Jean Tinguely - Motor der Kunst

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JEAN TINGUELY– MOTOR DER KUNST

JEAN TINGUELY

MO TOR DER KUNST DOMINIK MÜLLER

CHRIS TOPH MERIAN VERLAG

6

Tinguely – ein unbekannter

Bekannter

Heinz Stahlhut

11

Einleitung

14 1949

Mieux voir

Schaufensterdekoration Basel

Im Fokus: Das Schaufenster von Optik Ramstein

Anfänge und Ausbildung

Das Schaufenster als Präsentationsfläche

Bewegung im Burghof

Von Basel nach Paris

31 1958

Mes étoiles – Concert pour sept peintures

Klingende Reliefs

Paris, Stadt der künstlerischen Revolten

Die Künstlerkolonie in der Impasse Ronsin

Von der Schweiz bis nach Schweden

Zeit für die kinetische Malerei

Nicht mehr auf Kurs?

Kollaboration mit Yves Klein

49 1959

Für Statik

‹Für Statik›: das Manifest und sein Vorläufer

Zeit der Kunst – Kunst der Zeit

Ein wirkliches Flugblatt?

Kulturelle Zusammenarbeit in Europa

Spektakel in Düsseldorf und Amsterdam

59 1959

Méta-Matic No. 17

Biennale de Paris: eine Malmaschine im Museumshof

Jede Maschine ist ein Künstler

Kunst, Maschinen und Kommerz

‹Art, Machines, and Motion›: ein Happening

72 1960

Homage to New York

Wolkenkratzer und Maschinen

Ein Happening im MoMA

Land der unbegrenzten Künste

Der Weltuntergang, out of order

Tinguely Superstar

86 1960

Le Transport

Ein bunter Umzug durch Paris

Tinguely wird museal

Pierre Restany und der Nouveau Réalisme

94 1964

Heureka

Heureka, die Expo!

Vorwärts, rückwärts, seitwärts

Von Lausanne nach Zürich

Neue Freundschaften

106 1966

HON – en katedral

Gestrandet auf der Insel Skeppsholmen

Alles, nur keine Pop-Art

Zeit für Gemeinschaftsprojekte

Tinguely, ein Klassiker?

115 1967

Rotozaza No. 1

‹Rotozaza› oder die Mechanik des Absurden

Ein Aufruf in der ‹National-Zeitung›

‹Rotozaza No. 2›: der Bierflaschenzertrümmerer

‹Rotozaza No. 3›: eine Menge zerschlagenes Geschirr

125 1968 Hannibal II

Die Feldherren-Maschine

Sammeln für Pablo und Jean

131 1970–1994 Le Cyclop

Ein bewohnbares Monster im Wald

Pläne für ein ‹Gigantoleum›

Ein Assistent auf lange Zeit

Unter dem Schutz des Präsidenten

143 1972–1974

Chaos No. 1

Chaos im Kaufhaus

Schwierigkeiten beim Entstehen des ‹Chaos›

Dr. Jekyll und Mr. Hyde

150 1977

Fasnachtsbrunnen

Schauspiel im Wasser

Ein grosser Bums

Ein feuchtes Vergnügen

163 1986

Mengele-Totentanz

Tanz der Maschinen

Der Totentanz – eine Basler Tradition

Ein brennender Bauernhof

173 1987

Grosse Méta-Maxi-Maxi-Utopia

Vorhang auf für eine neue Utopie

‹Ein Zauber stärker als der Tod›

179 1978 Klamauk

Ein musikalischer Traktor

Immer wieder ‹Klamauk›

Trauerzug für Jean Tinguely

186 Anhang Zeittafel

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Bildnachweis

TINGUELY – EIN UNBEKANNTER BEKANNTER

Tinguely? Das ist doch der Künstler mit den Krawatten und Keksdosen, mit den Weinetiketten und Foulards! Derartige Antworten dürfte man von vielen Menschen auf die Frage nach einem der bekanntesten Schweizer Künstler hören. Baslerinnen und Baslern wird vom künstlerischen Werk des Kinetikers zumindest noch der Fasnachtsbrunnen auf dem Theatervorplatz einfallen. Doch selbst von zahlreichen Kunstkennern und -expertinnen wird Tinguely noch heute unterschätzt. Sein jahrzehntelanges, abwechslungsreiches Schaffen wird für viele von den späten kunsthandwerklichen Entwürfen und den massenhaft verbreiteten Druckgrafiken überschattet. Natürlich hat der Künstler selbst zu dieser Einschätzung nicht unwesentlich beigetragen. Von seinen Anfängen in den 1940er-Jahren an war es sein Bestreben, eine populäre Kunst zu schaffen, die sich

Jean Tinguely, Pjotr Kropotkin, Philosoph, 1988, 202 × 230 × 95 cm, Museum Tinguely, Basel, Donation Niki de Saint Phalle.

nicht esoterisch oder erhaben vom Geschmack der breiten Masse abwandte. Einerseits war dies seiner kunsthandwerklichen Ausbildung als Schaufensterdekorateur geschuldet, die den Fokus auf eine attraktive Gestaltung richtete. Denn angesichts des Warenüberflusses im beginnenden Wirtschaftswunder musste die Aufmerksamkeit der Betrachterinnen und Betrachter schnell erregt werden. Andererseits wollte sich Tinguely wie viele seiner Generation mit seinem Schaffen von der Kunst des Tachismus und Informel absetzen, beides Richtungen, die mit der Betonung des Malgestus noch einmal das Künstlerindividuum als weit über den Massen der Betrachtenden stehenden Heros feierten. So war es Tinguely denn auch darum zu tun, Kunstwerke zu schaffen, die das Publikum unmittelbar fesselten, es über möglichst viele seiner Sinne ansprachen und ihm vor allem Spass machten, statt es mit dem tragischen Ringen des Künstlers zu konfrontieren, wie dies Tachismus und Informel taten.

Überhaupt war Tinguelys Kunst häufig ein grosses Spektakel: Man denke etwa an den Transport seiner Schrottplastiken vom Atelier in die Galerie, der durch die Strassen von Paris führte und ihm die amüsierte Aufmerksamkeit der Passanten, einen Auftritt in einem schwedischen Spielfilm und die Verhaftung durch die Gendarmerie einbrachte, an die begehbaren Monumentalplastiken ‹HON›, ‹Crocodrome› und ‹Cyclop› oder an seine grossen Brunnenanlagen in Basel und Paris – stets suchte er seine Kunst unter die Leute zu bringen. Er mischte sich ein, sei es, dass er mit seinen Kumpanen von der anarchistisch angehauchten Clique ‹Kuttlebutzer› der philiströs gewordenen Fasnacht seiner Heimatstadt den Marsch blies, sei es, dass er den Schweizer Bankverein (heute UBS) beschämte, indem er mit dem Verkauf einer seiner Grafiken Geld für die Reparatur von Jonathan Borofskys kinetischer Plastik ‹Hammering Man› vor dem damaligen Hauptsitz der Bank am Basler Aeschenplatz sammelte (die Instandsetzung hatte die Bank angeblich aus Kostengründen immer wieder aufgeschoben). So verwundert es nicht, dass über den allseits bekannten und populären Jeannot auch rund fünfunddreissig Jahre nach seinem Tod unzählige Anekdoten kursieren, das persönliche Image sein Werk mehr und mehr überlagert hat. Umso verdienstvoller ist es da, dass sich mit Dominik Müller ein Vertreter der jüngeren Generation, die Tinguely nicht mehr persönlich erlebt hat, mit unverstelltem Blick und profunder Kenntnis der Aufgabe gestellt hat, Jahrzehnte nach den letzten monografischen Untersuchungen von Michel Conil-Lacoste und Heidi Violand-Hobi eine Biografie des Künstlers zu verfassen. Müller, der am umfangreichen Bestandskatalog des Basler Museum Tinguely mitgearbeitet hat, konnte dort ausgiebig Einsicht in die reichen Archivbestände nehmen und von der dort betriebenen Forschung profitie ren. Auf dieser

