Zeichner als Reporter

Page 1

Hmmm..si...si.....ouais maman*. je dois raccrocher.... Il y un étudiant qui m’interroge. je vais te rappeler...ouais à plus...



Hanspeter Riklin, Dozent des Kurses ‚Visual Essay›, skizziert von Noyau, 2005

1


Plenumsdiskussion w채hrend dem Unterricht, skizziert von Noyau, 2005

Zitat aus der Hotelfachschule, notiert von Isabel Peterhans, 2014

2


Notizen aus dem OP-Saal, skizziert von Tizian Merletti, 2014 Ganzer Visual Essay auf S. 90–95

3


Eindr端cke aus dem Unterricht, skizziert von Noyau, 2005

4


Zeichner als Reporter

Herausgegeben von

Pierre Thomé Anette Gehrig Yves Nussbaum Christoph Merian Verlag An diesem Buchprojekt waren neben Autorinnen und Künstlern viele weitere Personen beteiligt. Pierre Thomé hat die Initiative ergriffen, die Publikation an die Ausstellung anzubinden. Die Herausgebenden bedanken sich ganz herzlich bei allen, die zum Gelingen der Publikation beigetragen haben. Ein besonderes Dankeschön gebührt Luzia Davi für das Lektorat, André Meier für das Korrektorat, Anna Haas für die Buchgestaltung und Laura Walde für die Produktionsleitung. Ein herzlicher Dank geht auch an Oliver Bolanz und Claus Donau vom Christoph Merian Verlag für die Unterstützung sowie Anna Deér und Philip Schaufelberger.


Vorwort

von Anette Gehrig

Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts ermöglichen es die im Zuge der Industrialisierung rasch und markant steigenden Auflagen von Büchern und Zeitungen, ein Massenpublikum zu bedienen. In der Folge erfreuen sich aufwendig illustrierte Reiseberichte und Reportagen einer wachsenden Popularität. Ein Höhepunkt der frühen Reportagezeichnung ist die Zeit der sogenannten ‹Special Artists› um 1840. Diese arbeiten mit journalistischen Methoden, dokumentieren Gespräche und Interviews, fertigen Skizzen vor Ort, schaffen detaillierte und umfangreiche Reportagen zu historischen Ereignissen und berichten aus exotischen Ländern. Über hundert Jahre später erlebt die Zeichnung als Mittel der Dokumentation eine Renaissance. Als einer der Ersten nimmt der inzwischen weltbekannte Comiczeichner Joe Sacco den historischen Faden auf. Mit seiner 1996 erstmals vollständig erschienenen Reportage Palästina zeigt er, dass die sequenzielle Zeichnung eine differenzierte und glaubhafte Form der Reportage sein kann. Damit öffnet er dem Comic nicht nur eine Tür zu neuen Inhalten, sondern schenkt ihm auch ein neues Publikum. In der Folge sammeln Tages- und Wochenzeitungen erste Erfahrungen mit gezeichneten Reportagen, in Frankreich hat sich La Revue Dessinée auf Info- und Reportagecomics spezialisiert, und weltweit bieten Magazine verwandten Formaten einen Auftritt in der Öffentlichkeit. In der Ausbildung von Zeichnerinnen und Zeichnern ist das Thema ebenfalls angekommen: Unter dem Begriff ‹Visual Essay› zusammengefasst, vermittelt der Studienbereich Illustration an der Hochschule Luzern – Design & Kunst die Kombination von Autoren-Illustration und Journalismus. Die Studierenden werden ermutigt, nach neuen Ansätzen der gezeichneten Reportage zu suchen. Die Publikation Zeichner als Reporter versammelt Arbeiten aus diesem Kurs und erkundet das Genre in 23 Variationen. Studiengangsleiter Pierre Thomé sowie Dozent und Zeichner Noyau (Yves Nussbaum) diskutieren das Potenzial des Genres. Aussagen von Fachpersonen vertiefen das Thema. Ein für diese Publikation entstandenes Interview mit Joe Sacco legt den Fokus auf die Comicreportage und baut eine Brücke zur Retrospektive Joe Sacco. Comics Journalist im Cartoonmuseum Basel. Diese umfassende Werkschau stellt zudem Bezüge zur Geschichte und den Subgenres der Comicreportage her und bietet daneben ausgewählten Zeichnerinnen und Zeichnern dieser Publikation eine Plattform. Anette Gehrig studierte Kunstgeschichte an der Universität Zürich und arbeitete bis zu ihrem Studienabschluss im Stapferhaus in Lenzburg. Danach wechselte sie als Kuratorin ans Alpine Museum der Schweiz, Bern. Seit 2008 leitet sie das Cartoonmuseum Basel.

