEN


WIE EIN FISCH IN DER WÃœSTE TEXTE VON JUGENDLICHEN CHRISTOPH MERIAN VERLAG


Trägerschaft: Verein Schreibwettbewerb ‹Die Basler Eule› Mattenstrasse 72, 4058 Basel www.baslereule.ch Gegründet wurde der Schreibwettbewerb von der Basler Jugendschriftenkommission und dem Basler Buchhändler- und Verlegerverein. Wettbewerbsjury 2019: Kat. I: Linda Harzenmoser, Laura Biner, Paul Biner Kat. II: Marie-Madeleine Biner, Manon Biner, Katja Schwab, Aleksandra Nonic, Julie Klapdor Kat. III: Esther Kiefer, Hanspeter Kiefer, Liselotte Kurth Juryklassen 2019: Kat. I, Jahrgänge 1999–2003: Maturklasse 5Bb des Gymnasiums Bäumlihof, Lehrer Albert Debrunner Kat. II, Jahrgänge 2004–2006: Christina Markiewicz, Mélody Gugelmann, Stephanie Bont Kat. III, Jahrgänge 2007–2009: 4. Klasse des Primarschulhauses Brislach, Lehrer Fabian Imhof Herausgeber: Robin Rickenbacher Um die Ausdrucksform der jungen Autorinnen und Autoren unverfälscht zu erhalten, wurde darauf verzichtet, die Texte mehr als erforderlich zu redigieren. Korrigiert wurden jedoch die Zeitenfolge und die Rechtschreibung.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 Christoph Merian Verlag, Basel Alle Rechte vorbehalten; kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Jörg Bertsch, Basel Gestaltung: weishaupt design, Sybil Weishaupt, Basel Illustration: Manuel Guldimann Druck: Steudler Press AG, Basel Bindung: Buchbinderei Grollimund AG, Reinach Papier Inhalt: Munken Lynx 100 g/m2 ISBN 978-3-85616-915-2 www.merianverlag.ch


INHALT VORWORT / DANK

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KATEGORIE I Jahrgänge 1999 – 2003 SANDBURGEN BAUEN Cinja Vecchi, 1999

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WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Michelle Harnisch, 1999

20

WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Esther Mugdan, 2001

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KATEGORIE II Jahrgänge 2004 – 2006 WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Elia Rigo, 2005

32

YETIS 36 Ryan Woehrle, 2005 WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Mias Hofmänner, 2006

44

IRGENDWO IM NIRGENDWO Jonathan Bittner, 2005

50

ZU VIEL DES GUTEN Lucy Wehrli, 2006

58


EIN TAG AUS DEM LEBEN DER EMILIE A. Morena Romagnoli, 2005

64

WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Olivia Gallacchi, 2005

70

DER GEFÜHLVOLLE ALIEN Julian Wenger, 2005

74

MÄDCHEN AUS BRASILIEN Anina Böttcher, 2005

82

WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Freya Connolly, 2005

90

MANIPULIERTES SCHICKSAL Yannah Kleiber, 2005

92

KATEGORIE III Jahrgänge 2007 – 2009 WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Aline Keilwerth, 2007

98

WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Lena Rosenthaler, 2009

102

WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE Lorena Itin, 2009

108

EIN NEUES ZUHAUSE Milenka Schaffner, 2009

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DIE MASKE MEINER SEELE Zarah Stroband, 2008

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DIE KÄSEBREZEL Anand Meyer, 2007