Grundlage ist eine Studie entstanden, die beides zugleich ist – entschlackt und angereichert: entschlackt von all dem anekdotischen Ballast, der viele Publikationen zu Tinguely kennzeichnet, und angereichert mit vielen bis dahin noch unbekannten Fakten.

Müller zeichnet ein Bild Tinguelys, das den Kennerinnen und Kennern natürlich in Ansätzen bekannt ist, aber in der Deutlichkeit doch immer wieder überrascht: Der Kinetiker erscheint hier als ein schon früh international vernetzter und tätiger Künstler. Beziehungen bestehen schon früh nach Skandinavien durch den Entdecker und unermüdlichen Förderer Pontus Hultén, nach Deutschland durch den Düsseldorfer Galeristen Alfred Schmela, in die USA durch den Künstler Marcel Duchamp, die Kunstkritikerin Dore Ashton oder den Galeristen George Staempfli; und in seiner Wahlheimat Frankreich ist Tinguely, der Mitbegründer der Nouveaux Réalistes, sowieso in aller Munde, nachdem der 1959 zum Kulturminister avancierte Kunstpublizist André Malraux seinen Zeichenmaschinen an der Pariser ‹Biennale des Jeunes› huldvoll Aufmerksamkeit geschenkt hat.

Jean Tinguelys Schaffen machte – wie seine Werke und Happenings unschwer erkennen lassen – das Vorbild der Grossvätergeneration fruchtbar, also der Futuristen und Konstruktivisten, der Dadaisten und Bauhäusler, die der unangepasste Dekorateurlehrling während seiner Zeit an der Basler Schule für Gestaltung bei Julia Eble-Ris intensiv studier t hatte. Mit seinem an diesen Vorbildern entwickelten Konzept einer bewegten Kunst, die «im Jetzt und in der Zeit eine schöne und absolute Wirklichkeit schaffen» sollte, wie es in seinem im März 1959 massenhaft aus einem Flugzeug über Düsseldorf abgeworfenen ‹Manifest für Statik› heisst, inspirier te Tinguely alle Generationsgenossinnen und -genossen, die mit ihm in Berührung kamen. Denn Tinguely war–und hier trifft Müller mit seiner Titelgebung voll ins Schwarze–im wahrsten Sinne ein «Motor der Kunst», gab er doch die Bewegung als Kunst-Stoff an viele andere Künstlerinnen und Künstler weiter: von Yves Klein über Niki de Saint-Phalle und Bernhard Luginbühl bis hin zu den Düsseldorfer Zero-Künstlern Heinz Mack, Otto Piene und Günther Uecker. Es kennzeichnet dabei das generöse Wesen Tinguelys, dass er verschwenderisch mit solchen Anregungen, aber auch mit seiner persönlichen Unterstützung umging. Müllers Biografie nennt zahlreiche Zusammenarbeiten Tinguelys mit Künstlerfreundinnen und -freunden: so beispielsweise mit Yves Klein an den Dekorationen für das Musiktheater Gelsenkirchen, mit Bernhard Luginbühl an der monumentalen, begehbaren Skulptur des ‹Gigantoleum›, besonders jedoch mit seiner zweiten Ehefrau Niki de Saint Phalle, mit der er immer wieder gemeinsam Installationen wie die riesige liegende

Frauenfigur ‹HON› schuf und zugunsten derer Projekte er teilweise gar eigene Arbeiten zurückstellte, etwa im Fall des ‹Tarotgartens›. Nun war solche Kollaboration der Kunst der 1960er- und 1970er-Jahre nicht eben fremd. Vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert war sie sowieso gängige Praxis, nach der jedes Mitglied einer Werkstatt auf ein bestimmtes Motiv oder eine bestimmte Gattung spezialisiert war und diese in eine Gemeinschaftsarbeit einbrachte. Nachdem dieses Vorgehen mit dem Aufkommen des Geniekultes im ausgehenden 17. Jahrhundert in Misskredit geraten war, lebte es erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder auf: in neuen Formen der künstlerischen Zusammenarbeit, etwa bei den 1808 als ‹St. Lukas-Bruderschaft› gegründeten Nazarenern und vergleichbaren Künstlergemeinschaften.

Just diese Ideen wurden von den Avantgarde-Kunstschaffenden des frühen 20. Jahrhunderts wie den Mitgliedern des Blauen Reiters oder den Dadaisten aufgenommen, und auch das Konzept der künstlerischen Originalität wurde von Exponentinnen und Vertretern des Dada, des Surrealismus, der Pop Art und Postmoderne in vielfältiger Weise angegriffen. Die Gründe für die Kollaboration von Kunstschaffenden waren vielfältig: So konnte eine temporäre Zusammenarbeit Voraussetzung für künstlerisches Vorankommen sein; bedeutende Beispiele zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren die gedankliche und stilistische Interaktion zwischen Pablo Picasso und Georges Braque, Wassily Kandinsky und Gabriele Münter, Sonia und Robert Delaunay, Le Corbusier und Amédée Ozenfant. Eine solche Zusammenarbeit funktionierte als Austausch von Ideen und Erfahrungen in einem produktiven Arbeitsprozess, in dessen Verlauf das Individuelle transformiert wurde in ein anderes, neues Ich, was zu unerwarteten Resultaten führte.

Eine Intensivierung der Zusammenarbeit lag dagegen in der zeitlich längeren oder gar lebenslangen Kooperation vor wie im Fall von Sophie Täuber und Hans Arp. Sie waren davon überzeugt, dass in der Anonymität des Kollektivs die Kreativität der Zukunft liege; dies drückt sich in ihren von 1916 bis 1943 reichenden ‹Duo-Arbeiten› aus, in denen man die jeweilige persönliche Handschrift nicht mehr erkennen kann. Wie zahlreiche Künstler und Künstlerinnen der 1960erund 1970er-Jahre bedienten sich dann auch Jean Tinguely und Niki de Saint Phalle intensiv dieser Praxis als «Grenzüberschreitung des individuellen Produktionsrahmens» und damit als adäquate Antwort auf die «Grenzerweiterung der Künste».

