Aldo Haesler - Bargeldabschaffung

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Bargeldabschaffung


BARGELDABSCHAFFUNG: AM WESENTLICHEN VORBEI Text Aldo Haesler


© 2017 Herausgegeben von: Sunflower Foundation www.sunflower.ch info@sunflower.ch


INHALT

Der verlorene Kampf ums Bare

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Der Mythos vom Geldwerkzeug

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Die Entstofflichung des Geldes

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Eine Pädagogik des Geldes

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Zweck von Aldos Geldkompendium

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Dass Bargeld nicht abgeschafft werden darf, ist eine hochsensible Forderung in der heutigen wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Debatte. Nur wird dieses Abschaffungsverbot mit zu kurz greifenden Argumenten verhandelt, die über kürzere Zeit dazu führen werden, dass die Diskussion darüber erlischt und der Widerstand gegen die Abschaffung von den Sachzwängen der Wirklichkeit überrollt wird. Doch bei der Bargeldabschaffung, ihren Voraussetzungen wie vor allem ihren Folgen, geht es nicht so sehr um die bislang ins Feld geführten Argumente, sondern um weitaus gravierendere Fragen der Denkformen und der Ethik.

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Teil 1

DER VERLORENE KAMPF UMS BARE Der Kampf um das Bargeld ist verloren. Und das vermutlich seit geraumer Zeit. Geld hat sich immer schon im Sinne der Senkung seiner Transaktionskosten und der Sicherung seiner Verkehrsbedingungen entwickelt. Die Durchsetzung des Wechselsystems im Mittelalter, der Banknoten und der Bankenschecks in der Neuzeit und der elektronischen Zahlungsüberweisungen in der Spätmoderne sind nur Etappen in diesem säkularen Trend der Entstofflichung des Geldes. Die Zukunft des Geldes ist bereits geschrieben, und es wird wohl kein Jahrzehnt mehr dauern, bis das Geld als materieller Gegenstand verschwunden sein wird – trotz erheblicher Widerstände, speziell in Deutschland. Der elektronische Zahlungsverkehr ist ohne Zweifel billiger, sicherer, schneller und bequemer als der Bargeldverkehr. Gegenüber diesen Argumenten kann man zwar endlos bramarbasieren, langfristig ist gegen sie kein Kraut gewachsen. Das heisst aber nicht, dass die heute wild brodelnde Diskussion unnötig ist. Ganz im Gegenteil. Diese Diskussion ist wichtig, und vermutlich ist sie eine der letzten, die über diesen Gegenstand „Geld: (der) stärksten Macht der modernen Zivilisation“, wie es Egon Friedell einmal schrieb, geführt wird. Diese Diskussion ist wichtig, weil sie uns noch einmal die Möglichkeit gibt, ganz in die Grundsätze des Geldbegriffes hinab zu tauchen und Fragen zu stellen, die womöglich bald nicht mehr gestellt werden können. Nur wird diese Diskussion mit vordergründigen und schwachen Argumenten geführt. Ohne Zweifel stimmt es, dass die Abschaffung des Bargeldes die Bankkontenbesitzer in eine prekäre 6


Aushandlungslage gegenüber dem Bankensystem versetzt. Bargeld ist zinslos, Bankkonten dagegen sind zinsbehaftet. Bei Negativzinsen verlieren die Kunden ihr Geld. Bankkonten – das wird in der Diskussion weniger betont – sind in Händen der Banken; sie können daher die Usanzen, Rechtsbestimmungen, Kommissionen, Valuten usw. nach Gutdünken verändern, ohne dass die Kunden z. B. in Form einer Verbraucherorganisation als Verhandlungspartner diese Veränderungen anfechten können. Dazu kommt ein weiteres Argument, das auch auf den Bankensektor zutrifft: die Institute verfügen über sämtliche Konteninformationen und können somit den Kunden einer unerwünschten Kontrolle unterziehen. Führt man all diese Faktoren ins Feld, so besteht kein Zweifel, dass mit der Bargeldabschaffung bürgerliche Grundrechte aufs empfindlichste tangiert werden. Das Argument der Abschaffungsbefürworter, wonach mit der Aufhebung der Anonymität des Geldes gewissen kriminellen Organisationen das Handwerk gelegt werden soll, ist allerhöchstens als naiv zu betrachten, verfügen solche Organisationen doch seit längerer Zeit über effiziente, parallele Finanzdispositive – man muss nicht einmal an Bitcoin oder dark net denken –, die sie vor polizeilichen Zugriffen immun machen. Man sieht also: das Argumentationsniveau dieser Diskussion ist höchst bescheiden. Das kann natürlich die Abschaffungsbefürworter nur freuen. Jedes dieser bescheidenen Argumente kann kontrovers gehalten werden, um damit den Schein von Öffentlichkeit aufrecht zu erhalten, zerpflückt wird es aber allemal. Und reicht das Zerpflücken nicht, so rekurriert man auf Massiveres: billiger, schneller und bequemer. Das ‚eherne Gesetz der Entstofflichung‘ wird sich so oder so durchsetzen. 7