118

OHNE NICHTS Mika Urdas, 2009

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VORWORT Der Schreibwettbewerb ‹Die Basler Eule› wurde 1993 von der Basler Jugendschriftenkommission und dem Basler Buchhändler- und Verlegerverein lanciert. Sein Ziel ist es, Jugendliche zu animieren, sich mit Sprache und Literatur auseinanderzusetzen. Das vorliegende 25. Buch ist wie seine Vorgänger im Chris­ toph Merian Verlag erschienen und enthält die 21 besten der im Wettbewerbsjahr 2019 eingereichten Texte. Der Wettbewerb beginnt mit der Ausschreibung in der Region Basel und schliesst mit der Buchvernissage und Preisverleihung. Die Wettbewerbsbeiträge werden in drei Alterskategorien eingeteilt und durchlaufen eine zweistufige Jurierung. Zuerst trifft die Jury eine Auswahl von Texten, die sie als preiswürdig erachtet. Diese werden dann einer Schulklasse der jeweiligen Alterskategorie zur Bewertung und zur Bestimmung des Hauptpreises vorgelegt. Das Wettbewerbsthema ‹Wie ein Fisch in der Wüste› folgt dem Vorschlag einer 5. Klasse der Primarschule Ettingen. Erneut war im diesjährigen Wettbewerb das Neue Orches­ ter Basel involviert. In einer Kompositionswerkstatt vertonten junge Musikerinnen und Musiker prämierte Texte und hoben damit das geschriebene Wort in eine neue Dimension. Zudem werden infolge einer Kooperation mit Radio X die siegreichen Autorinnen und Autoren ihre Beiträge über das gedruckte Buch hinaus präsentieren können. Im Verlaufe des Jahres werden die Texte über den Basler Radiosender ausgestrahlt. Auf den folgenden Seiten gewähren die prämierten Jugendlichen einen Einblick in ihre ganz eigene Welt und schildern ihre einzigartige Sicht auf die Dinge, welche sie zum Staunen bringen, aber auch zum Denken anregen. Viele Autorinnen und Autoren haben sich dem Thema angenommen, darüber reflektiert und ihre erhaltenen Eindrücke zu etwas Eigenem geformt. 9


Entstanden ist ein Werk, welches das Gedankengut einer jungen Generation einfängt und dazu einlädt, innezuhalten und sich den niedergeschriebenen Texten anzunehmen. Ich danke den Schriftstellerinnen und Schriftstellern herzlich für den Mut, Einblick in ihre ganz persönliche Welt zu gewähren. Ihnen ist mit diesem Buch die Plattform gewidmet, die sie verdienen. Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, wünsche ich viel Vergnügen beim Lesen dieser bereichernden Lektüre. Robin Rickenbacher

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DANK Der Schreibwettbewerb kann nur dank grosszügiger finanzieller und ideeller Unterstützung realisiert werden. Den entscheidenden Beitrag dazu bot zum wiederholten Mal die Chris­ toph Merian Stiftung. Einen grossen Beitrag gewährte erneut die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige Basel. Ebenso sprach der Swisslos-Fonds Basel-Landschaft dem Projekt einen grosszügigen Betrag zu. Namhafte Beiträge erhielten wir wiederum von der Forlen Stiftung und Orell Füssli Basel. Wie immer unterstützte uns auch in diesem Jahr das Erziehungsdepartement Basel-Stadt. Erneut zählen durften wir auf die Beiträge aus zahlreichen Gemeinden der Region, angeführt von der Gemeinde Riehen. Die Basler Kantonalbank war dem Schreibwettbewerb gleichermassen gewogen. Immer abstellen dürfen wir auf die grosszügige Spende der Bücherbons für die Gewinnerinnen und Gewinner des Wettbewerbs durch den Schweizer Bücherbon. ‹Die Basler Eule› dankt allen Sponsoren herzlich für das Vertrauen und die Grosszügigkeit. Robin Rickenbacher

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FÖRDERER, UNTERSTÜTZER UND SPONSOREN


