LICHT AUS!
TEXTE VON JUGENDLICHEN
CHRISTOPH MERIAN VERLAG
LICHT AUS!
TEXTE VON JUGENDLICHEN
CHRISTOPH MERIAN VERLAG
Trägerschaft
Verein Schreibwettbewerb ‹Die Basler Eule› Sennheimerstrasse 20, 4054 Basel www.baslereule.ch
Gegründet wurde der Schreibwettbewerb 1993 von der Basler Jugendschriftenkommission und dem Basler Buchhändler- und Verlegerverein.
Wettbewerbsjury 2022
Kat. I: Soraya Koefer, Selene Mastragelis, Jonas Rippstein
Kat. II: Sina Aebischer, Houston John, Jusef Selman
Kat. III: Luca Aebischer, Joel Dill, Nina Hurni
Juryklassen 2022
Kat. I: Jahrgänge 2002–2006:
Klasse W2b, Wirtschaftsgymnasium und Wirtschaftsmittelschule Basel
Kat. II: Jahrgänge 2007–2009:
Klasse 2Pv, Sekundarschule Burg, Liestal
Kat. III: Jahrgänge 2010–2012:
Klasse 5c, Schulhaus Wilmatt, Primarschule Therwil
Herausgeberin
Caterina John
Um die Ausdrucksform der jungen Autor:innen unverfälscht zu erhalten, wurde darauf verzichtet, die Texte mehr als erforderlich zu redigieren. Korrigiert wurden jedoch die Zeitenfolge und die Rechtschreibung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
© 2023 Christoph Merian Verlag
Alle Rechte vorbehalten; kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Jörg Bertsch, Basel
Gestaltung: weishaupt design, Sybil Weishaupt, Basel
Illustration: Manuel Guldimann
Druck: Steudler Press AG, Basel
Bindung: Buchbinderei Grollimund AG, Reinach
Papier Inhalt: Munken Lynx 100 g/m2
ISBN 978-3-85616-994-7
www.merianverlag.ch
Der Schreibwettbewerb ‹Die Basler Eule› darf nun zum 28. Mal ausgewählte Texte von Kindern und Jugendlichen in Buchform veröffentlichen. Der Wettbewerb will Kindern und Jugendlichen eine Plattform für ihr Schreiben und ihre Geschichten bieten und sie ihren eigenen Zugang zu Sprache und Literatur finden lassen.
Das vorliegende Buch enthält 26 Geschichten aus über 250 eingereichten Texten zum Wettbewerbsthema 2022 ‹Licht aus!›.
Die Texte lieferten inhaltlich eine bunte Palette: Ganz unterschiedlich wurde das Thema ‹Licht aus!› umgesetzt, von Gruselgeschichten über wilde Krimis und Fantasyplots bis hin zu Held:innen, die die Welt vor der Klimakrise retten, Geschichten über Stromausfall und Krieg. Was Kinder und Jugendliche beschäftigt, wie sie die Welt um sich herum wahrnehmen und wie Schreiben ein Ventil sein kann – all dem will ‹Die Basler Eule› Platz, ein lesendes Auge und aufmerksames Ohr geben.
‹Die Basler Eule› beginnt jeweils mit der Wettbewerbsausschreibung und endet mit der Preisverleihung. Die eingereichten Texte werden in drei Alterskategorien eingeteilt und durchlaufen eine zweistufige Jurierung: Zuerst trifft die Jury eine Auswahl von Texten, die dann einer Schulklasse der jeweiligen Alterskategorie zur Bestimmung des Hauptpreises vorgelegt wird. Das Wettbewerbsthema ‹Licht aus!› folgte dem Vorschlag der Klasse 6f vom Schulhaus Gartenhof in Allschwil.
Auf den folgenden Seiten finden Sie die von der Jury ausgewählten Texte. Die jungen Schreibenden haben sich jeweils ganz unterschiedlich mit dem vorgegebenen Thema auseinandergesetzt und erzählen uns hier die Geschichten, die sie ge-
formt und gestaltet haben. Manche dieser Geschichten regen uns zum Denken an, andere lösen ein Schmunzeln oder Lachen aus. Zusammen bilden sie ein Werk mit dem Gedankengut einer jungen Generation. Lassen wir uns auf sie ein!