Doch gab es bei Tinguely noch andere Gründe für eine solche Zusammenarbeit. Bekanntlich hatte der Basler Antiquar Heiner Koechlin es verstanden, den jungen Schaufenstergestalter für die Theorie des Anarchismus zu begeistern – eine von da an lebenslängliche Faszination, der noch der weltbekannte Künstler in Wort und Werk

Jean Tinguely, ‹Hans im Glück›, Linolschnitt, 1939, 30.5 × 18 cm, Museum Tinguely, Basel.

immer wieder seine Hommage zollte: Vom frühen Holzschnitt mit dem Bild des Hans im Glück, der sich mit leichter Hand seines irdischen Reichtums entledigt, bis zu der späten Skulpturengruppe der ‹Philosophen› reichen die Bezugnahmen Tinguelys auf diese bis heute quicklebendige Utopie. Unter den ‹Philosophen› findet sich mit dem russischen Adligen und Theoretiker eines anarchistischen Kommunismus Pjotr Kropotkin (1842–1921) der Vordenker auch für die künstlerische Zusammenarbeit. In seiner 1902 auf Englisch und zwei Jahre später auch auf Deutsch erschienenen Schrift ‹Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt› stellte Kropotkin dem darwinistischen Kampf ums Dasein, der populärwissenschaftlich immer wieder auch als Grundlage für wirtschaftsliberale Theorien herangezogen wird, die gegenseitige Hilfe als einen mindestens ebenso bedeutenden evolutionären Faktor gegenüber. Diese Vorstellung der gegenseitigen Hilfeleistung als Mittel, das eine künstlerische, nicht entfremdete Arbeit überhaupt erst ermöglicht, dürfte für Tinguely ein Antrieb gewesen sein, seine Schaffenskraft in den Dienst von Künstlerfreunden und -freundinnen zu stellen, und damit zu einem Motor auch der Kunst seiner Zeit zu werden.

EINLEITUNG

Das Schnurren eines Motors, sich drehende Räder, ein Dickicht von Keilriemen, vor allem aber Bewegung und Lärm. Das gehört zu den Maschinenskulpturen von Jean Tinguely. Diese Apparate, die – für viele noch immer ein Moment der Verblüffung – im Museum per Knopfdruck zu bedienen sind, bereiten vor allem Kindern viel Freude und erleichtern ihnen den Einstieg in die Kunst; auch die Erwachsenen animieren sie zum Lachen oder mindestens zum Schmunzeln. Betrachterinnen und Betrachter der skurrilen, teils erschreckenden, teils poetischen, jedoch stets inspirierenden Maschinen sind sich oft nicht sicher, ob sie diese als Kunstwerk einstufen können. Warum sollte eine Maschine als Skulptur bezeichnet werden, die auf den Einwurf einer Goldmünze hin einen Motor in Gang setzt und ein Blatt Papier mit abstrakten Strichen vollkritzelt? Kinderkram schreien einige, Tinguely sei ein protegierter Popist und Schabernack-Treiber, schreiben andere. Doch die Mehrheit drückt munter weiter, bis das selbstgemachte Kunstwerk fertig oder die erkaufte Zeit mit der Maschine abgelaufen ist. «Kommt, macht selber Kunst!» So lautete 1959 Tinguelys Aufforderung an die Menschen, und er stellte ihnen in einer Pariser Galerie dafür ein Dutzend der erwähnten Zeichenmaschinen des Typs ‹Méta-Matic›, Papier und Stifte zur Verfügung. Der Eintritt war frei, das Papier und die Goldmünze hingegen kostenpflichtig. Das Publikum kam in Scharen, zahlte, drückte, lärmte und genoss die von Tinguely angebotene Ermächtigung, endlich selbst Teil des avantgardistischen Kunstzirkels zu sein. In den spektakulären und publikumsträchtigen Ereignissen verschmolzen Kunst und Leben. Und gerade diese Vereinigung von Kunst und Leben suchte Tinguely, er bemühte sich, Besucherinnen und Betrachter einzubeziehen und das Kunstinteresse zu beleben, ohne dass jeder deshalb genau hätte wissen müssen, wer nun die Kandinsky, Malewitsch, Tatlin, Schwitters, Arp oder Duchamp waren, die seine Maschinen als Vorbild oder Namensgeber hatten. Die Vergangenheit sollte keine Rolle spielen: «Fort mit den Stunden, Sekunden und Minuten. Hört auf der Veränderlichkeit zu widerstehen. SEID IN DER ZEIT – SEID STATISCH, SEID STATISCH – MIT DER BEWEGUNG», proklamierte er in seinem Manifest. Und mit derselben rebellischen Emphase setzte sich der junge Schweizer Künstler über ungeschriebene Gesetze, Regeln, Vorgaben und Eifersüchteleien hinweg. Er interessierte sich – im wörtlichen wie übertragenen Sinn–für Revolutionen, Umdrehungen, Umwälzungen und wollte mit seinen rotierenden Kunstwerken wachrütteln, bewegen, verändern: Tinguely war ein unermüdlicher und rastloser Motor der Kunst und des Lebens.

Heute ist Tinguelys Werk dank seinen sechs Brunnen, einem eigenen Museum in Basel und dem Espace Jean Tinguely – Niki de Saint Phalle in Fribourg sowie einer begehbaren Freiluftskulptur in Millyla-Forêt, nahe Paris, in der Öffentlichkeit präsent. Das Interesse an seinen Maschinen ist da, die Knöpfe in den Museen werden rege gedrückt, die Motoren quietschen und rauchen und seine Brunnen sind sommers wie winters ein beliebter Treffpunkt. Über sein Leben hingegen, seine Anfänge, den kometenhaften Aufstieg, die verschiedenen Werkphasen und die Persönlichkeit bestehen oft nur vage Ahnungen.

Wer weiss heute noch, dass der Oscar-Preisträger Paul Newman 1964 in dem Hollywood-Film ‹What a Way to go› Tinguely verkörperte, kurze Zeit nachdem dieser selbst in Los Angeles mit Edward Hopper und Jane Fonda verkehrte? Wer ist sich schon wirklich bewusst, dass er mit Marcel Duchamp, Hans Arp, Yves Klein, Claes Oldenburg und Edward Kienholz befreundet war beziehungsweise zusammenarbeitete? Tinguely war ein vielseitiger und umtriebiger Künstler, der seinen politischen Gesinnungen getreu das kollektive Arbeiten liebte. Vor allem war er auch früh ein Künstler, der Brücken schlug: von Paris nach Schweden, Amsterdam und Kopenhagen, über den Atlantik nach New York und Los Angeles, nach Tokio oder Südafrika. Und er liebte das Leben, die Menschen, den Austausch. Wie kaum ein anderer traf er mit seinen kinetischen Werken den Nerv des Maschinenzeitalters.