KATEGORIE I Jahrgänge 1999 – 2003


CINJA VECCHI, 1999

SANDBURGEN BAUEN

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Ich fühl mich wie ein Fisch in der Wüste, fühl mich so klein in dieser grossen Welt der Erwachsenen. Ich bin die nächste Generation, die bestimmt, was mit unserer schönen Welt geschieht und wie das Leben in fünfzig Jahren aussieht, dabei kann ich doch nicht einmal erkennen, an wie vielen Orten schon jetzt Wälder brennen. Unsere Welt ist ein fragiles Puzzle aus Trümmerteilen, die sich alle teilen, und die doch jeder versucht, dem anderen wegzunehmen, ohne sich dabei auch nur ein bisschen zu schämen. Und ich versuche jeden Tag aufs Neue, aus all dem schlau zu werden, Fake News von Wahrem zu unterscheiden, alles in wichtig und nebensächlich einzuteilen. Da ist diese riesengrosse Wüste überall um mich herum, diese Wüste ohne Ende, diese Wüste, die nicht für mich gemacht ist und in der ich trotzdem lebe und tapfer jeden Tag mein Bestes gebe. Dabei kenne ich doch die Richtung nicht zu diesem Fluss, der nie versiegt und allem einen Sinn gibt, dieser Fluss, den alle anderen anscheinend gefunden haben. Es macht mir Angst, dass im Persischen Golf wieder Schiffe gekapert und Schüsse abgefeuert werden. Da wird belogen und betrogen, provoziert und intrigiert, unverdrossen geschossen, internationales Völkerrecht verletzt und die Stimmung gegen den Gegner aufgehetzt. Niemand will Krieg und niemand will Frieden, schliesslich soll keiner einen Vorteil kriegen. Man unterzeichnet Abkommen, um sich wieder davon zurückzuziehen, Hauptsache, man kann vor der Verantwortung fliehen. Das Ganze kommt mir vor wie ein Kindergarten, nur, dass die Streitenden keine Kinder sind, sondern mächtige Staaten, die schon in der Vergangenheit so manch Törichtes taten. Und wie lange, wie lange geht das noch gut? Wie lange, bis einer den entscheidenden Schritt in die falsche Richtung tut? Es macht mir Angst, dass 2018 laut UNHCR 70.8 Millionen Menschen auf der Flucht waren, so viele wie nie zuvor. Das sind Menschen wie du und ich, Menschen, die leben wollen, Kinder, die in die Schule gehen sollen, Mütter und Väter, die mühsam Essen nach Hause bringen und sich die letzten Ener15


giereserven abringen. Aus ihrer Heimat, die sie lieben, werden sie vertrieben, von Hunger, Naturkatastrophen, Krieg und Gewalt. Die meisten von ihnen machen noch im eigenen Land Halt, schliesslich wollen sie nicht gehen, wollen keine neuen Länder sehen, nur Frieden und ein besseres Leben, doch den meisten wird das nicht gegeben. Sie bleiben in den Armenvierteln von Grossstädten hängen, enden in Flüchtlingslagern, suchen ein neues Zuhause und finden ein Zelt, das nicht einmal den nächsten Sturm aushält. Dasselbe geschieht in Europa, dieser Hochburg der modernen Technologie und Demokratie, wo man die Menschenrechte gerne anpreist, die man auf dem eigenen Kontinent so vielen Personen nicht zugesteht, weil niemand gerne zu den Flüchtlingscamps in Griechenland hin­ übersieht. Menschen, die Leben retten, werden verurteilt und Menschen, die Hilfe brauchen, denen wird sie nicht gegeben, weil man Angst hat, dass sie, anstatt nur den kleinen Finger, gleich die ganze Hand nehmen. Und ich, ich fühl mich wie ein Fisch in der Wüste, fühl mich so klein in dieser grossen Welt der Erwachsenen. Ich bin die nächste Generation, die bestimmt, was mit unserer schönen Welt geschieht und wie das Leben in fünfzig Jahren aussieht, dabei kann ich doch nicht einmal erkennen, an wie vielen Orten schon jetzt Wälder brennen. Unsere Welt ist ein fragiles Puzzle aus Trümmerteilen, die sich alle teilen, und die doch jeder versucht, dem anderen wegzunehmen, ohne sich dabei auch nur ein bisschen zu schämen. Und ich versuche jeden Tag aufs Neue, aus all dem hlau zu werden, Fake News von Wahrem zu unterscheiden, alles in wichtig und nebensächlich einzuteilen. Da ist diese riesengrosse Wüste überall um mich herum, diese Wüste ohne Ende, diese Wüste, die nicht für mich gemacht ist und in der ich trotzdem lebe und tapfer jeden Tag mein Bestes gebe. Dabei kenne ich doch die Richtung nicht zu diesem Fluss, der nie versiegt und allem einen Sinn gibt, die Richtung zu diesem Fluss, den ich unbedingt finden muss. 16