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Teil 2

DER MYTHOS VOM GELDWERKZEUG Wir sagten es bereits: diese Diskussion ist notwendig. Auch wenn sie bislang mit billigen Argumenten geführt wurde, gibt sie die Gelegenheit, uns mit Aspekten der Geldgeschichte auseinander zu setzen, die bislang nur marginal Beachtung gefunden haben. Es geht dabei um die Frage, wie sich Entstofflichung auf unsere Denkformen und Moralvorstellungen auswirkt. Das kann man natürlich schnell als philosophische Elfenbeinturmtätigkeit abtun; nur ebenso schnell kann man das Kompliment retournieren und sagen, der Elfenbeinturm lässt grüssen: dass nämlich das bescheidene Niveau der bisherigen Abschaffungsdiskussion samt und sonders auf ökonomistischer ‚Dünnbrettbohrerei‘, wie es Max Weber einmal gesagt hat, beruht. Diese Dünnbrettbohrerei hat zunächst einmal mit dem Geldbegriff zu tun. Wenn gesagt wird, dass der heutige elektronische Zahlungsverkehr billiger, schneller, sicherer und bequemer ist, so erscheint uns Geld lediglich in seiner Werkzeugsfunktion. Wie bereits Karl Marx sagte: Geld ist, was Geld bewirkt. Ein solches Werkzeug ist neutral. Es wirkt, aber es bewirkt nichts. Es hat keinerlei Auswirkungen auf unser Denken, unsere Moralvorstellungen, unsere Psyche oder auf soziale Sachverhalte; es hat an sich weder eine Symbolik noch eine Diabolik. Diese Auffassung gilt seit Aristoteles und beherrscht sowohl unser Denken als die heute noch geltende Volkswirtschaftslehre. Kurzum, Geld ist ein Mittel zur Tauscherleichterung, mehr nicht. Doch diese Konzeption unterschlägt so gut wie alles, was seit gut zwei Jahrhunderten über Ursprung und Wesen des Geldes zu Tage gefördert worden ist. Warum zwei Jahrhunderte? 9


Man erinnert sich vielleicht daran, dass Goethe seinen Faust in den Jahren 1808 bis 1832 geschrieben hatte und dass eines seiner wichtigsten Motive just das Geld war. Das hat seinen Grund darin, dass Goethe, wie viele seiner Zeitgenossen, über das Drama der sog. Law-Experimente entsetzt war. Der schottische Financier John Law hatte unter Ludwig dem 15. eine monströse Menge Papiergeld geschaffen, dessen Deckung durch nichts anderes garantiert war als durch die Reichtümer des ganzen Königreichs Frankreich. Nach anfänglichen Haussen dieser Wertpapiere, die sich bald ins Unermessliche überschlugen, entstand plötzlich eine Misstrauenswelle, welche dieses Experimente zur Katastrophe machten. Zahllose Anleger erlebten den Ruin, und die Staatskassen, die einen Moment lang überfüllt waren, lagen darnieder, leer wie je zuvor. Dieses Debakel wird als eines der Motive genannt, die zur französischen Revolution führten. Wie Hans-Christoph Binswanger in seinem bahnbrechenden Buch Geld und Magie nachweisen konnte, bestand nun Goethes Genius darin, eine Parallele zwischen diesem Experiment und der alten Alchimistenkunst zu ziehen. Anstatt Quecksilber in Gold zu verwandeln, verwandelte Law lediglich brachliegende Eigentümer in Geld, bzw. in Kaufkraftversprechen. Und hierin liegt der Geist des modernen Geldes. Geld ist also nicht nur ein Werkzeug, ein neutrales Hilfsmittel zur Tauscherleichterung, sondern eine produktive Ressource, die, grob gesagt, die Wirklichkeit verändern kann. Als Werkzeug hatte Geld nur prometheische Funktionen. Vor zwei Jahrhunderten entdeckte Goethe aber seine faustische Funktion, nämlich mit der Verwirklichung der alten theologischen Formel der creatio ex nihilo Ernst zu machen. Und damit kamen Geldforschungen in Bewegung, die über 10


seinen sakralen, seinen politischen, seinen mythologischen und seinen ethnographischen Charakter Erkenntnisse zu Tage fÜrderten, die mit der trivialen aristotelischen Auffassung des Geldes Schluss machten. Besser gesagt: hätten Schluss machen sollen, denn scheinbare lebt das Gespenst des Werkzeugs so gut wie je zuvor.