Wir danken den jungen Schreibenden herzlich für den Mut, ihre Geschichten mit uns zu teilen. Ihnen, liebe Leser:innen, wünschen wir viel Vergnügen bei der Lektüre!
Caterina John
Der Schreibwettbewerb kann nur dank finanzieller und ideeller Unterstützung realisiert werden. Den folgenden Institutionen, Körperschaften und Unternehmen gebührt – oft zum wiederholten Male – grosser Dank für das Vertrauen und die Grosszügigkeit.
Basler Kantonalbank
Erziehungsdepartement Basel-Stadt
Forlen Stiftung, Basel
Gemeinde Allschwil
Gemeinde Riehen
Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige (GGG), Basel
Helvetia Idea
Wilhelm und Ida Hertner-Strasser Stiftung, Dornach
Lions Club, Basel
Orell Füssli, Basel
Region Leimental Plus
Schweizer Bücherbon
Swisslos-Fonds Basel-Landschaft
Gedruckt mit Unterstützung der Berta Hess-Cohn Stiftung, Basel.
Ich mochte die Stadt, ich mochte sie wirklich. Ich war ein Stadtkind durch und durch, liebte die Techno-Keller, die heruntergekommenen Metrostationen, die Tauben, Abertausende von Tauben, wie sie rastlos durch die tristen Pärke stolzierten, und ich liebte die Ampeln, obwohl ich Autorität hasste, vor allem, wenn sie von einem lausigen Gegenstand ausging. Ich liebte die Wohnblöcke, bei denen sich in jedem beleuchteten Fenster eine eigene kleine Geschichte abspielte, und die belebten Plätze, wie Wimmelbilder, sodass ich aufpassen musste, nicht instinktiv nach Walter zu suchen.
Ich versuchte, den Donner zu überhören. Die Tropfen waren nicht besonders zahlreich, dafür tellergross, Kaffeeunterteller vielleicht. Ein Glück, dass ich im Trockenen stand. Ich beobachtete eine ältere Frau, die sich aus dem Fenster der Wohnung im zweiten Stock des Mehrfamilienhauses an der Virchowstrasse 11 lehnte. Sie war nicht so alt, als dass sie sich nicht darüber geärgert hätte, dass ich sie als ältere Frau bezeichnete. Sie trug eine altrosafarbene Schürze, um ihre Festtagskleidung, von der ich bloss den Rollkragen eines weissen Pullovers erkennen konnte, vor Krumen zu schützen. Sie hielt die Schürze mit der rechten Hand fest und schuf so eine Art Schüssel aus rosa Stoff. Mit der linken Hand warf sie Brotstück für Brotstück aus dem Fenster. Sie musste Linkshänderin sein. Ich wünschte mir, sie wäre meine Mutter. Die Stücke fielen meterweit zu Boden und wurden von der unten versammelten Taubenschar aufgepickt. Fünfzehn, zwanzig, fünfundzwanzig Tauben. Im Schätzen war ich immer schon schlecht gewesen, aber das waren eigentlich alle Menschen. Ich hörte jedenfalls nie jemanden «Ich kann gut schätzen» sagen, genauso wie kaum einer «Ich bin gut mit Namen und Geburtstagen» sagte. Jedenfalls waren die Tauben richtig aus dem Häuschen vor Freude. Das war ihr eigenes kleines Festmahl. Fragt mich nicht, wie sich ihre Freude bemerkbar machte. Sie lachten nicht direkt und machten auch keine Freudensprünge, aber sie pickten mit ihren kleinen Schnäbeln unermüdlich auf den Boden und
frassen Brotstück für Brotstück. Ich wollte eine von ihnen sein, heute mehr als alles andere. An einem anderen Ort als in einer leer stehenden Garage, aber ich war kein Fan von hartem Brot.
Die Wohnung im zweiten Stock war nicht die einzige, in der Licht brannte – noch. Bald würden sie alle zur Messe aufbrechen und ihre warmen Stuben zurücklassen. Die Leute im ersten Stock hatten sich mit der Weihnachtsdekoration am meisten Mühe gegeben und am Fenstersims eine bläulich leuchtende Eiszapfenlichterkette montiert. Der grosse weisse Stern am Balkongeländer des vierten und obersten Stockes wäre viel schöner gewesen, hätte ich nicht gewusst, dass er das ganze Jahr über hing. Ich konnte mir beim besten Willen nichts Trostloseres vorstellen als ausgeschaltete Weihnachtsbeleuchtung im Sommer, ausser vielleicht ich. Es hatte andere Jahre gegeben, bessere Jahre, in denen Heiligabend für mich ebenfalls Zimt, Orgelmusik und Tannennadeln gewesen war, genau wie für die Leute im Mehrfamilienhaus an der Virchowstrasse 11.