Tinguely war ein furchtloser und visionärer Künstler, der den globalen Kontext der Nachkriegskunst schnell begriffen und mitgeprägt hat. Doch auch die kommerziellen Aspekte der Kunst, die Gesetze des Marktes und ein gewisser Personenkult spielen in seinem Werk und Leben eine zentrale Rolle. Er war ein Künstler mit Widersprüchen, jemand, der sich nicht scheute, generelle Trends mitzugestalten und sich ihnen bewusst wieder zu entziehen. Zu seinem hundertsten Geburtstag ist der Zeitpunkt gekommen für eine Neuauflage der erfolgreichen biografischen Darstellung über das Leben und Werk von Jean Tinguely, die diesen Künstler besser bekannt macht und vielleicht auch anregt zu einer weiteren Auseinandersetzung mit seinen Arbeiten. Um eine Darstellung von Tinguelys Leben entlang der Spur seiner Werke geht es in diesem Buch. In sechzehn Stationen, bei denen jeweils ein Werk Ausgangsund Mittelpunkt ist, wird der Werdegang des Künstlers nachgezeichnet. Die werkzentrierte, exemplarische Vorgehensweise soll den Leserinnen und Lesern auch zeigen, dass hinter den Maschinen Tinguelys deutlich mehr steckt, als man bei dem Knopfdruck, der eine wackelnde Maschine im Museum bedient, vielleicht vermutet.

‹Jean Tinguely – Motor der Kunst› ist das Ergebnis meiner Auseinandersetzung mit dem reichen Quellenschatz im Archiv des Museum

Tinguely, einer langjährigen Beschäftigung mit Tinguelys Werk und der Spurensuche in dem ereignisreichen Leben dieses bedeutenden und einflussreichen Künstlers. Für meine Recherchen und die Sichtung des umfangreichen Bildmaterials im Archiv des Museum Tinguely war mir Claire Beltz-Wüest mit ihrem Fachwissen und ihrer stetigen Hilfsbereitschaft von unschätzbarem Wert. Einen direkten Zugang zu Tinguelys Maschinen und zum Umgang mit ihnen verdanke ich Jean-Marc Gaillard, dem langjährigen Konservator am Museum Tinguely und Experten für alle technischen Belange der kinetischen Kunst. Der Direktor des Museum Tinguely Roland Wetzel und der Vizedirektor Andres Pardey boten mir die Möglichkeit, meine Recherchen zu intensivieren und im Archiv zu arbeiten. Das ganze Team des Museums hat sich immer wieder für das Projekt interessiert, mir Mut gemacht und mich unterstützt. Dafür bedanke ich mich herzlich. Die Christoph Merian Stiftung hat die Erstausgabe mit einem namhaften Beitrag ermöglicht, und auch die Freiwillige Akademische Gesellschaft hat das Projekt grosszügig unterstützt. Der Christoph Merian Verlag, namentlich Oliver Bolanz und Claus Donau, hat sich stets für das Buch eingesetzt, ist mir beigestanden und hat mich, falls notwendig, sanft an meine Pflichten erinnert. Die Lektorin Nana Badenberg hat mein Manuskript nicht nur gelesen und korrigiert, sondern mit Sorgfalt, Umsicht und Können fachkundig bearbeitet. Dem Grafiker Thomas Dillier ist es gelungen, das überwältigende Bildmaterial zu straffen und zu ordnen und in einer sorgfältig gestalteten Publikation zusammenzufassen.

Erste Diskussionen mit dem Arbeitskollegen und Freund Heinz Stahlhut rund um eine Publikation zu Jean Tinguely liegen viele Jahre zurück. Es freut mich deshalb ausserordentlich, dass er das Vorwort beigesteuert hat. Meinem Vater Christian Müller, Christoph Bauer und meiner Mutter Nancy Müller-Zivy gebührt ebenfalls herzlicher Dank, sie sind mir mit Engagement und akribischem Sachverstand tatkräftig zur Seite gestanden. Auch meiner Ehefrau, meinen Kindern, meinen Brüdern und allen Freunden und Bekannten, die ich mit meiner Passion für Tinguely immer wieder aufs Neue angegangen bin, sei von Herzen gedankt.

Basel, im Sommer 2024

HANNIBAL II 1968

Jean Tinguely, ‹Hannibal II›, 1968, Siebdruck, 40 × 60 cm, Museum Tinguely, Basel.

Die Feldherren-Maschine

Auf Schienen rollt ‹Hannibal II› gemächlich vor und zurück, gestossen respektive gezogen von einer langen, geschwungenen Holzlatte.

Der Ablauf erinnert stark an die beiden ‹Chars›, die (Kriegs-)Wagen, die Tinguely 1964 so wirkungsvoll in seine ‹Heureka› eingebaut hat. Im Gegensatz zu diesen und den anderen kleineren ‹Chars› ist ‹Hannibal II› eine gewaltige und gewalttätige Maschine, ein Ungeheuer von einer Maschinenskulptur. Er hat allerdings einen nahen Verwandten, den ersten Sprössling der Familie: ‹Hannibal I›, den Tinguely bereits 1963 in der Dwan Gallery zur Schau stellt und den dann zwei Jahre später sein Freund Robert Rauschenberg erwirbt. ‹Hannibal I› ist noch ganz ein Kind der von Amerika inspirierten Schrott-Phase Tinguelys, eine Assemblage, die stilistisch sehr gut in das Entstehungsjahr und die Zeit in Los Angeles passt. Doch erweckt auch dieser ältere Hannibal einen kriechenden, tierähnlichen Eindruck. Darin gleicht ihm ‹Hannibal II›, der jedoch im Emmental, im Garten von Bernhard Luginbühl, und nicht in den Lagerhallen Kaliforniens entstanden sein soll.

JEAN TINGUELY, ‹HANNIBAL II›

1967, 180 × 153 × 715 cm, auf Holzpodest mit Metallschienen, Holzund Metallräder, Metallröhren, Gummiriemen, Kette, alles schwarz bemalt, Elektromotoren, Basel Tourismus

Die Wagenskulptur ‹Hannibal I› datiert aus dem Jahr 1963; Robert Rauschenberg erwirbt sie anlässlich einer Ausstellung in New York für seine eigene Sammlung und schenkt sie später dem MoMA.

Dort in Mötschwil gibt es nicht nur genügend Platz, ein gutes Frühstück und die Gesellschaft des Künstlerfreundes, sondern auch Keilund Treibriemen von bester Qualität und in grosser Menge–ein wertvolles Gut, von dem Tinguely in dieser Skulptur unzählige benötigt. Denn der Holzkasten, auf dem Hannibal sich hin- und herbewegt, ist immerhin sieben Meter lang, und auf den Geleisen fahren zwei unterschiedliche, jedoch miteinander verbundene Wagen. Der hintere, vierrädrige und grössere gemahnt von seiner Erscheinung her an einen Kriegselefanten aus der Armee des karthagischen Feldherren, dem es einst gelungen ist, mit seinen Soldaten und 37 nordafrikanischen Waldelefanten die Alpen zu überqueren. Ein Kanonenrohr an der einen und ein grosser schwarzer Kotflügel an der anderen Flanke verstärken diesen martialischen Eindruck. Das Rohr bewegt sich jeweils etwas schneller vor und zurück, der Kotflügel mit geringerer Geschwindigkeit auf und ab. Der Körper des grösseren Wagens ist aus einem Dickicht von Rädern und Gummiriemen geformt, die von 220-Volt-Motoren angetrieben werden. Auf beiden Seiten sind zudem Metallstangen montiert, die eine bewegt sich vor und zurück, die andere führt eine Metallkette, die im Auf und Nieder rasselnd an den Holzkasten schlägt und dabei immer wieder kleine Splitter abschlägt. In Bewegung versetzt wirkt die Maschine lebendig und erinnert ein wenig an ein gepanzertes Kriechtier. Der kleinere, vordere Wagen wird von einem Holzarm vor und zurückgezogen, der an der Hauptmaschine befestigt ist, während ein kleines Rad an dem Wägelchen seinerseits einen Metallarm betreibt, der wie der Stosszahn eines Elefanten vor und zurück, rauf und runter schiesst. Bei jeder neuen Inbetriebnahme setzen die verschiedenen Bewegungen genau dort wieder ein, wo sie beim vorherigen Mal angehalten haben – ganz typisch für Tinguelys Maschinen, deren Bewegung so weder Anfang noch Ende zu haben scheint. Es fällt nicht schwer, sich angesichts des sinnlichen Gesamteindrucks