Wird also gesagt, dass die grossen Vorteile des elektronischen Geldes darin bestĂźnden, dass es schneller, sicherer, bequemer und billiger sei als das alte Geld, so wird ein Mythos geschrieben, der Mythos des neutralen, trivialen und banalen Geldwerkzeugs, ein Mythos, der genauso gut und genauso schlecht ist wie andere Geldmythen.

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Teil 3

DIE ENTSTOFFLICHUNG DES GELDES Bohren wir also etwas tiefer und stellen die Frage, ob und wie die Entstofflichung von Geld sich auf unsere Denk- und Moralstrukturen auswirkt. Diese Frage zwingt uns, sich mit einem etwas in Vergessenheit geratenen Philosophen und Ökonomen aus der Frankfurter Schule zu befassen, der in dieser Schule schon in den frühen 1930er Jahren für einiges Unbehagen gesorgt hatte. Alfred Sohn-Rethels (1899 –1990) Projekt bestand darin, die Marx’sche Wertkritik mit einer materialistischen Erkenntnistheorie zu unterbauen, d.h. der Frage nachzugehen, ob und in welchem Verhältnis Waren- und Denkformen zueinander stehen. Dem Direktor der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, war diese Frage unangenehm, nahm sie sich doch Freiheiten mit Marx aus, die in damaligen Zeiten der Marx-Orthodoxie unpässlich waren, bzw. als deviationistisch angesehen werden konnten. Daher sein Bannspruch gegen Sohn-Rethel, der zeitlebens darunter (auch finanziell) zu leiden hatte. Wir wollen hier nicht den schwerfälligen Gedankengang Sohn-Rethels rekapitulieren, der, zwischen Hegels Dialektik und Marxens Werttheorie lavierend, viele seiner späteren Bremer Studenten dazu reizte, seinen Namen in «Sohn-Rätsel» zu verwandeln. Doch das Rätsel ist schnell gelüftet. Sohn-Rethel ging es im Grunde darum, in Erfahrung zu bringen, welche Abstraktionsleistungen der menschliche Geist erbringen muss, um aus der reichen Mannigfaltigkeit eines Dinges eine Ware denken zu können, d.h. davon zu abstrahieren, dass dieses Ding eine Farbe, einen Geruch, ein Gewicht, eine Gestalt usw. hat. Denn eine Ware hat letztlich nur einen Wert und dieser Wert nur eine abschliessende Wertung, ihren Preis. Geld ist dafür sozusa13


gen der grosse Abstraktor, d. h. jenes Medium, das solche Abstraktionsleistungen ermöglicht. Indem es das Ding auf einen Preis, d.h. auf eine Zahl reduziert, ermöglicht es dessen Berechnung, dessen Vergleich, dessen Wertstatus in einer immensen arithmetischen Nomenklatur, welche das Warensystem ausmacht und uns dank dem bereits von Marx bemerkten Warenfetischismus als natürlich erscheint. Soweit zunächst mit Sohn-Rethel. Ein zweiter Denker kommt nun hinzu, der uns helfen wird, von den Abstraktionshöhen Sohn-Rethels zur Frage nach der Entstofflichung des Geldes zurück zu finden. Es ist der deutsche Philosoph und Soziologe Georg Simmel (1858 –1918), der in seinem Monumentalwerk Philosophie des Geldes (1900) dieser Frage eine ganz zentrale Bedeutung beimisst. Simmel bemerkt in der Tat dieses ‚eherne Gesetz der Entstofflichung‘, das sich seit der ‚kommerziellen Revolution‘ im 12. Jahrhundert ebenso unweigerlich wie unbeachtet im Abendland vollzogen hat. Und er bemerkt, wie sich im Zuge dieses Prozesses die Funktionen des Geldes vermehrt haben, aber gleichzeitig auch das Bewusstsein darüber geschwunden ist. Die ‚stärkste Macht der modernen Zivilisation‘ hat ihr unsichtbares Imperium auf leisen Füssen aufzubauen gewusst und sich vom ursprünglichen Instrument zur Tauscherleichterung zu einem Medium, d.h. einer Metasprache entwickelt, einer Sprache aller Sprachen im Verkehr der Sachen dieser Welt. Es scheint also einen direkten Zusammenhang, ja gar eine inverse Proportionalität, zwischen der Entstofflichung des Geldes und seiner Geltung, wie Simmel einmal sagte, als ‚Geltendes schlechthin‘ zu geben. Diese Geltung ist leichtfüssig und schwer fassbar. Daher empfiehlt es sich, einige wissenschaftliche Erkenntnisse einzubeziehen. Vor mehr als zwanzig Jahren unter14


