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ADJI DIEYE APHASIA

Das Sprechende Archiv Eine Einf Hrung In Adji Dieyes Aphasia Katrin Bauer

Am hellen Morgen diese platte Stadt […] Sie kriecht auf den Händen, und nie wandelt sie die Lust an, sich in der Haltung des Aufruhrs in den Himmel zu bohren. […] Und dennoch kommt sie voran, die Stadt. Täglich weidet sie weiter außerhalb ihrer Flut gepflasterter Korridore, verschämter Jalousien, schmieriger Höfe und triefender Anstriche. – Aimé Césaire 1

1939 veröffentlichte der afrokaribische Autor, Dichter und Politiker Aimé Césaire sein bedeutendes Langgedicht Cahier d’un retour au pays natal (auf Deutsch erschienen unter dem Titel Zurück ins Land der Geburt), in dem er die kulturellen Identitäten von People of Colour, indigenen und Schwarzen Menschen reflektiert, die einem kolonialen System unterworfen sind. Die komplexe Verwendung der Architektur im oben zitierten Textabschnitt, in welchem sie als lyrisches Schlüsselmotiv erscheint, wie auch die surrealistische Bildsprache sind dem Wunsch des Autors geschuldet, nach seiner Rückkehr in sein Heimatland Martinique aus Paris, wo er bis 1939 mehrere Jahre gelebt hatte, universelle Fragen sowie ambivalente Gedanken zu formulieren, die das Thema kulturelle Zugehörigkeit berühren. Césaires Worte beziehen sich zwar auf eine andere Zeit und einen anderen Ort, seine metaphorischen Beschreibungen einer sich unaufhörlich ausdehnenden Stadt hallten jedoch in mir nach, als ich damit begann, mich mit Adji Dieyes künstlerischer Interpretation des sich beständig wandelnden Stadtbildes von Dakar auseinanderzusetzen.

Für Aphasia (2022), ihre jüngste Arbeit, welche die Künstlerin zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes im Senegal für die gleichnamige Ausstellung am Fotomuseum Winterthur produzierte, reiste Dieye, die einen Grossteil ihres Lebens in Italien und die letzten Jahre in der Schweiz verbrachte, ebenfalls an ihren Herkunftsort zurück. Die im vorliegenden Band versammelten Fotografien und Videostills sind das Ergebnis der Begegnung Dieyes mit der Stadt Dakar, die sie aus einer afrodiasporischen Perspektive neu entdeckt – einer Perspektive, die bis zu einem gewissen Grad Césaires vielfältigen Betrachtungsweisen entspricht, die er im Zuge seiner Begegnungen mit seiner Heimatinsel entfaltete, nachdem es ihn «als jungen kolonisierten Schwarzen Mann in die Hauptstadt des [französischen] Kolonialreichs verschlagen hatte».2

1 Aimé Césaire, Zurück ins Land der Geburt, übers. v. Janheinz Jahn (Frankfurt am Main: Insel-Verlag, 1962), 19–21.

2 Françoise Vergès, «Martinska / Martinique: Aimé Césaire Return to My Native Land», in: Armin Linke u. a. (Hg.), Travelling Communiqué (Leipzig: Spector Books, 2016), 26.

3 Cheikh Mbow u. a., «Urban Sprawl Development and Flooding at Yeumbeul Suburb (Dakar-Senegal)», in African Journal of Environmental Science and Technology, 2, Nr. 4 (2008), 75.