Es macht mir Angst, dass die Meeresspielgel immer weiter steigen und Thermometer ständig neue Hitzerekorde anzeigen. Fast jeden Monat gibt es an irgendeinem Ort einen neuen Hitzerekord, die Nachrichten über Waldbrände wollen nicht enden, während an anderen Orten Tiere in Überschwemmungen verenden. Die Meere dieser Erde werden langsam im Plastik versinken, während wir im Überkonsum ertrinken. Die Zerstörung unseres Planeten geht immer schneller, schneller, schneller voran und ich habe selbst Anteil daran. Ich versuche, mit kleinen Schritten, ein wenig umweltbewusster zu leben, aber habe immer das Gefühl, nicht genug zu geben. Es macht mir Angst, dass der Arbeitsmarkt so furchtbar kompliziert ist. Ständig rollt die nächste Entlassungswelle heran und zieht Zeitungsleser in den Bann, die Artikel über Entlassungs-Zahlen lesen und sich dabei denken: «Zum Glück bin das nicht ich gewesen.» Firmen werden verkauft und umstrukturiert, weil irgendein CEO nach mehr Geld giert und dabei geht es immer nur ums Sparen, Sparen, Sparen, weil alle Kosten tiefer sein müssen, als sie es noch gestern waren. Ich mache mir jetzt schon Sorgen darum, wie ich in dieses ganze System reinpasse, frage mich, worauf ich mich einlasse, wenn ich in der medizinischen Forschung arbeiten will. Und wie bitte soll ich eigentlich in diesem internationalen Wettbewerb siegen und dann auch noch Kinder kriegen, was ich ja eigentlich irgendwann gerne möchte, aber was, wenn ich mich dann gar nicht richtig um sie kümmern kann, weil das mit den Teilzeitstellen ja so schwierig zu sein scheint, und was, wenn das Kind dann ständig weint, weil ich nicht zu Hause bin, weil ich mich selbst verwirklichen will, denn wozu sollte ich denn so lange studieren, um dann doch ‹nur› täglich den Haushalt zu organisieren? Oder würde mich das dann erfüllen? Was will ich überhaupt in meinem Leben? Und ich fühl mich wie ein Fisch in der Wüste, fühl mich so klein in dieser grossen Welt der Erwachsenen, denn es macht mir Angst, macht mir Angst, macht mir Angst, macht mir … 17


Hoffnung. Es macht mir Hoffnung, dass unsere Natur noch nicht unwiderruflich zerstört ist, dass ich mit kleinen Massnahmen etwas fürs Klima tun kann. Es macht mir Hoffnung, dass immer wieder Flüchtlinge in ihre Heimat zurückkehren können und dass ich helfen kann, denjenigen, die hier sind, das Leben ein wenig zu erleichtern. Es macht mir Hoffnung, dass es da noch immer Menschen gibt, die seit Jahren trotz der drohenden Strafen aufs Mittelmeer hinausfahren und Leben retten. Es macht mir Hoffnung, dass ich, im Gegensatz zu Frauen vor einigen Jahrzehnten, ganz alleine über meine Ausbildung bestimme und für mich selbst an Erfahrung gewinne. Studieren ist für mich keine Qual, sondern eine Wahl, und wenn später alles anders kommt, als ich es mir heute vorstelle, dann ist das keine schlechte Art zu leben sondern bloss eine andere. Vielleicht geht es nicht darum, in dieser grossen Wüste den Fluss zu suchen, der schon den anderen gehört. Vielleicht geht es darum, seine eigene kleine Sandburg zu bauen. Sandkorn für Sandkorn.

