Political Interventions

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Edition Digital Culture Migros-Kulturprozent Christoph Merian Verlag

Political Interventions


Political Interventions Edition Digital Culture 1

Dominik Landwehr (Hg. / Ed.) Migros-Kulturprozent Christoph Merian Verlag



Inhalt

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Vorwort Dominik Landwehr

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199 221 233 242

Revolutions-Werkzeuge Dominik Landwehr Zugang zur Welt Boris Magrini Kunstrecht und Technopolitik Stefan Heidenreich Subversion als Strategie heute? Dieter Daniels Taktiken der Aneignung Anke Hoffmann Technologie als politische Intervention Mercedes Bunz Images 1: Christoph Wachter & Mathias Jud Images 2: Context Glossar Audio & Video Bildnachweis & Impressum



Contents

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Preface Dominik Landwehr

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152

162

176

186

87

199 221 233 242

Tools for the Revolution Dominik Landwehr Beyond Mere Tools Boris Magrini Technopolitics and Art Law Stefan Heidenreich Subversion as Strategy Today? Dieter Daniels Tactics of Appropriating Reality Anke Hoffmann Technology as Political Intervention Mercedes Bunz Images 1: Christoph Wachter & Mathias Jud Images 2: Context Glossary Audio & Video Picture Credits & Colophon



Vorwort Als sich das Internet in den 1990er-Jahren etablierte, verbanden sich mit ihm grosse Hoffnungen: Endlich war ein einfaches und billiges Medium gefunden, das allen Gruppen ermöglichte, mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren. Nicht mehr nur grosse Organisationen, Firmen oder Regierungen würden Zugang zu den Massen haben, sondern auch kleine und kleinste Gruppierungen mit politischen, kulturellen oder gesellschaftlichen Anliegen. Das Internet, so hoffte man, könnte die Erwartungen einlösen, die in den Dreis­ sigerjahren des 20. Jahrhunderts auf das Radio gesetzt worden waren. Das Radio, so hatte Bertolt Brecht damals gefordert, müsse von einem Distributions- zu einem Kommunikationsapparat werden. Gut zwanzig Jahre nach der Erfindung des World Wide Web präsentiert sich folgende Situation: Das Internet hat sich in der westlichen Welt sehr schnell zu einem der wichtigsten Medien entwickelt, auch in Schwellen- und Entwicklungsländern ist es auf dem Vormarsch. Staaten und grosse Organisationen sind aber in der Lage, die Informationen zu lenken und Unliebsames herauszufiltern. Und so stellt sich die Frage, ob die Vorstellung vom ‹freien› Internet und von der grenzenlosen Kommunikation immer noch eine Utopie ist. Seit den ersten Anfängen haben sich Künstler mit dem Potenzial dieses neuen Kommunikationsmittels befasst. Das gilt auch für die beiden Schweizer 7


Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud. Mit ihren Projekten loten sie die Möglichkeiten der digitalen Medien aus: deren Grenzen sowie die Mittel, um sie zu überwinden. Ihre Arbeit ist mehrdimensional, denn sie untersuchen neben den technischen Mitteln und gesellschaftlichen Realitäten auch unsere Wahrnehmung davon. Damit ist ihre Kunst im doppelten Sinn politisch: einerseits durch die Wirksamkeit ihrer Projekte, andererseits aber auch durch die Thematisierung der Wahrnehmung an sich. Der vorliegende Band ‹Political Interventions› widmet sich der Frage, ob und wie im digitalen Zeitalter Kunst Einfluss auf die Politik nehmen kann und untersucht diese Fragen am Werk der beiden Schweizer Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud. Ihre Arbeiten können in dieser Hinsicht als exemplarisch angesehen werden – das heisst, viele Aussagen gelten auch für andere Projekte im Kontext digitaler Kunst. Die Künstler thematisieren Formen der politischen Intervention und konzentrieren sich dabei auf die Gegenwart. Eine Frage, die sie immer wieder stellen, ist jene nach der Einzigartigkeit von politischen Interventionen mit medialen Mitteln. Vor dem Hintergrund, dass alle neuen medialen Strategien innerhalb kurzer Zeit von Marketing und Werbung aufgegriffen werden – wie die Erfahrung der letzten Jahre zeigt –, ist das von besonderer Relevanz. In Vorbereitung sind weitere Publikationen in dieser Reihe. Die nächsten Bände sollen künstlerische Projekte im Kontext von aktuellen Themen der digitalen Gesellschaft darstellen und diskutieren. 8