6


Arthur Boyd Houghton in The Graphic, 1870

7


Etwas, das ihr noch nicht wisst.

von Isabel Peterhans

S. 9–15

Beobachtungen aus dem Kurs ‹Visual Essay› an der Hochschule Luzern – Design & Kunst im Jahr 2014. Ein Essay, entstanden für die Publikation Zeichner als Reporter.

Isabel Peterhans arbeitet seit Abschluss des Studiums 2012 als freischaffende Illustratorin. Ihre Diplomarbeit Yallabyebye ist zunächst als Blog und danach 2014 bei Edition Moderne, Zürich und L’Agrume, Paris erschienen. Wenn sie nicht im Atelier zeichnet, freut sie sich, für Reportagezeichnungen die grosse, weite Welt erkunden zu können. Zwischendurch unterrichtet sie Illustration am Vorkurs der Invers Schule für Gestaltung und lernt viel von ihren Studenten. www.isabelpeterhans.ch

8


9


10


11


12


13


14


15


Ein Gespräch zwischen

Beat Schläpfer Beat Schläpfer, geboren 1952 in Zürich, studierte Germanistik, Geschichte, Literaturkritik und Kunstwissenschaft. Er arbeitete als Dramaturg, Publizist, Autor von kulturhistorischen Ausstellungen und als Organisator kultureller Grossveranstaltungen. 2000 übernahm er die Leitung des Weiterbildungsprogramms MAS Kulturmanagement Praxis an der Hochschule Luzern – Design & Kunst.

Pierre Thomé Pierre Thomé ist ausgebildeter Kunsterzieher mit Vertiefungsstudium Grafik und Illustration. Er arbeitete während einiger Jahre als freischaffender Illustrator für Magazine, Kinder-, Sach- und Lehrbücher sowie Film- und Animationsprojekte. 1984 gründete er gemeinsam mit anderen Grafikern und Illustratorinnen das Comic-Magazin Strapazin. 2002 übernahm er die Leitung der Studienrichtung Illustration an der Hochschule Luzern – Design & Kunst, welche er 2006 durch die neue Vertiefung Nonfiction (wissenschaftliche Illustration) erweiterte.

Yves Nussbaum (Noyau) Yves Nussbaum absolvierte eine Ausbildung als Grafiker, um sich kurz danach vollständig dem Zeichnen zu widmen. Unter dem Pseudonym Noyau zeichnet er seit über zwanzig Jahren zahlreiche Comicstrips, politische Cartoons und Illustrationen für die schweizerische und die französische Presse. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht und unterrichtet gleichzeitig seit 2003 als Dozent für Illustration an der Hochschule Luzern – Design & Kunst.

Mit Einschüben von

Marshall Arisman (S. 18) Alexander Roob (S. 23) Anette Gehrig (S. 32) Pit Wuhrer (S. 30) Sharad Sharma (S. 44)

Und einem Interview von

Anette Gehrig mit Joe Sacco (S. 35)

S. 19–48

Eine der ersten wegweisenden Aktivitäten, die Pierre Thomé 2002 als neu berufener Leiter der Studienrichtung Illustration an der Hochschule Luzern – Design & Kunst in die Wege leitete, war die Etablierung des Kurses ‹Visual Essay›. Seit inzwischen zwölf Jahren unterrichtet der Illustrator Yves Nussbaum (Noyau) diesen Kurs. Beide sind Herausgeber der vorliegenden Publikation. Beat Schläpfer, Publizist und Studienleiter der Weiterbildung Kulturmanagement an der Hochschule Luzern, hat die beiden getroffen, um über Erscheinungsformen und Eigenarten dieses Genres zu sprechen. Dabei herausgekommen ist eine Unterhaltung über den Begriff und die geschichtlichen Hintergründe, über die Anforderungen an den Unterricht, über Wahrnehmung, Glaubwürdigkeit und Rezeption sowie Überlegungen zum Potenzial des Visual Essays in einer Medienlandschaft, die sich in ständigem Wandel befindet. Das Gespräch wird ergänzt durch präzisierende Hintergrundinformationen, mit denen Experten auf Fragen der Gesprächspartner reagieren und damit den Kontext weiter öffnen. Ein Interview (S. 35) mit Joe Sacco erlaubt zudem einen Blick ins Schaffen, in die Beweggründe und das Denken des derzeit international bedeutendsten Vertreters des ‹Comics Journalism›.