4 Ebd.

Seit die Republik Senegal 1960 ihre Unabhängigkeit von Frankreich erlangte, hat sich die «städtische Entwicklung [im Lande] als ein ausser Kontrolle geratener, mit der rasanten Entwicklung der Hauptstadt Dakar zusammenhängender Prozess»3 erwiesen. Dem südafrikanischen Klimawandelforscher und Forstwissenschaftler Cheikh Mbow zufolge liegt der Grund dafür im rapiden Bevölkerungswachstum in Kombination mit einer nur in sehr begrenztem Umfang stattfindenden Stadtplanung, insbesondere was die Aussenbezirke Dakars angeht.4 Dieyes Aufnahmen scheinbar in Schlaf versunkener Baustellen in der Eröffnungssequenz des Buches geben hierbei den Ton an: Changierend zwischen unbewohnten Gebäuden und rohen Fassaden, leeren Fenstern und Balkonen, umgeben von hoch aufragenden Kränen und grossen Bauzäunen, umweht ihr Dasein eine schwer zu greifende Stille. Unerwartet betritt eine Gestalt das Bild, gedankenversunken in einem Manuskript blätternd und Sätze in gebrochenem Französisch vor sich hinmurmelnd. Auf den folgenden Seiten begleiten wir Dieye an verschiedene Orte in und um Dakar: Wir sehen sie auf einem Dach, einem Stapel aufgetürmter Rohre oder einem riesigen Sandhaufen sitzen, wobei sie der direkt vor ihr aufgestellten Kamera keine Beachtung schenkt. Die Orte mit ihren zumeist in Stoffe und Gerüste gehüllten Gebäuden hat die Künstlerin nicht ganz zufällig ausgewählt: Einige von ihnen stellen ehemalige Gebiete verschiedener indigener Gemeinschaften dar, die seit dem 15. Jahrhundert immer wieder von den Europäer_innen aus ihren angestammten Gebieten vertrieben wurden, welche sich dort befanden, wo heute das Stadtzentrum ist – insbesondere als Frankreich seine Kolonialherrschaft über Französisch-Westafrika zu errichten begann und 1857 die sich schnell entwickelnde Stadt Dakar gründete. Inzwischen sind Jahrhunderte vergangen, doch diese Entwicklung hat nie ein Ende gefunden. Heute allerdings ist es die senegalesische Regierung selbst, die sich aufgrund des steigenden Bedarfs an Wohnraum in Dakar die Gebiete indigener Gemeinschaften kontinuierlich aneignet, sie privatisiert und verkauft. Angesichts der anhaltenden Umweltzerstörung und Verschmutzung, die das städtische Wachstum Dakars mit sich bringt, nimmt Aphasia daher nicht nur die politischen und ökonomischen Dynamiken der Landschaft in den Blick; vielmehr begreift das Werk Letztere als spirituelles Konzept, das «ein Territorium [als] Grundlage einer kulturellen Identität definiert»5  –jener der seither vertriebenen einheimischen Communitys, die ihrer Lebensgrundlage beraubt wurden.

5 Marc Antrop und Veerle Van Eetvelde, Territory and/or Scenery: Concepts and Prospects of Western Landscape Research. Current Trends in Landscape Research, hg. v. Lothar Mueller und Frank Eulenstein (Cham: Springer, 2019), 3.

6 Obwohl Frankreich den Senegal fast dreihundert Jahre lang beherrschte, blieb es ein mehrsprachiges Land, in dem bis zu 36 Sprachen aktiv gesprochen werden. Wolof ist dabei in der Gemeinschaft der Wolof die am weitesten verbreitete Sprache mit 40 Prozent Anteil, die auch senegalweit an zweiter Stelle steht.

Die Sprachenpolitik Dakars

Sprache ist Träger von Kultur, für unser Gedächtnis unabdingbar und insofern ein grundlegender Bestandteil unseres Lebens. Auch wenn man sich das oft nicht bewusst macht, bildet sie erst die Voraussetzung dafür, dass wir uns ausdrücken können – als Individuen, Nationen oder Kulturen. Daher ist Sprache nicht nur Informationsträgerin, sondern auch eines der wichtigsten Instrumente, um die Vorstellung einer eigenen Identität zu formen. Gerade aufgrund ihrer prägenden Kraft wurde die Sprache von den Kolonialmächten als «Zivilisierungs»-Medium genutzt: Weltweit bestand eine grundlegende kolonialherrschaftliche Strategie darin, traditionelle Quellen von Spiritualität sowie überlieferte Weisheiten über das menschliche Dasein zu zerstören. Bei der Kolonisierung ging es folglich nicht nur um eine Herrschaft über das Land und seine Ressourcen, sondern auch um eine Kontrolle über die Menschen und darüber, wie sie sprachen und ihr Wissen sowie ihr kulturelles Erbe weitergaben. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass Französisch auch nach der Entkolonialisierung die offizielle Amtssprache des Senegal geblieben ist.6 Als vermeintlich neutrale Sprache fungiert Französisch seither weiterhin als Lingua franca beziehungsweise Verkehrssprache im Wirtschafts-, Politik- und Bildungssektor, womit die koloniale Sprache ihren historischen Platz nicht räumt, den sie im letzten Jahrhundert mit dem Verdrängen der einheimischen Sprachen des Landes für sich reklamiert hat.

