Basel ungebaut
Christoph Merian Verlag
Basel ungebaut
Basel ungebaut
Christoph Merian Stiftung (Hg.)
Christoph Merian Verlag
Tilo Richter (Red.)
Tilo Richter
Fundus der Möglichkeiten Prolog
7
Rose Marie Schulz-Rehberg
Metamorphosen und Visionen Pläne und Projekte für den Marktplatz
23
Sandra Fiechter
Kulturmeile und Kulturzentrum Der Steinenberg zwischen Kunst, Kommerz und Verkehr
43
Judith Bertram
An der Hauptschlagader Planungen für den Barfüsserplatz
55
Sandra Fiechter
Grünzone im Hochschulbezirk Der Petersplatz auf dem Westplateau
71
Barbara Lenherr
Fortwährendes Seilziehen Die Heuwaage als neuralgischer Stadtort
85
David Tréfás
Die Fantasie beflügeln Das Kasernenareal
101
Daniel Hagmann, Tilo Richter
Kleinbasels Rückgrat Die Clarastrasse und ihre Umgebung
113
Gabriele Detterer
Wege übers Wasser Projekte für Rheinbrücken
129
Gabriele Detterer
Infrastruktur auf der grünen Wiese Der Industriehafen beim Bäumlihof
147
Christoph Heim
Odyssee eines Flaggschiffs Wie das Kunstmuseum an den St. Alban-Graben kam
155
Rose Marie Schulz-Rehberg
Fast ein Campo Santo Der Gottesacker auf dem Wolf
163
Daniel Hagmann
Perspektiven für das Parlament Das Grossratsgebäude an der Martinsgasse
167
Daniel Hagmann
Zentrale mit Rheinsicht Der Verwaltungsbau an der Schifflände
171
Daniel Hagmann
An erster Stelle: Sauberkeit Das Schwimmbad am Wettsteinplatz
175
Tilo Richter
Das fliegende Klassenzimmer Eine Petersschule, die zu modern war
181
Gabriele Detterer
Neue Ufer Vision einer Umleitung des Rheins
185
Daniel Hagmann
Neues Zentrum an der Brücke Die Hochhausüberbauung Breite
191
Christoph Wieser
Wendepunkt im Städtebau Zur Planung des Gellert-Areals
195
Tilo Richter
Keine Doppelhelix am Rhein Das erste Projekt für den Roche-Bau 1
199
Daniel Hagmann
Pläne und ihre Folgen Eine Spurenlese
203
Beat Aeberhard
Die Wirkung verworfener Planungen Epilog
209
Anhang
227
Prolog
Fundus der Möglichkeiten Tilo Richter
7
Prolog
9
Wer weiss heute, woran das Hallenbad in der Barfüsserkirche in den 1880er-Jahren scheiterte? Wer hat eine Vorstellung davon, wie eine geplante Markthalle auf der Mittleren Brücke um die vorletzte Jahrhundertwende hätte aussehen sollen? Wem sind die Pläne für den Globus-Neubau auf dem Kasernenareal der 1970er-Jahre präsent? Betrachtet man die Baugeschichte der Stadt Basel, so stellt man bald fest, dass hinter jedem realisierten Bau- und Stadtplanungsprojekt eine enorme Fülle von Optionen, Entwürfen und Planungen verborgen liegt. Manches Bauvorhaben wurde über Jahrzehnte hinweg in Angriff genommen, modifiziert, neu angelegt und am Ende in anderer Gestalt realisiert. Oder sogar verworfen. Exemplarisch und zugleich ein Sonderfall ist die Planung eines Museums für die Basler Kunstsammlung, die sich, um 1900 beginnend, über mehr als drei Jahrzehnte erstreckte, dabei nicht weniger als zwölf Standorte ins Auge fasste und im Laufe der Zeit die schier unglaubliche Zahl von mehr als 260 Entwürfen in mehreren Architekturwettbewerben hervorbrachte, bevor das Gebäude 1936 eröffnet werden konnte. Ein erfolgreicher Abschluss. Aber was ist mit all den Häusern, Brücken oder Plätzen, die gar nie gebaut wurden? Verluste? Fehlstellen? Oder «Baulücken», ähnlich wie nach einem Abriss? Oder sind sie, weil sie nie existierten, gar nicht im kollektiven Gedächtnis verankert? Der Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist, künstlerischer Direktor der Serpentine Galleries in London und begnadeter Interviewer der globalen Kunstwelt, hegt eine Leidenschaft: Ihn interessiert, neben zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, besonders jene Kunst und Architektur, die nie entstanden ist. Seine Standardfrage an Kunstschaffende, Architektinnen und Architekten lautet seit Jahren: «Was sind deine nicht realisierten Projekte?» Obrists Recherche mündete 1998 in das von ihm und Guy Tortosa herausgegebene Buch ‹Unbuilt Roads›. Die darin versammelten Antworten sind in vielen Fällen spannender als die Auskünfte zu Ideen, die realisiert