nahmen wir es, die Auswirkungen des damals sich ausbreitenden Kreditkartensystems auf Kaufverhalten, Preiswahrnehmung, Ausgabenkontrolle, Konsumentenbudgets usw. unter die Lupe zu nehmen. Die Resultate waren beträchtlich. Ganz abgesehen von der Malaise, sich vom Bargeld, aus welchen Gründen auch immer, zu lösen, konstatierten wir eine ganze Reihe von Dysfunktionen, Ungereimtheiten, ja gar Pathologien im ganz alltäglichen Umgang mit diesem Medium. Die Kreditkarte begünstigt Spontankäufe, Selbstgeschenke, unreflektierte Ausgaben jeder Art, aber auch ein allgemeines Versagen der Rechenkünste und damit der Preiswahrnehmung. Ein Kreditkartenhedonismus war ausgebrochen, der natürlich der Konsumindustrie vonstatten kam, dem Konsumenten jedoch mit der Abrechnung am Monatsende finstere Mienen bereitete. Beanstandet wurde allenthalben auch, dass die zunehmende Automatisierung in der Kauftransaktion zu einer Entmenschlichung führte, vor allem für (ältere) Menschen, für die oft das kleine Gespräch mit der Verkäuferin zu einem letzten Interaktionsritual im Alltag geworden war. Ganz zu schweigen von einer Überschuldungslawine, die ohne weiteres auf die Bequemlichkeit der Zahlung zurück geführt werden konnte. Die Konsequenzen der Entstofflichung des Geldes sind also massiv. Umso erstaunlicher, dass diesem wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Umstand weder in den Medien noch in der Wissenschaft die Beachtung gezollt wurde, die ihm zukäme. Im Vordergrund standen immer Fragen der Transaktionssicherheit und der sozialen Kontrolle, die zwar den Ingenieur und den Ökonomen interessieren, der Bedeutung des Phänomens jedoch in keiner Weise gerecht werden. 15


Wie kommt es nun zu diesen massiven Effekten? Die Bargeldtransaktion unterliegt einer universellen Norm. Sie lautet: um etwas zu erhalten, muss zunächst einmal etwas gegeben werden, do ut des, wie dies die alten Römer gekonnt formuliert haben. Willst Du die Ware, dann bezahle für sie. Zug um Zug. Diese Norm ist ein Riegel gegen jede Form instituierter Raubwirtschaft, ein Regulativ, das zwar noch keine Institution ist, das aber denjenigen bestraft, der ihr ohne Grund zuwider handelt. Viele Kulturen haben daraus eine Alltagsethik entwickelt, so z. B. die Goldene Regel, die nicht nur bestraft, sondern auch gebietet, Gutes mit Gutem zu vergelten. Diese Reziprozitätsnorm hat nahezu universellen Charakter und fand sehr früh schon Eintritt in die Rechtsordnungen. Doch was geschieht bei elektronischen, durch Karten vermittelten Transaktionen? Hier wird in erster Linie ein technisches Dispositiv bedient; es werden Codes eingetippt, auf Autorisierungen gewartet und freigeschaltet; man wird als Kartenbenutzer identifiziert; man muss sich in Geduld üben, bis alle Informationstransfers vollbracht sind; und man wird schliesslich entlassen aus den elektronischen Schranken, wie man anderswo auf Grünlicht reagierte. Das alles sind notwendige Prozesse, aber nirgends kommt Reziprozität zum Zuge. Wir stellen uns hier auf das Niveau der elementarsten Alltagspraktiken, dorthin nämlich, wo Lerneffekte unweigerlich erzielt werden. Selbstverständlich herrscht im System die Reziprozitätsnorm, ja, sie herrscht strenger denn je, doch insofern die Bezahlung mit dem Kauf nicht koinzidiert, wird diese Reziprozität nur über künstliche Denkvorgänge rekonstruiert. Man gibt nicht, um zu erhalten; man erhält, indem man vorweist. Das ist ein ganz erheblicher Unterschied 16


zur traditionellen Kauftransaktion. In Sohn-Rethels Begriffen ist das eine zusätzliche Tauschabstraktion, die nur scheinbar einfach ist. In Tat und Wahrheit muss diese Einfachheit anerzogen werden. In tausendfachen Transaktionen wird eine Routine eingeübt, wo es um Exaktheit, Schnelligkeit und Reaktionsvermögen geht, nicht aber um Gegenseitigkeit. Hier ist einer der unbe-