der Maschine, zu ihren verschieden Bewegungen und Geräuschen einen Elefanten vorzustellen, der, auf einem Alpenpass sich abmühend, Schritt für Schritt dem Kampfgeschehen oder seinem Untergang entgegengeht. Der Künstler hat, im Fernsehen zur Bedeutung dieser Skulptur befragt, die vom Titel nahegelegte Assoziation mit dem karthagischen Feldherren bekräftigt, in Bezug auf die eigenwillige Form des Kotflügels jedoch noch eine Lesart hinzugefügt, die auf die Schweizer Geschichte abzielt: Dieses Element solle an den Gesslerhut gemahnen. Die Rolle des Tell käme dann wohl dem Betrachter zu, der sich vor dem Hut beugen und somit Tinguelys Maschine huldigen muss.

Sammeln für Pablo und Jean

Im Dezember 1967 stimmen die Basler Bürger einem Sechs-Millionen-Kredit für einen Bilderkauf zu. Denn dem Kunstmuseum der Stadt droht der Verlust von Bildern namhafter Künstler, allen voran zwei Picassos, die sich als Leihgaben in der städtischen Sammlung befinden und nun von ihrem in Konkurs geratenen Besitzer verkauft werden sollen. Schon ab Oktober entwickeln verschiedene Bevölkerungsgruppen und Organisationen wie der Basler Verkehrsverein, der Kunstverein oder der Künstlerverein ein enormen Eifer, und es kommt zu einer einzigartigen Mobilisierung der Basler Bevölkerung, auch um die ergänzend zu dem Kredit benötigten privaten Mittel, ebenfalls in Millionenhöhe, aufzubringen. In diesem Zusammenhang entsteht die Idee für ein sogenanntes Bettlerfest, an dem auch lokale Künstler teilnehmen sollen. Der Galerist Felix Handschin heckt mit einigen Freunden einen eigenen Plan aus: ein Happening im Stadtcasino mit einer ‹Rotozaza› oder einer ähnlichen Maschine. Paul Gutzwiller, damals Verkehrsdirektor, erinnert sich an die Ereignisse: «Felix Handschin schlug vor, Jean Tinguely sollte eine seiner sagenhaften Maschinen bauen, eine Flaschen abfüllende und nachher zerschlagende, oder eine, die sich selber zerstört – wir stellten uns den vollen Saal im Stadtcasino vor und auf dem Podium ein schwarzes Ungetüm an der Arbeit und wie sich die Leute amüsierten… Felix Handschin rief Tinguely an, und Tinguely war begeistert. Zwei Tage später erschien er selbst in der Rio-Bar: ‹Ich kann nicht mitmachen. Man hat es mir verboten. Mehr kann ich nicht sagen.› Bis heute weiss ich nicht, wer es war, der ihm in den Weg trat. Damals hatte Jeannot noch viele Gegner… Ich war zornig und enttäuscht, Jeannot musste Genugtuung bekommen.»1 Eine verworrene Situation, und bis heute ist nicht klar, wer gegen das geplante Happening im Stadtcasino opponiert hat.

Nach dem Bettlerfest am 25. November, bei dem sich – mit Ausnahme von Tinguely – tout Bâle tummelte, und dem erfolgreichen Erwerb der Picasso-Gemälde, entsteht auf Drängen von Paul Gutzwiller ein

neuer Ankaufsplan. Um Tinguely Genugtuung zu verschaffen, will der Verkehrsverein eine seiner Maschinen ankaufen. Endlich, ist man versucht zu sagen. Denn Zürich verfügt mit der ‹Heureka› bereits über eine Skulptur Tinguelys im öffentlichen Raum, auch ist der Künstler häufig dort zu Ausstellungen und im privaten Kreis. Und wenn ihn viele Freundschaften noch immer an Basel binden, so wird er in seiner Heimatstadt bisher doch kaum gezeigt. Weder in den städtischen Kunstsammlungen noch im öffentlichen Raum sind Werke von ihm vorhanden. Tinguely reagiert also positiv auf Gutzwillers Kaufanfrage. Schnell ist abgemacht, dass der Verkehrsverein ‹Hannibal II› bekommt, doch sehr zum Entsetzen der gutwilligen Erwerber rückt Tinguely nicht von seinen Marktpreisen ab und verlangt 75 000 Franken.

Und so kommt es, dass dem schwarzen Monstrum in der Schalterhalle an der Schifflände bereits Basler und Touristen ihre Aufwartung machen, während Gutzwiller noch oder besser gesagt wieder auf Geldsuche ist. Der Gessler-Hut nun also als Willkommensgruss der Touristen-Information? – Jedenfalls gestaltet der Basler Grafiker Herbert Leupin ein Plakat ganz im Stile Tinguelys, und Gutzwiller richtet ein Spendenkonto ein, für das er sogar im Schweizer Fernsehen wirbt, um das gekaufte Werk auch bezahlen zu können.2

Doch nach den Anstrengungen für das Picasso-Wunder ist die Geberlaune in Basel gering, und die Summe kommt innerhalb der geplanten drei Monate nicht zusammen. Am Ende bedarf es der Hilfe des Basler Pharmaunternehmens F.Hoffmann-La Roche AG, das zusammen mit Kollegialfirmen 60 000 Franken beisteuert. Dass es ausgerechnet die Firma La Roche ist, die das fehlende Geld einschiesst, ist kein Zufall. Denn dank der Vermittlung Luginbühls ist Tinguely seit einer Weile mit der Basler Bildhauerin und Mäzenin Maja Sacher bekannt, wenn nicht befreundet. Auch für sein Kunstschaffen ist die Freundschaft zu Maja Sacher von grosser Bedeutung. Tinguely fasst dies selbst in würdigende Worte: «Ununterbrochen fühlte ich mich von Maja gestützt–ich wurde durch Sie ‹wichtig›, sie war da, sie brauchte mich–ich war nötig, endlich wieder einmal.»3 Und die unzähligen erhaltenen Briefzeichnungen, die Jeannot an Maja Sacher schickte, sind ein anschaulicher ästhetischer Ausdruck dieser künstlerisch bedeutsamen Beziehung. Nun zieht es Tinguely auch wieder zurück in die Schweiz: An Weihnachten 1968 erwirbt er von François Napoléon Vonlanthen den alten Landgasthof ‹Aigle Noir› in Neyruz im Kanton Fribourg und beginnt Anfang des kommenden Jahres mit dessen Umbau. Vermittelt hat ihm das Anwesen der Üechtländer Freund Jo Siffert. Und es sollte ihm lange Jahre, wenn nicht Heim, so doch ein verlässlicher Rückzugsort sein.