wurden. Realisiertes bewirkt in vielen Fällen auch ein Abschliessen mit Gedanken und Vorstellungen. Ist ein Bauprojekt beendet, schwenkt die Aufmerksamkeit auf das nächste. Anders verhält es sich mit unrealisierten Bauten. Sie bleiben auf eigenwillige Art gegenwärtig und bringen sich trotz ihrer weitgehend immateriellen Präsenz immer wieder neu in Erinnerung. Wir können sie, im Unterschied zum Vollendeten, das zum Vertrauten wird, mitunter schwer loslassen. Stattdessen halten wir die Utopie am Leben, und sie fliesst mehr oder minder stark in andere Projekte ein, um – vielleicht über Umwege – doch noch Realität zu werden. Ideen, Visionen und Pläne sind also nicht einfach nur wolkige Phantasien, sondern beeinflussen die Realität bis in die Gegenwart und Zukunft hinein.
Abb. 001
‹Eine Stadt im Werden?›, Herzog & de Meuron, Städtebauliche Studie 1991/92.
Abb. 002
Neubau Jakob-Burckhardt-Haus, Nauenstrasse, sabarchitekten, Studienauftrag 2000.
Tilo Richter
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Zahllose Gebäude haben Architekturdiskussionen angestossen oder bereichert, ohne je gebaut worden zu sein. So wäre die europäische Architekturgeschichte des 18. Jahrhunderts unvollständig ohne die utopischen Bauentwürfe der Franzosen Claude-Nicolas Ledoux und Étienne Louis Boullée, die den Weg für eine grundlegende Erneuerung der Architektur ebneten. Ledoux’ grossartige SalinenAnlage bei Arc-en-Senans, nicht weit von Basel gelegen, hatte den Architekten zu Konzepten inspiriert, die nachhaltig auf die gebaute Architektur wirkten. Die Wende zur Moderne wäre ärmer ohne Hermann Finsterlins expressive Utopien einer «Alpinen Architektur» oder die skurrilen Romane und Aufsätze Paul Scheerbarts, die in den fantastischen Architekturzeichnungen von Bruno Taut ihren Widerhall fanden. Aus den Zwischenkriegsjahren des 20. Jahrhunderts gehört Ludwig Mies van der Rohes Berliner Bürohochhaus ‹Wabe› von 1922 ebenso in diese Kategorie wie Sergius Ruegenbergs gläserne Flughafen-Empfangshalle direkt neben dem Bahnhof Zoo, mitten in Berlin. Le Corbusiers ‹Ville Contemporaine› für drei Millionen Menschen von 1922 und sein kontrovers diskutierter ‹Plan Voisin› für das Paris rechts der Seine von 1929 waren Visionen, die nie verwirklicht wurden, jedoch Folgen zeitigten. Gleiches gilt für seinen ‹Plan Obus›, ein endloses Schleifenhaus mit vierspuriger Autobahn auf dem Dach, zunächst für Rio gedacht, dann, als die Brasilianer abwinkten, für Algier aktualisiert. Besonders schrill ist ‹Mussolinia› nahe Caltagirone: eine Musterstadt, für deren Spatenstich Mussolini 1924 höchstpersönlich nach Sizilien anreiste und deren Baufortschritt dann mittels Fake-Fotografien und gefälschten Bauberichten gesammelt und nach Rom geschickt wurde, damit der Duce zufrieden war – die Siedlung wurde nie gebaut. Frank Lloyd Wright brachte sich in den 1930er-Jahren mit seinem Anti-Stadt-Projekt ‹Broadacre City› als Gegenpol zu Le Cobusiers Haltung ein. Unter den jüngeren Projekten darf die 1989 von OMA – Office for Metropolitan Architecture als Wettbewerbsbeitrag eingereichte ‹Très Grande Bibliothèque› in Paris genannt werden. All diese unrealisierten Bauten sind über ihre Visualisierungen und Dokumentationen in der vergleichenden Architekturbetrachtung und Geschichtsschreibung bis heute omnipräsent. Bei der Frage, welchen Rang nicht gebaute Architektur im Verhältnis zur gebauten einnimmt, gilt es zu bedenken, dass wir nicht erst im digitalen Zeitalter die Mehrzahl des weltweit Gebauten nicht vor Ort erleben. Doch auch wenn am Bildschirm oder in Architekturmagazinen und Büchern ein Abgleich mit der Realität nur unzureichend oder gar nicht erfolgen kann, so scheint es in Debatten eine untergeordnete Rolle zu spielen, ob das Abgebildete als tatsächlich gebaut existiert oder ob es sich um Visualisierungen handelt, die unsere Vorstellungskraft anregen. Ähnlich verhält es sich mit
Abb. 003
Neubau Kuppel, Nachtigallenwäldli, sabarchitekten, Wettbewerb 2001.
