Zeitraum - Eine Reise durch drei Jahrzehnte Schweizer Holzbau

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Holzbau wird als Bauweise immer beliebter, nicht zuletzt durch die Rückbesinnung auf nachhaltige Baustoffe und die Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten. Einer der Vorreiter in der Schweiz ist die Firma schaerholzbau. Unter Leitung von Walter Schär hat sich das Unternehmen im luzernischen Altbüron von einer Zimmerei in einen der grössten einheimischen Holzbaubetriebe entwickelt. Für die reich bebilderte Publikation besuchte die Fotografin Karin Hofer 188 Bauwerke. Ihr Fotoessay lädt ein zu einer architektonischen Reise durch drei Jahrzehnte Holzbau in der Schweiz. Hubertus Adam, Architekturkritiker und lange Jahre Direktor des Schweizerischen Architekturmuseums, beleuchtet Aspekte wie Nachhaltigkeit, Holzbautechnik und Raumplanung und wagt einen Blick in die Zukunft. Zahlreiche Pläne und Visualisierungen vermitteln spannende Einblicke in eine innovative Bautechnik.

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zeit raum

Eine Reise durch drei Jahrzehnte Schweizer Holzbau

Walter Schär (Hg.) Christoph Merian Verlag


Zei t R au m Haus von F r a nz D o d e l

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Textausschnitt aus Franz Dodels Nicht bei Trost (Bd. 3 und 6), Edition Korrespondenzen, Wien 2011 und 2019.


das chinesische Zeichen für Frieden: ein Dach unter dem eine Frau sitzt doch ein Dach genügt nicht um Wertvolles zu sichern braucht es ein Haus um es zu bauen Handwerker es zu bewachen Soldaten es braucht Schreiber die Konten führen die Erbfolgen festhalten nicht auszudenken wie unbeschwert vertrauend den wachen Sinnen wir lebten wären wir nie sesshaft geworden vielleicht müssten wir wieder Zuflucht suchen in Höhlen hoch im Gebirge oder in der Wüste um den Raum und die Zeit ohne die wild wachsenden Städte und Strassen zu erfahren und dem auf uns einschlagenden harten Rhythmus der Uhren zu entgehen um eine ältere Ordnung wieder zu finden nochmals der erste Pfad und das Haus zu dem er führt denn dieses Kommen und Gehen und das Verweilen am sicheren Ort könnte das nicht auch gut sein der Wechsel vom Durchqueren unbegrenzt weiter Räume zum Wohnsitznehmen unter dem Zenit der Himmelskuppel: was hat das in uns bewirkt gleich weit entfernt zu sein von allen Rändern vom Sonnenauf- und -untergang in uns liegt der Wunsch eine kosmische Ordnung zu übertragen auf die flache Welt Häuser zu planen Orte des Vertrauens wo Menschen sich begegnen …

Franz Dodel

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Zwi sche n Trad i ti on und In n ovation Z ur Ku l tu rg e s c hich te d e s Sc h we i z e r H o lzh a u sb a u s von H ube rtu s A d a m 4


Holzbau besitzt in der Geschichte der Menschheit eine lange Tradition. Als ältester Baustoff wurde Holz auf allen Kontinenten genutzt – epochen- und kulturübergreifend. Holz war nahezu überall vorhanden, vergleichsweise leicht zu bearbeiten und besitzt aufgrund seiner Struktur Potenziale, die sich in statischer Hinsicht dem Werkstoff Stein gegenüber als deutliche Vorteile erweisen. Bedürfnisse nach Dauerhaftigkeit und Repräsentation führten allerdings in verschiedenen Kulturen dazu, dass bei monumentaleren Bauaufgaben das Bauen in Stein dem Bauen mit Holz folgte; die Genese der griechischen Tempelarchitektur beweist, dass die strukturelle Logik des Holzbaus gleichsam in Stein übertragen wurde. Diese Transformation ereignete sich indes nicht überall. In Asien blieb Holz das prägende Baumaterial. Das lässt sich paradigmatisch in Japan nachvollziehen, wo lediglich bei den vorwiegend im 16. und 17. Jahrhundert entstandenen Burgen der Feudalherren Stein im grösseren Umfang zum Einsatz gelangte. Tempel, Schreine sowie Wohnhäuser – ob in der Stadt oder auf dem Land – wurden hingegen bis zur Meiji-Restauration, in deren Folge seit 1868 mit der erzwungenen Öffnung zum Ausland sich auch die Steinbauweise stärker verbreitete, generell in Holz errichtet. Der Vergänglichkeit des natürlichen Werkstoffs begegnete man dabei einerseits durch kontinuierliche Pflege, andererseits durch das kulturimmanente Prinzip zyklischer Erneuerung, das sich insbesondere in den shintoistischen Schreinanlagen von Ise manifestiert. Durch den periodischen Wiederaufbau bleibt die archaische Gestalt der Gebäude bewahrt – und ausserdem werden die traditionellen Handwerkstechniken von Generation zu Generation weitergegeben. Es geht also nicht nur um ikonische Konstanz, sondern auch um die Kontinuität des Wissenstransfers. In Europa hat sich die Holzbauweise insbesondere in den immer noch waldreichen Gegenden der Alpenländer und Skandinaviens tradiert. Im Gebiet der heutigen Schweiz spannt sich der Bogen von den frühen Pfahlbausiedlungen bis zu zeitgenössischen Tendenzen des Holzbaus, welche durch den aktuellen Diskurs um Nachhaltigkeit und ökologisches Bauen bestimmt werden. Auch wenn das Bauen in Holz niemals ganz abgerissen ist, lassen sich doch Schwankungen hinsichtlich Bewertung und Akzeptanz ausmachen. Die heutige Blüte des Holzbaus wurzelt in einem in den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts neu aufkeimenden Interesse, während Architektur aus Holz in den Dekaden zuvor ein eher marginales Dasein fristete. Damit ist nicht unbedingt eine Aussage hinsichtlich des tatsächlichen Bauvolumens getroffen; vielmehr spielte Holz in den architektonischen Debatten eine allenfalls rezessive, zumindest nicht dominante Rolle. Historische Holzbauten prägen auch heute noch das Bild der ländlichen Schweiz. Dabei haben sich über die Jahrhunderte in den verschiedenen Regionen unterschiedliche Bauweisen ausgeprägt. Der Block- oder Strickbau findet sich vor allem in Graubünden, im Wallis und in der Innerschweiz. Das Grundprinzip besteht aus der Konstruktion mit liegenden Bohlen, die zu Gevierten aufeinandergeschichtet und durch Kerben miteinander verzahnt werden. In der einfachsten Ausführung für Ställe oder Scheunen handelt es sich um Rundhölzer, für die Wohnhäuser wurden die Stämme zu Kanthölzern verarbeitet, um einen homogenen Wandverbund zu erzielen. Eher in den tiefer gelegenen Regionen der Voralpen verbreitete sich der Ständerbau, bei dem Rahmengerüste aus (Laubholz-) Ständern die Lastabtragung übernehmen und dann zumeist mit Bohlen ausgefacht wurden. Ebenfalls im Mittelland, zum Beispiel in der Region Bern, oder in der Nordostschweiz verbreitet ist auch der mit dem Ständerbau verwandte Fachwerkbau,

bei dem die Gefache mit Streben und Riegeln stabilisiert und schliesslich mit anderen Materialien (Weidenruten, Lehm, Mauerwerk) ausgefüllt wurden. Die Entwicklung dieser ländlichen Architektur verlief kontinuierlich bis ins 19. Jahrhundert. Es handelte sich um anonymes Bauen, für dessen Erstellung regionale Handwerksbetriebe verantwortlich waren. Genutzt wurden die vor Ort anstehenden Baumaterialien; die Topografie der Schweiz mit ihren voneinander getrennten Tälern zwang zu einer lokalen Produktion, auch wenn das Wissen um die Bauweisen sich selbstverständlich über die jeweiligen Regionen hinaus verbreitete. Mit der industriellen Revolution veränderten sich die ökonomischen Grundlagen. Das betraf einerseits den Sektor der Produktion: Die Nutzung der Wasserkraft, später der Dampfmaschine, erlaubte es den Sägereien, die Elemente der Häuser effizienter und kostengünstiger herzustellen. Dabei erwiesen sich die herkömmlichen Bauweisen durchaus als vorteilhaft: Holzbau beruhte seit jeher auf der Idee der Repetition, also der Verwendung gleichförmiger Elemente, und kam damit der Idee einer industriellen Fertigung vermittels Präfabrikation entgegen. Darüber hinaus veränderte sich auch die Möglichkeit der Distribution durch das in der Schweiz im europäischen Vergleich aufgrund der Landesnatur verspätete, dann aber mit Massivität vorangetriebene Eisenbahnwesen. Die Eröffnung der ersten Schweizer Eisenbahnlinie 1847 zwischen Zürich und Baden korreliert zeitlich nahezu mit der Gründung des Bundesstaats, und das sich schnell über das Territorium ausdehnende Eisenbahnnetz garantierte die Kohäsion des modernen Staatswesens mit seinen unterschiedlichen Sprachregionen. Die Eisenbahn überwand Berge und Täler und verbesserte auch den Güterfluss. Bislang getrennte Regionen rückten zusammen und konnten auch wirtschaftlich vernetzt werden. Dies war ein Potenzial, das von den neu entstehenden Holzfabriken auf ideale Weise genutzt werden konnte: Da Holzbauten aus industriell hergestellten Einzelteilen vergleichsweise bescheidener Grösse bestehen, wurde die Eisenbahn zur Voraussetzung für wirtschaftliche Expansion – und führte auch zu einer gewissen ästhetischen Vereinheitlichung der bislang regional differenzierten Bauweisen. Die Parquet- und Chaletfabrik Interlaken – seit 1886 als Aktiengesellschaft aufgestellt – oder die Chaletfabrik Kuoni & Cie. in Chur avancierten zu nationalen Playern des präfabrizierten Holzbaus. Ihre Spezialität waren Holzhäuser im «Schweizer Stil», die auch ausserhalb der Grenzen des Landes auf Abnehmer stiessen. In der Schweiz selbst ist das Interesse an einem «Schweizer Stil» verbunden mit der Suche nach einer genuinen Architektursprache, die nach der Gründung des Bundesstaats verstärkt zum Thema wurde und in nationalromantischen Tendenzen anderer Länder – ob in Skandinavien oder auch in den USA – ihre Parallelen findet. Dabei wurde nicht unmittelbar an autochthone Traditionen angeknüpft; vielmehr liesse sich von einem Konstrukt sprechen, das sich massgeblich jenseits der Landesgrenzen ausgebildet hatte und nun auf die Schweiz zurückwirkte. Das wissenschaftliche Interesse an der Geografie und Geologie der Alpen hatte im Zeitalter der Renaissance und des Humanismus begonnen. Aber weiterhin blieben die Alpen ein ebenso mühseliges wie gefährliches Hindernis, welches es für Reisende aus dem Norden Richtung Süden, Richtung Italien zu überwinden galt. Dass die einstige Passage später zum Ziel wurde, verdankte sie der Verschiebung und Ausweitung ästhetischer Kategorien. In der Landschaftsmalerei des 17. Jahrhunderts hatte die Idealisierung des Natürlichen eingesetzt, und der englische Landschaftsgarten wurde gleichsam zum uto-

