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N° 4 / 2013

Bulletin Das älteste Bankmagazin der Welt. Seit 1895.

Schule – Für alle, die nicht schon alles wissen Mit dem Credit Suisse Jugendbarometer, der internationalen Umfrage


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— Editorial —

Jugend 2013: Wir wollen Bildung! 1

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3

4

An dieser Ausgabe haben mitgearbeitet:

1 Barbara Achermann und 2 Espen Eichhöfer Barbara Achermann ist prämierte Reporta­ gejournalistin und lebt in Basel. Ihr Herz schlägt für Afrika, sie schrieb Geschichten aus Sierra Leone, Togo und Tansania. Für das Bulletin reiste sie in den Südsudan, das jüngste Land der Welt. Mit ihr unterwegs war Espen Eichhöfer. Der Deutsche kam in Norwegen zur Welt, lebt in Berlin und fotografiert rund um die Welt: von der Ukraine über die Philippinen bis Oman und Kuba. Der Südsudan erreichte 2011 die Unabhängigkeit, Espen Eichhöfer bereiste ihn nun bereits zum zweiten Mal. Seite 64 3 Julica Jungehülsing Die freie Journalistin und Buchautorin lebt seit 2001 in Sydney. In einem Vorort der aus­ tralischen Küstenstadt traf sie Alun Ren­ shaw, der am Lieblingssong aller Erzie­ hungsrebellen mitgewirkt hatte: Er leitete den Chor zu «Another Brick in the Wall» von Pink Floyd. Das Lied begleitet den Mu­ siklehrer noch heute. Seite 22 4 Ludger Wössmann Der Wirtschaftsprofessor der Ludwig­ Maximilians­Universität in München hat ein Thema, das ihn umtreibt: die Ökonomie der Bildung. Der vielfach ausgezeichnete 40­jährige Jungprofessor mit Stationen in Harvard und Stanford präsentiert seine eige­ nen und andere Studien. Für ihn ist ein Fazit essenziell: «Gute Bildung ist der zentrale Faktor für den individuellen wie für den ge­ samtwirtschaftlichen Wohlstand.» Seite 4

«W

illst du ein Jahr wirken, so säe Korn. Willst du zehn Jahre wirken, so pflege einen Baum. Willst du hun­ dert Jahre wirken, so erziehe einen Menschen.» Dieses chinesische Sprichwort stammt aus dem Jahr 645 v. Chr. – es hat nichts an Aktualität und Wahrheit eingebüsst. In diesem Bul­ letin zum Thema «Schule» möchten wir zeigen: Bildung ist immens wichtig, für jeden Menschen, für alle Gesellschaften. s ist ein globales Thema, deshalb schauten wir uns auf der Welt um: Wir führten in China, Mexiko und England Fotoworkshops mit Schülerinnen und Schülern durch (Seite 10). Wir reisten in den Südsudan, das Land mit der tiefsten Bildungsrate der Welt, und besuchten die Juba Technical High School, wo Kriegsopfer – und auch Kindersoldaten – auf das zivi­ le Leben vorbereitet werden (Seite 64). Und wir trafen in Austra­ lien Alun Renshaw, den Leiter jenes Kinderchors, der die legen­ däre antiautoritäre Hymne von Pink Floyd eingesungen hatte: «We don’t need no education» («Wir brauchen keine Erziehung»). Der nonkonformistische Ex­Lehrer erzählt, wie die Aufregung um den Song auf einem Missverständnis beruhte (Seite 22). as Kernstück dieser Ausgabe bildet das traditionelle Credit Suisse Jugendbarometer, das dieses Jahr erstmals auch in Singapur erhoben wurde und somit Rückschlüs­ se auf die Jugend in vier Erdteilen zulässt, in Nordamerika (USA), Südamerika (Brasilien), Asien (Singapur) und Europa (Schweiz). Wie geht es der Jugend 2013 rund um die Welt? Zusammenge­ fasst lässt sich festhalten: Vielerorts präsentiert sie sich weniger hoffnungsvoll als in den vergangenen drei Jahren, der Optimismus ist weltweit gesunken – verständlich, bei der teilweise grassieren­ den Jugendarbeitslosigkeit. Trotzdem ist die politische Zufrieden­ heit nach wie vor gross. Ausserdem, auch das ist eine erfreuliche Nachricht, sieht sich die aktuelle Generation der 16­ bis 25­Jäh­ rigen nicht in der «We don’t need no education»­Tradition. Für sie, die in wirtschaftlich schwierigen Zeiten aufwächst, steht fest: Schule und Bildung sind enorm wichtig, lebenslange Weiterbil­ dung ist unerlässlich. Das Jugendbarometer finden Sie als um­ fangreiches Dossier auf den Seiten 29 – 51. Wir wünschen viel Vergnügen mit der Jugend von heute.