Abb. 004
Bebauung Viaduktnische Heuwaage, SSA Architekten, Studie 2001.
Prolog
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der durch Abriss oder Kriegsverluste verschwundenen Architektur. Sieht man einmal von neuesten Virtual-Reality-Projekten zur gestalterischen Rekonstruktion zerstörter Synagogen und Tempel ab, werden zweidimensionale Bildüberlieferungen mit dem Sichtbaren in Beziehung gesetzt und verglichen. Diese «Phantome» der Baugeschichte – das Verlorene und das Nichtrealisierte – und zugleich der kritische Umgang mit ihnen ähneln einander: Je weiter eine unrealisierte Planung zurückliegt, umso mehr verblassen die Ideen und Visualisierungen in den Köpfen.
Gestaltung jenseits des Praxistests Als Schöpferin oder Anhänger einer Stadtutopie für Basel, die gar nie umgesetzt wurde, profitiert man vom Umstand, dass es keinen Nachweis der Funktionalität, Akzeptanz und nachhaltigen Verankerung im Stadtbild gibt. Nichtgebautes muss nicht bestehen, sich nicht bewähren und nicht etablieren. Die rhetorische Frage «Was wäre, wenn …?» verhallt ohne Antwort und entlastet die Idee von der Prüfung im «echten» Leben. Auf diese Weise umgibt manches Zukunftsprojekt die Aura einer «verpassten Chance», der «besseren» Option anstelle der tatsächlich realisierten Variante – man denke nur an die Wettsteinbrücke nach Entwurf von Santiago Calatrava (1988 an der Urne gescheitert) oder an Zaha Hadids Vorschlag für ein neues Stadtcasino (2007 vom Stimmvolk abgelehnt). Niemand kann sagen, was diese Bauten, wären sie realisiert worden, uns gebracht hätten und ob sich ihre in Plänen, Modellen und Renderings formulierten Versprechungen erfüllt hätten. In solchen Fällen gerät die historische Betrachtung mitunter wohlwollender, als ein Praxistest des tatsächlich Gebauten womöglich hätte zeigen können. Ob die deutsche Architekturkritikerin Ingeborg Flagge tatsächlich Recht hatte, als sie 2010 formulierte, die ungebaute sei die bessere Architektur, sei dahingestellt. Beipflichten kann man ihr insofern, als manche realisierte Projekte mitunter, bedingt durch Sachzwänge und Kompromisse, nur noch matter Abglanz einer ursprünglichen Idee sind. Nichtsdestotrotz können Ideen und Entwürfe der Vergangenheit – die «Papierarchitektur» – ein Teil des Nährbodens für die Stadt der Zukunft sein. Für bestimmte Stadtorte, von denen wir hier eine Auswahl vorstellen, gab es immer wieder neue Überlegungen und Planungen, zum Teil in Wettbewerben, zum Teil in Studien oder in Entwürfen, die aus eigenem Impuls entstanden sind. Und nicht selten standen die Verfasserinnen und Verfasser vor den immer gleichen Aufgaben – etwa vor der schwierigen Situation an der Heu-
Abb. 005
‹Pile Up›-Studie, Spalenring, Zwimpfer Partner Architekten, 2003.
Abb. 006
Stadtabschluss Basel-Ost ‹Bäumlihofpark›, Diener & Diener Architekten mit August Künzel
Landschaftsarchitekten, 2007.