Die Reihe ‹Digital Culture› ist Teil eines Förderprojektes des Migros-Kulturprozent. Das MigrosKulturprozent ist der grösste private Kulturförderer der Schweiz und beschäftigt sich seit 1998 mit den Perspektiven von Kunst und Kultur im digitalen Zeitalter. Seit 2007 existiert zudem das Projekt ‹Werkbeiträge Digitale Kultur›, von dem bisher rund fünfzehn Schweizer Künstler und Künstlergruppen profitieren konnten, darunter auch Christoph Wachter und Mathias Jud. Die Buchreihe ‹Digital Culture› richtet sich an alle, die sich mit den Möglichkeiten der digitalen Medien befassen und eine offene und kritische Auseinandersetzung mit ihnen suchen. Sie möchte einen Einstieg in die komplexen Fragen und Zusammenhänge von Politik, Technologie und Ästhetik am Anfang des 21. Jahrhunderts bieten und gesellschaftlich relevante Projekte vorstellen. Dominik Landwehr, Zürich, März 2014

Dominik Landwehr (*1958) ist Leiter des Bereichs Pop und Neue Medien in der Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund. Er ist verantwortlich für Projekte wie die Internetplattform www.digitalbrainstorming.ch oder den Jugendwettbewerb   bugnplay.ch. Landwehr ist promovierter Kultur- und Medienwis­ senschaftler und publiziert regel­

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mäs­­sig in verschiedenen Medien. Zuletzt erschien von ihm ‹Home Made Bio Electronic Arts. Do-ityourself: Mikroskope, Sensoren, Klangexperimente› (gemeinsam mit Verena Kuni, Basel 2013). Kleine und grössere Beobachtungen zum Thema hält er in den zwei Blogs www.digitalbrainstorming.ch und www.sternenjaeger.ch fest.


Revolutions


Werkzeuge

Dominik Landwehr

An diesem Freitagnachmittag, dem 7. Dezember 2012, regnete es in Strömen an der Metrostation im Pariser Vorort Montreuil. Und vielleicht waren gerade Kälte und Nässe die richtige Begleitmusik für einen Besuch im nahe gelegenen ‹HOTEL GELEM›. Das Projekt der Schweizer Künstler Christoph Wachter und Mathias Jud ist auf keiner Karte zu finden und wurde wohl gerade deshalb an diesem Tag mit einem Preis des Europarates geehrt, nicht mit einem Geldpreis, sondern mit einer symbolischen Ehrung, dem ‹Council 11


of Europe Cultural Event Label›. Damit zeichnet der Europarat jedes Jahr herausragende und innovative Kunstprojekte aus, welche die Werte des Europarates in einem hohen Mass verkörpern. Das ‹HOTEL GELEM› befindet sich in einer Roma-Siedlung in einem Aussenquartier von Paris. Diese liegt versteckt hinter einer Bretterwand auf einem Hügel. Hier wohnt ein Roma-Clan mit einer Handvoll Familien unter primitivsten Bedingungen. Die Roma stammen aus Arad in Rumänien und man kann nur ahnen, was sie veranlasst hat, hierher zu ziehen. Das Elend zuhause ist wohl schlicht noch grösser. Oder noch konkreter: Die Abfallcontainer vor den Supermärkten in Paris sind besser gefüllt als jene im rumänischen Arad. Kein Passant würde hier eine Roma-Siedlung vermuten. ‹HOTEL GELEM› ist eine Art TourismusProjekt. Es ermöglicht dem Besucher einige Tage in einer Roma-Gemeinschaft zu verbringen. Die Künstler haben das Projekt gemeinsam mit den Roma entwickelt. Besucher können sich auf der Website des Projekts bewerben. Wer hier lebt, so die Künstler, isst auch mit den anderen, ist Teil der Gemeinschaft. Das Leben mit den Familien ist kein Urlaub mit Wettergarantie, sondern aktive Teilhabe. So kehrt sich die Situation um: Nicht mehr die Roma sind Gäste bei uns, sondern wir, die Besucher, sind Gäste bei den Roma. Zahlreiche Besucher und Besucherinnen haben seit Herbst 2011 das ‹HOTEL GELEM› in Montreuil besucht. Es gibt keine festgeschriebenen Preise, keine Buchungen. Auf der Website können sich die Interes12