Das einäugige Monster mitten im Wald von Milly-la-Forêt ist eine Mischung aus Bauwerk und Skulptur. 1970 begonnen, zieht sich das Gemeinschaftsprojekt über Jahrzehnte hin; erst nach Tinguelys Tod wird es fertiggestellt und als Museum zugänglich.

LE CYCLOP

1970–1994

Ein bewohnbares Monster im Wald

Plötzlich taucht er auf, dieser Kopf im Wald von Milly-la-Forêt: mystisch, geheimnisvoll und auch ein wenig beängstigend. Auf den abertausend Spiegeln, die sein Gesicht wie ein römisches Mosaik bedecken, reflektiert er seine Umgebung, die Bäume, das Licht, den Himmel, die Wolken und auch die Menschen, die sich ihm nähern. Es scheint, als sei er durch die Spiegelungen permanent in Bewegung, als wechsle er seine Gesichtsfarbe, während sein einziges, goldenes Auge die Ankommenden beobachtet. Dieser Zyklop ist ein Wächter an der Schwelle zu einer anderen Dimension, und die Besucherinnen und Besucher können mit ihm darin eintauchen. Seine Zunge reicht aus etwa sechs Metern Höhe hinunter auf den Boden bis in ein Wasserbecken. Tatsächlich war sie einst als Rutschbahn gedacht – gleich jener, die aus dem Mund des ‹Golem› kommt, jener monumentalen Spielplatzplastik aus massivem Beton, die de Saint Phalle und Tinguely 1972 in Jerusalem schufen und die sogar bombensicher sein soll. Heute ist die Zunge des Zyklopen aus Sicherheitsgründen und anderen musealen Bedenken ‹ausser Betrieb›. Blickt man dem Einäugigen ins Gesicht, so wirken die geschwungenen Züge weich, wenn auch ein wenig unförmig. Der geöffnete

Jean Tinguely, Werkzeichnung für ‹Le Cyclop›, ca. 1969/1970, Filzstift und Kugelschreiber auf Papier, 50 × 65 cm, Museum Tinguely, Basel.

Mund mit den zwei spitzen Zähnen fällt auf, die grosse, knollige Nase und das Horn auf dem Kopf. Dieses Antlitz ist eine fantastische Maske, deren glitzerndes Lichterspiel in starkem Kontrast steht zu der daneben, darüber und dahinter hervorragenden Maschinenkonstruktion. Wieder also der Gegensatz zwischen Jeannots harter, technischer Gestaltung und den runden, körperlichen Formen Nikis, mit dem das Paar schon in ‹Le Paradis fantastique› künstlerisch spielte; doch diesmal sind die beiden Aspekte symbiotisch vereint. Man merkt dem Miteinander von Maschine und Maske die Zusammenarbeit an, den gemeinsamen Schaffensprozess, an dem hier noch weit mehr Künstler und Künstlerinnen aus ganz unterschiedlichen Kontinenten und Generationen beteiligt sind. Verschiedene Stile, Klänge, Kunstrichtungen und -formen sind spielerisch vereint. Die einzelnen Elemente und Arbeiten, die in diesem Riesenkopf gewachsen sind, haben ihre Namen, zuweilen beziehen sie sich wiederum auf andere Künstler und Werke. Allen voran die ‹Hommage à Yves Klein›, mit der Tinguely an seinen 1962 verstorbenen Freund erinnert, der sich stets mit der Entmaterialisierung der Kunst, dem Vergänglichen und dem Nichts auseinandergesetzt hat. Für ihn baut Tinguely auf dem Dach der Anlage, auf über zwanzig Metern Höhe, ein grosses quadratisches Bassin, in dem sich das Regenwasser sammelt, um in der Wasseroberfläche die Unendlichkeit des Him-

mels zu spiegeln. Will man zu dieser Dachkonstruktion gelangen, führt der Weg durch den Seiteneingang, vorbei an dem Betonfundament, Césars ‹Compressions›, der ‹Broyeuse de chocolat› (Schokoladenmühle), einer Hommage an Marcel Duchamp, und einer massiven Backsteinstrebe, sodann durch und über Bernhard Luginbühls ‹Drei Türen: eine runde Tür, eine Zugbrücke, eine falsche Tür (als Hommage an Louise Nevelson)› und die Treppe hinauf zur ersten Ebene. Von dort aus hat man einen Ausblick durch den Mund hinaus in den Wald sowie auf ein ‹Tableau électrique› (Schalttafel) von Nikis Assistenten Rico Weber. Auf einer Zwischenebene steht Luginbühls ‹Tellflipper›, ein Flipperkasten, den zu bedienen Bärenkräfte vonnöten sind. Auf der zweiten Ebene befindet sich Tinguelys

Tonmaschine ‹Méta-Harmonie›, de Saint Phalles ‹Colonne› und ihr goldener Totenschädel ‹Incitation au suicide› (Aufforderung zum Selbstmord), Armans ‹Accumulation de gants› (Ansammlung von Handschuhen) und Jesús Rafael Sotos Klangstäbe ‹Pénétrable sonore›. Wiederum einen Stock höher sind Arbeiten Daniel Spoerris installiert: ‹La Chambre de Spoerri›, die exakte Nachstellung eines früher von ihm bewohnten Pariser Hotelzimmers, das jedoch um neunzig Grad gedreht ist, sowie eines seiner berühmten ‹Tableaux Pièges› (Fallenbilder). Zudem gibt es dort oben ein Theater und eine späte Arbeit des amerikanischen Künstlers Larry Rivers mit dem Titel ‹Hommage à Mai 68›. All diese Werke sind zu ganz unterschiedlichen Zeiten entstanden. Ganz oben im Kopf befindet sich Tinguelys kleine Wohnung mit einer dazugehörigen Küche. Und an der Aussenseite der Skulptur sind verschiedene Konstruktionen und weitere Kunstwerke angebracht. Auf der einen Seite Luginbühls tonnenschweres ‹Oreille›, das sich motorbetrieben nach vorne und hinten bewegen lässt, mit seiner links in den Wald ragenden Stützkonstruktion ‹Structure Tour-Eiffel›. Und auf der anderen Seite, als Gegenpol zu dieser Luginbühl’schen Eiffelturm-Konstruktion, der ‹Tour éphémère› Tinguelys. Das sicher auffälligste Kunstwerk der Aussenseite ist die Arbeit von Tinguelys Ex-Frau Eva Aeppli: eine ‹Hommage aux déportés›. Ein alter Eisenbahnwaggon der 1930er-Jahre, der in luftiger Höhe schräg auf den Schienen steht, erinnert an die Deportationen der Nationalsozialisten, für die solche Züge benutzt wurden. Im Inneren befinden sich mehrere von Aepplis lebensgrossen Stoffpuppen, die man in all ihrem leblosen Leid erst wahrnimmt, wenn man durch ein kleines Fenster in der Wagentür blickt. Rund um dieses ‹Monstre dans la forêt›, wie der Kopf oder Zyklop auch genannt wird, verläuft eine Kugelbahn, durch deren verschlungenen Kanal Metallkugeln nach unten sausen, die dann mit einem Lift wieder hochtransportiert werden. Doch auch dies ist nur ein weiteres von noch unzähligen Details dieses eigensinnigen und ver-

sponnenen Waldkunstwerks, dem kaum eine Beschreibung gerecht werden kann. Denn nicht nur hat sich die Fertigstellung über Jahrzehnte hingezogen, auch die Pläne zu einem solchen, alle Dimensionen sprengenden Projekt reichen weit zurück.