«Bist du sicher, dass die Messe um 18 Uhr beginnt?»
Ich schaltete meinen Benachrichtigungston aus. Ich hatte es ihm mindestens dreissig Mal gesagt, und ausserdem hörte man bereits die Glocken. Es war kurz vor 18 Uhr und schon stockdunkel. Die echten und künstlichen Sterne vermochten die Nacht nur gering zu erhellen, und der Mond war weit hinter den Wolken. Die Frau mit der Schürze war inzwischen weg, dafür sass auf dem Fenstersims nun eine dösende weisse Katze. Ich hatte mir als Kind immer eine Katze gewünscht, aber mein Vater fand, sie seien unfreundlich und sowieso die ganze Zeit nur müde oder am Schlafen. Ich weiss nicht, ob das einer kennt. Man ist so müde, dass einem alles egal ist. Dass das Knistern im Kamin zu Beifall wird und die Stimmen der Menschen zu Podiumsdiskussionen, die sich irgendwo in einer Besenkammer zwischen Realität und Traumwelt abspielen. Genau in diesem Zustand befanden sich Katzen meinem Vater
nach neunzig Prozent der Zeit, und wahrscheinlich hatte er recht.
«Das Licht ist aus, Henry.»
Ich sah seine Nachricht erst, nachdem ich selbst bemerkt hatte, dass das Ehepaar im vierten Stock seine Wohnung verlassen hatte. Es dauerte knappe fünf Minuten, bis alle Fenster des Hauses dunkel waren.
«Los geht’s.»
Ich mochte Ausbrüche. Ausbrüche aus toxischen Beziehungen, aus der eigenen Komfortzone, aus dem Turnverein, bei dem ich als Kind schon Mitglied und deshalb immer noch dabei war, obwohl ich all diese Menschen mit ihrem Horizont bis zum nächsten Quartierladen kaum mehr sehen konnte. Ich mochte Ausbrüche lieber als Einbrüche und ich mochte den Winter, auch wenn es im Land der ewigen Übergangszeit nie schneite, und ich war nur ein Dieb, aber wenigstens spürte ich den Regen auf der Haut und die Sonne in den Eingeweiden.
Aus dem historischen Lexikon
Ombraner Angehörige des im Dämmertal heimischen Schattenvolkes. Die Ombraner sind ein lichtscheues Volk, das nachtaktiv lebt. Sonnenlicht kann bei ihnen starke Schmerzen verursachen. Seit langer Zeit leben die Ombraner in einem Konflikt mit den Lumeniern (s. Lumenier). Schatten und Dunkelheit ist in diesem Kontext aber in keiner Weise als Symbol für Bosheit zu verstehen.
Lumenier Angehörige des ursprünglich aus den Sonnenebenen stammenden Volkes. Aufgrund einer Hungersnot emigrierte das Volk ins Dämmertal (s. Ombraner). Der Konflikt, der sich daraufhin zwischen Lumeniern und Ombranern entwickelte, dauert bis zum heutigen Tag an.
Voller Wut verfolgte Kilian den Film auf der Leinwand in seinem Klassenzimmer. Der Film zeigte Szenen aus dem ersten Bürgerkrieg im Dämmertal, einem blutigen Konflikt zwischen dem Volk der Ombraner und dem der Lumenier. Doch auch wenn ihn die Geschichte seines Volkes brennend interessierte, konnte er das Ende dieser Lektion kaum erwarten. Endlich war er alt genug und durfte die Schattengarde bei seinem ersten Einsatz unterstützen. Doch zunächst war er hier im Klassenzimmer gefangen und musste den Film wohl oder übel zu Ende schauen.