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pischen Gegenbild gesellschaftlicher Erstarrung. Wie zufällig, aber natürlich kalkuliert, führte der Weg durch die gestaltete Natur; die Sinneseindrücke wechselten in der Landschaft en miniature zwischen arkadischem Idyll und sublimer Heroik, zwischen heiterer Bukolik und düsterer Epik. Dass die Engländer dank einem auf das Erhabene ausgerichteten Sensorium die Alpen für sich entdeckten, ist kein Wunder. Die bislang einzig als trostlos, gefährlich und lebensfeindlich gewertete Hochgebirgsregion der Schweiz rückte somit dank gewandelten ästhetischen Kategorien und einer damit einhergehenden erneuerten Optik in das Blickfeld des touristischen Interesses; die Schweiz avancierte zum Sehnsuchtsland. Auf diese Weise wurde das helvetische Territorium gewissermassen zu einem grossdimensionierten Landschaftspark, im dem sich auf vergleichsweise engem Raum unterschiedliche Stimmungen abrufen liessen. Da war zunächst die Vorstellung des irdischen Paradieses: als ein «blühender und fruchtschwangerer Garten»1 erschien dem Dichter Friedrich von Matthison der Thurgau, als er 1787 vom Bodensee herkommend in die Schweiz eintrat, und der einflussreiche deutsche Gartenbautheoretiker Christian Cay Lorenz Hirschfeld behauptete gar, «dass das ganze Land fast nichts als einen grossen zusammenhängenden Obstgarten darstellt».2 Komplementär ergänzt wurde diese Vorstellung von der heroischen Bergwelt, welche die Besucher durch eine Besteigung der Rigi oder beim Weg durch das Urner Reusstal vorbei an Schöllenenschlucht und Teufelsbrücke Richtung Gotthard erlebten. Literarisch unterstützt wurde die Schweiz-Faszination durch das von Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen (1732), Rousseaus Nouvelle Heloïse (1761) und Salomon Gesslers Idyllen (1756 in erster Auflage anonym erschienen) verbreitete Konstrukt eines freien, unverdorbenen, selbstbestimmten und glücklichen Volkes. 6

Obwohl die tatsächlichen Gegebenheiten sich anders darstellten, verbreitete sich ein Schweizbild als idealisiert ästhetischpolitische Legierung, die sowohl in der vorrevolutionären Ära als auch in der Zeit der Restauration eine unwiderstehliche Faszination auf die Nachbarländer ausübte. Mit einer gewissen Verspätung wurde nicht nur die Naturlandschaft rezipiert, sondern auch die schweiztypische Architektur. Alphütten – ursprünglich bezeichnete der französischsprachige Begriff Chalet nur diese kleinen alpinen Unterstände – und Bauernhäuser waren auf den Gemälden und Reproduktionsgrafiken dargestellt worden, und nachdem freie Nachschöpfungen vereinzelt schon im Kontext von europäischen Landschaftsgärten aufgetaucht waren, begann die Mode der Schweizerhäuser seit dem frühen 19. Jahrhundert zunächst im europäischen Ausland.3 Eines der vergleichsweisen frühen Beispiele hierfür ist das Schweizerhaus, das Karl Friedrich Schinkel auf der Pfaueninsel in Berlin als Domizil des Gärtners errichtete. Der Berliner Architekt war bei dem Bau, dessen Holzkonstruktion sich hinter einer Putzfassade verbirgt, nicht so sehr an einer exotischen Staffage-Architektur interessiert, sondern vielmehr an der Konstruktion, die ihn an die Logik des antiken Tempels erinnerte… «Die Alpenhütte […] ist ein classisches architectonisches Werk, wie ein altgriechischer Tempel, und gewiss war sie zu Perikles Zeit schon ganz ebenso gebaut. Die Dachwinkel geben dem Giebel vollkommen dasselbe Verhältnis des Frontons eines griechischen Tempels der besten Zeit. Dazu kommen die trefflichen Galerien unter dem Schutz des weit überragenden Daches; die zierlichsten Ornamente innen an denselben architectonischen Theilen des Gebäudes sind oft so fein ausgedacht, daß manches Gebäude an Kunstwerth mit großen gepriesenen Werken wetteifert und dies sogar übertrifft.»4

Symptomatisch für die oft freie Adaption alpiner Bauformen war die Kolonie von Schweizerhäusern, die für die 1837 aus dem Zillertal eingewanderten Protestanten im schlesischen Erdmannsdorf errichtet wurde. Zwischen Schweizer oder Tiroler Häusern machte man keinen Unterschied, und regionale Verschiedenheiten der Schweizer Architektur blieben unbeachtet. Mit fortschreitender Zeit aber avancierte der Haustyp des Berner Oberlandes zum Inbegriff dessen, was unter einem Schweizerhaus verstanden wurde. Dafür waren nicht zuletzt Vorlagenwerke verantwortlich, Resultat einer für die Zeit des Positivismus typischen, um die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzenden bauhistorischen Forschung. 1844 erschien Architecture suisse, ou choix des maisons rustiques des Alpes du Canton de Berne der Berner Architekten Carl Adolf von Graffenried und Ludwig von Stürler 5, noch einflussreicher aber waren die diversen Veröffentlichungen6 des in Karlsruhe ausgebildeten Architekten Ernst Georg Gladbach, der seit 1857 Baukonstruktionslehre am Zürcher Polytechnikum unterrichtete und damit einen prägenden Einfluss für eine nachwachsende Architektengeneration besass. Gladbach weitete den Fokus und widmete sich nicht nur den Häusern des Berner Oberlandes, sondern präsentierte Beispiele aus unterschiedlichen Regionen der Schweiz. Mit der reichhaltigen Dokumentation von Baudetails in seinen Tafelwerken stellte er Vorlagen bereit, die für Neubauten im Holzstil beliebig – und unabhängig vom ursprünglichen Kontext – integriert werden konnten.7 Häuser im Schweizer Stil wurden zu einem internationalen Phänomen, ob in Frankreich, Deutschland, Norwegen oder Grossbritannien. Im nördlichen Nachbarland etwa verbreitete sich der Schweizer Stil vornehmlich im Bereich der Villenoder Pensionsarchitektur in den Kurorten, ob an der Ostseeküste oder im Harz. War die Urlaubsreise zu Beginn des 19. Jahrhunderts noch ein Privileg wohlhabender Schichten, so führten Sonntagsruhe, die Verkürzung der Arbeitszeit und der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerzeit dazu, dass der Tourismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen Boom erlebte und auch die neue bürgerliche Mittelschicht erreichte. Das binnen weniger Jahrzehnte ausgebaute Netz der Eisenbahn trug überdies dazu bei, Distanzen zu verkürzen und auch entlegenere Reiseziele zugänglich zu machen8 – ein Phänomen, von dem nicht zuletzt die alpine Schweiz profitierte. 1

Friedrich von Matthison, Schriften, Bd. 2, Zürich 1825, S. 108.

2

Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, Bd. 5, Leipzig 1785, S.164.

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Zum Thema Schweizerhäuser vgl. Christina Horisberger, Das Schweizer Chalet und seine Rezeption im 19. Jahrhundert. Ein eidgenössischer Beitrag zur Weltarchitektur?, Lizentiatsarbeit Universität Zürich 1999; Karin von Wietersheim Eskioglou, Der Schweizer Stil und die Entwicklung des modernen Schweizer Holzhausbaus, Diss ETH Zürich 2014; https://doi.org/10.3929/ethz-a-004940944 (abgerufen 28.12.2019).

4

Karl Friedrich Schinkel, Brief an Wilhelm Berger, 15.7.1837; zitiert nach: Eva Börsch-Supan, Berliner Baukunst nach Schinkel 1840 –1870, München 1977, S. 126.

5

Carl Adolf von Graffenried /Ludwig von Stürler, Architecture suisse, ou choix des maisons rustiques des Alpes du Canton de Berne, Bern 1844.

6

Ernst Georg Gladbach, Der Schweizer Holzstil in seinen kantonalen und konstruktiven Verschiedenheiten, Darmstadt 1868; ders., Die Holzarchitektur der Schweiz, Zürich 1876; ders., Charakteristische Holzbauten der Schweiz, Berlin 1893.

7

Zu Gladbach und seiner Wirkung vgl. Daniel Stockhammer, Schweizer Holzbautradition: Ernst Gladbachs Konstruktion eines ländlichen Nationalstils, Diss. ETH Zürich 2015; https://doi.org/10.3929/ethz-a-010657828 (abgerufen 27.12.2019).

8

Hierzu allgemein: Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert, München/Wien 1977.


