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Vortrags- und Diskussionszyklus «Überschuldete Staaten: Was folgt auf den Pumpkapitalismus?»

Vom Nutzen der unbekannten Zukunft: eine methodische Anleitung Schlussbericht zu Dirk Baeckers Vortrag vom 23. Januar 2013

Wir wissen nicht, was auf uns zukommt. Dass uns diese Tatsache nicht nur verunsichert, sondern im Gegenteil unser Handeln und Kooperieren überhaupt erst ermöglicht, war die zentrale These von Dirk Baecker. In Anlehnung an die Vermutung von Niklas Luhmann, dass die moderne Gesellschaft von der ihr unbekannten Zukunft zusammengehalten wird, plädierte Baecker – auch mit Blick auf die Krise des Kapitalismus – für einen vorsichtigen Optimismus. «Die Zukunft ist unbekannt» – mit dieser lapidaren Feststellung eröffnet Dirk Baecker seine Ausführungen. Was für uns selbstverständlich klingt, war nicht immer so. Im Gegenteil: Die bisherigen Gesellschaften hatten es immer mit einer mehr oder minder bekannten Zukunft zu tun. In der Stammesgesellschaft hatte man keinen Grund, sich eine unbekannte Zukunft vorzustellen, weil man vollauf damit beschäftigt war, die Gegenwart und die unmittelbar bevorstehende Zukunft in den Kontext einer soeben erlebten und vage erinnerten Vergangenheit und Ahnengeschichte einzuordnen. Die Antike organisierte ihr Zeitempfinden kosmologisch: Was sich auch immer ereignete, stand in einem grossen Zusammenhang mit den Geschehnissen im Götterhimmel. Erst die Moderne entwickelte mit dem Postulat der Vernunft einen kritischen Umgang mit Vergangenheit und Zukunft; sie aber stellte sich die Zukunft in drei sich ausschliessenden Versionen vor: als Fortschritt, Dekadenz oder Utopie. Heute geht uns diese Sicherheit im Umgang mit der Zukunft ab. Es sei denn, wir erleben ganz individuell diese seltenen Momente, in denen, wie Baecker es formuliert, «ich jetzt da bin, wo ich hingehöre», nämlich bei mir. Diese Zugehörigkeit zu sich selbst vermag uns eine Ahnung davon zu vermitteln, wie es sich anfühlte, nicht von einer unbekannten Zukunft irritiert und verunsichert zu sein. Denn mit dem Siegeszug der Evolu-

«Das Einzige», so Baecker, «was sich noch vorhersehen lässt, sind die Mannigfaltigkeit der Ereignisse, Dinge und Perspektiven, solange überhaupt noch etwas geschieht, und der Tod.»

tionstheorie sind keinerlei Zukunftsvorstellungen mehr möglich, weil wir wissen, dass die Entwicklung von Zufällen abhängt, auf die wiederum die zwar bekannten, aber ebenfalls unvorhersehbaren Selektionsmechanismen reagieren werden. «Das Einzige», so Baecker, «was sich noch vorhersehen lässt, sind die Mannigfaltigkeit der Ereignisse, Dinge und Perspektiven, solange überhaupt noch etwas geschieht, und der Tod.» Was macht nun diese unbekannte Zukunft mit uns? Sie hält, dies die zentrale These Niklas Luhmanns, die Gesellschaft zusammen. Wir – als Individuen, Familien, Religionsgemeinschaften, Parteien, Nationen – nehmen die Zukunft in Anspruch, um «Identitätsansprüche, Absichten, Möglichkeiten zu formulieren, die durch Vergangenheit und Gegenwart kaum gedeckt wären». Dirk Baecker meint damit die Funktion von Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Religion, Erziehung und Recht, die alle auf ihre Weise Erwartungen und Be-

fürchtungen in die Zukunft projizieren, die sie in Betätigungen und Programme ummünzen. Nehmen wir die Religion: Die Unsicherheit, ob wir im Himmel oder in der Hölle landen werden, richtet unser Handeln auf das Jenseits und entlang den Geboten aus. Oder die romantische Liebe: Die Unsicherheit, wie lange diese noch dauern mag, lässt uns lieben. Erst das Nichtwissen macht Wissenschaft zu dem, was sie ist: eine ergebnisoffene Forschung. Und nur die Gefahr, nicht wiedergewählt zu werden, richtet das Handeln des Politikers auf die Bedürfnisse der Wähler aus. Einzig Diktatoren wissen, dass sie an der Macht bleiben, und können sich über ihr Volk hinwegsetzen. Das, was wir «Rationalität» nennen, ist also nichts anderes als der Versuch, im Hinblick auf die Zukunft, wie wir sie uns vorstellen, bestmöglich vorbereitet zu sein. Daher ist «die Festlegung der Zukunft durch die Ziele und Zwecke der Organisation [gemeint sind jegliche Ar-