Zunächst zeigte der Film das friedliche Zusammenleben der Ombraner. Tagsüber schliefen sie in ihren in den Berg gebauten Wohnungen, die sie dann in der Nacht verliessen, um ihre Felder zu bewirtschaften. Das Tal besass fruchtbaren Boden, war aber den grössten Teil des Jahres recht schattig. Dann das folgenreiche Ereignis, die Hungersnot. Einwanderungswellen der Lumenier, Felder, die in Wohngebiete umgewandelt wurden, lumenische Bauern, die nach und nach die Arbeit der Ombraner übernahmen. Zuerst schien alles friedlich zu verlaufen, die Lumenier steigerten sogar den landwirtschaftlichen Ertrag, da sie das wenige Sonnenlicht im Tal optimal zu nutzen
wussten. Die Ombraner wandten sich dem Bergbau zu und tauschten ihre Produkte mit den Lumeniern gegen Lebensmittel. Schliesslich eine revolutionäre Entdeckung: Kristalle, die das Sonnenlicht speichern können. Diese Entdeckung sollte das Verhältnis zwischen Lumeniern und Ombranern unumkehrbar stören. Eine neue Landwirtschaftsstrategie: Laternen aus Sonnenkristallen, aufgestellt entlang der Felder, sollten den Ertrag weiter steigern. Unterdrückung der Proteste der Ombraner unter Androhung, die Versorgung mit Lebensmitteln zu reduzieren. Aufstände im ganzen Tal, Zerstörung vieler Felder, Verknappung der Nahrungsmittel, dann gewaltsame Unterdrückung der Aufständischen. Eindrückliche Bilder, welche die ungerechte Behandlung der Ombraner zeigten. Schliesslich eskalierte die Situation zu einem Bürgerkrieg, nachdem bei einem grossen Brand der älteste Sohn des Bürgermeisters der Ombraner umgekommen war. Dass im selben Brand auch zahlreiche Lumenier ihr Leben verloren, wurde im Dokumentarfilm jedoch nicht in der geringsten Weise erwähnt. Immer noch voller Wut auf die Leinwand starrend, nahm
Kilian plötzlich einen stechenden Schmerz in seiner Hand wahr. Als seine Augen zu seiner Hand wanderten, stellte er erstaunt fest, dass er seinen Anhänger fest umklammert hielt. Der Anhänger war eine runde Scheibe, die aus einem Stück Nachtschattenholz geschnitzt war. Jeder Ombraner bekam an seinem ersten Geburtstag einen solchen Anhänger. Dem Holz des Nachtschattengewächses wurde nachgesagt, dass es Licht absorbieren und somit bis zu einem gewissen Grad vor gefährlicher Sonneneinstrahlung schützen kann. Doch nicht nur die Ombraner, sondern auch alle Lumenier trugen einen speziellen Anhänger um den Hals. In ihrem Fall war der Anhänger aber aus den Sonnenkristallen gemacht, wodurch die Lumenier auch nachts immer eine kleine Lichtquelle mit sich herumtrugen, da sie im Dunkeln sonst nichts sehen konnten. So konnte schon von weitem ausgemacht werden, zu welchem Volk jemand gehörte.
Die Schulglocke läutete und schon sprintete Kilian aus dem Zimmer. Dabei schüttelte er seine Hand, die immer noch vom Umklammern des Anhängers schmerzte. Die Bilder des Filmes hatten ihn in seinem Vorhaben nur noch mehr bestärkt. Diese Ungerechtigkeiten gegen die Ombraner, die nun schon mehrere Jahrhunderte andauerten, liessen jedes Mal, wenn er daran dachte, eine Welle von Zorn in ihm aufsteigen. Heute konnte er endlich etwas dagegen tun. In Gedanken wiederholte er voll grimmiger Entschlossenheit den Leitspruch der Schattengarde: Licht aus! Licht aus!
«Hi Kilian», begrüsste ihn der Anführer seiner Truppe und hielt ihm die Hand zum Abklatschen hin. «Gut, dass du da bist. Wir sollten bald los und die Rucksäcke müssen noch fertig gepackt werden. Würdest du das gleich machen?»
Kilian nickte bereitwillig und machte sich auf den Weg ins Lager, um dort die letzten Ausrüstungsgegenstände für den bevorstehenden Einsatz zusammenzusuchen. Es war nicht gerade die spannendste Aufgabe, die ihm als Neuem zufiel, doch das machte ihm nichts aus. Schliesslich durfte er nachher mit, wenn ihr Plan in die Tat umgesetzt wurde. Doch zuerst einmal musste er die Rucksäcke fertig packen. Spraydosen, ein Stapel Säcke aus einem speziellen Nachtschattengewebe, Schutzbrillen – geschafft! Die Lumenier werden bald ihr dunkelblaues Wunder erleben, dachte er. Licht aus! Licht aus!