16


Überlegungen zum Visual Essay Beat Schläpfer:

Pierre Thomé, Yves Nussbaum: In der vorliegenden Publikation Zeichner als Reporter präsentiert ihr eine Auswahl von Arbeiten aus dem Kurs ‹Visual Essay›. Der Begriff ist wenig bekannt. Was versteht ihr darunter? Pierre Thomé: Tatsächlich kann dieser Titel zunächst eine gewisse Verwirrung stiften. Bei Zeichner als Reporter denken viele zunächst an Reportagecomics, aber es gibt noch andere Erzähl- und Darstellungsformen. Meines Erachtens steht Visual Essay nicht nur für eine eigene Erzählform, sondern gleichzeitig als Oberbegriff. Dieser beinhaltet den Reportagecomic neben weiteren möglichen Ausprägungen — unter anderem eben das Visual Essay selbst. Doch ist beiden — dem Comic und dem Visual Essay — das Element der Reportage respektive die journalistische Recherche gemeinsam. Im Reportagecomic jedoch folgt die Erzählung einer sequenziellen Dramaturgie, der Visual Essay hingegen steht auch für Erzählformen, bei denen der Leser weniger stark geführt wird. Dabei setzt ‹Visual› voraus, dass ein grosser Teil der Information als Zeichnung daherkommt, und ‹Essay› betont das Ästhetische in der Argumentation und den experimentellen Charakter der Bildsprache.

Woher kommt der Begriff?

BS:

PT: Als ich die Zusage für die Stelle als Leiter der Studienrichtung Illustration bekommen habe — ich hatte zuvor noch nie unterrichtet — besorgte ich mir sogleich das Buch The Education of an Illustrator (2000) von Steven Heller und Marshall Arisman. Darin stiess ich erstmals auf den Begriff Visual Essay, der mich sogleich elektrisierte. Instinktiv wurde mir schnell klar, dass ich mich in diese Richtung bewegen wollte. Marshall Arisman, der heute übrigens den Bereich ‹Illustration as Visual Essay› an der New York School of Visual Arts leitet, erwähnt Richard Gangel, den Art Director von Sports Illustrated, als einen wichtigen persönlichen Mentor. Dieser hat in den 1960er-Jahren die Illustrationen in seinem Magazin als Visual Essays definiert.1 Dafür schickte er Illustratoren wie Robert Weaver, Tomi Ungerer, Bernie Fuchs und andere vor Ort, um in Zeichnungen zu berichten, womit er ihnen gleichzeitig eine Plattform für Experimente bot.

1 «Art provides a counterpoint, a more personal side. It enables us to look at old friends in a fresh way, the old friends being baseball, football and the rest.» Richard Gangel, 1973, http://illustratorspartnership. org/downloads/IN_8.pdf, Download am 8. Juli 2015.

Marshall Arisman: Richard Gangel, der Art Director der Sports Illustrated in den 1960erJahren, hat seinen Illustratoren jeweils zahlreiche Seiten im Heft überlassen, um Visual Essays über Sportereignisse zu zeichnen. Jetzt, da sie sich nicht mehr nur auf eine Seite reduzieren mussten, konnten Zeichner wie Robert Weaver, Tom Allen und viele andere ihren Lesern endlich ihre eigene Geschichte erzählen. Als Urheber des Visual Essays wurde der Illustrator zum Autor seines eigenen Werks, zum Geschichtenerzähler. Alle meine Vorstellungen darüber, wie man Illustration unterrichten sollte,

17


sind verbunden mit der Idee, dass diese Form — Visual Essays mit oder ohne Worte — es den Zeichnern erlaubt, die Verantwortung für ihren eigenen Inhalt zu übernehmen. Marshall Arisman, geboren 1937, ist ein amerikanischer Illustrator, Maler, Pädagoge und Geschichtenerzähler. Er publizierte in allen wichtigen US-Magazinen und Zeitschriften und seine Zeichnungen sind Teil von permanenten Sammlungen zahlreicher Museen. Er ist der Vorsitzende des Masterstudiengangs ‹Illustration as Visual Essay› an der School of Visual Arts in New York, den er 1984 begründet hat. Insgesamt unterrichtet er seit nunmehr 51 Jahren an der School of Visual Arts.