fragten Orte der digitalen Kultur, in welcher Denkstrukturen aufgebaut werden, die durch ihren massiven, überevidenten Charakter andere Denkstrukturen überlagern und schliesslich handlungsleitend wirken. Dadurch wird der Tauschgedanke an sich unterminiert. Statt eines interaktiven Vorgehens werden iterative Routinen verlangt. Die unbewussten Lernprozesse, die Sohn-Rethel noch beim Geldgebrauch fest zu machen glaubte, sind hier getilgt. An ihrer Stelle stehen kurze, schnelle und genaue Weisungen, bei de17


ren Nichtbeachtung mit sofortigen Konsequenzen zu rechnen ist. Es steht ausser Zweifel, dass solche iterativen Handlungsprozesse sich auch auf unsere moralischen Strukturen auswirken. In einer Welt, in der es nicht mehr um die Aushandlung von wechselseitigen Tauschbeziehungen geht, sondern um das Befolgen technischer Weisungen, ist die Perspektive des Anderen, in die wir uns immer wieder hinein versetzen müssen, um zu einem vernünftigen Kompromiss zu finden, unsichtbar, ja gar hinderlich geworden. Wir stehen damit vor einer Auflösung der Reziprozitätsnorm. Und das nicht nur bei wirtschaftlichen Transaktionen. Hätte der Soziologe noch ein geübtes Auge, so würde er feststellen, dass in praktisch allen sozialen Zusammenhängen diese Auflösung der Reziprozitätsnorm zu neuen Umgangs- und Handlungsformen geführt hat. Dialoge haben immer mehr die Form zweiseitiger Monologe, elementare Grussformen werden, wenn überhaupt, nur noch auf dem Land gepflegt, freiwilliges Helfen wird wenn immer möglich vertraglich verbrieft, das Rentensystem funktioniert auf Kapitalisierungsbasis statt im Sinne intergenerationeller Solidarität, zahllose Lohnsysteme haben ihren meritokratischen Charakter eingebüsst, kurz, wir leben in einer Gesellschaft, in welcher Privilegien ohne Leistung, Gewinn ohne Risiko, Freude ohne Kraft zur Normalität geworden sind. An allen Ecken und Enden unserer Gesellschaft hat die Reziprozitätsnorm aufgehört, die Richtschnur in der Verteilung von Chancen und Risiken zu sein. Folgen wir Simmels Gedanken über die Entstofflichung des Geldes, so sind all diese disparaten Auflösungserscheinungen auf einen roten Faden zurück zu führen. Wir haben verlernt, aus dem Tausch zu lernen, weil das Medium, das uns dieses Lernen im Tausch ermöglicht, sich verflüchtigt hat. Um dieses Argument geht es letztlich in der Bargeldabschaffungsdiskussion. 18


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Teil 4

EINE PÄDAGOGIK DES GELDES Die Panik, die ob drohender Bargeldabschaffung in Deutschland ausgebrochen ist, hat vielleicht einen grundsätzlicheren Charakter als die fadenscheinigen Argumente aus Presse und Sachverständigenräten. Manche Historiker interpretieren sie als Reaktion vor dem Hintergrund einer chaotischen Währungsgeschichte. Es stimmt, die «Angst vor dem Chaos», wie dies einmal Joachim Schuhmacher festgestellt hat, gehört zu den Grundängsten der Deutschen. Die Panik der Deutschen hat mit einer besonderen Sensibilität zu tun, eine Sensibilität, die Signalcharakter hat. Man erblickt dadurch das Dilemma: eine solche Diskussion, wie sie gegenwärtig in Deutschland geführt wird, ist hochnotwendig. Sie signalisiert nicht nur für Deutschland, sondern für die Spätmoderne schlechthin, was das Schwinden einer gesellschaftlichen Zentralreferenz bedeuten kann. Doch wird diese Diskussion in Begriffen geführt, wo es nur um Sicherheit, Bankenherrschaft und Mafiabekämpfung geht, so begeht sie selbst Schiffbruch, denn sie belässt es dabei, die eigentlichen Risiken der cashless society weitgehend zu ignorieren. Doch worum sollte es gehen? Was wäre der Gegenstand einer zeitgemässen Öffentlichkeitsdebatte? Einmal in Rechnung gestellt, dass das vollständige Verschwinden von Noten und Münzen eine Frage der Zeit ist, dass das ‚eherne Gesetz der Entstofflichung‘ sich mit Notwendigkeit durchsetzen wird, was ist zu unternehmen, um die pathogenen Konsequenzen dieser Entstofflichung in Schach zu halten? Wir sagen mit Bedacht, sie in Schach zu halten, sehen also von ehrgeizigeren Ansinnen ab. 20