Rückwirkung auf die Schweiz Dass sich die Faszination für den Schweizer Stil auch in der Schweiz Bahn brach, geschah verspätet und ist gewissermassen das Produkt eines Reimports, so wie ja auch der Tellmythos erst über den Umweg des Dramas von Friedrich Schiller, der selbst nie in der Schweiz gewesen war, seine finale, kanonische und zitierfähige Fassung erhalten hatte. Als früher Zeuge bedeutend in diesem Zusammenhang war der Architekt Ferdinand Stadler, einer der wichtigen Akteure für das Baugeschehen in der Nordostschweiz um die Mitte des 19. Jahrhunderts, also in einer Umbruchsepoche zwischen Klassizismus und der sich seit ungefähr 1855 in Zürich sukzessiv durchsetzenden Neurenaissance der Semper-Schule. Ausgebildet ebenfalls in Karlsruhe, wechselte Stadler bei seinen Bauten zwischen Rundbogenstil und Neogotik. Dabei favorisierte er bei Profanbauten den Rundbogenstil, bei den Sakralbauten hingegen die Neogotik. Daneben lassen sich auch Entwürfe im Schweizer Stil nachweisen: 1846 für ein Haus bei Rifferswil, das in seiner Grundanlage noch klassizistischen Vorbildern folgt, und einige Jahre später ein völlig aus Holz bestehendes, vermutlich unausgeführtes Chalet, das deutlich an Vorbildern des Berner Oberlandes orientiert war.9

Holzbau bedeutete hier einerseits Tradition, indem man nach einem landschaftsadäquaten und überdies nationalen Ausdruck suchte, und andererseits Innovation: Um das Streckennetz schnell auszubauen, setzten die verantwortlichen Architekten auf Normpläne, mithin standardisierte Entwürfe und präfabrizierte Bauelemente. Auch die Rhätische Bahn verwendete bei vielen Strecken Holzarchitektur: Die Hochbauten der Strecke Landquart–Davos (1889–90) wurden von der Firma Kuoni & Cie. aus Chur als Kantholz-Strickbauten realisiert, und auch bei den späten Linien kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstanden die Stationsgebäude in Holz: Meinrad Lorenz entwarf ebenfalls Kantholz-Strickbauten für die Linie Ilanz–Disentis (1912), Alfons Rocco die chaletartig anmutenden Zwischenstationen der Arosabahn (1914).11

7 Jacques Gros: Villa Saxifraga, Zürich, 1892

Bahnhofsensemble Valendas-Sagogn der Rhätischen Bahn, 1903

Bahnhof Rabius Surrein der Rhätischen Bahn, 1912

Besondere Verbreitung fand der Schweizer Holzstil bei den verschiedenen Schweizer Bahngesellschaften.10 Während die Bahnhofsgebäude der Hauptstationen in Stein ausgeführt wurden und damit einen repräsentativen Charakter erhielten, wendete man die Holzbauweise für Zwischenstationen und Nebengebäude an – eine Praxis, die sich auch in anderen Ländern wie beispielsweise Norwegen nachweisen lässt.

Zum bekanntesten Chaletarchitekten Ende des 19. Jahrhunderts wurde der in Zürich seit 1890 mit eigenem Büro tätige Architekt Jacques Gros,12 der auch für unterschiedliche Chaletfabriken tätig war. Er entwarf nicht nur Hotelbauten wie das Waldhaus und das Grand Hotel Dolder, sondern auch eine Reihe von Chalets für die bürgerliche Oberschicht am Zürichberg, darunter das Chalet Saxifraga für den Geologen Albert Heim, die beweisen, dass die zunächst rural konnotierte Bauweise auch in städtischen Kontexten angekommen war. 1906 bis 1912 errichtete der Architekt Robert Zollinger drei Unterkunftshäuser im Chalet-Stil für die Bircher-Benner-Klinik an der Zürcher Köllikerstrasse.13 Vom internationalen Erfolg von Jacques Gros zeugten ein Projekt für Yokohama sowie das 1899/1900 für den Brauereibesitzer Gustav Wernecke – wenn auch grösstenteils in Stein – realisierte Jagdschloss Heinrichshorst nördlich von Magdeburg. Aber schon wenige Jahre später war der Stern des Architekten am Sinken: Die Aufträge wurden spärlicher, und 1916 musste er sein eigenes Ateliergebäude am Hang des Zürichbergs verkaufen. So markiert sein Wirken gewissermassen den Schlusspunkt der Chaletbegeisterung des späten 19. Jahrhunderts. Letztlich erwiesen sich die präfabrizierten Schweizerhäuser der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine Variante des für die Epoche des Historismus typischen Stileklektizismus. Laubsägeornamente, hölzerne Pergolen und pittoreske Türmchen gerieten aus der Mode, sie waren mit der temporär prägenden Architektur des Jugendstils, vor allem aber mit der eines formalen rappel à l’ordre der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehr kompatibel.


Kurz nach der Jahrhundertwende wurden Bauten im Schweizer Stil zunehmend zur Zielscheibe der Kritik. Infrastrukturmassnahmen wie Wasserkraftwerke, Strassen und Bahnstrecken sowie Tourismusarchitekturen, vor allem Hotels und Berggaststätten, hatten gerade ausserhalb bisheriger Siedlungsräume Natur- in Kulturlandschaft transformiert. Die Kollateralschäden einer im 19. Jahrhundert sich akzelerierenden Modernisierung führten ein Jahr, nachdem die Vorläuferorganisation in Deutschland gegründet worden war, zum Entstehen der Heimatschutzbewegung in der Schweiz (1905), die sich in frühen Jahren insbesondere auf die eklektizistischen Hotelbauten im Gebirge einschoss. Architekten wie Nicolaus Hartmann oder Schäfer & Risch setzten gegenüber diesen vorgeblichen Importarchitekturen auf gegliederte Baukörper mit mehr oder minder aus der lokalen und regionalen Tradition entlehnten Elementen mit malerischer Gesamtwirkung. Die pittoreske Erscheinung wurde als Alternative zum Schematismus und zur Beliebigkeit des Historismus verstanden, wobei übersehen wurde, dass die Heimatschutzarchitektur häufig ebenfalls nur sehr oberflächliche Bezüge zur Vergangenheit aufwies. Grundsätzlich wird Heimat erst dann zum Thema, wenn sie bedroht ist oder nicht mehr existiert, und geht einher mit einer aus dem Interesse der jeweiligen Gegenwart abgeleiteten Vergangenheitskonstruktion; ein Phänomen, den Eric Hobsbawm und Terence Ranger mit dem Begriff der «erfundenen Tradition»14 bezeichnet haben. Doch schon vor dem Ersten Weltkrieg stiess auch die Heimatschutzarchitektur auf Kritik; berühmt ist insbesondere das Diktum von Adolf Loos aus seinen Regeln für den, der in den bergen baut (1913): «Baue nicht malerisch. Überlasse solche wirkung den mauern, den bergen und der sonne.»15 8

9

Vgl. Andreas Hauser, Ferdinand Stadler (1863 –1870). Ein Beitrag zur Geschichte des Historismus in der Schweiz, Zürich 1976, S. 253–260.

10

Vgl. Ruedi Weitmann, «Die Eisenbahn und der Schweizer Holzstil», in: tec21, 2011., H.42-43, S. 29–35; ausserdem: Werner Stutz, Bahnhöfe der Schweiz, Zürich 1976.

11

Vgl. Luzi Dosch, Die Bauten der Rhätischen Bahn. Geschichte einer Architektur von 1889 bis 1949, Chur 1984.

12

Der zeichnerische Nachlass von Jacques Gros befindet sich im Baugeschichtlichen Archiv Zürich.

13

Vgl. Stadt Zürich. Amt für Städtebau (Hrsg.), Baukultur in Zürich. Schutzwürdige Bauten und gute Architektur der letzten Jahre: Hottingen, Witikon, Zürich 2013, S.104.

14

Vgl. Erich Hobsbawm/Terence Ranger, The Invention of Tradition, Cambridge 1992.

15

Adolf Loos, «Regeln für den, der in den bergen baut», in: ders., Sämtliche Schriften in zwei Bänden, Bd. 1, Wien/München 1962, S. 329–330.

Die Entwicklung in Deutschland Auch Deutschland drängte im ausgehenden 19. Jahrhundert auf den Markt für Fertighäuser aus Holz.16 Eine Pionierrolle kam hier der Wolgaster Holzindustrie-Actiengesellschaft17 zu, die aus einem Werftunternehmen hervorgegangen war. Aus eigenen Wäldern in den USA importierte man für den Bau von Schiffsrümpfen Pitchpine- und Zypressenholz, besonders widerstandsfähige Holzarten mithin. Als die Ära hölzerner Segelschiffe zu Ende ging, schwenkte die Firma in den 80erJahren um auf die Produktion von Holzhäusern im «nordischen» und im Schweizer Stil, die ihr Hauptabsatzgebiet in den zur Zeit des Wilhelminismus boomenden Seebädern an der deutschen Ostseeküste hatten. Der Stil des Schweizerhauses hatte sich auch in Norwegen verbreitet und war hier mit Ornamenten und Motiven aus der heimischen Tradition, die insbesondere von Stabkirchen und Wikingerschiffen entlehnt wurden, nationalromantisch aufgeladen worden.