Tilo Richter
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waage oder am Steinenberg, wo sich der Theaterplatz durch verschiedene städtebauliche Konzepte und Bauten immer wieder gewandelt hat.
Einblick in Prozesse Die hier vorgestellten nicht realisierten Bauprojekte sollen die Bilder einer nicht gebauten Stadt zeigen, zu der wir durch den bekannten städtebaulichen Kontext einen Bezug entwickeln können. Zudem will das Buch Einblick geben in Prozesse, die sich im Stadtbild selbst kaum ablesen lassen. Vor allem der genaue Blick auf die Entscheidungsfindung der Protagonistinnen und Protagonisten gibt Aufschluss über Fragen der Stadtentwicklung und Architektur. Zu einer direkten Demokratie gehört es, dass vor allem grössere und/oder von der öffentlichen Hand finanzierte Bauprojekte vors Stimmvolk kommen, wie zuletzt in Basel der Neubau des Amts für Umwelt an der Spiegelgasse (2016 knapp angenommen), der Umbau des Kasernen-Kopfbaus (2017 deutlich angenommen) oder das Ozeanium auf der Heuwaage (2019 deutlich abgelehnt). Auch über diese Form der Mitbestimmung soll hier berichtet werden. Neben den Projekten, die bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichen, illustrieren Vorhaben aus jüngerer Zeit die Arbeit einiger Basler Architekturbüros. Sie haben für die Publikation eigene unrealisierte Projekte ausgewählt – die als «Basler Lieblinge» zu verstehen sind. Zeitgenössische Architekturentwürfe, die den Prolog und den Epilog visuell begleiten, geben Einblick in die Kreativkraft der Architekturstadt Basel. Viele national und international tätige Büros sind hier angesiedelt und stehen in einer Traditionslinie des 19. und vor allem 20. Jahrhunderts – man denke nur an die Generation um Hans Bernoulli, den Bauhaus-Direktor Hannes Meyer oder Hans Schmidt. In Basel und im Dreiländereck haben in den letzten Jahrzehnten nicht nur renommierte internationale Architekturbüros gebaut – allein die Liste der in und um Basel vertretenen Pritzker-Preisträgerinnen und -Preisträger ist beeindruckend; zugleich ist von Baslerinnen und Baslern entworfene Architektur zum Exportartikel geworden. Die vorliegende Darstellung befasst sich vornehmlich mit Architektur. Nicht realisierte Verkehrsinfrastrukturprojekte – etwa die Ringstrasse um den Altstadtkern – oder ganze Quartierplanungen im Kontext der rasant wachsenden Industriestadt des 19. Jahrhunderts werden nur tangiert, deren eingehende Untersuchung hätte den Rahmen gesprengt. Im Mittelpunkt stehen zudem mehrere Stadtorte, für deren Neugestaltung ganze Generationen von Architektinnen und Architekten Vorschläge entwickelt haben: Marktplatz, Barfüsserplatz, Steinenberg, Petersplatz, Heuwaage, Kasernenareal und
Abb. 007
Aufstockung Parkhaus Badischer Bahnhof, Miller & Maranta, Studie 2007.