sierten für eine Einladung bewerben. Werden sie eingeladen, wohnen, essen, arbeiten und leben die Gäste einige Tage mit den Familien. Die beiden Schweizer Künstler haben mit Roma-Gruppen in ganz Europa zusammengearbeitet: in Berlin, in Freiburg im Breisgau, in Mitrovica im Kosovo und in Shutka in Mazedonien. Auch hier laden Roma-Familien Menschen ein, einige Tage mit ihnen zu verbringen. Der Besuch in Paris fand allerdings unter anderen Bedingungen statt: Anlass war die Überreichung der Auszeichnung ‹Council of Europe Cultural Event Label›. Irene Weidmann, beim Europarat verantwortlich für Kunstausstellungen und kulturelle Ereignisse, zelebrierte die Übergabe in einer kleinen Feier vor einer Handvoll Gästen. Sie sprach von Anerkennung der Roma, auch sie sind ein Teil von Europa, sagte sie. Was die Besucher aber nicht wussten: Die Europarat-Ehrung im Bidonville von Montreuil hatte in französischen Regierungskreisen erhebliche Irrita­ tionen ausgelöst. Diese waren so gross, dass sich der französische Innenminister kurzfristig entschieden hatte, demonstrativ selber eine Container-Siedlung in Montreuil zu besuchen. Hierher waren Roma ge­bracht worden, die in Paris unerwünscht sind. Es handelte sich um eine Zwangsumsiedlung. Die Familien sollten hier wohnen bleiben und Miete bezahlen. Ihre Siedlung, die vergleichbar ist mit der, die wir besuchten, wurde geräumt. Das Projekt ‹HOTEL GELEM› zeigt exemplarisch die grossen Themen von Christoph Wachter und Mathias Jud: Struktur und Formatierung von sozialen Gegebenheiten und Prozessen. Dazu gehört auch die 13


Frage von Einschluss und Ausschluss. Die Roma zum Beispiel sind für Christoph Wachter und Mathias Jud die, die von der Gesellschaft aktiv ausgeschlossen werden. Immer wieder geht es in ihren Werken um genau diese Frage. Im Projekt ‹HOTEL GELEM› kehren die Künstler die Situation um: Nicht die Roma sind die Reisenden, sondern der Gast, der als Besucher ins ‹HOTEL GELEM› kommt. Die Projekte von Christoph Wachter und Mathias Jud haben immer verschiedene Ebenen: die aktuelle politische Situation, eine Aktion und schliesslich die Reflexion darüber. Das ist nicht immer einfach zu verstehen und zu vermitteln. Denn am Anfang ihrer Tätigkeit steht eine philosophische Dimension, die für sie immer auch eine politische ist. Politische Intervention und Reflexion erscheinen als gleichberechtigte Ziele nebeneinander. — www.hotel-gelem.net Bilder aus der Sperrzone Die Arbeiten von Christoph Wachter und Mathias Jud orientieren sich an grundlegenden Fragen wie etwa der nach der Wahrnehmung. In der Kunsttheorie gehört sie in die Domäne der Ästhetik. Das war bereits in ihrer ersten gemeinsamen Arbeit ‹Zone* Interdite› der Fall. Und auch hier spielen die Prozesse des Ausschlusses und des Einschlusses eine zentrale Rolle. Der Anklang an den französischen Philosophen Michel Foucault ist durchaus gewollt. Das Projekt ‹Zone*Interdite› geht zurück auf Studien im Jahr 1998 und begann ganz konkret im Jahr 2000. Es dauerte allerdings bis 2006, bis es bekannt wurde. Am Anfang war ‹Zone*Interdite› eine 14