Dieser «Drachenstil» strahlte auch in den Norden Deutschlands aus, wobei die jährlichen Norwegenreisen Kaiser Wilhelm II. zur Popularisierung beitrugen. Das europaweit grösste Holzbauunternehmen am Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts aber war die seit 1887 in Niesky in der Oberlausitz ansässige Firma Christoph & Unmack. Ihr Aufstieg begann fünf Jahre zuvor mit der Übernahme eines Patents des dänischen Offiziers Doecker für Baracken aus filzbespannten Holzplatten. Militär- und Gesundheitswesen hatten einen grossen Bedarf an schnell zu errichtenden Barackensiedlungen, und Christoph & Unmack hatten ein Bausystem zur Hand, das materialsparend, effizient, flexibel sowie kostengünstig war und dessen Montage auch von ungelernten Personen übernommen werden konnte. Es stellte eine Alternative zu den klassischen Holzbauweisen dar, die indes von der Firma optimiert wurden, als diese sich nach der Jahrhundertwende verstärkt auch zivilen Projekten zu widmen begann. Während viele Schweizer Holzbauunternehmen durch den Ersten Weltkrieg in die Krise gerieten, konnte sich Christoph & Unmack durch den Barackenbau behaupten. Und auch in den Jahren danach Erfolge erzielen, war doch kostengünstiger Wohnungsbau in den Jahren der Weimarer Republik ein wichtiges Thema.18 Gewiss waren Stahl, Glas und Beton die eigentlichen Materialien des Neuen Bauens, die auch retrospektiv das Bild der klassischen Moderne prägen. Doch gerade in der schwierigen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde Bauen in Holz zu einem wichtigen Thema. Walter Gropius, der kurz zuvor das Bauhaus in Weimar gegründet hatte, sah 1920 im Holz die Lösung der Baustofffrage: «Holz ist in ausreichender Menge vorhanden und ist unabhängig von Kohle und Industrie. Holz ist ein wunderbar gestaltungsfähiges Material und entspricht in seiner Art so recht dem primitiven Anfangszustand unseres sich neu aufbauenden Lebens. Holz ist der Urbaustoff des Menschen, der allen tektonischen Gliedern des Baues genügt: Wand, Boden, Decke, Säule und Balken, der sich sägen, schnitzen, bohren, nageln, hobeln, fräsen, polieren, beizen, einlegen, lackieren und bemalen läßt. […] Wir müssen das Holz wieder neu erleben, neu erfinden, neu gestalten, aus dem eigenen Geist heraus und ohne Nachahmung alter Formen, die uns nicht mehr entsprechen. […] Holz ist der Baustoff der Gegenwart […].19 Tatsächlich beschäftigte sich Gropius zu dieser Zeit auch in der architektonischen Praxis mit dem Holzhausbau. Wichtigstes Projekt seines privaten Bauateliers war das 1920/21 realisierte und von der Architektur Frank Lloyd Wrights inspierierte Haus für den Holzgrosshändler, Bauunternehmer und Bauhaus-Mäzen Adolf Sommerfeld in Berlin-Lichterfeld. An der Ausführung des expressionistischen Blockbaus, für das Teakholz eines abgewrackten Kriegsschiffs Verwendung fand, waren die Werkstätten des Bauhauses beteiligt.20 Auch die Bauhaussiedlung, die Gropius seinerzeit plante, sollte ursprünglich aus Holzhäusern bestehen.21 Wenig später nahm man jedoch Abstand von dem Baumaterial; realisiert wurde schliesslich nur das Musterhaus am Horn, das für die Bauhaus-Ausstellung 1923 fertig gestellt war, aber aus Schlackebetonsteinen bestand. Die expressionistischen Anfänge des Bauhauses waren vorbei, «Kunst und Technik – eine neue Einheit» lautete der neue Slogan, der den Primat der Industrialisierung gegenüber der Handwerklichkeit der Anfangsjahre einläutete. Und Industrialisierung im Bauwesen bedeutete Bauen vor allem mit Stahlskelett und Stahlbeton – Ernst May beispielsweise experimentierte in Frankfurt mit einer auf der Grosstafelbauweise aus Beton ausgerichteten Häuserfabrik. Im Bereich der Holzbausysteme war Christoph & Unmack das wichtigste Unternehmen, das sich der Ästhetik der Moderne gegenüber öffnete. Schon in den Jahren vor und nach dem Ersten Weltkrieg hatte die


Firma mit prominenten Architekten wie Henry van de Velde, Albinmüller oder Bruno Paul zusammengearbeitet, Mitte der 20er-Jahre auch mit Hans Poelzig und Hans Scharoun. In Niesky, wo die Firma ansässig war, entstanden eine Reihe von Versuchssiedlungen; Exporte im grösseren Stil erwiesen sich jedoch hinsichtlich von Transportkosten und Materialverbrauch immer noch als vergleichsweise unrentabel, sodass sie sich auf teure Einzelbauten beschränkten. 1926 bis 1929 war der von Poelzig empfohlene, zunächst als Schreiner und Zimmermann ausgebildete Architekt Konrad Wachsmann Chefarchitekt von Christoph & Unmack. Wachsmann rationalisierte und verfeinerte die Fertigungstechnik. Bei der Tafelbauweise optimierte er die Verbindungen, sodass die typischen Deckleisten entfallen konnten und sich das Bild einer einheitlichen Schalung ergab. Bei der Blockbauweise gelang es ihm, den Materialverbrauch deutlich zu reduzieren und auf Überblattung zu verzichten – das Direktorenwohnhaus in Niesky von 1927 zeigt sich als klare, kubische und schlichte Komposition, welche deutlich der Ästhetik des Neuen Bauens verpflichtet ist. Insbesondere aber widmete sich Wachsmann der Ständer- oder Skelettbauweise, die sich in anderer Form als «Balloon Frame» in den USA durchgesetzt hatte und der er das grösste Zukunftspotenzial beimass. Dass es ihm gelang, den Nobelpreisträger Albert Einstein für ein Wochenendhaus (1928/29) in eben dieser Bauweise zu gewinnen, war ein genialer medialer Coup. In seinem kurz darauf erschienenen Buch Holzhausbau bilanzierte Wachsmann, was sich inzwischen getan hatte, und zwar gruppiert nach den drei Konstruktionsweisen: der ortsfesten Fachwerkbauweise, der Tafel- oder Plattenbauweise und der Blockbauweise.22 Trotz aller Innovationen im Detail vermochte Wachsmann jedoch nicht, ein wirklich industrialisiertes Hausbausystem zu entwickeln. Diesem Ziel kam er näher, als er sich 1941/42 in den USA gemeinsam mit dem ebenfalls emigrierten Walter Gropius dem General-Panel-System («Packaged House») widmete. 16

Zur Vorfertigung in Deutschland allgemein: Kurt Junghanns, Das Haus für alle. Zur Geschichte der Vorfertigung in Deutschland, Berlin 1994.

17

Zum Unternehmen: Hans-Ulrich Bauer, Holzhäuser aus Wolgast. Ikonen der Bäderarchitektur, Heringsdorf 2010.

18

Museum Niesky/Konrad-Wachsmann-Haus (Hrsg.), Holzbauten der Moderne. Die Entwicklung des industriellen Holzhausbaus, Dresden 2015.

19

Walter Gropius, «Neues Bauen», in: Der Holzbau. Mitteilungen des Deutschen Holzbau-Vereins, Beilage zu Deutsche Bauzeitung, 1920, H. 2, S. 5.

20

Hartmut Probst/Christian Schädlich, Walter Gropius, Bd. 1: Der Architekt und Theoretiker. Werkverzeichnis Teil 1, Berlin/DDR 1986, S. 166 –169. Zu Sommerfeld auch: Celina Kress, Adolf Sommerfeld – Andrew Sommerfield. Bauen für Berlin 1910 –1970, Berlin 2011.

21

Winfried Nerdinger, Walter Gropius, Berlin 1985, S. 58.

22

Konrad Wachsmann, Holzhausbau, Berlin 1930.

Schweizer Holzbau der Moderne Eine vergleichbare Entwicklung wie in Deutschland war in den 20er-Jahren in der Schweiz nicht zu verzeichnen. Die grossen Zeiten, in denen Chaletfabriken ihre Produkte sogar ins Ausland und nach Übersee liefern konnten, gehörten spätestens seit dem Beginn des Ersten Weltkriegs der Vergangenheit an. Holzbau spielte zunächst eine eher untergeordnete Rolle – gerade bei den akademisch ausgebildeten Architekten, die das Baugeschehen beherrschten und deren vor allem in Zürich tätige Avantgarde sich sukzessive dem Neuen Bauen zuzuwenden begann. Auch in der Schweiz konnten sich jedoch Firmen etablieren, die in der Zwischenkriegszeit präfabrizierte Holzhäuser herstellten. Die wichtigste war die Holzbau AG Lungern,23 die 1926 aus der Firma Gebrüder Gasser hervorging.

Zu Beginn des Jahrhunderts war das Unternehmen auch im Barackenbau aktiv, 1924 patentierte man die «Bauart Lungern» mit geschosshohen Wandelementen aus stehenden Kanthölzern, die beidseitig mit einer liegenden Bretterschalung versehen waren. Mit dem seit 1928 als Architekt für die Holzbau AG Lungern tätigen Architekten Eugen Läubi öffnete sich das Unternehmen den Ideen des Neuen Bauens und war 1930 mit zwei Bauten an der Schweizerischen Wohnungsbauausstellung Basel (WOBA) vertreten. Schon 1928 hatte Lux Guyer, eine der ersten Architektinnen der Schweiz, das System für ein Typenhaus auf der von ihr als leitende Architektin betreuten Schweizerischen Ausstellung für Frauenarbeit in Bern (SAFFA) genutzt.24 Verkleidet war die Fassade des zweigeschossigen Hauses mit roten Eternitschindeln. Zur intendierten Serienfabrikation kam es indes mangels Nachfrage nicht. Nur der Prototyp konnte verkauft werden und fand in Aarau einen neuen Standort, bevor er schliesslich 2005 in Stäfa neu errichtet wurde. In gewisser Weise stellte sich die Situation in der Schweiz ähnlich dar wie in Deutschland: Massenproduktion war nicht zu erzielen, und insofern blieb es bei der Erstellung von Einzelobjekten, bei denen das Potenzial einer seriellen Fertigung letztlich nicht in vollem Umfang ausgeschöpft werden konnte. Dennoch ist zu konstatieren, dass in den 30er-Jahren auch in der Schweiz das Bauen mit Holz an Bedeutung gewann. Dass 1931 die Lignum als Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für das Holz gegründet wurde, ist vor diesem Hintergrund symptomatisch. Nach der Phase der Hochkonjunktur verstärkte sich in den Jahren der Depression und Wirtschaftskrise das Interesse an heimischen und einfachen Baumaterialien. Der Wettbewerb für neuzeitliche Holzhäuser, den Lignum und Schweizerischer Werkbund 1932 auslobten, stiess mit mehr als 200 Teilnehmenden auf unerwartet reges Interesse. Darunter war auch fast die gesamte Riege der Architekten, die zum Neuen Bauen in der Schweiz gezählt werden können. Bestrebungen, die sich sonst häufig widersprächen, wirkten in diesem Fall zusammen, hiess es anlässlich der Publikation der Wettbewerbsergebnisse im Werk: das «volkswirtschaftliche Bedürfnis, für schweizerische Bauten nach Möglichkeit einheimisches Material zu verwenden, die Notwendigkeit, der Bevölkerung unserer Gebirgstäler Verdienstmöglichkeiten zu schaffen, die Heimatschutzbestrebungen, Neubauten in herkömmlichen Baumaterialien zu errichten, und das Interesse der modernen Architekten, Bautypen aus den Gegebenheiten eines bestimmten Materials heraus zu entwickeln und für das Wohnbedürfnis minderbemittelter Familien sorgfältig durchdachte Grundrisse auszuarbeiten und mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Wohnwert zu erzielen».25 Wie der Wettbewerb zeigte, interessierten sich die Architekten der Schweizer Moderne um 1930 zunehmend für den Holzhausbau – und setzten auch eine Reihe bemerkenswerter Projekte um. Ein herausragendes Beispiel ist das Wohnhaus, das Artaria & Schmidt 1929 für Hans Schmidts Bruder Georg, den Kunstkritiker und späteren Direktor des Basler Kunstmuseums, in Binningen realisierten: ein zweigeschossiges Holzhaus mit Pultdach, konstruiert als holzverschalte Riegel- und Zangenkonstruktion.26 Die Architekten nutzten standardisierte Elemente, um die strukturellen Eigenschaften des Bausystems zu artikulieren; durch den ursprünglich grauen Farbanstrich wirkten sie der rustikalen Erscheinung des Werkstoffs Holz entgegen. Schon drei Jahre zuvor hatten die Architekten für den Maler Willi Wenk ein Wohn- und Atelierhaus in Riehen erstellt, das durch eine skelettartige Zangenkonstruktion hervorstach.27 In Reigoldswil, wiederum im Kanton Basel-Landschaft, entstand 1934 als Erweiterung des barocken Landguts Gorisen eine Art von Stöckli im Stil der Moderne. Sein Entwerfer war der heute nur noch wenig bekannte Basler Architekt Rudolf Preiswerk.28