Was ist zu tun, wenn die Gegenwart hauptsächlich durch scheinbar neutrale institutionelle Erzählungen der Vergangenheit geprägt ist? Auch wenn das vorliegende Buch den möglichen auditiven Charakter von Aphasia nicht wiedergeben kann, soll in den folgenden Abschnitten jener Aspekt ergründet werden, der in der fotografischen Aufnahme zwangsläufig abwesend ist – eine mehrstimmige Klangkulisse. Bereits der Titel macht allerdings deutlich, dass der Verlust der Sprache den konzeptuellen Mittelpunkt dieses nuancenreichen Projektes bildet: Der Begriff «Aphasie» (abgeleitet vom altgriechischen Terminus αφασία für «Sprachlosigkeit») steht für eine kognitive Störung des Sprachvermögens oder Sprachverstehens, die sich oft darin zeigt, dass Menschen nicht in der Lage sind, sich an Wörter zu erinnern oder diese zu artikulieren. Bei Dieye allerdings manifestiert sich der von ihr angeeignete und in einen kulturellen Kontext übertragene Begriff in Form einer sprachbasierten Performance, mit der sie sich in den städtischen Raum einschreibt. Im Zuge dessen rezitiert Dieye dafür aus Reden, mit denen sich Präsidenten des Senegal seit der Unabhängigkeit des Landes in französischer Sprache an die Bevölkerung gewandt haben. Beim Rezitieren sieht sich die Künstlerin mit einer gewissen Sprachlosigkeit konfrontiert, da sie sich darum bemüht, sich in der offiziellen, von der früheren Kolonialmacht oktroyierten Sprache auszudrücken, die nur ein Teil der Bevölkerung in ihrer institutionellen Form tatsächlich verstehen kann. Während die städtischen Schauplätze zu wechseln beginnen, verändert sich auch die Klangfarbe der Stimme, bis es nicht mehr die Künstlerin selbst ist, die die Sätze laut vorliest, sondern vielmehr eine Vielzahl an Stimmen – diejenigen von Freund_innen und Menschen mit ähnlicher Herkunft, die Dieye im Zuge der Nachbearbeitung hinzufügte. Auf diese Weise nutzt Aphasia die Sprache als vielstimmiges Werkzeug, um bisher verdeckte afrodiasporische und senegalesische Stimmen freizulegen und gleichzeitig die eklektische kulturelle Identität des Landes seit der Unabhängigkeit 1960 neu zu denken. Aphasia bringt dabei umfassendere kulturelle und politische Strukturen der «post»-kolonialen Identität des Senegal ans Licht und thematisiert zugleich, wie der wachsende Einfluss der Moderne in Westafrika die heterogene Nutzung von Sprachen sowie die städtebauliche Identität des Landes geprägt hat. Die – seit der Unabhängigkeit sich manifestierende – Ambition, den mannigfaltigen eigenen Kulturen und Identitäten wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, bildet folglich die Grundlage für die Analyse der Künstlerin. Dabei untersucht Aphasia nicht nur, welche Rolle die aufgezwungene koloniale Sprache für den Aufbau einer senegalesischen Nation gespielt hat, sondern nimmt zugleich in den Blick, welche Relevanz die mündliche Überlieferung als alternatives Wissenssystem hat. Hierbei bezieht sich die Künstlerin auch auf ihren eigenen biografischen Hintergrund. Wie oft bei Auftragsarbeiten der Fall, erwies sich auch Dieyes künstlerischer Prozess als fragil; er verlangte Geduld und Beharrlichkeit. Zu Beginn ihrer Arbeit in den Archives nationales du Sénégal (den Nationalarchiven des Senegal) stellte sie wochenlang umfangreiche Recherchen an. Dabei setzte sie sich mit Archivmaterial auseinander, das sowohl während als auch «nach» der Kolonialzeit für die Konstruktion der Nationalgeschichte des Senegal eine Rolle gespielt hatte. Dieye verfolgte von Anfang an die Idee, kollaborative Praktiken in diese Arbeit einzubinden – nicht nur, um mit den mündlichen Erzählungen ihrer Verwandten, die in der Nähe von Dakar leben, dem Nationalarchiv etwas entgegenzusetzen, sondern auch, um eine Vielzahl an Dialekten zu integrieren und damit die Gegenwart sowie das komplexe Erbe des Landes neu zu fassen. Aus der Korrespondenz, die wir während der Produktionsphase, über die letzten Monate hinweg, geführt haben, lässt sich schliessen, dass es nie ihrer Intention entspräche, einen singulären Ansatz zur Neuverhandlung der Vergangenheit zu wählen. Der Sichtweise Mark Sealys folgend, dass es bei der «Idee der Dekolonisierung eher um die Pluralität von Epistemologien geht […] als um die […] westliche akademische Trope, die uns vorschreibt, wie etwas zu deuten sein sollte»7, sollten wir Aphasia eher als ein «eklektisches linguistisches Experiment» verstehen, «das den […] einsprachigen Rahmen der französischen Sprache erweitert»8, indem «Wörter zu Bildern und Bilder zu Wörtern»9 werden.