«Die Ausrichtung auf die Zukunft bestimmt unsere Ziele, strukturiert unsere Planung, organisiert unser Handeln und formt ein Stück weit auch die geltenden Hierarchien.» Der Referent

ten von Organisationen wie Firmen, Parteien, Staaten etc.; Anm. KG] nicht der Widerspruch zur Unbekanntheit der Zukunft, sondern die institutionelle Sicherung der Möglichkeit, diese unbekannte Zukunft zur Kenntnis zu nehmen», wie Baecker in Anlehnung an Luhmann ausführt. Diese Ausrichtung auf die Zukunft bestimmt unsere Ziele, strukturiert unsere Planung, organisiert unser Handeln und formt ein Stück weit auch die geltenden Hierarchien. Auch die Wirtschaft ist letztlich eine riesige Wette auf die unbekannte Zukunft. Investitionen, Produkte, die Eroberung von Märkten sind nichts anderes als der Versuch, für die vermutete Zukunft gerüstet zu sein. Der Kapitalismus als Zusammenspiel von Kredit und Risiko, Schuld und Hoffnung koordiniert die verschiedensten Vorstellungen der unbekannten Zukunft. Die Frage, ob der Pumpkapitalismus, der die Zukunft als verschuldete vorwegnimmt, eine Apotheose – also die Erhebung des Kapitalismus zu Gott – oder vielmehr ein Hohn auf die unbekannte Zukunft sei, bleibt freilich unbeantwortet. Wie aber umgehen mit der gegenwärtigen Krise und ihrem offenen Ausgang? Hier ist die Position des Referenten klar: In einer derart komplexen Situation vermag nur ein «postheroisches Management» – im Publikum paraphrasiert als das «professionelle Durchwursteln von Merkel, Draghi, Lagarde & Co.» – zu navigieren. Das bedeutet, so Baecker, «nicht den Helden zu spielen, als wüsste man schon, wie es weitergeht, oder als wäre man zumindest darauf vorbereitet, in Ehren unterzugehen, sondern in kleinen Schritten in feiner Abstimmung und ohne Eitelkeiten aller Art jene Entscheidungen zu treffen, die eine Gegenwart ausloten, die auf die Überraschungen der Zukunft vorbereitet ist». Der sorgenvolle Diskurs, die buchstäbliche Bewirt-

schaftung der Befürchtungen und Ängste – etwa am WEF –, gehört ebenso zum Umgang mit der Krise. Der in allen Aussagen mitschwingende Optimismus des Referenten dürfte angesichts der Problemlage und der nüchternen Analyse überraschen. Zum einen, so gibt der Referent unumwunden zu, entspricht die Fokussierung auf das Negative nicht seinem Temperament; überdies liege in der dauernden Prognostizierung einer Katastrophe die Gefahr, depressiv und damit handlungsunfähig zu werden. Vielleicht, so schliesst Baecker seinen Exkurs nachdenklich, wäre die Suche nach dem «Omega» (griech. Ω = Ende) eine angemessene Methode für den Umgang mit der unbekannten Zukunft: Die Vorstellung eines Omega, wie sie der Mathematiker Gregory Chaitin entwickelt hat, als Summe dessen, was wir über uns wissen können, als zwar nicht zu erreichender, aber anzustrebender Ort – im Gegensatz zur Utopie als Nichtort. Diese Vorstellung hielte uns dazu an, mehr zu wissen, besser zu lernen, der unbekannten Zukunft doch noch näherzukommen. Dr. Katja Gentinetta Gesprächsleiterin MoneyForum

Dirk Baecker, geb. 1955, Dr. rer. soc., ist Professor für Kulturtheorie und -analyse an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen am Bodensee. Seine Arbeitsgebiete umfassen soziologische Theorie, Kulturtheorie, Wirtschaftssoziologie, Organisationsforschung und Managementlehre. Zuletzt von ihm erschienen sind: «Form und Formen der Kommunikation» (Suhrkamp, 2005), «Studien zur nächsten Gesellschaft» (Suhrkamp, 2007) und «Die Sache mit der Führung» (Picus, 2009). www.dirkbaecker.com.

Programmvorschau Mittwoch, 27. Februar 2013 Peter Siegenthaler: Wege aus der Schuldenfalle: Ein Plädoyer für faire Regeln Mittwoch, 22. Mai 2013 Monika Bütler: Welche Aufgaben haben Sozialversicherungen in überschuldeten Staaten? Dienstag, 1. Oktober 2013 Roger de Weck: Die Zukunft des Kapitalismus Ort: Bärengasse 20, 8001 Zürich Zeit: 18  –  20.30 Uhr (inkl. Apéro riche)

Dieser Schlussbericht ist auch im Downloadarchiv des MoneyForums auf moneyforum.sunflower.ch verfügbar.

Gestaltung: Barbara Thommen, Visuelle Gestaltung, Zürich © Foto MoneyForum: Sunflower Foundation © Foto Referent: bei diesem Sunflower Foundation, Zürich, Februar 2013 Verena-Conzett-Strasse 7, Postfach, 8036 Zürich www.sunflower.ch


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