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Volumenkomposition wurde hybrid konstruiert: Das Tragwerk als Stahlskelett, die Wände als Holzskelettkonstruktionen mit äusserer Lärchen- und innerer Tannenschalung.34 1943 entstand die Arbeitersiedlung Gwad in Wädenswil. In Zeiten der Kriegswirtschaft wurden Beton und Stahl für den Festungsbau benötigt, sodass der Holzbau zur sinnvollen Alternative avancierte. Doch Holz ermöglichte für die insgesamt 28 Häuser, die übereinander gestaffelt Zeilen am Hang bilden, auch eine extrem kurze Bauzeit von vier Monaten, und überdies gehörte es zum Konzept, die zukünftigen Bewohner gleichsam als ungelernte Arbeiter am Bau zu beteiligen. Flachdächer, horizontale Schalung und klare kubische Form der Gebäude sind Merkmale des Neuen Bauens, während die Befensterung samt Fensterläden eher traditionell anmutet.35

Rudolf Preiswerk: Erweiterung Landgut Gorisen, Reigoldswil, 1934

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Über einem massiven Sockel erhebt sich eine holzverschalte zweigeschossige Riegelkonstruktion, die mit zweiseitig umlaufenden Balkonen und dem Flachdach die Horizontalität betont und ganz der Ästhetik des Neuen Bauens verpflichtet ist. 1938 wurde das Landhaus Gorisen im Werk veröffentlicht – im Rahmen der Februarnummer, die ganz dem zeitgenössischen Holzbau gewidmet war und neben realisierten Projekten unter anderem auch Projekte für Typenhäuser des Basler Architekten Otto Senn vorstellte.29 Schon 1936 hatte Paul Artaria, der nach dem Konkurs des gemeinsam mit Hans Schmidt geführten Büros seit 1930 ein eigenes führte, Schweizer Holzhäuser veröffentlicht, eine Publikation, die 1942 in zweiter Auflage erschien.30 Ebenfalls 1936 fand, begleitet von einer Ausstellung im Gewerbemuseum, der 1. Schweizerische Holzkongress statt. Das «neue Interesse am Holzbau» sei von den modern eingestellten Architekten und den Ingenieuren neu geweckt worden, nicht von Holzbauinteressenten und Heimatschutzkreisen, die immer noch im «Chalet-Ideal» befangen seien, hiess es im Editorial des Werk-Hefts von Oktober 1936, das anlässlich des Kongresses erschien. Aber das konstruktive Denken, das auch dem Holzbau der Vergangenheit zugrunde liege, könne beide Positionen versöhnen.31 Von der zunehmenden Bedeutung des Holzbaus zeugten 1938 die Ausstellung Das Haus aus unserem Holz im Kunstgewerbemuseum Zürich, vor allem aber die Schweizerische Landesausstellung 1939 in Zürich mit einer grossen Anzahl temporärer Holzbauten. Paul Trüdinger, seinerzeit Stadtbaurat von St. Gallen, postulierte die Normung nicht nur einzelner Hausteile, sondern ganzer Haustypen, und verwies als Vorbilder auf genormte Holzhäuser in Stockholm sowie auf die amerikanischen Balloon-FrameKonstruktionen.32 Zu einer tatsächlichen Industrialisierung des Holzbaus und damit zur Erstellung kostengünstiger Einfamilienhäuser kam es in der Schweiz indes weiterhin nicht. Auf den Artikel von Paul Trüdinger folgte im Werk vom Dezember 1936 ein Beitrag des Architekten Hans Fischli, der sich für einen pragmatischen und undogmatischen Umgang mit dem Baustoff Holz stark machte: «Der Architekt wird von der konstruktiven, wirtschaftlichen Seite zum Holz geführt. Lassen wir alle sentimentalen Beweggründe beiseite: Holz ist ebensowenig ein Kultgegenstand wie irgendein anderes Baumaterial. […] Verwenden wir das Holz materialgerecht und lassen wir uns bei den Konstruktionsdetails vom Holzspezialisten, dem Zimmermann, beraten, und wir brauchen keine gesuchten Mittel, um ein bodenständiges Schweizerhaus zu erhalten.»33 Fischli selbst hatte sich 1933 in Obermeilen sein eigenes Wohnhaus Schlehstud bauen können. Die kubisch geprägte

Hans Fischli: Haus Schlehstud, Obermeilen, 1933

Hans Fischli: Siedlung Gwad, Wädenswil, 1943/44

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte sich Fischli mit Siedlungsbauten aus Holz. Zu nennen in diesem Kontext ist insbesondere das Pestalozzi-Dorf in Trogen. Zunächst dachte der Architekt an die Verwendung nicht mehr benötigter Militärbaracken, dann plante er hölzerne Leichtbaukonstruktionen, die gewissermassen an die in den Kriegsjahren ausgeführten Siedlungen in Wädenswil und Obermeilen anknüpften. Zur Ausführung kamen indes auf Wunsch der lokalen Entscheidungsträger Typenhäuser, die deutlich traditioneller wirken und von den historischen Appenzellerhäusern der Region inspiriert waren.36 Auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit war der Holzbau ein wichtiges Thema. Interessant in diesem Kontext ist eine Schrift zum Thema Wiederaufbau, die Max Bill im Jahr des Kriegsendes 1945 veröffentlichte.37 Darin bilanzierte er – soweit damals bekannt – die Kriegszerstörungen und stellte vorbildliche Siedlungsprojekte der jüngsten Zeit vor. Beson-


deres Augenmerk erhalten unter anderem Arbeitersiedlungen in den USA, die unter Bedingungen der Kriegswirtschaft von der Federal Works Agency zum Teil bei prominenten Architekten in Auftrag gegeben worden waren, darunter Windsor Locks, Connecticut (Architekt Hugh Stubbins), Coatesville, Pennsylvania (George Howe, Oscar Stonorov, Louis I. Kahn), Audubon Village, New Jersey (Joseph N. Hettel, Oscar Stonorov), Aluminum City, Pennsylvania (Walter Gropius, Marcel Breuer), vor allem aber Channel Heights, California (Richard Neutra), die laut Bill «bestgeglückte der Kriegsortschaften» mit präfabrizierten Holzständerbauten und Holzverkleidung. Ausführlich behandelt wurden zudem schwedische Holzmontagehäuser, die seinerzeit grosse Verbreitung fanden. Am Ende stellte Bill verschiedene Anbieter von vorgefertigten Schweizer Holzhäusern mit ihren jeweiligen Systemen vor. Denn Ziel des Buchs, so schrieb Paul Gysler, Nationalrat und Präsident des Schweizerischen Gewerbeverbands im Vorwort, war der «gewerbliche Export in kriegsgeschädigte Gebiete».38 Wie erfolgreich diese Initiative war, lässt sich mangels historischer Forschung über die vorgestellten Firmen nicht beurteilen. Bekannt ist aber, dass die Holzbau AG Lungern schon 1945 Holzhäuser in das kriegszerstörte Stuttgart lieferte.39 Bis in die 50er-Jahre hinein war das Baumaterial Holz ein bestimmendes Thema des Schweizer Architekturdiskurses. Entscheidend war unter anderem die Tatsache, dass die fortschrittlichen Schweizer Architekten seit den 30er-Jahren die skandinavische Moderne entdeckt hatten, die mit ihrer moderaten Haltung und zum Teil organischen Formensprache eine Alternative zum radikalen Funktionalismus und erst recht zum Mitteleuropa beherrschenden Neoklassizismus darstellte. Diese Orientierung dauerte auch in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an. Von Teilen der jungen Generation entdeckt wurde auch Frank Lloyd Wright. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Architekt André M. Studer 40, der sich 1958/59 sein eigenes Wohnhaus in der Künstlerkolonie Gockhausen bei Zürich errichtete. Das Haus wurde als Holzkonstruktion errichtet, die durch den Kaminblock aus Beton ausgesteift ist. Der Ständerbau wird von einem mächtigen Dach aus Eternitschindeln überdeckt, das die Neigung des Hanges kontrapunktisch aufnimmt und dann zur Gebäudestirn abknickt. Auf der Rückseite überspannen die frei liegenden Träger einen japanisch inspirierten vertieften Garten. Dank der Split-Level-Konzeption verteilen sich die Wohnräume im Haus auf insgesamt fünf Ebenen, die optisch miteinander verbunden sind. Es ist interessant, dass die Idee für das Haus schon 1952 entwickelt wurde, als Studer nach erfolgreichem Diplom mit seiner Frau durch die USA reiste und mehrfach mit Frank Lloyd Wright zusammentraf. Die vom grossen amerikanischen Meister inspirierten Entwürfe, die der junge Architekt in dieser Zeit anfertigte, bildeten ein Reservoir, aus dem sich viele Ideen für seine vorwiegend im Grossraum Zürich in den 50er- oder 60er-Jahren realisierten Projekte speisten. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg drängten Stahl und Beton in den Vordergrund und begannen, den Holzbau zu verdrängen. Damit wiederholte sich in der Spätmoderne eine Entwicklung, wie sie schon in der «klassischen» Moderne seit Mitte der 20er-Jahre eingesetzt hatte. Nicht, dass der Baustoff Holz keine Rolle mehr gespielt hätte: Natürlich wurde weiterhin mit Holz gebaut. Doch geschah dies vor allem in der anonymen Architektur im ländlichen Raum, während die akademisch ausgebildeten Architekten in den Städten andere Baumaterialien bevorzugten – und im Architekturdiskurs Holz keine wesentliche Bedeutung mehr besass. Auch die Orientierungs- und Referenzfelder der Profession hatten sich verändert: Fixpunkt war nicht mehr die behutsame skandinavische Moderne, Fixpunkte waren nun der