Sammlung von öffentlich zugänglichen Bildern von militärischen Sperrzonen. ‹Zone*Interdite› befasst sich, so erklären die Künstler, mit einem Widerspruch: Auf der einen Seite ist es überall auf der Welt verboten, Bilder von militärischen Sperrgebieten zu machen. Auf der anderen Seite verbreiten die Medien genau solche Bilder, die von den Regierungen zur Verfügung gestellt werden. Die Bilder sind überall anzutreffen, etwa zur Rekrutierung oder auch zur Propaganda. Schon bald geriet das Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba in den Fokus der Bildersammlung von ‹Zone*Interdite›. Dorthin bringt die USA seit 2002 Terrorverdächtige. Für die US-Behörden untersteht das Camp nicht amerikanischer Jurisdiktion und stellt de facto einen rechtsfreien Raum dar. Geständnisse wurden in vielen Fällen mit Folter erzwungen. Die ersten Bilder von Guantanamo haben Christoph Wachter und Mathias Jud aus Publikationen ausgeschnitten und in ihre Sammlung integriert. Sehr bald gingen sie dann dazu über, das Internet zu benutzen. Im Lauf der Zeit entstand eine eigentliche Community, die Bilder von militärischen Anlagen auf der ganzen Welt gesammelt und auf einer Karte eingetragen hat. Die Website www.zone-interdite.net dokumentiert heute Bilder aus Dutzenden von Ländern. Allein aus der Schweiz sind über hundert Anlagen vermerkt. Unter dem Stichwort V etwa ein Komman­ dobunker bei Valbella im Kanton Graubünden, der vor allem während des World Economic Forum intensiv benutzt wurde. Ein Blick in die Datenbank macht sofort klar: Da sind keine Spione am Werk, alle Bil15


der stammen aus öffentlich zugänglichen Quellen, vielfach aus Zeitungen, Zeitschriften und dem Internet. Die Künstler verstehen ihre Arbeit in Anlehnung an die Landschaftsmalerei. Landschaft, so erklären sie, ist ein romantischer Begriff und war in der Kunstgeschichte der überwältigenden oder idealisierten Natur gewidmet. Andererseits ist die Raumdarstellung mit der Perspektive verknüpft. Der Blick in die Tiefe des Raumes ist eines der Instrumente zur Entdeckung und Eroberung von Welten. Diese Vorstellung nimmt vorweg, dass die Welt kein gleichförmiger, offener Raum ist, sondern bereits in der bildlichen Darstellung durchmessen, eingenommen und aufgeteilt wird. In der Öffentlichkeit gab es keine genauen Bilder zum Lager von Guantanamo, so erzählen die Künstler: keine Pläne und auch keine Satellitenbilder. «Aber es gab Propagandamaterial, Dokumentationen, Bilder von der Baustelle für die neue Anlage. Aufgrund der Fundamente konnten wir sehen, wie die Häuser aussehen würden, wir konnten die Grös­ senverhältnisse und Struktur der Anlage rekonstruieren. Das verglichen wir mit Bildern von fertig gebauten Häusern und so erhielten wir mit der Zeit ein komplettes Bild.» So konnten die beiden auch nachweisen, dass es auf Guantanamo ein Speziallager für Minderjährige gab. Die Arbeit ging um die Welt und wurde im portugiesischen Frühstücksfernsehen eben­ ­so gezeigt wie im brasilianischen, arabischen und russischen Fernsehen. Anhand eines interaktiven dreidimensionalen Modells rekonstruierten die Künstler die Zusammenhänge. In diesem kann man sich frei bewegen, Gebäude und Räume sowohl von aussen 16


als auch von innen erkunden. Aus ihm liessen sich schliesslich dann auch Pläne der Einrichtung zeichnen. — www.zone-interdite.net Für alle oder nur für einige? Tibeter, Uiguren, Kurden Beim Projekt ‹New Nations› wird das Internet zum Untersuchungsobjekt. Im Zentrum stehen die sogenannten Top-Level-Domains im Internet. Das sind die Endungen wie .com, .ch, .de, .fr. Jedes Land hat seinen eigenen Code und die Möglichkeit, Namen mit dieser Endung zu vergeben, und es bestimmt die Regeln, die für Internetseiten mit dieser Endung zu gelten haben. In der Vergangenheit wurden in den USA etwa .com-Seiten, die für Reisen nach Kuba warben, unterdrückt. Die nationalstaatlichen Domains werden in der Regel von Organisationen des jeweiligen Staats betreut. In der Schweiz ist die Organisation Switch damit betraut. Warum gibt es keine Top-Level-Domain für die Tibeter, die Uiguren oder die Kurden? Diese Frage steht im Fokus von ‹New Nations›. Die Botschaft dahinter: Im Internet werden immer auch Machtverhältnisse sichbar. Christoph Wachter und Mathias Jud zeigen in diesem Projekt, dass es durchaus möglich ist, auch für unterdrückte Ethnien Top-Level-Domains einzurichten. Um diese neuen Top-Level-Domains sehen zu können, muss der Benutzer eine kleine Änderung in seinem Internetbrowser vornehmen, er muss dort nämlich bestimmte Nameserver angeben. Die Änderung lässt sich in wenigen Minuten und ohne Risiken 17