Prolog
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Clarastrasse. Daneben spielt der Rhein eine zentrale Rolle, denn sowohl der Fluss als auch die Rheinbrücken prägen das Stadtbild und das Stadtleben entscheidend mit. Schlaglichter auf einzelne Bauplätze und Bauaufgaben spüren besonderen Projekten nach: der Bau eines Kunstmuseums, der Gottesacker auf dem Wolf, ein geplantes Grossratsgebäude auf dem Münsterhügel, ein Verwaltungsbau, ein Schwimmbad und eine Schule, ein Quartierzentrum, das Gellert-Areal sowie der Roche Bau 1. Während manche Entwürfe in abgewandelter oder gänzlich neuer Form oder von anderer Hand, zum Teil viele Jahre später, umgesetzt wurden, mussten einige Ideen aufgegeben werden. Welche greifbaren Spuren das Ungebaute hinterlassen kann, zeigt beispielhaft der letzte Beitrag, der die archivalischen Fundstücke zum Neubau einer Jugendherberge am Weiherweg um das Jahr 1970 analysiert. Die Pläne und Konzepte, Zeichnungen und Modellfotografien, die meist im Staatsarchiv Basel-Stadt aufbewahrt sind, werden dort sorgfältig erschlossen und tragen ihren Teil zur Lesbarkeit der heutigen Stadt bei. Alle in Text und Bild vorgestellten Projekte dokumentieren und spiegeln ihre Entstehungszeit. Viele führen in Epochen, in denen andere städtebauliche und architektonische Prämissen galten, als sie heute üblich sind. Dabei verweisen sie auch auf politische Konstellationen, die für neue Bauten und zukunftsweisende Stadtplanungen förderlich, manchmal aber auch hinderlich waren. Und sie belegen eindrucksvoll, welch grossen Einfluss die Bürger und später auch die Bürgerinnen zumindest auf das Bauen der öffentlichen Hand oder auf Grossprojekte hatten und weiterhin haben, wenn sie in Abstimmungen zu einem Votum aufgefordert sind. Selbst wenn Fragen zu Architektur und Städtebau nicht mit einem einfachen «Ja» oder «Nein» an der Urne zu beantworten sind, zeigen die Diskussionen im Vorfeld der Abstimmungen, welches Interesse die Bevölkerung an der Gestalt der Stadt hat, in der sie lebt. Häufig spiegeln die Debatten auch die Komplexität einzelner Bauvorhaben, weil es gar nicht allein um die Architektur geht, sondern um den gesamten Stadtorganismus, der sich durch einen Neubau verändern würde. Dieser Aspekt dürfte zum Beispiel beim jüngst geplanten ‹Ozeanium› auf der Heuwaage ausschlaggebend gewesen sein: Die Abstimmenden lehnten das Projekt auch wegen ökologischer, ökonomischer, verkehrstechnischer und nicht zuletzt ethischer Bedenken ab.
«Eine Stadt im Werden?» Die Zahl nicht realisierter Architekturprojekte dürfte ein Vielfaches des Gebauten ausmachen, die vorliegende Publikation versammelt exemplarische Beispiele aus knapp zweihundert Jahren. An ihrer
Abb. 008
Neubau Einkaufszentrum Erlenmatt-Galerie, Morger + Dettli Architekten, Wettbewerb 2008.
Abb. 009
Neubau Einkaufszentrum Erlenmatt-Galerie, Miller & Maranta, Wettbewerb 2008.
Tilo Richter
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Bau- oder besser Nichtbaugeschichte werden Prozesse und Mechanismen anschaulich, die verhindert haben, dass ein Gebäude sich ins Stadtbild einfügen konnte. Auffallend ist, dass es neuralgische Stadtorte gibt, die über lange Zeitspannen hinweg immer wieder neue Ideen und Entwürfe provoziert haben – oder anders formuliert: an denen sich Architekturbüros immer wieder die Zähne ausgebissen haben. In allen Städten und in allen Epochen gibt es solche fortwährenden Entwurfs-, Gestaltungs- und Planungsprozesse. Stadträume sind nie «fertig gebaut» – weil neue Nutzungen sich aufdrängen, weil im Zuge grösserer Eingriffe Raum für Neubauten geschaffen werden soll, weil mit Investitionen neue Horizonte eröffnet werden sollen. Und nicht selten ringt man um einzelne städtebauliche Akzente – man denke nur an die vielen Entwürfe, die immer wieder für einen neuen Stadtcasino-Kopfbau entstanden sind. Bisweilen plant man auch eine grundsätzliche Neuformulierung ganzer Areale – so geschehen mit den Vorschlägen der Künstlervereinigung ‹Gruppe 33› um Paul Artaria, die in Kleinbasel ein komplett neues Stadtbild über das historisch gewachsene stülpen wollten. «Eine Stadt im Werden?» Vielleicht kann man den Titel einer Arbeit von Herzog & de Meuron als wegweisendes Credo verstehen. In ihrer städtebaulichen Studie von 1991/92 analysieren die Architekten die Stadt Basel und das Dreiländereck – und denken sie weiter. Ungezählte kleine und viele grosse Baustellen mit Baukränen, die die Stadtsilhouette überragen, machen deutlich, dass Veränderung der wohl beständigste Charakterzug einer Stadt ist. Dieser Grundton «Basel wird …» bedeutet gleichzeitig, dass die Stadt nie fertiggebaut sein kann oder sein wird, sondern dass jederzeit neue Ideen in sie einfliessen, die das Alte – zumindest in Teilen – überschreiben, auslöschen, mit der Zeit vergessen machen. Dabei fungiert das Vorhandene idealerweise nicht als erratisches Denkmal, das im Weg steht, sondern als Denk-Modell, als historisches Erbe und als Ausgangspunkt für neu zu Formulierendes, neu zu Gestaltendes. So, wie in der Stadt Ideen, die zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen Büros entwickelt worden sind, nebeneinander stehen und in Beziehung zueinander treten, so treffen in diesem Buch unterschiedliche Vorhaben aufeinander und führen einen Dialog über die unsichtbar gebliebene Stadt, über die Stadt im Konjunktiv, über das spekulative «Was wäre, wenn …?» Der Begriff der «verpassten Chancen» soll dabei bewusst eine Nebenrolle spielen, ebenso wie die subjektive Einschätzung, ob dieses oder jenes «zum Glück» nicht realisiert oder «leider fallengelassen» wurde. Auch nicht gebaute Projekte schreiben sich in die Architekturgeschichte ein, regen als abschreckende oder inspirierende Vorläufer die Fantasie an und wirken befruchtend auf spätere Entwürfe. Und in gewisser Weise sind sie sogar notwendig für die Herausbildung der real gebauten Stadt.