PT: Inzwischen arbeite ich seit über 13 Jahren an der Hochschule Luzern. Aus der heutigen Perspektive kann ich den Studienbereich und die dahinterstehende Lernphilosophie folgendermassen umschreiben: Wir unterrichten Autoren-Illustration und Zeichnen als Teil von Sprache und positionieren uns dabei näher bei der Literatur als bei der modernen Kunst. Zeichnen als ein Weg, der Welt zu begegnen, als ein Versuch, sie in Bildern zu verstehen und darzustellen, wo Worte allein versagen. Bildsprache beschränkt sich nicht auf einzelne Genres wie Comics oder Kinderbücher. Selbst wenn das Autobiografische und das Fantastische heute sehr populär sind, gibt es ein wachsendes Interesse an journalistischen Themen. Die gezeichnete Reportage ist Teil eines langsameren Journalismus, der sich gut dafür eignet, Sichtweisen und Erfahrungen von denjenigen 99 % der Menschen darzustellen, die in der allgemeinen medialen Aufregung weitgehend übersehen werden. Der Entscheid, den Studierenden diesen Kurs anzubieten, fiel damals eher intuitiv. Ich habe die Idee zusammen mit Hanspeter Riklin entwickelt, der vor mir für diesen Studiengang an der Hochschule verantwortlich war und später selbst als Dozent im Kurs ‹Visual Essay› agierte. Wir jonglierten mit ein paar Ideen und haben uns schliesslich entschlossen, den Versuch zu wagen. Dass Riklin auch als Dokumentarfilmer arbeitete und dachte, erwies sich als ideal. Es war für mich schnell klar, dass es die Reibung an der Realität ist, welche bedeutend ist, und dass ich dies im Unterricht unbedingt berücksichtigen sollte. Was wir damals jedoch noch nicht ahnen konnten, war die positive Reaktion der Studierenden auf das neue Unterrichtsangebot. BS:

Kannst du etwas über die theoretische Ausgangslage sagen? Welche Ansätze konntet ihr weiterverfolgen? PT: Es gab damals kaum Beispiele oder ausformulierte Vorgaben und die Kursbeschreibungen der New York School of Visual Arts blieben vage. So mussten wir den Begriff selbst definieren. Das war das Beste, was uns passieren konnte, auch wenn der Anfang nicht ganz einfach war und wir zwei, drei Anläufe benötigten, bis wir zum heutigen Format gefunden haben. Zu Beginn war für uns Visual Essay ein Oberbegriff, der alles beinhalten konnte. Wir dachten ihn offen, alles sollte darin Platz haben und möglich sein: von der Bildreportage über den Reportagecomic bis zum gezeichneten Tagebuch, dem Skizzenbuch und all den anderen möglichen Formen und Unterformen. Gleichzeitig gab es die Beschränkung des Kursformats und dessen Zeitdauer (anfangs drei Wochen, später vier). Aber die Idee der Begegnung, die Bedingung, dass jeder der Studenten rausgehen und mit jemandem reden musste, dass sie die Schule — ihre Komfortzone — verlassen mussten, das war von Anfang an so. Deshalb haben wir sehr oft von Zeugenschaft geredet, von der Idee des Autors als Zeugen: «Ich war da, ich habe es so gesehen, ich habe

18

Hanspeter Riklin, geboren 1937 in Zürich, ist ein Schweizer Maler, Grafiker und Regisseur.


das so empfunden.» Soviel zur Ausgangslage. Wir verstanden das als einen Schritt weg von den angeblich objektiven Fakten hin zum informativen Stimmungsbild. BS:

Der herkömmliche Essay verlangt dieses Eintauchen nicht zwingend — einen Essay kann man zur Not auch zuhause in der Stube schreiben. PT: Das stimmt. Da kommt mir Buttes Chaumont — la storia di Chérif Kouachi 2 in den Sinn. Hier versucht der Autor-Zeichner Gianluca Costantini zu verstehen, was 2015 beim Pariser Anschlag auf Charlie Hebdo passiert ist. Er sammelte zunächst alles, was er über Chérif Kouachi, einen der beiden Attentäter, finden konnte. Davon ausgehend machte er sich ein Bild und verwob alle Informationen zu einer Bildfolge mit begleitenden Texten. Das kann man als Visual Essay bezeichnen, doch die Zeichnungen entstanden nach Vorlagen und Fotografien. Dieses Sammeln und Collagieren liegt sehr nahe bei der Arbeitsweise von Newsrooms. In unseren Kursen hingegen wird nie mit vorhandenen Fotografien oder sonstigen Vorlagen gearbeitet. Es ist uns ein grosses Anliegen, dass die Studierenden stets ihre ganz eigenen Bilder finden und frei umsetzen. Wenn Yves und ich in unseren Vorgaben von den Studierenden verlangen, dass sie sich vor Ort begeben und da Interviews führen, steckt dahinter ein wenig die romantische Vorstellung vom Reporter als Abenteurer; jemandem, der rausgeht und dort hinschaut, wo sonst niemand hinschaut. In den ersten zwei Jahren machten wir allerdings den Fehler, den Studierenden zu viel Unterstützung zu bieten, Thema und Ansprechpartner wurden vorgegeben, was für eine freie und kreative Ideenfindung nicht unbedingt förderlich war.

2 Erstmals am 4. Februar 2015 auf www.internazionale.it erschienen. Gianluca Costantini, geboren 1971, ist ein italienischer Künstler, Comiczeichner und Internetaktivist, der international bekannt ist für seine politischen Online-Publikationen und sein Online-Projekt Political Comics. www.politicalcomics.info

Pierre Thomé:

Cover von Strapazin, Nr. 52, September 1998 Yves Nussbaum (Noyau): Die Studierenden verstanden diese Begegnungen zu sehr als Auftrag und reagierten entsprechend als Illustratoren; man spürte mehr Pflicht als Dringlichkeit in ihren Bildern. PT: Heute müssen sie alles selber organisieren: Was sie interessiert, mit wem sie sprechen wollen, wo sie diese Personen treffen. Aus gestalterischer Perspektive ist dieses Vorgehen sinnvoll, denn so müssen sie ihre eigenen Fragen und Perspektiven finden. Kreativität gedeiht eben manchmal

19


Pierre Thomé:

Eindrücke aus dem Reiseskizzenbuch. Distrikt Kachchh, Indien, 2012 Oben: Ajarak-Textildruckwerkstätten in der Nähe von Bhuj Unten: Bucht von Mandvi

20


am besten innerhalb gewisser Grenzen und Zwänge. Dort, wo alles möglich ist, kann man schwierigen Entscheidungen immer ausweichen, die Gefahr ist gross, dass man sich in technischen Details oder in der Recherche verliert. Im schulischen Kontext beschränkt sich die Auseinandersetzung mit dem Thema wegen der zur Verfügung stehenden Zeit und wegen des Formats auf zwei, drei Begegnungen, dank dem bleibt das Thema überschaubar. Am Ende aber muss muss die Geschichte so erzählt werden, dass es andere interessiert, und hier kommt der Text ins Spiel: Dialoge, Beschreibungen, Kommentare, Fakten. Wenn Paul Hogarth in seinem Buch The Artist as Reporter (1976) den Künstler als Reporter sieht, spricht er von der zeichnerischen Recherche. In Skizzenbüchern wird keine Geschichte erzählt, der Zusammenhang fehlt und es wird nicht zwischen den Bildern erzählt. Auch ich bin viel gereist, habe stets vor Ort skizziert, Leute getroffen und diese gezeichnet. Weil das Zeichnen hier keinem übergeordneten Bogen folgt, reiht sich Eindruck an Eindruck, Blatt an Blatt. Kurz: Es bleibt ein Reisejournal und ist eben kein Visual Essay. Pierre Thomé:

Eindrücke aus dem Reiseskizzenbuch, Indien, 2012 Sägewerk in Mandvi Meines Wissens war Robert Weaver einer der ersten, der in seinem Spätwerk das Sequenzielle erforschte. Das bedeutet, dass er bereits beim Beobachten — bei der Auswahl der Sujets und des Blickwinkels und schliesslich auch beim Zeichnen — stets die ganze Geschichte in Bildern mitdachte.