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MICHELLE HARNISCH, 1999

WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE

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«Alter, wie lange wollen wir eigentlich noch hier rumlatschen?», rief Charlotte, auch Charlie oder Lotte oder Lotti genannt, genervt. «Ich kann langsam keinen Sand mehr sehen.» David und Yanick drehten sich synchron um und warfen ihr böse Blicke zu. «Wessen Schuld ist es noch mal, dass wir jetzt hier sind? Gestrandet in dieser Wüste?», fauchte David genauso genervt. Charlotte zuckte mit den Schultern. «Wüsste ich auch gerne.» David schüttelte bloss den Kopf und drehte sich wieder um. Sie gingen weiter. So ging das schon seit Stunden. Sie gingen durch diese Wüste. Diese Wüste, die einfach irgendwann aufgetaucht war. Niemand von ihnen wusste genau, warum sie eigentlich hier waren. Nur kamen sie jetzt, wo sie hier waren, nicht mehr weg. In jede Richtung erstreckten sich allem Anschein nach unendliche Kilometer Sand. Bereits zweimal waren sie auf ein altes Haus gestossen, welches teilweise im Sand vergraben war. Alle Fenster waren rausgeschlagen worden, das Dach fehlte und durch einen Türrahmen hatten sie während ihrer kurzen Entdeckungsreise sogar kriechen müssen, weil er so tief im Sand vergraben gewesen war. Sie wussten nicht, wie lange sie schon unterwegs waren. Das Einzige, was sie wussten, war, dass sie unterwegs waren. Warum sie genau hier waren oder wie lange sie schon gingen oder woher sie kamen, hatten sie alle schon lange vergessen. Vielleicht hatten sie es aber auch gar nie gewusst. War eigentlich auch egal. Denn jetzt waren sie hier; und alles, was sie tun konnten, war, einfach weiterzugehen. Am Horizont, der irgendwie überall war, ging die Sonne langsam unter. Dieser Horizont war links von ihnen. Yanick hielt inne, um dem Farbenspiel zuzusehen. «Wir müssen weiter», sagte David gereizt. «Wir können nicht jeden Abend eine halbe Stunde stehen bleiben, um einem blöden Sonnenuntergang zuzusehen.» 21


«Wie viele Sonnenuntergänge haben wir denn schon gesehen?», fragte Charlotte etwas verwirrt. Alle ihre Erinnerungen aus der Wüste schienen vor ihrem inneren Auge zu verschwimmen. Yanick zuckte mit den Schultern. «Ich bin mir nicht sicher. Entweder vier oder hundertachtzehn. Entweder, oder, ich bin mir nicht sicher.» Yanick setzte sich jetzt in den immer noch warmen Sand und legte seinen Rucksack neben sich. Er streckte seine Beine und stütze sich hinter sich ab. Charlotte tat es ihm gleich und griff dann nach Yanicks Rucksack. «Was hast du denn dabei? Hast du was zu essen? Hast du Wasser?», fragte sie gierig. Sie wollte gerade den Rucksack aufreissen, als Yanick den Kopf schüttelte. «Sorry, der ist leer.» Frustriert schmiss Charlotte den Rucksack von sich. David, der sich vorher noch über die Sonnenuntergangs-Pausen genervt hatte, setzte sich jetzt ebenfalls rechts neben die zwei. «Sonnenuntergänge sind eben doch was Schönes», sagte er seufzend. Seine Augen waren geschlossen. Langsam kamen die Sterne zum Vorschein und das Rot am Himmel verblasste. Der Sand glühte nicht mehr und das warme Licht um sie herum verschwand. Es wurde dunkel. Charlotte und David legten sich in den Sand. Yanick zitterte und kuschelte sich eng an Charlotte. «Darf ich?», fragte er, nachdem er sich bereits an sie angelehnt hatte. «Von mir aus», sagte Charlotte. «Solang du mir deine Haare nicht ins Gesicht hältst, geht das klar.» David besah sich seine Freunde, wie sie so dalagen. Anein­ andergelehnt und auf der Suche nach Sternschnuppen. David war sich nicht sicher, ob das wirklich seine Freunde waren. Vielleicht hatte er sie auch erst hier in der Wüste getroffen. Er konnte es nicht mehr genau sagen. Momentan war er sich überhaupt nicht mehr sicher, was irgendetwas anging. Er konnte genau 22