Abb. 010
Neubau Biozentrum Schällemätteli, Christ & Gantenbein Architekten, Wettbewerbsmodell 2010.
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Mit dieser Publikation verbindet sich die Hoffnung, dass die unrealisierten Projekte nicht in der sprichwörtlichen Schublade verschwinden, sondern, neben dem tatsächlich Gebauten, als wertvoller Fundus von Möglichkeiten verstanden werden und die Debatten um die zukünftige Gestalt der Stadt bereichern.
Dank Erste Ideen für ein Buch über das ungebaute Basel kursierten schon vor einigen Jahren in der Christoph Merian Stiftung (CMS). Claus Donau, damaliger Produktionsleiter und Lektor des Christoph Merian Verlags, und Jonathan Koellreuter von der Abteilung Liegenschaften der CMS trugen erste Objektlisten und Visualisierungen zusammen und erkannten früh das enorme Potenzial des Themas. Wie relevant, wie spannend es ist, zeigte sich unter anderem daran, dass parallel zur Entstehung dieses Buches Marc Keller für das Museum Kleines Klingental eine Ausstellung zu nicht realisierten Basler Planungsprojekten vorbereitete: «Die geträumte Stadt» wurde im Mai 2021 eröffnet und versammelte eine Auswahl von Bauvorhaben, von denen einige im Buch nachgezeichnet sind. Mehreren Fachkolleginnen und -kollegen bin ich an dieser Stelle zu Dank verpflichtet. Esther Baur, Reto Geiser, Daniel Hagmann, Dorothee Huber, Marc Keller, Andreas Köfler, Andreas Ruby und HansPeter Thür haben meine konzeptionelle und redaktionelle Arbeit an ‹Basel ungebaut› mit wertvollen Gesprächen, Hinweisen und Empfehlungen bereichert. Claus Donau war nicht nur der Impulsgeber für die Publikation, sondern blieb ihr bis zur Drucklegung auch als detailgenauer Lektor und Korrektor erhalten, wofür ich ihm herzlich danke. Allen zehn Autorinnen und Autoren des Bandes gilt mein Dank für ihre Expertise und ihre Bereitschaft, aufwendige Recherchen zu Aspekten der Basler Architekturgeschichte auf sich zu nehmen, über die zwar «gepflegtes Halbwissen» kursiert, fundierte Untersuchungen aber weitgehend fehlen. Tom Bisig danke ich für acht aktuelle Fotografien, die komplexe Platzsituationen wiedergeben – aufgenommen mit einer eigens für dieses Projekt entwickelten Spiegeltechnik. Claudiabasel hat Texte und Abbildungen auf eine Weise in Form gebracht, die das Thema kongenial aufnimmt, wofür ich den Grafikern Adriano Diethelm und Jiri Oplatek gerne danke. Dem Team des Christoph Merian Verlags danke ich für das nun schon seit zwanzig Jahren gewährte Vertrauen und die erneut professionelle, engagierte Zusammenarbeit. Schliesslich danke ich der Herausgeberin, der Christoph Merian Stiftung, die diese Publikation ermöglicht hat.
Abb. 011
Claraplatz, Intervention im öffentlichen Raum, Rahbaran Hürzeler Architekten, Studie 2017.
Abb. 012
Buvette St. Johann, Rolf Furrer, Wettbewerb 2018.