Robert Weaver (1924–1994) war ein amerikanischer Illustrator, der bereits Anfang der 1950er-Jahre Pionierarbeit leistete im Bereich des ‹Visual Journalism›. Seine Arbeiten wurden in allen grossen US-Magazinen publiziert. 1983 wurde an der New York School of Visual Arts der Masterstudiengang ‹Illustration as Visual Arts› eingerichtet, der sich auf seine Herangehensweise an die Verbindung von Zeichnung und Journalismus stützt.

Alexander Roob: Weavers Ansicht von visueller Reportage war durchlässiger und flüssiger als die seines Freunds Paul Hogarth, der mit seinen Dokumentationen konzeptuell weit hinter den vielschichtigen Meta-Reportagen der Künstler Arthur Boyd Houghton (S. 7) oder Gustave Doré zurückgeblieben war. Während sich Hogarth allein auf die Aussagekraft der einzelnen Zeichnung konzentrierte, ging es bei Weaver um strukturelle und mediale Bezüge. Seine Kunst entwickelte sich in den späten fünfziger Jahren als bildnerisches Äquivalent zum ‹New Journalism›, der sich vor allem durch seine Experimentierfreudigkeit und eine betont individuelle Sichtweise auszeichnete. So wie ich den Begriff des Visual Essay verstehe, geht es dabei vor allem darum.

21


Robert Weaver:

A Pedestrian Way, 1950 Š Robert Weaver Estate

22


AR: Bei Weaver kommen die Einflüsse aus allen möglichen Richtungen: Zeitgenössischer Film, Street Photography, avantgardistische Lyrik, improvisierter Jazz, aktuelle Malerei. Auch wenn er sich mitunter den expressiven Montagen eines Robert Rauschenberg angenähert hat, stand seine Kunst immer mit beiden Beinen in der sozialrealistischen Tradition der dreissiger Jahre. Damals hatte der sozialistische Aufbruch unter Roosevelt in Amerika eine ganze Reihe künstlerischer Versuche befördert, auf die sich sein Bildjournalismus beziehen konnte. Die grafischen Romane von Lynd Ward und Giacomo Patri, die gemalten Wandzeitungen der Mural-Bewegung oder die Bilderzyklen und Fotodokumentationen von Ben Shahn. Das war auch das Klima, in dem sich die quasi-journalistische Singer-Songwriter-Kultur eines Woody Guthrie entwickelt hat, der 1940 mit seinen auch von Ben Shahn inspirierten Dust Bowl Ballads das erste musikalische Konzeptalbum aufgenommen hat. Alexander Roob, geboren 1956 im deutschen Laumersheim/Pfalz, arbeitete als Comiczeichner und Kirchenmaler, bevor er 1985 die Arbeit an seinem umfangreichen sequenziellen Bildroman CS aufnahm. 2005 gründete er das Melton Prior Institut in Düsseldorf, das sich der illustrationshistorischen Forschung widmet. Von 2000–2002 unterrichtete er Freie Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, seit 2002 hat er eine Professur an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Er lebt in Düsseldorf und Stuttgart.

Ben Shahn:

Scabbies Are Welcome, 1937 © 2015, ProLitteris, Zürich

23


Ben Shahn:

Unemployment, 1938 © 2015, ProLitteris, Zürich Ben Shahn (1898–1969) war ein US-amerikanischer Maler, Grafiker und Fotograf litauischer Herkunft. Er war einer der Hauptvertreter des ‹Social Realism›, einer Kunstrichtung, welche die soziale, wirtschaftliche und politische Lebenssituation der Bevölkerung während der Grossen Depression in den 1930er-Jahren kommentierte. Später entwickelte sich sein Stil hin in eine Richtung, die Shahn ‹Personal Realism› nannte und die stärker von symbolischen Elementen geprägt war.

PT: Doch zurück zur ersten Frage: Allgemeingültige Definitionen neigen zum Statischen; ich bin da eher vorsichtig und ziehe es vor, dass Definitionen formbar bleiben. Wenn wir hier vom Visual Essay reden, dann tun wir das so, wie wir ihn hier an der Hochschule Luzern verstehen und unterrichten — aber das kann man auch anders sehen. YN: Im Unterricht stellt sich natürlich auch die Frage nach der Arbeitsweise. Im Visual Essay ist sie eine ganz andere als in der herkömmlichen Reportage. Der Visual Essay entsteht in einer gesteigerten Langsamkeit — als Zeichner kann man beim Interview immer zwischen Zeichnung und Text hin- und herpendeln und muss die Entscheidungen erst im Atelier treffen.