Plastizismus und Brutalismus des späten Le Corbusier oder die amerikanische Stahl-Glas-Architektur in der Tradition der Bürobauten von Ludwig Mies van der Rohe. Dazu kam eine scheinbar unerschütterliche Fortschrittsgläubigkeit, die erst infolge der Ereignisse von 1968 brüchig zu werden begann. Der Umbruch von 1968, der weltweit ein Umdenken auslösen sollte, korrelierte im Bereich von Architektur und Planung mit einer Krise der Moderne, besser gesagt: der Spät- oder Nachkriegsmoderne. Die wegweisenden Architekten der Moderne waren gestorben: Le Corbusier 1965, Walter Gropius und Mies van der Rohe 1969, Richard Neutra 1970. 1972 veröffentlichte der Club of Rome seinen Bericht über die Grenzen des Wachstums, 1973 liess die Ölkrise das selbstsichere Dogma permanenter Progression gegenstandslos werden. In der schweizerischen Zeitschrift Werk konstatierte der Redakteur und Soziologe Lucius Burckhardt 1973: «Die frischfrohe Architektur auf der tabula rasa […] zeigte erste Zeichen des selbstverschuldeten Niedergangs.»41 Und das Europäische Denkmalschutzjahr 1975 zeugte von einem wiedererwachten Interesse an der (architekturhistorischen) Tradition. 23

Vgl. Frank Bürgi, Frühmoderne Architektur aus der Fabrik. Die Holzbau AG Lungern 1925 –1935, Basel 2015.

24

Verein proSAFFAhaus / Institut für Geschichte und Theorie der Architektur (Hrsg.), Die drei Leben des Saffa-Hauses. Lux Guyers Musterhaus von 1928, Zürich 2006.

25

«Wettbewerb für neuzeitliche Holzhäuser», in: Das Werk, 1933, H. 12, S. 359–364, hier S. 359. Zum Wettbewerb auch: «Wettbewerb für neuzeitliche Holzhäuser, durchgeführt von der ‹Lignum› und dem SWB», in: Schweizerische Bauzeitung, Bd. 101, 1933, H. 12, S. 140 –145.

26

Ursula Suter, Hans Schmidt 1893 –1972. Architekt in Basel, Moskau, Berlin-Ost, Zürich 1993, S. 192.

27

Ebd., S. 157.

28

Ein Teilnachlass von Preiswerk befindet sich im gta-Archiv der ETH Zürich.

29

«Landhaus P.-S. in Reigoldswil», in: Das Werk, 1938, H. 2, S. 38–40.

30

Paul Artaria, Schweizer Holzhäuser, Basel 1936 (2. Auflage Basel 1942).

31

«Holzkongress», in: Das Werk, 1936, H. 10, S. 293.

32

Paul Trüdinger, «Normung im Holzhausbau», in: Das Werk, 1936, H. 12, S. 373/374.

33

Hans Fischli, «Holz in der modernen Architektur», in: Das Werk, 1936, H. 12, S. 374/375, hier S. 375.

34

Vgl. «Landhaus F. in Meilen», in: Das Werk, 1936, H. 10, S. 302–304; Karl Jost, Hans Fischli – Architekt, Maler, Bildhauer (1909 –1989), Zürich 1992, S. 15 –22.

35

Karl Jost, Hans Fischli – Architekt, Maler, Bildhauer (1909 –1989), Zürich 1992, S. 66 –74.

36

Ebd., S. 108 –118.

37

Max Bill, Wiederaufbau, Erlenbach-Zürich 1945.

38

Vgl. ebd., S. 5.

39

Vgl. Bürgi 2015 (wie Anm. 23), S. 20.

40

Der Autor arbeitet gemeinsam mit Daniel Weiss an einer Monografie über André M. Studer, die 2021 im gta Verlag Zürich erscheinen wird.

41

Lucius Burckhardt: «Kritik der sechziger Jahre», in: Werk, 1973, H. 12, S. 1588 –1600, hier S. 1588.

Neue Einfachheit Auch der Siegeszug der neueren Schweizer Architektur wurzelte in einer spezifischen Situation, die ihren Ausgangspunkt in der Auseinandersetzung mit einer seelenlos gewordenen, dem Bauwirtschaftsfunktionalismus ergebenen Spätmoderne hatte. 1970 formierte sich eine Gruppe von Architekten aus dem Tessin – darunter Luigi Snozzi, Aurelio Galfetti und Mario Botta – und opponierte gegen das dem Strukturalismus verhaftete Projekt der EPFL-Erweiterung in Lausanne-Ecublens, das ein Team um den Zürcher Architekten Jakob Zweifel vorgelegt hatte. Nicht mehr die Mechanistik der internen Organisation interessierte die jungen Tessiner, sondern das Thema der Stadt und des Raums, das durch intellektuelle Exponenten wie Aldo Rossi und Vittorio Gregotti in den 60er-Jahren in den italienischen Architekturdiskurs und in die internationalen Debatten eingeführt worden war.

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Erzielte die junge Tessiner Architektur in den 70er-Jahren internationale Aufmerksamkeit, so richtete sich der Fokus in den 80er-Jahren auf die Deutschschweiz, zunächst besonders auf den Raum Basel. Motor des architektonischen Aufschwungs in der Stadt am Dreiländereck war vor allem der von 1979 an bis in die 90er-Jahre amtierende Kantonsbaumeister Carl Fingerhuth, der es durch die prominente Besetzung von Jurys vermochte, in das erhebliche, vom Hochbau- und Planungsamt verantwortete Bauvolumen architektonische Qualität zu investieren. Daneben ermutigte er private Bauherren und Unternehmen, ihrerseits Wettbewerbe abzuhalten.

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In diesem Klima begann die Karriere der ortsansässigen Büros Herzog & de Meuron, Diener & Diener, Michael Alder oder Wilfried und Katharina Steib. Gemeinsam war ihnen eine Haltung, die nicht auf das Spektakuläre zielte, sondern mit dem Einfachen und Gewöhnlichen operierte. Damit stand die Deutschschweiz für einen Sonderweg, der eine bald vielbeachtete Alternative zur in Europa und den USA dominierenden Postmoderne mit ihrer Formenopulenz darstellte – sich aber auch von den Tessinern abhob, bei denen das traditionelle Baumaterial Naturstein seit jeher eine wichtige Rolle spielte und die – wie vor allem Mario Botta – stärker an primären Geometrien interessiert waren. Es ging im Norden des Landes um Zurückhaltung in der Formensprache, aber auch um das In-Wert-Setzen von zuvor nicht als repräsentativ geltenden Baumaterialien wie Sperrholz oder Eternit. Auch Holz als Bau-material fand im Zusammenhang mit der bald als «neue Einfachheit» titulierten neuen Deutschschweizer Architektur erneute Aufmerksamkeit. Stellvertretend hierfür kann etwa das Wohnhaus in der Hebelstrasse (1987/88) von Herzog & de Meuron stehen, eine dreigeschossige Holzkonstruktion in der Innenstadt von Basel, wenn auch noch wie ein Funktionsgebäude oder ein Gartenpavillon der Sichtbarkeit entzogen in einem durch ein Tor verschlossenen Hinterhof. Verstärkt wurde das Interesse am Gewöhnlichen und Alltäglichen durch eine Reihe weiterer, mehr oder minder synchroner Phänomene. Zum einen ist hier auf die Rezeption des Werks der Architekten und Architekturtheoretiker Robert Venturi und Denise Scott Brown durch den Architekturhistoriker Stanislaus von Moos hinzuweisen. Immer wieder setzte er sich mit dem Werk des amerikanischen Paares auseinander, das massgeblich den Postmoderne-Diskurs in den USA bestimmte und nicht zuletzt durch die Untersuchung des Strip in Las Vegas in Learning from Las Vegas 42 bekannt wurde. Von Moos gelang eine spezifische Schweizer Lesart, die nicht auf die schrille Pop-Ästhetik fokussierte, sondern die Auseinandersetzung mit dem Banalen und Alltäglichen in den Vordergrund stellte. Zum anderen entwickelte der Architekt Miroslav Šik, zwischen 1983 und 1991 Oberassistent am Lehrstuhl von Fabio Reinhart an der ETH Zürich, das Konzept einer «Analogen Architektur», die er auch 1987 in einer Ausstellung in Zürich präsentierte.43 Hier bildeten die banalen und alltäglichen, weitestgehend anonymen Bauten aus den Schweizer Vorstädten und Gewerbegebieten einen wichtigen Anknüpfungspunkt. Als Holzbau realisierte der Architekt zwischen 1994 und 1997 das mit Schindeln verkleidete katholische Gemeindezentrum in Egg bei Zürich. Der Aufschwung des Holzbaus seit den 80er-Jahren hatte aber auch mit der Grösse der Bauaufgaben zu tun. Leitbild war nicht mehr die Grosssiedlung der Spätmoderne; vielmehr

konzentrierte sich der Wohnbau jetzt auf kleinteiligeren, niedriggeschossigen Siedlungsbau oder auch Einfamilienhäuser – Architektur mithin, deren Dimensionierung eine Realisierung in Holz plausibel machte.44 Das wiedererwachte Interesse an einem natürlichen Baumaterial ist aber auch vor dem Hintergrund eines sich erstmals deutlich artikulierenden ökologischen Bewusstseins zu sehen, das insbesondere von den sich in den 80er-Jahren in Deutschland und der Schweiz formierenden grünen Bewegungen in die Gesellschaft getragen wurde. In der Schweiz lancierte das Bundesamt für Konjunkturfragen 1986 das auf fünf Jahre befristete Impulsprogramm (IP) Holz, um Holz als modernen Baustoff bei Bauherrn und Planern zu höherer Nachfrage zu verhelfen und die Wald- und Holzwirtschaft zu motivieren, sich stärker nach den Bedürfnissen des Marktes auszurichten. Dafür wurde ein Ausbildungsprogramm aufgelegt, ausserdem erschienen in Zusammenarbeit mit SIA und Lignum diverse Publikationen mit historischen Essays, vorbildlichen Baudetails und zeitgenössischen Best-PracticeBeispielen.45 Förderlich wirkte sich das Programm auch für die Elementbauweise aus Holz aus, die das negative Image der Barackenhaftigkeit verlor. Einerseits, weil die Qualität der Elemente hinsichtlich Sicherheit, Dauerhaftigkeit und bauphysikalischer Eigenschaften stetig verbessert werden konnte; anderseits aufgrund der Tatsache, dass dank neuer Fertigungstechniken die Individualisierung von präfabrizierten Elementen möglich wurde.46