Denn die heute grassierende banale Diskussion mit zu kurz greifenden Argumenten ist deshalb so bedenklich, weil sie tatsächlich daran glaubt, Geldabschaffung rückgängig machen zu können, und das auch noch mit solch schmalbrüstigen Argumenten … Sie glaubt also in allem Ernst an die Wirksamkeit öffentlicher Diskurse. Aus der Distanz betrachtet sind solche Erwartungen höchst problematisch. Es geht also darum, und mehr ist von dieser Diskussion nicht zu erwarten, sie auf ein realistisches Maß herunter zu schrauben. Das will heissen: den Entstofflichungsprozess selbst darzustellen und zu objektivieren. Mit vermessenen Erwartungen und schwachen Argumenten erzielt man aber gerade das Gegenteil. Das zeigen die zahlreichen Geplänkel der heutigen Diskussion. Mit Detailkonfrontationen, wie der Frage nach der Gesetzlichkeit der Abschaffung eines gesetzlich eingesetzten Zahlungsmittels, ist kein Staat zu machen. All diese zeilenfüllenden Expertengeplänkel sind nichts als ein Nebenkriegsschauplatz, der daran hindert, das Thema einigermassen vernünftig an die Hand zu nehmen. Doch was heisst nun, den Entstofflichungsprozess zu objektivieren? Es heisst mehr nicht, als die kognitiven und moralischen Zusammenhänge aufzuspüren, von denen hier die Rede ist. Es heisst, zu verstehen, dass Geld seit geraumer Zeit eine Denkform geworden ist und dass diese Denkform moralische Konsequenzen hat, die für den gesellschaftlichen Zusammenhalt bestimmend sind. Es heisst somit, eine ganz grundsätzliche pädagogische Arbeit zu verrichten. Diese Arbeit kann an den Errungenschaften grosser Gelddenker wie Karl Marx, Georg Simmel, John M. Keynes und Alfred Sohn-Rethel nicht vorbeigehen und muss trotz der Schwierigkeit, Geld überhaupt zu denken, für Klärung 21


und Aufklärung sorgen. Ja, alle Mittel wären dabei recht, in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Erziehung, Geld soweit wie möglich aus seinem gespenstischen Dasein in die Wirklichkeit zurück zu holen. Noch ist es möglich, das Gespenst, wie es der Komparatist Josef Vogl tat, beim Wort zu nehmen, bevor es aus der Hinterpforte unseres Bewusstseins entschwindet, um als unerfahrbare Realität auf uns nieder zu gehen.

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Zusatz

ZWECK VON ALDOS GELDKOMPENDIUM Das Geld, ein Medium Geld ist im Begriff sich in Luft aufzulösen. Und Luft ist ein Medium. Aber was ist ein Medium? Der deutsche Systemphilosoph Niklas Luhmann hat dazu ein passendes Gleichnis angestellt. Die Fische leben bekanntlich im Wasser. Könnten sie sprechen und würde man ihnen die Frage stellen, was Wasser ist, so hätten sie vermutlich Mühe, eine passende Antwort dazu zu finden. Wir kennen die Antwort, weil wir ausserhalb des Wassers sind und die Fische beobachten können. Wir würden sagen, dass das Wasser ein Milieu ist, in welchem die Fische leben, ein Milieu, von welchem fraglos ihr Leben abhängt. Sie sind aber dermassen in dieses Milieu eingetaucht, dass sie sich davon nicht distanzieren können. Ihr Verhältnis zum Wasser ist ein Verhältnis der strikten Unmittelbarkeit. Wären sie vernunftbegabt, so könnten sie vermutlich dieses Milieu unter einer Voraussetzung objektivieren; dann nämlich, wenn es an Wasser fehlt. Zappelt ein vernunftbegabter Fisch an der Leine, so hat er für eine kurze Zeit die Chance festzustellen, dass es ihm an etwas ganz Wesentliche fehlt: nämlich an dem, wonach er verzweifelt schnappt. Vielleicht hat er keinen Begriff davon, aber er könnte uns, so lange er das Zeitliche nicht segnet, einen Deal anbieten: Wasser oder Leben. Dem Menschen ging es vermutlich gleich. Irgendwann in seiner Geschichte wurde ihm die Gurgel zugedreht und er fragte sich, an welchem absoluten Mangel er wohl leide. Er nannte ihn Luft. Wasser und Luft sind Medien. Es sind fraglose Milieus, von denen ein Leben abhängt. Es sind Milieus, deren Fraglosigkeit erst 25