Pläne für ein ‹Gigantoleum›

Ein wichtiger Aspekt des Zyklopen ist die jahrmarktsähnliche Ausgestaltung mit verschiedenen Stationen und Elementen, die hohen Unterhaltungswert haben. Hinzu kommt, dass sich das selbstfinanzierte und in Eigenregie durchgeführte Projekt den Mechanismen des Kunstmarkts widersetzen soll und zugleich verschiedene Kunstsparten verbinden. Schon früher hat Tinguely Versuche gemacht, Projekte in dieser Richtung zu konzipieren. Ein erster Entwurf für die Fusion von Skulptur und Architektur ist das – schon vom Namen her an die volkstümlichen Vergnügungen der Lunaparks gemahnende – ‹Lunatour – Labyrinthe dynamique›. Zu diesem Projekt sind vor allem Entwurfszeichnungen erhalten, fünf grossformatige Blätter,1 die die Kunsthistorikerin Annja Müller-Alsbach ausführlich kommentiert: «Diese mehrteilige Arbeit ist 1964 in Kollaboration mit dem französischen Architekten Claude Parent entstanden. Jean Tinguely konnte den Architekten für seine Idee eines Lunapark-ähnlichen Turms begeistern. […] Anlass für Tinguelys Idee war der damals anstehende Abbruch des Lunaparks in Neuilly […]. Sein ‹Lunatour›, der mit den geplanten 110 Metern Höhe gewaltige Ausmasse besass, sollte diesen Vergnügungspark ersetzen. Tinguely wollte ihn in Alleinregie unterhalten und betreiben. Parent erinnert sich, dass Tinguely in seinem Büro Ideenskizzen des Turms anfertigte, die er dann als ausgebildeter Architekt in einen konstruktiv genauen, architektonischen Plan umsetzte.»2 Auch wenn ‹Lunatour› zu wenig Unterstützung und Gönner fand, um verwirklicht zu werden, bezeugt dieser utopische Vorschlag Tinguelys Bemühen, Kunst, Architektur und Vergnügen zu verschmelzen.

Einen ähnlichen Plan verfolgt Tinguely nochmals 1968 zusammen mit Bernhard Luginbühl. Das Gemeinschaftsprojekt der zwei eng befreundeten Künstler läuft unter der Bezeichnung ‹Gigantoleum –Kulturstation› und ist als Attraktion für die Stadt Bern geplant. Zwar wird es nie realisiert, doch die erhaltenen Skizzen und Modelle weisen es als direkten Vorläufer von ‹Le Cyclop› aus. Pontus Hultén mag recht haben, wenn er meint, die Schweiz sei Ende der 1960er-Jahre noch nicht reif gewesen für ein solch gewagtes Projekt. In meinen Augen ist es eine Kombination bisheriger Arbeiten wie ‹Heureka›, ‹Dylaby› und ‹HON›; ja die verschiedenen künstlerischen Ansätze, die dem Signalturm, dem Labyrinth und der ‹Kathedrale› zugrunde liegen, kulminieren in dem ‹Gigantoleum›, das zugleich monumental, dynamisch und vielseitig ist. Das ‹Gigan-

toleum›, eine Maschinerie aus widerstandsfähigem Material mit verschiedenen Zu- und Abgängen, ist, so Hultén, «der Versuch, traditionelle, populäre Vergnügen wie den Circus oder den Jahrmarkt mit der modernen Welt des technologischen Fortschritts und der Industrie zu kombinieren. Es sollte ein Monument werden, das sich selber nicht allzu ernst nimmt, eine gigantische Skulptur in menschlichem Massstab. Die Struktur sollte durch ihre Grösse beeindrucken, wobei sich der Besucher bei seinem Besuch immer wohl fühlen sollte.» 3 Aus ‹Gigantoleum›, der Kulturstation, die in der Stadt Bern nicht zu verwirklichen war, ist mit gewissen Wandlungen ‹Le Cyclop›, das Monster im Wald, geworden.

Eine Zeichnung aus dem Besitz des Museum Tinguely4 verdeutlicht den fliessenden Übergang vom ‹Gigantoleum› hin zu ‹Le Cyclop›. Sie zeigt die Konstruktion des ‹Gigantoleums›, gut zu erkennen an dem zentralen Turm und dem ebenfalls geplanten Riesenrad, und ihr eingeschrieben die Profilansicht eines Gesichts. Diese aus dem Jahr 1968 datierende Zeichnung nimmt, so auch Annja Müller-Alsbach in ihrem bereits zitierten Aufsatz, als «formale Vebindung zu Le Cyclop – La Tête» eine Schlüsselstellung ein. «Ein Jahr später», so die Expertin für Tinguelys grafisches Werk, «realisiert Tinguely einige erste Ideenskizzen, bei denen die äussere Erscheinung seiner Kulturstation durchgängig durch das Motiv eines Kopfes bestimmt wird und die er mit den Titeln La Tête, beziehungsweise Der Kopf versieht.»5 Das Projekt nimmt also zuerst in Form von Zeichnungen Gestalt an; dieses Medium erlaubt es Tinguely, Ideen relativ spontan festzuhalten und in der skizzenhaften visuellen Umsetzung weiterzuentwickeln. Zuweilen legt er solche Zeichnungen, die ihm zentral oder gelungen erscheinen, auch als Grafikblatt auf; sicher auch eine Einnahmequelle für die teuren und schwer zu finanzierenden Grossprojekte. Auf einer 1969 entstandenen Grafik mit dem Titel ‹Vive le Monstre›6 ist bereits eine namentliche Auswahl der am Projekt beteiligten oder dafür anzufragenden Künstler vermerkt; auch die Form des Kopfes, die Grössenverhältnisse und sogar die notwendigen Baugerüste sind hier fixiert. Was fehlt ist jedoch das geeignete Grundstück respektive Besitzverhältnisse, die einen solch extravaganten Bau gestatten. Wie es mit dem von Tinguely auserkorenen Grundstück im Wald von Milly-la-Forêt, nahe Fontainebleau, zugegangen ist, ist bis heute nicht ganz klar. Eine Version ist, dass Tinguely das Land selbst kauft, um es dann dem befreundeten Ehepaar Jean und Dominique de Menil zu schenken. Das klingt zunächst unwahrscheinlich, mag aber aus pragmatischen und rechtlichen Gründen sein, denn in diesem Fall konnte Tinguely bei Klagen von Anwohnern oder Behörden stets darauf verweisen, dass das Land gar nicht ihm gehöre, er nur Gast und mithin nicht zuständig sei.