7 Mark Sealy, Photography: Race, Rights and Representation (London: Lawrence Wishart, 2022), 17.

8 Jane Hiddleston, «Languages of Return: Aimé Césaire and Dany Laferrière», in Studies in Travel Writing, 22, Nr. 2 (2018), 3–4.

9 Sealy, Photography: Race, Rights and Representation (siehe Anm. 7), 4.

Mündliches Erzählen als Mittel zur Wiederaneignung der Wissensproduktion

Während Dieye in früheren Werken meist spezifisch mit dem und um das Medium Fotografie arbeitete, um institutionelle Narrative zu dekonstruieren, nähert sie sich mit Aphasia nun einer eher transdisziplinären Praxis, die auf Sprache als kollaboratives Medium setzt. Vor diesem Hintergrund sei hier betont, dass die blosse fotografische Dokumentation von Aphasia im vorliegenden Buch nicht ausreicht, um die transdisziplinäre Strategie der Künstlerin

10 Tina M. Campt, Listening to Images (Durham: Duke University Press, 2017), 4.

11 Nicola Brandt, Landscapes

Between Then and Now: Recent Histories in Southern African Photography, Performance and Video Art (London und New York, Routledge, 2020), xix.

12 Sealy, Photography: Race, Rights and Representation (siehe Anm. 7), 4.

13 Campt, Listening to Images (siehe Anm. 10), 52.

(wie sie schliesslich im Ausstellungsraum anzutreffen ist) darzustellen. Ein jeder Vorgang der Bildbetrachtung setzt voraus, dass wir das verbergende, begrenzte Wesen der Fotografie akzeptieren; dieses begegnet uns zunächst in Form einer Ansammlung von Oberflächen, welche uns herausfordern, der Stille zu lauschen, die hinter jedem Bild verborgen liegt. Jedoch ist «Stille keine Abwesenheit von Ausdruck»10 und sollte auch nicht damit verwechselt werden. Diese Einschränkungen des Fotografischen zu benennen, ist von zentraler Bedeutung, um Dieyes darauffolgende Entscheidung zu verstehen: nämlich Bilder mit gesprochenen Worten zu versehen, um ihnen eine eigene Stimme zu verleihen. Ihr künstlerisches Schaffen steht damit stellvertretend für eine Vielzahl zeitgenössischer Künstler_innen wie etwa Simnikiwe Buhlungu oder Silvia Rosi, die ihre diasporische Position verhandeln und dabei Entfremdung wie auch Zugehörigkeit thematisieren, die sie in einen ursächlichen Zusammenhang mit Sprache stellen.

Indem sie unterschiedliche öffentliche Orte in Dakar mit ihrem eigenen Körper neu besetzt, fügt sich Dieye in die Stadtlandschaft ein, um damit potenzielle Geschichten herauszuarbeiten und deren Stimmen Gehör zu verschaffen. Auf diese Weise entwickelt sie einen vielstimmigen Modus, um die Vergangenheit durch mündliche Erzählformen wiederzugeben. Die Integration traditioneller Wolof-Gesänge – wie sie die persönlichen Porträts auf den Seiten 54–55 und 62–63 evozieren, auf denen gestikulierende Hände von Dieyes Tanten zu sehen sind – eröffnet einen erweiterten Handlungsraum, der die Grenzen des traditionellen Archivs überwindet und die Überlieferung alternativer Erzählungen ermöglicht. Die Montage von zwei ihrem Wesen nach gänzlich unterschiedlichen Sprachen, Französisch und Wolof, die beide im Senegal gesprochen werden, nutzt Dieye als Mittel, um das Vokabular, das den Aufbau der senegalesischen Nation beeinflusst hat, neu zu sortieren und ein Schlaglicht auf jene Stimmen zu werfen, die dem Archiv bisher entgangen waren.