dann erscheint, wenn sie fehlen. Wenn wir also sagen, dass Geld im Begriff sei, sich in Luft aufzulösen, sprechen wir genau genommen von einem solchen Milieu, das fraglos da ist; ein Milieu, das wir voraussetzen müssen, damit wir unser Leben so leben können wir es gewohnt sind. Nehmen wir eine andere Perspektive ein. Als sich vor einigen Jahren wegen einer grossen Panne im Elektrizitätssystem des Bundesstaates New York ein wenige Stunden andauernder Stromausfall in der Stadt New York ereignete, geriet das ganze Stadtgebiet in ein furchtbares Chaos. Räuberbanden überfielen ganze Stadtteile, plünderten und mordeten. Man beobachtete Szenen massiver Hysterie, hörte nur noch die Polizei- und Feuerwehrsirenen, Bürger verbarrikadierten sich bei sich zu Hause, das Kommunikationssystem brach in Folge zu grosser Überlastung zusammen. Als die Stromversorgung wieder klappte, war das Bild der Stadt ein Bild der Verwüstung, die Bürger waren traumatisiert, leckten ihre Wunden, entsorgten die aufgetauten Resten ihrer Tiefkühltruhen, prüften eiligst ihre Harddisks, reinitialisierten ihre Sicherheitsanlagen und brachten ihre Klimatisierung wieder in Gang. Einige Soziologen und Horrorszenarioschreiber berechneten danach, wieviel Zeit es wohl dauern würde, damit nach einer Panne wie dieser die Stadt New York wieder ins Paläolithikum zurück geworfen würde. Sie evaluierten die Dauer auf etwa zwei Wochen. So sieht es also aus mit unserer Zivilisation: zwei Wochen Stromausfall und der raffinierte Grossstadtneurotiker wird wieder zum Höhlenmenschen. Dieselbe Frage könnte man sich beim Geld stellen. Man stelle sich vor, dass es genialen Hackern gelänge, das globale elektronische Zahlungsnetz ausser Kraft zu setzen. Wie lange dauerte noch Normalität? Welches wären die ersten Panikerscheinun26


gen? Man stelle sich den Zürcher Hauptbahnhof an einem Montagmorgen vor und kein einziges Zahlungssystem funktionierte noch. Nein, man kann es sich nicht vorstellen. Das einzige, was man tun kann, ist, sich vor dieser Situation zu schaudern. Nebenbei gesagt: wollte man eine Ausstellung oder eine performance über das Geld organisieren, die den Besuchern unter die Haut ginge, so bestünde eine dramatische Übung für die Besucher darin, sie ganz konkret zu fragen, was sie denn in diesem Fall anstellen würden. Wie sie ihr verbleibendes Bargeld, so es noch vorhanden ist, verwenden würde? Was sie wohl an wertvollen Dingen dem Bauern anbieten würden, wenn sie mit arg knurrendem Magen nach einigen Eiern fragen wollten? Welche Panikszenen sie sich in der Bahnhofstrasse vorstellen würden? Wann die ersten Plünderungen stattfinden würden usw. usf. Auch das ist der Ausdruck eines Mediums. Fehlt es, so kommt es zu einer Panikkrise. Einigen von uns ist eine solche Krise schon passiert. Plötzlich bekommt man keine Luft mehr und man hat das Gefühl, dass der Luftmantel um den Erdball verschwunden sei. Man schaut dann die Menschen um sich herum an, ob sie wohl auch dasselbe empfinden und spürt eine unglaubliche Beruhigung, sie normal atmen zu sehen. Doch im Falle des Ausfalles des Zahlungssystems entfällt eine solche Beruhigung. Wie aus dem Wasser gefischte Fische schauen wir uns an und stellen fest, dass wir alle im gleichen Panikboot sitzen. Fassen wir zusammen. Solange Geld nicht fehlt, solange Geld funktioniert, ist Geld fraglos. Es ist ein Milieu, das wir voraussetzen müssen, damit wir halbwegs normal leben können und damit die hochkomplexen Vorgänge unserer technisierten Welt sich ohne Zwischenfälle abwickeln. 27