Peter Zumthor: Atelierhaus Haldenstein, 1986

Nach Basel rückte Graubünden in das Blickfeld der architekturinteressierten Öffentlichkeit. Im Jahr 1986 errichtete der ursprünglich als Möbelschreiner ausgebildete Architekt Peter Zumthor sein eigenes Atelierhaus in Haldenstein aus Holz: ein schlichtes Volumen mit Satteldach, das als Gebäude für die Arbeit eher den traditionellen Scheunen und Ställen verwandt schien als den aus Stein gefügten Wohnhäusern. Seither hat Zumthor immer wieder auch Holzhäuser entworfen, vor allem in seinem Wohnkanton Graubünden. Auch andere im Bünderland tätige Architekten nutzen seither verstärkt Holz, vor allem Gion Caminada, dem es gelungen ist, mit seinen Wohnbauten, Ställen und auch der Totenstube in Vrin den herkömmlichen Strickbau auf moderne Weise neu zu beleben. Besondere Bedeutung für die neue Karriere des Holzhausbaus seit den 80er-Jahren besassen und besitzen die Zürcher Architekten Marianne Burkhalter und Christian Sumi. 1984, im Jahr der Bürogründung, entdeckten sie in einem Antiquariat in Kopenhagen Konrad Wachsmanns Buch Holzhausbau, das sie nachhaltig faszinierte und zu dessen Neuausgabe Christian Sumi gut zehn Jahre später einen


Textbeitrag beisteuern sollte.47 Dabei schlug er einen Bogen von Wachsmanns Tätigkeit in der Weimarer Republik zum «General Panel System», das der Emigrant gemeinsam mit Walter Gropius in den USA entwickelte, und thematisierte auch andere Konzepte für den vorfabrizierten modernen Holzhausbau, so Frank Lloyd Wrights Usonian-Häuser und das Rahmensystem von Rudolph M. Schindler. Dabei nahm Sumi Partei für den Baukasten und gegen das universelle, in jede Richtung wachsende Bausystem, das Wachsmann seit den 40er-Jahren beschäftigte: «Nicht die Reduktion auf ein universelles Panel, sondern das Entwickeln einer angemessenen Vielzahl von verschiedenen, in den Leistungen differenzierten Elementen bilden, nebst der ökologischen Optimierung, die Leitlinien des zeitgenössischen Holzbaus.»48 Schon in ihren ersten beiden Bauten, den Privathäusern in Eglisau und Langnau am Albis, nutzen Burkhalter und Sumi Ständerkonstruktionen und präfabrizierte Elemente. Reine Holzbauten waren auch wichtige Projekte der 90er-Jahre, darunter die auf Basis eines Baukastensystems erstellten Forstwerkhöfe in Turbenthal und Rheinau (1993/94) sowie der Kindergarten im österreichischen Lustenau (1994).49 Daneben entstanden hybride Bauten, bei denen Holz vielfach für die Verkleidung der Fassaden verwendet wurde, so etwa bei der Erweiterung des Hotels Zürichberg (1995) sowie in einer Reihe von Stadtvillen im Zürcher Stadtteil Witikon (2002)50. Die horizontalen, zumeist rot gestrichenen Verschalungen der Volumina wurden gewissermassen zum Markenzeichen des Architekturbüros und trugen dazu bei, Holzfassaden auch im städtischen Kontext zur Akzeptanz zu verhelfen. 42

Robert Venturi, Denise Scott Brown, Steven Izenour, Learning from Las Vegas, Cambridge, MA 1972.

43

Miroslav Šik (Hrsg.), Analoge Architektur, Zürich 1987.

44

Vgl. hierzu auch: Lignum (Hrsg.), Neuer Holzbau in der Schweiz. Mit Tradition und Erfahrung zu neuen Gestaltungen in Holz, Dietikon 1985.

45

Vgl. beispielsweise: Bundesamt für Konjunkturfragen/IP Holz (Hrsg.), Holzrahmenbau, Bern 1989; dies. (Hrsg.), Zeitgemässes Gestalten und Konstruieren in Holz, Bern 1991.

46

Vgl. hierzu Anton Steurer, Entwicklung im Ingenieurholzbau, Basel/ Boston/Berlin 2006, S. 210 –213.

47

Christian Sumi, «Holzhausbau heute», in: Konrad Wachsmann. Technik und Gestaltung, Neuausgabe, Basel/Boston/Berlin 1995, S. 19–27.

48

Ebd., S. 26.

49

50

Marianne Burkhalter & Christian Sumi. Die Holzbauten, Zürich 1996.

Burkhalter Sumi: Haus Brunner, Langnau am Albis, 1986

13

Burkhalter Sumi: Holzwerkhof Rheinau, 1994

Allgemein zu Burkhalter und Sumi: Burkhalter + Sumi, Basel/ Boston/Berlin 1999; Konstruktionen. Burkhalter Sumi – Architekten. Makiol Wiederkehr – Holzbauingenieure, Luzern 2005; 2G 35: Burkhalter Sumi, 2006.

Burkhalter Sumi: Erweiterung Hotel Zürichberg, Zürich, 1995

Burkhalter Sumi: Wohnüberbauung Wehrenbachhalde, Zürich, 2002


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Herzog & de Meuron: Bergrestaurant und Seilbahnstation Chäserrugg, 2015


Aktuelle Tendenzen Mit der Konferenz der Vereinten Nationen zu Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro gelangte der Begriff der Nachhaltigkeit oder Sustainability ins öffentliche Bewusstsein. Er geht zurück auf den sächsischen Beamten und Oberberghauptmann Hans Carl von Carlowitz, der in einer Zeit, da das Hüttenwesen einen enormen Holzverbrauch erforderte, zu einer Bewirtschaftung der Wälder ermahnte, bei der die Entnahme das Nachwachsen nicht übersteige – was er als «nachhaltende Nutzung»51 bezeichnete. Seit der Umweltkonferenz von Rio hat der Gedanke der Nachhaltigkeit stetig an Bedeutung gewonnen und erfasst viele Bereiche der Gesellschaft. Hinzu kommt die Klimadebatte der letzten Jahre. Dass die konventionelle Bauwirtschaft mit ihren energieintensiv hergestellten Materialien und einem ebenso energieintensiven Gebäudebetrieb ein extremes Problem darstellt, ist seit Langem bekannt. Die durch den Betrieb von Gebäuden ausgelöste Emission von CO2 ist in der Schweiz grösser als die des Verkehrs, und hier ist die graue Energie für die Erstellung der Gebäude noch nicht einmal eingerechnet. Vieles spricht für Holz: Holz ist ein nachwachsender Rohstoff, und im Holz wird Kohlenstoff gebunden. In ihrem Wachstum nehmen Bäume vermittels Photosynthese Kohlendioxid auf, speichern den Kohlenstoff und geben Sauerstoff ab. Damit ist Holz hinsichtlich seiner Ökobilanz anderen Baustoffen deutlich überlegen.52 Auch wenn sich die Baubranche insgesamt als relativ schwerfällig erweist: Die Bedeutung von Holz wächst in diesem Sektor ständig. Auffällig ist, dass etwa im jüngsten Œuvre von Herzog & de Meuron vermehrt Holzbauten auftauchen, wie etwa das Naturbad in Riehen (2014) oder das Bergrestaurant Chäserrugg (2015) beweisen. Und der Holzbau stösst auch im urbanen Kontext zunehmend auf Akzeptanz. Beim Wohn- und Geschäftshaus an der Badenerstrasse in Zürich von Pool Architekten (2010) verbarg er sich noch hinter einer keramischen Fassade; der Wohnbau von Esch Sintzel an der Maiengasse in Basel (2018) hingegen gibt sich deutlich in seiner Materialität zu erkennen.

Herzog & de Meuron: Naturbad Riehen, Basel, 2014

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Herzog & de Meuron: Bergrestaurant und Seilbahnstation Chäserrugg, 2015

Bemerkenswert ist, dass gerade die Holzbaufirmen zu Pionieren digitaler Produktion geworden sind. Wie in kaum einem anderen Sektor des Bauwesens kann hier die digitale Kette durchgehalten werden: vom Entwurf über die Fertigung im Werk bis hin zur Montage vor Ort. Das erlaubt bisher ungeahnte Möglichkeiten, wie sie etwa am Lehrstuhl für digitale Fabrikation von Fabio Gramazio und Matthias Kohler an der ETH Zürich erprobt werden.