oder Fachkenntnisse vornehmen. Sie ist auf der Website www.new-nations.net genau beschrieben. Es wäre durchaus möglich, die Zuteilung der Top-Level-Domains zu ändern. Das würde lediglich erfordern, dass alle ein alternatives System anwenden. Es geht hier nicht um einen Trick oder einen Kunstgriff: Diese Möglichkeit, so erklären die Künstler im Gespräch, ist im System vorgesehen. Man kann zum Beispiel die Domain .meinneuesland registrieren. Und es gibt Aktivisten, die sich für die Verbreitung dieser Ideen einsetzen. Sie gehören zum Open NIC Project und informieren auf einer eigenen Website über diese Möglichkeiten. Die Betreiber des Open NIC Project haben bei der Entwicklung des Systems mitgemacht. Ihr Ziel ist es, eine demokratische Alternative anzubieten. Sie haben sich intensiv mit den Ideen von Christoph Wachter und Mathias Jud befasst und dann beschlossen, das Projekt ‹New Nations› zu unterstützen. — www.new-nations.net Löcher in die chinesische Firewall Auch das Projekt ‹picidae› nimmt die Frage von Einschluss und Ausschluss auf. Es ist eine Arbeit, die das Internet gleichzeitig zum Objekt und Instrument der Untersuchung macht. ‹picidae› ist der zoologische Fachbegriff für Spechte. Und wie Spechte hacken sich die Künstler ein Loch in eine Mauer, zum Beispiel in den grossen elektronischen Schutzwall, den sogenannten Firewall, den China aufgebaut hat. Denn auch hier gilt, was bereits genannt wurde: Die Organisation des Internets folgt einerseits internationalen Regeln und Standards, andererseits aber auch nationalstaat18


lichen Gesetzen. Grenzenlos freie Information ist auch im Internet-Zeitalter bestenfalls eine Illusion. China ist allerdings nicht allein mit seinem Eingreifen. Jedes Land auf der Erde kontrolliert das Internet und übt damit Zensur aus. Das gilt in einem hohen Mass für autoritäre Staaten wie China und Russland, aber es gilt auch für westliche Staaten wie die USA, Frankreich, Italien, Deutschland und andere. So kontrolliert auch die Schweiz das Internet und sorgt dafür, dass gewisse Seiten gesperrt werden. ‹picidae› geht es um zwei Aspekte: zum einen um Wahrnehmung, die Künstler entlarven die Vorstellung, dass das Internet überall auf der Welt die­ selben Informationen abbildet. Das Gegenteil ist der Fall. Suchmaschinen, allen voran Google, steuern das Angebot. Welche Kriterien jeweils zu einer bestimmten Auswahl führen, bleibt im Dunkeln. Gleichzeitig folgt Google Regierungen, die eine grosse Marktmacht repräsentieren und unterdrückt Inhalte, die dort unerwünscht sind. Das nennt man gemeinhin Zensur und bringt es mit autoritären Staaten in Verbindung. Das stimmt nur zum Teil, sagen Christoph Wachter und Mathias Jud. Auch das Wegfiltern von Kinderpornografie ist ein Akt von Zensur, der in westlichen Staaten üblich ist. Das Werk ‹BLACKLIST› setzt sich mit dieser Art von Zensur auseinander: Mit feinem Bleistiftstrich sind Dutzende von gesperrten Adressen auf eine weis­ ­se Wand geschrieben. Das Auge muss ganz nahe heran und mehrere Zeilen dieser teilweise kryptisch anmutenden Internetadressen lesen. Erst dann wird klar, was hier gemeint ist. Man mag hier einwenden, 19