Plausibler klingt die Darstellung der Besitzverhältnisse, wie sie

01 Die Bauarbeiten an dem Kopf, an dem zahlreiche Künstlerinnen und Künstler beteiligt sind, werden jeweils in den wärmeren Monaten des Jahres vorangetrieben, und das nur, wenn Tinguely nicht von anderen Projekten absorbiert ist. Viele der Arbeiten oder Teile von ‹Le Cyclop› sind derart schwer und ausladend, dass sie nur unter grossem Aufwand zu installieren sind, so etwa dieser Zugwaggon für Eva Aepplis lebensgrosse Stoffpuppen, der um 1976 mithilfe eines Krans auf die gewünschte Ebene gehievt wird.

02 Bernhard Luginbühl ist nicht nur bei der Entstehung von ‹Le Cyclop› tatkräftiger Helfer und guter Freund Tinguelys.

03 Auf den schweren Stahlträgern sitzen die engsten Mitarbeiter: Niki de Saint Phalle, Bernhard Luginbühl und Seppi Imhof (v.l.n.r.); Tinguely trägt seinen blauen Overall und bereits einen Schnurrbart. Das Foto von Leonardo Bezzola datiert aus den Anfangszeiten des Baus.

JEAN TINGUELY / CLAUDE PARENT ENTWÜRFE FÜR ‹LUNATOUR – LABYRINTHE DYNAMIQUE›

1964, Bleistift, Farbstift, Filzstift, Gouache, Kreide, Stempel, Tinte und Collage auf Papier (fünfteilig), montiert auf Karton (Zeichenmappe), 65 × 50 cm, Museum Tinguely, Basel

JEAN TINGUELY, ‹LE CYCLOP› 1976, Serigrafie, 39 × 28.5 cm, Museum Tinguely, Basel

Pontus Hultén schildert,7 dass nämlich – ganz im Gegenteil – die de Menils Tinguely das Land schenken, woraufhin er endlich mit dem Bau beginnen kann.

Das abgelegene Grundstück mitten im Wald ist dann für mehr als zwanzig Jahre nicht nur Baustelle, sondern auch Wohnstätte, Treffpunkt, Drehort für Filmteams und vieles mehr. Neben Bernhard Luginbühl und Niki de Saint Phalle helfen immer wieder auch andere Künstler, Freunde und natürlich auch Bauarbeiter mit. Tinguely ist weit mehr als der verantwortliche Künstler, er füllt eine Vielzahl von Rollen aus, ist zugleich Organisator, Polier, Schlosser, Chauffeur, Lieferant, Schauspieler. Vor allem aber versteht er sich als Baumeister, durchaus in der Tradition mittelalterlicher Bauhütten. Trotz des relativen Rummels sollen nur Eingeweihte und Mitarbeiter Zutritt haben zum Bauplatz dieser ‹Kathedrale› (Tinguely bezeichnet den Kopf tatsächlich so, wie ja bereits auch ‹HON›). Denn man ist sich bewusst, dass dieses Kunstwerk nur langsam, den vorhandenen Mitteln und Witterungsbedingungen entsprechend entstehen kann. Der Bau entsteht also – trotz seiner auffälligen Ausmasse –von Anfang an unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Auch wenn Tinguely gewohnt ist, spontan, aus dem Kopf heraus zu arbeiten und, wenn überhaupt, nur behelfsmässige Zeichnungen oder Modelle anzufertigen ohne Massangaben oder detaillierte Abläufe, wird schnell klar, dass er für die Ausführung seines Bauvorhabens auf professionelle Mitarbeiter angewiesen ist. Ohne die Hilfe eines gelernten Schlossers, dessen ist sich Tinguely bewusst, ist dieses Projekt unter keinen Umständen zu bewerkstelligen.

Ein Assistent auf lange Zeit

Im Juli 1970 gibt Jean Tinguely im ‹Berner Tagblatt› ein Stelleninserat auf: Gesucht wird ein fähiger «Bauschlosser oder Schlosser (Deutschschweizer) vielseitig und schwindelfrei, Autofahrer (Jasskenntnisse erwünscht), f. d. Konstruktion einer Riesenplastik in der Nähe von Paris für die Dauer von ca. 6 Monaten.»8 Auf die Anzeige hin meldet sich auch Josef (Seppi) Imhof, der bei den Eisenwerken von Roll in Gerlafingen tätig ist. Er wird zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, und er erinnert sich später noch genau an diese erste Begegnung mit Jean Tinguely: «Er teilte mir mit, dass ich mich zur vereinbarten Zeit an der Theke im Bahnhofbuffet in Fribourg melden sollte. Er erzählte mir von dem Projekt in Milly-la-Forêt, an dem ich als ausgebildeter Schlosser mitarbeiten sollte. Es sei eine Art Kulturstation, die wegen der Baubehörden in der Schweiz ein Ding der Unmöglichkeit sei, und die er deshalb in Frankreich machen wolle. Die Vertragsbedingungen und den Rest haben wir dann in fünf Minuten besprochen.»9 Zufrieden mit dem Gesprächsverlauf und überzeugt von Imhofs Fähigkeiten, will Tinguely ihn als Assis-

Seppi Imhof (l.) arbeitet ab 1970 als Assistent für Jean Tinguely. Vera Isler hat die beiden hier 1984 bei der Arbeit in Neyruz festgehalten, wo ein alter, umgebauter Gasthof Tinguely sowohl als Wohnhaus wie auch als Atelier diente.

tenten engagieren, doch verzögert sich der geplante Baubeginn, und so schreibt er ihm am 22. Juli mit einer gewissen Nonchalance: «Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass das ganze Projekt auf nächstes Jahr verschoben ist (aufgehoben ist es nicht), und ich bitte Sie nun mir auf nächstes Jahr Ihre Bereitschaft mitzumachen aufzubewahren.»10 Erst ein Dreivierteljahr später, im März 1971, schickt Tinguely seinem neuen Assistenten Seppi Imhof eine offizielle, wenn auch handschriftlich verfasste Anstellungsbestätigung: «Ich bestätige Ihnen hiermit, dass Sie ab erstem Mai 1971 (von mir bezahlt) bei mir arbeiten werden. Lohn 1200 Franken, Logis & Speise & Reisespesen zu meinen Lasten, Kündigungsfrist 2 Wochen.»11 Von da an ist der gelernte Schlosser Tinguelys Assistent. Mit seiner ruhigen, professionellen Art sorgt Seppi Imhof dafür, dass auch die verrücktesten Ideen Tinguelys umgesetzt werden können und dauerhaft halten. Und das noch weit über den Tod Tinguelys hinaus. Denn als

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