Bei Sonnenaufgang sollten einige der wichtigsten Abgeordneten der Regierung, alles Lumenier, in der Stadt eintreffen und einen neuen Beschluss für den Ausbau des Verkehrsnetzes verabschieden. Mit diesem Ausbau würden aber weitere Sonnenkristall-Laternen errichtet. Die Lichtverschmutzung würde noch weiter zunehmen und die Ombraner noch mehr einschränken. Doch dem wollte die Schattengarde nicht einfach tatenlos zusehen. Ihr Plan sah vor, die wichtigsten Zugänge zur Stadt zu sabotieren, sodass die Abgeordneten gar nicht erst in die Stadt gelangen konnten.
Kurz bevor Kilians Truppe die Stadtgrenze erreichte, setzten alle ihre Schutzbrillen auf und schlüpften in ihre Handschuhe. Ohne diese Schutzvorkehrungen wäre es für sie kaum möglich gewesen, sich den Sonnenkristall-Laternen überhaupt nur zu nähern, ohne sich vor Schmerzen zu krümmen. Kilian schaute auf seine Uhr, bevor er den Saum seiner Handschuhe sorgfältig unter seine Ärmel schob. Sie hatten noch zwei Stunden bis zur Dämmerung. Bis dann sollten sie längst wieder zu Hause sein, um nicht entdeckt zu werden. Das war genügend Zeit, um ihren Plan auszuführen, doch gerade die erste Phase musste rasch über die Bühne gehen. Solange die Laternen noch leuchteten, konnte jeder Lumenier sie schon von weitem sehen. Aufgeregt holte Kilian einen Stapel der Nachtschattensäcke aus seinem Rucksack und begann mit der Arbeit. Anfangs schaute er sich bei jedem Geräusch unruhig um. Als jedoch nach einer Weile nichts Unerwartetes passiert war und sie mit ihrer Arbeit gut vorankamen, wich seine Nervosität wieder der grimmigen Entschlossenheit, die er schon beim Verlassen der Schule gespürt hatte.
Als die zweite Truppe eintraf, waren die Gleise schon vollständig in Dunkelheit getaucht. Kilian beobachtete, wie die Schienen nun mit Geröll blockiert wurden. Doch eine Hand auf seiner Schulter liess ihn erschrocken herumfahren. Ungeschickt stolperte er über eine Schiene und landete schmerzhaft auf seinem Hintern. Es war aber zum Glück nur sein Anführer, der ihm bedeutete, dass sie weitermussten. Schliesslich mussten sie noch klarstellen, was sie forderten. Im Schutz der Nacht machten sie sich auf zum Bahnhof und mieden dabei so gut wie möglich alle Strassenlaternen. Hier in der Stadt konnten sie es nicht mehr riskieren, die Laternen abzudecken, das wäre zu auffällig gewesen.
Einige Zeit später betrachtete Kilian stolz sein Werk. Die Wand der Ankunftshalle am Bahnhof war nun über und über mit denselben Worten bedeckt: Licht aus! Licht aus! Wieder spürte er eine Hand auf seiner Schulter. «Gute Arbeit, Kilian!» Stolz drehte er sich zu seinem Anführer um. Die Lumenier wür-
den schon sehen, was dabei herauskam, wenn sie weiterhin so ungerecht zu den Ombranern waren. Per Handschlag verabschiedete er sich von den anderen und machte sich auf den Nachhauseweg. Ein Blick auf seine Uhr zeigte ihm, dass er noch gut eine dreiviertel Stunde bis zur Dämmerung hatte. Bis dann sollte er zu Hause in seinem Bett liegen. Er schob seine Hände in die Hosentaschen und machte sich zufrieden auf den Weg nach Hause. Sein erster Einsatz würde garantiert ein voller Erfolg werden.