24


PT: Es ist denn auch der Zeichner selber, welcher entscheidet, und diese Entscheidung findet zwischen seinen Skizzen und Notizen statt. Der Unterschied zum Journalismus als Konsumartikel könnte kaum grösser sein. So reist für die Realisation von Reiseberichten für Massenmedien als erstes jemand an, der Orte und Leute recherchiert und diese beschreibt. Anschliessend wird der Fotograf eingeflogen, der alle vorbestimmten Motive schiesst. Um flexibel auf Orte und Menschen reagieren zu können, bleibt dem Fotografen aber keine Zeit. Überspitzt gesagt, fotografiert er eigentlich nicht den Ort, den er sieht, sondern die Erwartungen der Redaktion und damit des Publikums. Beim Visual Essay ist das anders, Zeichnen braucht Zeit, es entschleunigt. Erst im Zeichnen findet der Autor die präzise Form, mittels derer sich ihm das Thema erschliesst. Da diese Form anfänglich offen ist, wird der Autor sehr auf sich selbst zurückgeworfen: «Was ist der Punkt, der mich wirklich interessiert, und wie formuliere ich diesen am besten?» YN: Anschliessend kann man im Atelier natürlich noch sehr viel herausholen, weil man die Akzente unterschiedlich setzen kann. Vor Ort waren die Ereignisse ja nicht zu kontrollieren, man wusste nicht, was tatsächlich geschehen und wohin es letztendlich führen würde. Deshalb muss man so viel Material wie möglich sammeln, was dazu führt, dass man danach schmerzhafte Entscheidungen treffen und sich von gelungenen, aber nicht zum Ziel führenden Zeichnungen (oder Zitaten) trennen muss. PT: Es ist ein extremes Verdichten, man kann ja nicht alles wiedergeben. Auch formal stehen viele Möglichkeiten zur Verfügung und man muss schauen, dass man die Form kohärent vom Anfang bis zum Ende durchziehen kann. Dieses Verdichten ist vermutlich das Allerschwerste. YN: Diese Entscheidungswege sind es, die Zeit beanspruchen. Es funktioniert nicht, im Atelier zuerst ein Konzept zu entwickeln und dieses danach vor Ort auszuführen. Man muss die Eindrücke aufnehmen, zeichnerisch auf sie reagieren und anschliessend umsetzen. PT: Zeichnen scheitert immer an der Wirklichkeit, es taugt höchstens, um Ideen und Vorstellungen einer möglichen Wirklichkeit zu fassen. Dem Zeichnenden bleibt neben eventuellen Skizzen und Fotos nur ein einziger Referenzrahmen: das Empfinden der eigenen Erinnerung. Objektivität gibt es nicht. Der Beobachter beeinflusst das, was passiert, immer mit. Doch der Zeichner tut dies auf eine besondere, sehr spezielle Art. Da sein Ergebnis unmittelbar sichtbar ist, entsteht eine komplett andere Beziehung zu seinem Gegenüber. Das Gegenüber sieht die Zeichnung und eine der ersten Aufforderungen lautet immer: «Zeig mal, was du gemacht hast!» So ist der Zeichner stets mit seinen Unzulänglichkeiten konfrontiert; er kann nicht bluffen. Diese Offenheit stellt eine Beziehung zu den Personen in der Umgebung her, man wird Teil der Anwesenden, und es kann sein, dass sich das Gespräch in eine komplett andere Richtung entwickelt. Beim Zeichnen entsteht eine Situation der Blösse. Man ist als Zeichner nackter als der Fotograf beim Fotografieren, weil man sich nicht hinter einem Apparat verstecken kann. YN: Es besteht das Risiko, dass der Zeichner selbst Teil der Ereignisse wird. Das darf man als Leser zwar spüren, doch muss gleichzeitig verhindert werden, dass die pure Anwesenheit des Zeichners zur Hauptaussage wird. Eher soll der Zeichner Teil des Ortes sein: Man sieht den Ort

25


Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.