Esch Sintzel: Wohnüberbauung Maiengasse, Basel, 2018

Pool Architekten: Wohn- und Geschäftshaus Badenerstrasse, Zürich, 2010


Gramazio Kohler: Holzornamentik in der Monte-Rosa-Hütte von Bearth & Deplazes, 2009

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Auch beim Bau der Monte-Rosa-Hütte des Schweizer AlpenClubs, entworfen vom ETH-Kollegen Andrea Deplazes und dem eigens anlässlich des 150-jährigen Jubiläums der ETH installierten Monte-Rosa-Studio, wurden Gramazio Kohler hinzugezogen. Aussen mit Blech verkleidet, besteht die auf knapp 3000 Meter stehende und 2009 eingeweihte Hütte aus einer präfabrizierten und per Helikopter auf den Bauplatz verfrachteten Holzkonstruktion. Die Vorfertigung der Elemente erfolgte bei der Holzbaufirma Blumer-Lehmann in Gossau im Ostschweizer Kanton St. Gallen. Die computergesteuerten Abbundmaschinen sägen die Balken, winkeln sie ab, schlitzen und bohren. Angesichts dieser vollautomatischen Prozesse, so erkannten Gramazio Kohler, liess sich problemlos ein weiterer Datensatz hinzufügen – zwecks Oberflächenbearbeitung durch eine CNC-Fräse. Ornament ist, anders als das Adolf Loos ein Jahrhundert zuvor behauptete, nicht Verschwendung oder Dekadenz. Sondern ein zusätzlich aktivierbares Potenzial. Balken müssen ohnehin zugeschnitten werden – dann können sie auch so ausgefräst werden, dass sich ein dreidimensionales Moiré-Muster ergibt wie bei der Aussenhaut ihres 2009 fertiggestellten Hauses in Riedikon. Man kann sich an Baumringe erinnert fühlen, auf jeden Fall an Schnitzereien in historischen Gasträumen – Gramazio Kohler sprechen von Kraftfeldern. Das Ornament steht bei Gramazio Kohler nicht im Vordergrund. Doch sie sehen es gewissermassen als einen Layer, den die digitale Fabrikation zusätzlich – aber ohne zusätzlichen Aufwand – möglich macht. Die Zeiten, da der Holzbau als rural und unstädtisch konnotiert galt, sind definitiv vorbei. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der Holzbau sich nicht mehr auf den Einfamilienhausbau oder niedriggeschossigen Wohnungsbau beschränkt. Ein Architekt wie Shigeru Ban, welcher die Techniken des Ingenieurholzbaus auf die Büroarchitektur transferiert, hat mit seinen Gebäuden für Tamedia in Zürich oder Omega/Swatch in Biel gemeinsam mit dem Holzbauingenieur Hermann Blumer53 dazu beigetragen, neue Akzeptanz für den Baustoff zu erzielen.

Shigeru Ban: Tamedia-Gebäude, Zürich, 2013

Shigeru Ban: Omega-Manufaktur, Biel, 2018

Shigeru Ban: Cité du Temps und Swatch-Verwaltung, Biel, 2019


Ein weiteres aktuelles Thema ist darüber hinaus der Bau hölzerner Hochhäuser. Ein wichtiger Markstein war in diesem Zusammenhang das Hochhaus Suurstoffi 22 von Burkard Meyer Architekten in Rotkreuz, das sich in Holz realisieren liess, weil sich 2015 die Brandschutzvorschriften in der Schweiz verändert hatten: Galt zuvor ein unbrennbares Tragwerk als verpflichtend, so ist seither materialunabhängig entscheidend, wie lange die Konstruktion dem Brand standhält. Bei Einbau einer Sprinkleranlage darf die Widerstandsdauer um 30 Minuten reduziert werden. Entstanden ist somit das erste Hochhaus der Schweiz, das weitestgehend aus Holz besteht. Das korreliert nicht nur mit dem ökologischen Anspruch des Gesamtkonzepts für das Areal; die Verwendung von Holz erlaubte weitgehende Vorfertigung, verkürzte die Bauzeit erheblich und reduzierte den Baulärm für die Anwohner auf ein Minimum. Schnellerer Bezug bedeutet für den Investor früheren Gewinn: Ökologie und Ökonomie gehen Hand in Hand. Die Mehrkosten, welche die Holzbauweise zur Folge hatte, konnten nach Auskunft der Architekten durch die frühere Vermietung kompensiert werden. Obwohl die Baubewilligung erst 2016 erteilt worden war, wurde das Gebäude schon Mitte 2018 bezogen. Voraussetzung für die schweizuntypische Geschwindigkeit beim Bauen war eine effiziente Planung an einem BIM-Modell unter Einbezug der Holzbauingenieure und Brandschutzexperten

sowie der hohe Grad an Präfabrikation. Um mangelnde Abstimmung zwischen den Gewerken zu verhindern, planten die Holzbauer auch die Erschliessungskerne aus Beton und liessen sie geschossweise mitwachsen. Gemäss dem für die Suurstoffi gültigen volumetrischen Konzept besteht das Gebäude aus zwei miteinander zu einem kompakten Ensemble verschmolzenen Baukörpern: einem zehngeschossigen Turm mit 36 Metern, der sich zu den Gleisen hin orientiert, und einem leicht versetzten rückwärtigen, sich um einen Lichthof gruppierenden Bauteil mit sieben Geschossen und 25 Metern Höhe. Konstruktionsraster, Materialität und Fassadenstruktur sind identisch und gehen ineinander über. Das Skelett des Gebäudes besteht aus Brettschichtholzstützen aus Buche und Tanne in der Fassadenebene und Stützen aus Baubuchen-Brettschichtholz im Querschnitt von 40×40 Zentimetern sowie Unterzügen, die ebenfalls in Brettschichtholz ausgeführt wurden. Dazwischen sind Deckenelemente mit armierten Stahlbetonplatten eingelassen. Diese lassen sich thermisch aktivieren und fungieren als Speichermasse, sie verhindern aber auch Schallübertragung, unterstützen den Brandschutz und nehmen überdies die Sprinklerleitungen auf. Durch die Ausstattung mit Sprinklern gelang es, die Holzoptik im Inneren raumwirksam werden zu lassen. Aus Feuerschutzgründen musste die Fassade mit einem nichtbrennbaren Material verkleidet werden. Die Architekten wählten Sandwichplatten aus mattem Alucobond, die den tektonischen Ausdruck unterstützen. Mit dem Raster der Horizontalen und Vertikalen, den Vor- und Rücksprüngen sowie den Knoten der Balkenköpfe wurde die Struktur des Holzbaus überzeichnet – mit dem Ziel, die Plastizität der Gebäudehülle zu steigern.

Burkhard Meyer: Suurstoffi 22, Rotkreuz, 2018

Längst sind weit höhere Holzhäuser als das in Rotkreuz in Planung; die Zürcher Duplex Architekten wollen in Zug mit dem 80 Meter hohen «Pi» das höchste Holzhochhaus der Schweiz errichten.54 Natürlich sind Bauten dieser Grössenordnung ohne Verbundmaterialien nicht zu bauen. Bei aller Euphorie über die Potenziale von Holz müssen daher in Zukunft auch Antworten auf eine Reihe von Fragen gefunden werden. Etwa die nach dem Verhältnis von Holz und hybriden oder ganz holzfremden Materialien. Wie verhält es sich mit der Nachhaltigkeit und der Ökobilanz von Verbundwerkstoffen? Wann ist der Einsatz von Laubholz wünschenswert oder plausibel, wenn dieses zwecks höchster Qualität importiert werden muss? Kann Vollholzbau eine Lösung sein, obwohl dieser ein Maximum an Verbrauch bedeutet? Auf all diese Fragen gibt es keine einfachen Antworten, denn wir befinden uns in einer Zeit des Experimentierens. Nur eines ist klar: Holz hat das Ghetto des Ruralen verlassen. Es ist auch in der Stadt angekommen. Und damit gehört Gottfried Sempers Diktum, Holz, aus der «dekorativen Behandlung der Zimmerkonstruktion entwickelt», könne «niemals Vorbild einer monumentalen Kunst»55 sein, endgültig der Vergangenheit an.

Burkhard Meyer: Suurstoffi 22, Rotkreuz, 2018

51

Hans Carl von Carlowitz, Sylvicultura oeconomica, oder haußwirthliche Nachricht und Naturmäßige Anweisung zur wilden Baum-Zucht, Leipzig 1713, S. 105.

52

Vgl. hierzu allgemein: Ulrich Dangel, Wendepunkt im Holzbau. Neue Wirtschaftsformen, Basel 2017.

53

Ralph Brühwiler, «Der Mann, der den Holzbau wieder salonfähig machte», in: Appenzeller Kalender, Bd. 294, 2015, S. 78–83.

54

Vgl. Elmar zu Bonsen, «Mit Holz ganz hoch hinaus», in: NZZ am Sonntag, 12.1.2020.

55

Gottfried Semper, Der Stil, Bd. 2, München 1863, S. 250.

17


B au werke in Zei t un d R aum E i n ch ro n o l o g i s ch er Fotoessay von Ka r i n H o f e r 26

Nach drei Jahrzehnten Führung des Unternehmens und dem Übergang in die nächste Generation entstand bei Walter Schär die Idee, mittels einer Fotoreportage die Spuren von schaerholzbau nachzuzeichnen. Wie verändert sich über die Jahre ein Ort, wo wir in die Natur eingegriffen haben? Welche Spuren hinterlassen wir? Die Fotografin Karin Hofer begab sich auf eine Reise durch die Schweiz und besuchte innerhalb eines Jahres 188 Bauwerke von schaerholzbau, die in den letzten drei Jahrzehnten entstanden sind.


27

20.08.2018, Steinhubel 10, 6147 AltbĂźron, Baujahr: 1992


28

03.06.2019, Melchnaustrasse 54, 4900 Langenthal, Baujahr: 1993, Architektur: Werkgruppe 90, Langenthal


29

20.08.2018, Gondiswilerstrasse 11, 6146 Grossdietwil, Baujahr: 1993


30

01.12.2018, Kohlerloch 1, 6153 Ufhusen, Baujahr: 1994


31


32

03.06.2019, Unterdorf 17, 6147 AltbĂźron, Baujahr: 1994


33

03.06.2019, Bergstrasse, 4912 Aarwangen, Baujahr: 1994


34

03.06.2019, Porzellanstrasse 4, 4900 Langenthal, Baujahr: 1995, Architektur: Werkgruppe 90, Langenthal


35

03.06.2019, Sportplatz, 6146 Grossdietwil, Baujahr: 1995


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