zwei Dinge mit Sicherheit sagen: Er war in der Wüste. Er war hier mit Yanick und Charlotte. Dann war er allein. Er griff links neben sich in den Sand, wo einige Augenblicke zuvor noch seine Freunde oder vielleicht auch nur Bekannten gelegen hatten, doch alles, was er zu fassen bekam, war kalter Sand. Krass, wie schnell sich die Landschaft hier abkühlte. Den Tag hindurch konnte man sich kaum hinsetzen, ohne sich die Oberschenkel zu verbrennen, doch nachts fühlte es sich an, als würde David in einem Kühlschrank liegen. Wann hatte er zum letzten Mal einen Kühlschrank gesehen? Wann hatte er zum letzten Mal etwas gegessen oder getrunken? Wenn Yanick recht gehabt hatte, war das vor vier oder hundertachtzehn Tagen gewesen. David war sich auch nicht mehr sicher. Klang beides gleich plausibel. Er strich mit seinen Händen durch den kühlen Sand. Eiskristalle bildeten sich an seinen Fingerspitzen, aber der Schmerz war eine willkommene Abwechslung zu der Benommenheit, die ihn hier immer wieder von Neuem übermannte. David musste an die Doku über die Bergsteiger denken, die er sich einmal im Fernsehen angesehen hatte. Dort hatte der eine Kletterer seinen kleinen Zeh verloren, weil er so kalt geworden war. Der Zeh war ganz schwarz gewesen, weil er nicht mehr richtig durchblutet worden war. Vielleicht hatte David das aber auch bloss geträumt. Er besah sich seine Hand. Zwei seiner Finger waren schwarz. Er spürte die Kälte gar nicht mehr. «Wisst ihr noch, diese Doku über die Kletterer?», fragte er seine Freunde. Oder Bekannten. Dann erst erinnerte er sich daran, dass sie ja nicht mehr da waren. Vielleicht nie dagewesen waren. Wieder vergrub er seine Hände im Sand neben sich. Links von ihm lag etwas im Sand. Er griff danach und hielt es über sein Gesicht, um es besser erkennen zu können. Es war ein Walfisch. Ein Playmobil-Wal. Belustigt drückte David auf dem Knopf herum, der auf dem Rücken des Wales zu finden war. 23


Drückte man den Knopf, öffnete der Wal den Mund. Jedes Mal, wenn David den Knopf drückte und sich der Mund öffnete, erklang ein gellender Schrei. Irgendwann wusste David nicht mehr, ob der Schrei von ihm oder vom Wal stammte. «Seht ihr diesen witzigen Fisch?», fragte er seine Freunde jetzt wieder. «Wale sind keine Fische», sagte Charlotte. Gleichzeitig meinte Yanick: «In der Wüste gibt es keine Fische.» David drehte sich nach rechts. Da lagen seine Freunde. Gleich wie vorher. Bloss auf der anderen Seite von ihm. Aber in Davids Kopf war kein Platz für Verwirrung. Er war immer noch in diesem Zustand der Gleichgültigkeit gefangen und konnte nicht genau sagen, was er überhaupt dachte. Jeder Gedanke, der sich in seinem Kopf formte, verflog genauso schnell wieder, wie er gekommen war. David kuschelte sich ebenfalls an Charlotte, die einen Arm um ihn legte. So lagen sie da. Zu dritt. Ganz eng aneinandergepresst. Obwohl sie nicht einmal wussten, ob sie Freunde waren oder nicht. Aber das war egal. Denn jetzt waren sie zu dritt hier. Sie mussten also Freunde sein. «Was machen wir morgen?», fragte Charlotte ihre zwei Freunde. «Wir gehen weiter», sagten David und Yanick gleichzeitig. David fuhr fort: «Was willst du sonst machen? Wir können nur weitergehen.» «Wir könnten auch zurückgehen», schlug Yanick vor. «Ich bin fürs Weitergehen», sagte Charlotte. «Vielleicht finden wir wieder so coole Häuser. Dann könnten wir morgen dort schlafen.» «Und übermorgen?», fragte Yanick. «Gehen wir weiter», sagte David. «Immer weiter. Was willst du sonst schon machen?»