dass diese Art von Zensur zulässig, ja sogar notwendig sei. Hier zeigt sich sehr deutlich die Komplexität des Werkes der beiden Künstler. Es geht ihnen nicht um moralische Urteile. Sie zeigen Funktionsweisen des Internets auf und befassen sich mit der Formatierung unserer Wahrnehmung. Die Darstellung und Entlarvung von dergleichen Zensur-Mechanismen bedeutet nicht zwangsläufig einen Protest dagegen. ‹picidae› ist gleichzeitig auch eine Software. Sie schaltet die Zensur mit einem Trick aus: Indem sie Text in Bildinformationen umwandelt, kann sie die Filter umgehen, denn diese suchen nach Begriffen. Im Prinzip findet eine Umcodierung statt, welche die Filter überlistet. Christoph Wachter und Mathias Jud sagen dazu: «Unser Projekt räumt auch auf mit der Vorstellung eines freien Internets. Dass unsere Software auch in politischem Kontext verwendet wird, ist in einem gewissen Sinn ein Nebeneffekt. Unsere Wahrnehmung wird von den Informationen, die uns zugänglich sind, gesteuert. Ändern sich die Informationen, dann ändert sich auch unsere Wahrnehmung und damit unsere Weltsicht. Die Frage nach der Wahrnehmung und dem eigenen Standpunkt stammt aus der Kunst, aber die gleiche Frage stellt sich auch in politischen Zusammenhängen.» Damit wird ‹picidae› zu einem Werkzeug, das neben den prinzipiellen Einsichten auch einen konkreten Nutzen bringt: Es hilft, die Zensur zu umgehen. ‹picidae› wird in verschiedenen Ländern der Welt auch in diesem Sinn verwendet. Die Künstler erhalten Mails aus China und Nordkorea, aus arabischen Ländern, aber auch aus Europa. Hier wird es 20


von Leuten benutzt, welche die Einschränkungen an ihrem Arbeitsplatz diskutieren. ‹picidae› sensibilisierte Menschen auf der ganzen Welt, sagen die beiden. Es gibt in jedem Land Einschränkungen und es ist wichtig, diese Einschränkungen zu diskutieren. Gleichzeitig geht es den beiden auch um eine spielerische Erkundung des Mediums und nicht nur um eine Kritik am Regelwerk, das dann zum Beispiel zur Zensur führt. — www.picidae.net Ein Netz von unten statt von oben Das Internet wird auf der ganzen Welt kontrolliert, Zensur findet überall statt, mal in einem geringen, mal in einem höheren Mass. Eine ganz andere Dimension des Eingriffs ist aber das gezielte Abschalten des Internets in einer aktuellen Situation. Auch diese Eingriffe liessen sich in der jüngeren Geschichte immer wieder beobachten. Die aktuelle Arbeit von Christoph Wachter und Mathias Jud beschäftigt sich mit dieser Situation und zeigt einen Weg auf, Kommunikation in solchen Situationen sicherzustellen. ‹qaul.net› heisst das Projekt. Der Begriff, der sich ausspricht wie das englische ‹call› stammt aus dem Arabischen und bedeutet Ausführung, Aussage, Rede, Wort, Spruch. Auch in dieser jüngsten Arbeit von Christoph Wachter und Mathias Jud geht es um das Internet. Zensur im Internet lässt sich umgehen. Was sich aber nicht ausschliessen lässt, ist die Abschaltung des Internets. Das wurde in der Vergangenheit verschiedentlich praktiziert, so etwa in Ägypten oder in Syrien. Naturkatastrophen wie das verheerende Erdbeben von Haiti 21


im Jahr 2011 können die Telekommunikations-Infrastruktur beschädigen oder gar zerstören. Das kann potenziell jederzeit und überall passieren. ‹qaul.net› benutzt die Infrastruktur, die beim Benutzer vorhanden ist: Computer, Laptops, Smartphones und Tablets. Aus diesen Elementen wird ein autonomes Netz gebaut. Das Prinzip ist einfach: Jeder Sender ist gleichzeitig Empfänger und auch Knoten im Netz. Jeder Teilnehmer leitet so auch Inhalte anderer Benutzer weiter. Das tut er selbstverständlich nicht selber, dafür sorgt ein Programm, das im Hintergrund läuft. Christoph Wachter und Mathias Jud haben dieses Programm entwickelt. Die Künstler profitieren dabei auch von den physikalischen Eigenschaften der WLAN-Signale, deren Reichweite viel grösser ist, als gemeinhin angenommen. Werden die Antennen in eine Blechbüchse gesteckt, so wird aus dem Rundstrahler eine Richtantenne, die mehrere Kilometer überbrücken kann. Auf diese Weise haben Christoph Wachter und Mathias Jud eine Verbindung von der Hafenstadt Keelong im südchinesischen Meer zu einer 3,5 Kilometer entfernten unbewohnten Insel herstellen können. Die Kommunikationsgeräte, die wir tagtäglich nutzen, vermögen sehr viel mehr, als ihnen abverlangt wird. Die Projekte der beiden Künstler nutzen diese Potenziale. Das Programm ‹qaul.net› ist eine Open-SourceSoftware. Das bedeutet, dass jeder diese Software gratis herunterladen, benutzen und auch weiterentwickeln darf. Das Open-Source-Prinzip gilt für alle Projekte von Christoph Wachter und Mathias Jud. Auch dieses Projekt wirkt auf mehreren Ebenen, wie 22