Pläne und Projekte für den Marktplatz
Metamorphosen und Visionen Rose Marie Schulz-Rehberg
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Rose Marie Schulz-Rehberg
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Pläne und Projekte für den Marktplatz
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Rose Marie Schulz-Rehberg
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Die kleine spätantike Handelsniederlassung an der Mündung des Birsig in den Rhein war spätestens im 11. Jahrhundert zu einem Handwerkerdorf geworden. Die Lage im Tal des Birsigflusses bot ideale Voraussetzungen für die Entstehung einer Sozialtopografie, die sich auszuprägen begann: Die Anhöhen von Münsterhügel und Westplateau waren die Gefilde der Geistlichkeit und des Ministerialadels, in der Talstadt siedelten die Handwerker. Das darf man sich noch sehr ländlich vorstellen – mit Viehhaltung und kleinen Anbauflächen. Beim Fischmarkt, nächst dem Handels- und Stapelplatz beim Rhein mit Waage, Salzhaus und Wechselstuben, kann man sich das frühe städtische Machtzentrum der Talstadt denken, dort befanden sich auch das erste Rathaus, das gleichzeitig das Gericht beherbergte, und der Markt. Mit dem Bau der Rheinbrücke Anfang des 13. Jahrhunderts verlegte man den Markt, der damals ‹Kornmarkt› genannt wurde, etwas stadteinwärts, wobei der Birsig entlang des Platzes überdeckt wurde. Der Sitz des Rats kam an die dem Rhein zugewandte Seite des Marktes zu stehen, wo er auf direktem Weg von der Rheinbrücke aus erreicht werden konnte. Als sich die Zünfte im Laufe des 13. Jahrhunderts formierten, begannen sich städtebauliche Intentionen deutlich niederzuschlagen: Der Marktplatz als Zentrum des bürgerlichen Lebens mit dem Rathaus als Symbol für die städtischbürgerliche Macht sollte als Gegengewicht zur bischöflichen Sphäre des Münsterhügels eine repräsentative Gestaltung erhalten. In diesem Zuge wurde 1504 die Errichtung eines Neubaus beschlossen. Er erhielt eine charakteristische Fassade mit drei offenen Arkaden, an der – überhöht von einem prächtigen Baldachin mit den Statuen der Stadtpatrone: der Muttergottes Maria, Kaiser Heinrich und Kaiserin Kunigunde – die erste öffentliche Uhr an einem Basler Profanbau prangte: ein klarer Hinweis auf den neuen Stellenwert der bemessenen Zeit.
Neuplanung des Stadtzentrums im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war der Marktplatz fast nur halb so gross wie heute und der Abschnitt von der Brotlaube bis zum Rathaus dicht bebaut. Da seit der Mitte des Jahrhunderts Basels Bevölkerung rapide zunahm, war man schon 1859 im Rat über die Bücher gegangen und hatte im ‹Gesetz über die Erweiterung der Stadt› die Schleifung der Stadtmauern und Richtlinien zum Bau neuer Aussenquartiere beschlossen. Dabei machte der Erneuerungsgedanke nicht Halt und ergriff sukzessive auch die Neugestaltung der Innenstadt.
Abb. 013
Der durch Abrisse vergrösserte Marktplatz sollte einen neuen Verwaltungsbau aufnehmen,
wofür 1890 ein nationaler Wettbewerb ausgeschrieben wurde. Die Architekten Curjel & Moser steuerten diesen Entwurf bei, der den ersten Preis erhielt, doch das Stimmvolk wollte keinen Neubau.