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ESTHER MUGDAN, 2001

WIE EIN FISCH IN DER WÜSTE

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Ein Fisch in seinem Schaukelstuhl sass, dort gemütlich seine Zeitung las. Gleissende Sonne auf ihn niederbrannte, eine Hitze, die er zuvor nicht kannte. Hatte er doch eben erst begonnen, sich ausserhalb des Wassers zu sonnen. Geworden war sein Habitat ihm nach einer Weile just zu fad. So hatt’ er kurzerhand entschlossen, den Fischteich zu verlassen. Der Abschiedsabend – «Party hard» – bereitete ihm einen Kopfschmerz-Start. Als er des Morgens auf den Weg sich machte, schwamm er deshalb eher sachte. Beschwerlich war sein langer Weg, doch nach Tagen, schau: ein Steg! Dieser hölzern an des Meeres Rand stramm auf seinen Stelzen stand. Begeistert von des Wassers Seichte, er das Ufer heil erreichte. Auf seine Ankunft mächtig stolz, erklomm er bald das morsche Holz. Während er sich auf die Planken hievte, er noch von allen Schuppen triefte. Doch trocknete ihn bald die Sonne, Ei, was war das eine Wonne. Voller Freude dort am Strande, fragend, wo er wohl als nächstes lande, wälzte er sich durch den Dreck, doch, oje, kam kaum vom Fleck. Darauf probierte er den Gang im Stand, war nun viel schneller auf dem Sand. So wandernd auf dem Hinterleibe, suchte er ’ne neue Bleibe. Es kam bereits die Abend-Phase, 27


da fand er eine fein’ Oase. Dort schlief er vom Tage sehr erschöpft, das Hemd der Hitze wegen aufgeknöpft. Des Morgens er ganz früh erwachte, gleich wieder auf den Weg sich machte. Bald schon traf er auf ein neues Glück, und wollt’ jetzt gar nicht mehr zurück. Es war bloss eine kleine Wüstenstadt, doch sah er sich an ihr nicht satt. Da er nicht gern ein Zimmer buchte, alsdann ein Haus dort für sich suchte. Schon bald erfüllte sich sein Traum: Eine Villa mit schön grossem Küchen-Raum. Das Beste waren der Veranda Dielen, auf deren Holz sich Sonnenstrahlen stielen. Freudig kaufte er das Haus sogleich, denn der Fisch war reich. Geerbt hatte er vom Onkel Otto, der gewonnen hatt’ im Lotto. Im neuen Heim fühlt’ er sich sehr geborgen, auch für Möbel musste er nicht sorgen. Diese waren bereits inbegriffen, so verbrachte er den Tag mit Kiffen. Dafür auf die Veranda ging, damit das Haus kein Feuer fing. Zu des Fisches linker Hand sein Getränk auf einem Tischchen stand. Jenes ihm bei jedem Schluck den Gaumen süsste, zudem erfrischend bei der Trockenheit der Wüste. Während er so sein Leben auf der Veranda genoss, und irgendwo ein Cowboy einen and’ren erschoss, merkte der Fisch, dass er glücklich war. Keine Lüge, wirklich wahr!

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Der Fisch also in seinem Schaukelstuhl sass, dort gemütlich seine Zeitung las. Alsbald begann er zu sinnieren, musste aber realisieren: «Ein Fisch kann doch ohne Wasser nicht!» Da erst begriff der Fisch seine Not: Er war tot!

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