Plötzlich hielt Kilian inne. Irgendetwas stimmte nicht, etwas fehlte. Es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass seine Hände nicht wie sonst mit seinem Schlüsselbund in der Hosentasche herumspielen konnten. Mist, er hatte seine Schlüssel wohl irgendwo verloren. Doch wo? Er erinnerte sich an seinen Stolperer bei den Gleisen. Dort musste er ihm aus der Tasche gefallen sein. Also schnell zurück, bevor noch ein Lumenier den Schlüssel fand.
Schon aus einiger Entfernung fiel ihm auf, dass etwas nicht stimmen konnte. Denn von den Gleisen ging Licht aus. Das war eigentlich unmöglich, sie hatten schliesslich alle Laternen abgedeckt. Kilian legte noch einen Zahn zu, achtete aber gleichzeitig darauf, möglichst leise zu sein. Als er näher kam, erkannte er eine Person, die dabei war, die Säcke wieder von den Laternen abzunehmen. Wutentbrannt stürzte er sich auf die Person.
«Was wird das?», zischte er, noch ausser Atem von seinem Sprint. Er hielt die andere Person fest und musterte sie prüfend. Es war ein Mädchen, etwa in seinem Alter. Sein Blick wanderte zu ihrem Hals, doch er fand nicht, wonach er Ausschau gehalten hatte. Das Mädchen trug keinen Anhänger. Weder einen Kristall noch einen aus Nachtschattenholz. Seine Überraschung musste ihm anzusehen sein, denn das Mädchen nutzte seine Unaufmerksamkeit und riss sich los. Aber anders als von Kilian befürchtet, lief sie nicht weg.
«Ich verhindere einen riesigen Fehler», erwiderte sie stattdessen auf seine Frage. Kilians Gesichtsausdruck wechselte wieder zu Wut, jedoch gemischt mit einer Spur von Unverständnis und sogar Neugierde. Mit einer Bewegung seines Kopfes bedeutete er ihr, weiterzureden.
«Den Fehler, Menschenleben aufs Spiel zu setzten, nur weil die Regierung vielleicht eine falsche Entscheidung getroffen hat.»
«Nicht nur eine falsche Entscheidung. Seit Jahrhunderten werden wir von den Lumeniern unterdrückt. Was sollten wir denn tun? Dasitzen und dieser Ungerechtigkeit tatenlos zusehen? Damit es noch weitere Jahrhunderte so weitergeht? Was geht dich das überhaupt an? Soweit ich sehe, bist du keine Lumenierin. Diese Feiglinge würden sich bei Nacht nie ohne ihren Anhänger hinauswagen. Aber eine Ombranerin bist du auch nicht, ausser du wärst gleichzeitig eine üble Verräterin», erwiderte Kilian wütend.
«Was spielt es denn für eine Rolle, ob ich eine Lumenierin oder Ombranerin bin? Reicht es denn nicht, dass ich ebenso eine Bewohnerin dieses Tals bin wie du?»
Kilian schnaubte verächtlich, doch das Mädchen fuhr fort: «Auch die Lumenier haben Verluste erlitten. Kinder mussten ohne ihre Eltern aufwachsen. Doch darüber denkt ihr wohl lieber nicht nach, was?»
«Wir haben uns nur verteidigt. Schliesslich haben sie angefangen», entgegnete Kilian.
«Würdet ihr mal vernünftig miteinander reden, könntet ihr schon seit Jahren in Frieden leben», meinte sie daraufhin in bestem Lehrertonfall. Doch Kilian schüttelte nur abschätzig den Kopf.
«Das würde sowieso nichts nützen. Weshalb sollten die Lumenier damit aufhören wollen, uns zu unterdrücken?»
«Kein Wunder, dass es nichts nützt, wenn ihr nicht damit aufhört, ihnen das Leben schwer zu machen. Meint ihr allen Ernstes, dass sie euch entgegenkommen, wenn ihr ihre Züge
entgleisen lasst und dabei Menschen umkommen könnten? Ist es das denn wert? Kannst du es verkraften, für den Tod von anderen verantwortlich zu sein?»
Betreten schaute Kilian zu Boden. Doch dann hob er seinen Blick wieder und schaute das Mädchen herausfordernd an. Er durfte nicht zulassen, dass sie sein gesamtes Weltbild auf den Kopf stellte. Obwohl … War da nicht ein Fünkchen Wahrheit in dem, was sie gesagt hatte? Was sollte er nur tun?