die Künstler auf ihrer Website festhalten: «Es erlaubt uns, hinter die Fronten zu blicken und den Bereich der Ausblendungen jenseits der bestehenden Reichweiten und Betrachtungshorizonte zu sondieren.» — www.qaul.net Zurück in Paris Zurück nach Paris. Kälte und Regen haben sich etwas verzogen. Mittlerweile ist es Frühling geworden. Christoph Wachter und Mathias Jud gestalten einen längeren Aufenthalt in der Gaîté Lyrique, einer kulturellen Einrichtung im Zentrum von Paris, die sich auf digitale Kultur spezialisiert hat. So liegt es buchstäblich nahe, die zwei Projekte ‹HOTEL GELEM› und ‹qaul. net› miteinander zu verknüpfen. Zu den grossen Wünschen der Roma-Gemeinschaft von Montreuil gehört es, Zugang zum Internet zu haben. Gerade in Frankreich ist das nicht einfach. Denn der französische Staat verlangt selbst beim Kauf einer SIM-Karte, die einen mobilen Internet-Zugang ermöglichen würde, den Nachweis eines festen Wohnsitzes und ein Bankkonto. Gerade dies haben die Roma nicht. Mit ‹qaul.net› wurde ein Weg gefunden, dies trotzdem zu ermöglichen. Zunächst wurde die Projekt-Software auf vorhandenen Smartphones und Computer installiert, ein lokales Kommunikationsnetz entstand. Ein Fahrrad, ausgestattet mit einer WLAN-Antenne und einem kleinen Computer, betrieben von einer alten Autobatterie, wurde Teil des Netzwerks. Das Fahrrad sammelte die Download-Wünsche der Roma-Gemeinschaft oder die Aufträge zum MailVersand. Bei gelegentlichen Touren durch die Stadt 23


suchte das Fahrrad automatisch nach öffentlichen Hotspots, meldete sich automatisiert an und führte die Aufträge aus. Später gelang es, das lokale Kommunikationsnetz mit improvisierten Richtfunk-Verbindungen auf die Nachbarschaft auszuweiten. Nachbarn erlaubten den Zugang über ihren Internetanschluss, indirekt wurde dadurch die Roma-Siedlung ans Internet angeschlossen.

Christoph Wachter (*1966) und Mathias Jud (*1974) kommen beide aus Zürich und arbeiten seit dem Jahr 2000 zusammen. Sie leben heute in Berlin. Ihre Werke wurden in zahlreichen Institutionen auf   der ganzen Welt gezeigt, so unter anderem bei der nGbK Berlin, im Kunsthaus Dresden, der Manchester Art Gallery, der Galerie IG Bildende Kunst Wien, an der Ars Electronica in Linz, am File Festival São Paulo und Rio de Janeiro,   am Kasseler Dokumentarfilm- und   Videofest und im Kunsthaus Langenthal in der Schweiz. Christoph Wachter und Mathias Jud haben

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für ihr Schaffen zahlreiche Preise erhalten, unter anderem der Ars Electronica Linz, der Transmediale in Berlin, dem Edith-Russ-Haus   für Medienkunst in Oldenburg.   Die Werkleitz Gesellschaft Halle / Saale hat sie mit dem EMARE   Stipendium geehrt. 2013 erhielten sie den Swiss Art Award. Das   Migros-Kulturprozent hat den beiden Künstlern 2007 und 2010   einen Werkbeitrag zugesprochen sowie verschiedene Präsentationen, Workshops und Ausstellungen produziert oder mitgestaltet. www.wachter-jud.net www.digitalbrainstorming.ch



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