Geld wird abgeschafft Schauen wir uns nun die wichtigsten Trends der heutigen Geldentwicklung an. Wir stossen zweifellos auf zwei Komplexe: 1. Geld soll so wenig wie möglich fehlen und 2. Geld soll so flüssig wie möglich zirkulieren. 1. Auf die Gefahr hin, eine außerordentliche Plattitüde zu sagen, ist doch das Ziel der meisten Wirtschafts- und Sozialpolitiken der meisten Länder der Welt, die Menschen mit genügend Geld zu versorgen. Wir wissen, dass das nicht überall klappt, dass es enorme Einkommensunterschiede gibt, dass die steuerlichen Ausgleichsmechanismen nicht optimal funktionieren, dass das Leistungsprinzip horrende Ausnahmen toleriert, ja, dass das Geld da abfließt, wo es am meisten gebraucht wird, um dort hinzufließen, wo es schon im Überfluss vorhanden ist usw. usf. Wir wissen, dass das Geld fast immer ungleich und ungerecht verteilt ist. Aber wir können es auch anders formulieren: keiner Regierung in der Welt würde es einfallen, monetäre Engpässe und Dysfunktionen zu inszenieren. Im Gegenteil, jedes Land versucht so gut wie möglich, solche Engpässe zu vermeiden. Denn jedes Land weiss, dass die mit diesen Engpässen verbundene Unordnung der Allgemeinheit teurer zu stehen kommt, als die Mittel, die eingesetzt werden, um sie zu vermeiden. Ich möchte fast sagen, dass es auf keinem anderen gesellschafts- und sozialpolitischen Gebiet so sehr darauf ankommt, Engpässe und Störungen zu vermeiden als im Geldangebot. Jedes Mittel ist dazu recht, auch die schrecklichsten. So werden die Sozialunterstützten nicht aus Philanthropie unterstützt, sondern weil sie schnell zu Störfaktoren werden könnten. Dasselbe gilt für die tiefen Einkommensklassen. Und 28


dort, wo es unmöglich ist, Menschen in irgendeiner Weise mit Geld zu versorgen – man denke an die klassischen Landstreicher, die es in der Schweiz noch bis in die 1970er Jahre gegeben hat – müssen diese potentiellen Störfaktoren entsorgt werden. Geldversorgung ist eines der wesentlichsten Mittel der sozialen Kontrolle. So hart und banal es klingt, je reibungsloser diese Geldversorgung gelingt, desto reibungsloser die Sozialintegration. Es ist also im Interesse jedes Staates, ob von rechts oder links regiert, so zu handeln, dass das Fehlen von Geld auf jeder Stufe der Gesellschaft, ob individuell, kollektiv und institutionell vermieden wird.

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2. Geldzirkulation ist mit zahlreichen Hindernissen verbunden, und diese Hindernisse können höchst kostspielig sein. Im technischen Jargon spricht man von Transaktionskosten. Sie können technischer, krimineller oder struktureller Natur sein. Seit es das Geld gibt, ist der Mensch nicht müde geworden, diese Hindernisse aus dem Wege zu schaffen. Man kann sich keinen Begriff davon machen, wieviel Witz und Kreativität in diese Senkung der Transaktionskosten geflossen ist. Denn auch beim Geld herrscht das Konkurrenzprinzip, man könnte gar sagen: beim Geld mehr noch als in anderen Gebieten der Wirtschaft. Für Friedrich von Hayek ist Konkurrenz ein evolutionäres Prinzip: das billigere und sicherere Geld setzt sich durch. Die ganze Geldentwicklung ist hierlang zu lesen. Bevor man über seine sakralen, kommerziellen, staatlichen oder «debitistischen» Ursprünge streitet, ist man gut beraten, diesem Grundprinzip zu folgen. Das Ziel eines jeden Geldes ist es, gratis, friktionslos, anonym und absolut sicher zu zirkulieren. Man könnte dies als das «magische Viereck» der Geldentwicklung bezeichnen. Das «magische Dreieck» der Kapitalanlage, bestehend aus den Zielen Rendite, Risiko und Liquidität, ist jedem Kleinanleger bekannt, und er weiss, dass ein Ziel immer auf Kosten eines andere geht (je mehr Rendite, desto mehr Risiko; je mehr Liquidität desto weniger Rendite usw.). Das ist beim Geld nicht so. Das Erreichen jedes der Ziele des magischen Vierecks ist lediglich eine technische Frage. Zwar wird es nie Geld geben, das völlig gratis, anonym, friktionslos und sicher zirkuliert, aber des evolutionäre Prinzip der Konkurrenz wird immer dafür sorgen, dass – im Gegensatz zum Gresham’schen Gesetz – das «bessere Geld das schlechtere verdrängt». Folgen wir diesen beiden Trends, so ist es nur eine Frage der Zeit, damit das Geld zu Medium wird, d.h. zur Luft, die wir fraglos 30


einatmen, ja, deren Fraglosigkeit unser Leben erst mÜglich macht. Geld muss wieder begrifflich, verständlich und nachvollziehbar gemacht werden. Es darf nicht vergessen werden, darf nicht erfahrungslos sein. Das ist der Zweck von Aldos Geldkompendium.

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Die Welt hängt heute in einem geradezu unvorstellbaren Masse von Geld ab. Was bedeutet das? Die Sunflower Foundation stellt sich dieser Frage.

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