Pläne und Projekte für den Marktplatz
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Ein Teil dieser Neuplanungen war in den 1870er-Jahren die Errichtung der noblen Kulturmeile am Steinenberg mit Theater, Musiksaal und Kunsthalle. Die übrige Stadt sollte dem nicht nachstehen, man zog neue Baulinien für die Strassenverläufe in der Innenstadt und erweiterte viele der alten Gassen. Vor allem die Freie Strasse wurde zu einer prächtigen Geschäfts- und Einkaufsmeile verbreitert, zahlreiche altehrwürdige Bauten wie Zunfthäuser mussten weichen. Auch der alte Kornmarkt geriet ins Visier der Erneuerer und sollte möglichst bald in neuem selbstbewusstem Glanz erstrahlen. Für die damals grösste Stadt der Schweiz erschien er viel zu wenig repräsentativ, also plante man, die Häuser zwischen Brotlaube und Rathaus niederzulegen und dort ein Gebäude für die Stadtverwaltung zu erstellen. In einem 1890 national ausgeschriebenen Wettbewerb trafen 12 Projektvorschläge ein. Sie entsprangen noch ganz dem Geist des Historismus. Mehrere orientierten sich an einer stark ans Rathaus angeglichen Architektur, Franz Steffen & Oscar Weber aus Wetzikon liessen venezianische Anmutungen einfliessen. Emanuel La Roche plante eine durch fünf Arkaden geöffnete Halle mit Stufenfenstern im Obergeschoss, verwandt der alten Mauthalle in Nürnberg, wobei das Dach einen orientalisierenden Einschlag erhalten sollte, während Johann Jakob Stehlin d.J. einen weit in die Sporengasse hineinreichenden Verwaltungsbau in der Art niederländischer Tuchhallen vorschlug, mit Zügen des französischen Barocks.
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Dem in Kiel geborenen Heinrich Reese, Kantonsbaumeister und späterer Regierungsrat, schwebte ein mit Türmchen bestücktes dreigeschossiges Gebäude vor, das 1895 dem Architekten Heinrich Tamm beim Bau der neuen ‹Brotlaube› als Anregung diente.1 Der erste Preis ging an Curjel & Moser, der zweite an Vischer & Fueter. Beide hatten eine über drei Stichbogenarkaden sich erhebende, zweigeschossige Fassade mit jeweils drei dreiteiligen Fenstern vorgeschlagen, die Entwürfe glichen einander erstaunlich. Doch trotz dieser Vorschläge wurde 1891 in einer Volksabstimmung die Überbauung des Platzes abgelehnt und der Verwaltungsbau ‹bachab› geschickt.
Brunnenprojekte Schon im Zusammenhang mit der Errichtung eines Verwaltungsgebäudes auf dem Marktplatz war in mehreren Projekten der Gedanke einer künstlerischen Ausgestaltung mittels Brunnen oder Denkmal aufgekommen. Es gab fantasievoll ausgeschmückte Vorschläge wie ‹Holbein›, wo sich unterhalb der zentralen, von einer ‹Basilea› gekrönten Säule in rokokohaft anmutender Atmosphäre nicht nur weiteres allegorisches Personal tummelte, sondern auch Figuren, die aus Holbeins Werk bekannt sind; ihnen gesellte sich unter anderem ein Basilisk mit dem Basler Wappen auf einem Obelisken hinzu. Inspiriert von der Fontana Maggiore in Perugia wiederum war der Entwurf des Maschinenbauingenieurs Eugen Meyer.2 Aus einem oktogonalen Becken heraus wurden konzentrisch übereinander angeordnet: ein achteckiges Becken sowie auf kurzen Säulen eine runde Schale, in die Drachenköpfe Wasser spuckten; von der krönenden Säule im Zentrum blickte ein fescher Fürst im Jagdgewand und mit Szepter über die Sterblichen hinweg. Nachdem der Verwaltungsneubau abgelehnt worden war, blieb der Gedanke einer Verschönerung des Platzes weiter bestehen. Warum nicht dem verdienten Bürgermeister Johann Rudolf Wettstein ein Denkmal widmen? In einer Konkurrenz von 1897, an der sich zwölf Künstler beteiligten, erhielt der Entwurf des solothurnischen Bildhauers Max Leu den ersten Preis. Leu schlug eine Brunnenanlage vor, in der vier Tugendallegorien die auf einen Sockel platzierte Statue des ‹berühmten Bürgermeisters und Staatsmanns› umgeben sollten. Der Standort auf dem Marktplatz, die künstlerische Qualität und der Sinn eines Denkmals für eine damals wenig populäre Persönlichkeit
Abb. 014
Dieser Brunnen auf dem Marktplatz hätte Bürgermeister Wettstein ehren sollen.
Doch keiner der eingereichten Vorschläge konnte das Stimmvolk überzeugen, weshalb auch dieses Vorhaben als unrealisiert in die Archive einging. Abb. 015
Franz Steffen und Oscar Weber reichten einen monumentalen Brunnenentwurf für den
Marktplatz ein, doch auch ihr Projekt konnte nicht umgesetzt werden. Im Bildhintergrund sieht man das ebenfalls nicht realisierte Verwaltungsgebäude.