Mit einem Auge auf die Vergangenheit, aber auch auf die kommenden Jahrzehnte lädt uns Dieyes fotografische Untersuchung der sich rasch ausdehnenden Stadtlandschaft Dakars dazu ein, uns nicht nur visuell mit den «tief empfundenen Wahrheiten und Subjektivitäten»11 der diasporischen und lokalen Communitys auseinanderzusetzen, mit denen die Künstlerin aufgrund ihrer eigenen Herkunft eng verbunden ist, sondern ihnen auch aktiv zuzuhören. Wenngleich der Verlust der Sprache den konzeptuellen Ausgangspunkt von Aphasia bildet, entfaltet sich die Arbeit zu einer Klanglandschaft, die sowohl der afrodiasporischen Community als auch der singenden senegalesischen Verwandtschaft der Künstlerin Handlungsmacht und eine Stimme verleiht. So entwickelt sich daraus ein polyphoner Kanon, der Schwarzen Identitäten und Spiritualitäten den Weg freimacht, selbst als lebendiges Archiv in Erscheinung zu treten.

Genauso wie Bilder kulturelles Wissen vermitteln, kann auch das geschriebene und gesprochene Wort Erinnerungen befeuern und das Selbstverständnis einer Gemeinschaft in ihrem Herkunftsort verankern.12 Indem Dieye den Bereich des rein Fotografischen verlässt und auf das Potenzial der Sprache als künstlerisches Werkzeug zurückgreift, liefert sie eine zutiefst nuancierte Neubetrachtung des gegenwärtigen Zustandes eines Landes, in welcher sich nicht bloss Bilder, sondern vielmehr eine Vielzahl selbstermächtigender Stimmen entfalten. Der Schwarzen feministischen Bildtheoretikerin Tina Campt zufolge lässt sich sagen, dass «diese Bilder mehr von uns verlangen, als in ihnen einfach nur einen Stillstand zu sehen […], da ihnen unsichtbare Formen von Bewegung innewohnen».13 Mit ihrer Neuinterpretation der senegalesischen Vorstellung von Modernität, für die sich die Künstlerin in die Landschaft einfügt und sich die Worte einstiger Präsidenten aneignet

(deren politische Entscheidungen meist die Interessen der einheimischen Bevölkerung unberücksichtigt liessen), beleuchtet Dieye die Herstellung der nationalen Identität des Senegal kritisch. Die Vielstimmigkeit in Aphasia lässt die anhaltende Überzeugungskraft der imperialen Phrasen schwächer werden und mit der Zeit verblassen. Als Teil der senegalesischen Diaspora und Verkörperung eines sprechenden Archivs dezentralisiert Dieye ihre künstlerische Autorinnenschaft, indem sie ihre eigene Community als partizipatorisches Vehikel in ihre Rekonstruktion des Archivs miteinbezieht. Wenngleich sich die Künstlerin meist nur in französischer Sprache äussert, sind Untertitel nicht notwendig, um zu verstehen, dass mit Aphasia explizit eine kritische Untersuchung der sprachlichen Herstellung senegalesischer Nationalstaatlichkeit geleistet und aus einer zeitgenössischen Perspektive erneuert wird. In diesem Sinne fungiert Dieyes Aktivierung von Archivtexten mittels einer polyphonen Methodik auch als eine Übung im Zuhören, die darauf abzielt, die Sprache der Kolonialmacht in ihrer Unbeständigkeit und Künstlichkeit zu dechiffrieren. Gegenhegemoniale Positionen wie die ihre, die auf Archivrecherchen zurückgreifen und sich jeder Form von Übersetzung entziehen, erinnern uns daran, dass das Neu-Erzählen von Geschichte sich nicht allein durch die (visuelle) Dekonstruktion kolonialer Archive erreichen lässt, sondern dass «eine tatsächliche epistemische Dekolonisierung (in) der Gegenwart zwangsläufig eine kompromisslose Politik […] kritischer Erinnerung und umsichtige» sprachliche, und zwar gesprochene «Akte systemischer Reparationen beinhalten muss».14

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