E

D

Ihre Redaktion Bulletin N° 4 / 2013 — 1



— Inhalt —

Bulletin: Schule

4 10 18

22 26

Bildung ist alles Persönliches Fortkommen, gesellschaftlicher Wohlstand: Warum Bildung so wichtig ist.

29

Es hat «klick!» gemacht Schüler in Peking, London und Mexico City haben für uns ihren Alltag fotografiert.

Credit SuiSSe Jugendbarometer

Vier Länder, vier Kontinente: die grosse Umfrage

58

Sparen iSt in

62

James J. Heckman Der Nobelpreisträger erklärt im Interview, warum Investitionen in die Kleinsten den grössten Nutzen bringen.

Another Brick in the Wall Die wahre Geschichte hinter der antiautoritären Hymne von Pink Floyd. Man hat nie ausgelernt Weiterbildung lohnt sich bis ins hohe Alter. Für alle.

64

33 36 38 41 45 47 50

Zum Titelbild: Fab und Seray, zwei Schüler der Daubeney Primary School in London. Foto: Muir Vidler

PERFORM ANCE

neutral Drucksache No. 01-13-424363 Ð www.myclimate.org

© myclimate Ð The Climate Protection Partnership

52

«Star Wars Kid», die Rückkehr Treibjagd im Internet: Ein Mobbing­Opfer schaut auf seinen Leidensweg zurück. Daniel Humm Vom Schweizer Schulabbrecher zum Spitzenkoch in New York. Schlechtes Zeugnis Bildungsexperte Ken Robinson: Schulen machen alles falsch. An der Schulfront Reportage aus dem Südsudan, wo Kriegsopfer endlich zur Schule gehen können. Dazu: Interview mit Jo Bourne von der Unicef.

LebenSZieLe und Werte SCHuLe, beruF, FinanZen Schweiz

Die Jugend schätzt die Vorteile des Landes und ist sich der Gefahren durchaus bewusst.

poLitiK und geSeLLSCHaFt LebenSStiL und FreiZeit Singapur

76 80

Aufgepasst! Sieben Mal Bemerkenswertes aus dem Bildungswesen. Pausenlos Illustriert von Jody Barton.

Religiös, stolz, pessimistisch: So ticken die Jugendlichen im asiatischen Stadtstaat.

brasilien

Jähes Aufwachen nach dem Wirtschaftsboom.

Neu im App Store Die App «News & Expertise», mit dem Bulletin und weiteren aktuellen Publikationen der Credit Suisse. www.credit-suisse.com/bulletin

Impressum: Herausgeberin: Credit Suisse AG, Inhaltskonzept, Redaktion: Ammann, Brunner & Krobath AG (www.abk.ch), Gestaltungskonzept, Layout, Realisation: Crafft Kommunikation AG (www.crafft.ch), Fotoredaktion: Studio Andreas Wellnitz, Berlin, Druckvorstufe: n c ag (www.ncag.ch), Druckerei: Stämpfli AG, Auflage: 150 000 Kontakt: bulletin@abk.ch (Redaktion), abo.bulletin@credit­suisse.com (Abonnentenservice)

Fotos: Michael Spindler / spindlerfilms.com; blackred / iStockphoto; Espen Eichhöfer

Bulletin N° 4 / 2013 — 3


— Schule —

Bildet euch!

Bildung ist der wichtigste Rohstoff moderner Gesellschaften und das beste Mittel, um Entwicklungsländer aus der Armut zu bringen. Auch gut zu wissen: Je mehr Bildung, desto höher das spätere Einkommen.

Von Ludger Wössmann NorwegeN Hohes Wachstum trotz tiefer Schulleistung dank Rohstoffreichtum.

Schulleistungen und langfristiges Wirtschaftswachstum: Hohe Bildung führt zu Wohlstand der Länder. 3,5 USA Gute institutionelle Rahmenbedingungen (freie Märkte), aber 2,9 wenig Breite in der 2,9 Bildung.

Durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandproduktes pro Kopf (in Prozent, 1960 – 2009)

3,4

3,3

2,9

2,8 2,6

2,6 2,4

1,8

2,0

1,8

1,5

1,2

1,2

1,2

1,0 0,8

Schülerleistungen gemessen äquivalent zu PISA­Testpunkten in aufsteigender Reihenfolge 4 — Bulletin N° 4 / 2013

2,4

2,3

2,0

2,8

2,7


5,6 CHINA Grosses Wachstums­ potenzial nach dem Wandel von Plan­ zu Marktwirtschaft.

4,8

4,9

4,9

4,4

SCHweIZ Gute wirtschaftliche Entwicklung, Schülerleistungen im Mittelfeld der unter­ suchten Länder.

3,5

3,2

3,1

2,8

2,8

2,8

2,9

3,4

3,3

3,2

3,1

3,7

3,2 3,0

2,8

2,8

2,2

0,9

Illustration: Crafft

3,1

3,6

Erklärungen zur Grafik auf der nächsten Seite.


— Schule —

Zur Infografik Die Abbildung gibt das Ergebnis einer Regressionsanalyse wieder. Die Länge der Stifte stellt den Teil der durchschnittlichen jährlichen realen Wachstumsrate des Bruttoinlandprodukts pro Kopf zwischen 1960 und 2009 dar, der nicht durch andere Faktoren des Modells erklärt wird. Von links nach rechts sind die Länder in aufsteigender Reihenfolge der Schüler­ leistungen angeordnet (verschiedene Tests, 1964–2003, gemessen äquivalent zu PISA­Testpunkten, wiederum der nicht durch andere Faktoren erklärte Teil). Darstellung von Crafft auf Grundlage von: Eric A. Hanushek und Ludger Wössmann (2012), Do better schools lead to more growth? Cognitive skills, economic outcomes, and causation, Journal of Economic Growth 17 (4): 267–321.

6 — Bulletin N° 4 / 2013

J

ohn F. Kennedy hat einmal ge­ sagt: «Es gibt nur eins, was auf Dauer teurer ist als Bildung: kei­ ne Bildung.» Die aktuelle bil­ dungsökonomische Forschung belegt, wie recht er hatte. Es gibt wohl nichts, das für den langfris­ tigen Wohlstand des Einzelnen wie der Gesellschaft wichtiger ist als eine gute Bil­ dung. Die Fakten dazu sind überwältigend. Neuere empirische Studien belegen, dass die Bildungsleistungen der Bevölke­ rung, wie sie etwa als Basiskompetenzen in internationalen Schülertests gemessen werden, der wohl wichtigste Bestim­ mungsfaktor für das langfristige volks­ wirtschaftliche Wachstum sind. Um dies zu untersuchen, wurden die seit Mitte der 1960er Jahre durchgeführten internatio­ nalen Vergleichstests von Schülerleistungen in Mathematik und Naturwissenschaften – quasi die PISA­Vorgängerstudien – zu einem Mass der durchschnittlichen schu­ lischen Leistungen der Bevölkerung zu­ sammengefasst. Für die 50 Länder, für die auch inter­ national vergleichbare Wirtschaftsdaten vorliegen, ergibt sich – auch nachdem der Einfluss anderer wichtiger Faktoren her­ ausgerechnet wurde – das in der Infografik auf der vorangehenden Seite dargestellte Bild: Je besser die Leistungen in den PISA­ Vorgängertests, desto höher ist das Wachs­ tum des Bruttoinlandprodukts pro Kopf seit 1960. Der eindeutige Zusammenhang ist frappierend: Länder mit hohen Kompe­ tenzen sind schnell gewachsen, Länder mit niedrigen Kompetenzen sind kaum von der Stelle gekommen. Mit einem so einfa­ chen Modell lässt sich der Grossteil der in­

ternationalen Unterschiede im langfristi­ gen Wirtschaftswachstum erklären. Die aktuelle Forschung gibt deutli­ che Belege dafür, dass es sich bei dem Zu­ sammenhang um einen ursächlichen Ef­ fekt besserer Bildungsleistungen handelt. Und: Sobald die Bildungsleistungen im Wachstumsmodell berücksichtigt werden, verschwindet jeglicher Effekt der blossen Anzahl der Bildungsjahre. Anders ausge­ drückt: Schulbildung wirkt sich nur in dem Masse wirtschaftlich aus, wie sie auch tatsächlich höhere Kompetenzen vermit­ telt. Es reicht nicht, nur die Schul­ oder Universitätsbank zu drücken; auf das Ge­ lernte kommt es an. Bildung ist die Basis Zusätzlich zeigt sich, dass sowohl eine gute Bildungsbasis in der Breite der Bevöl­ kerung als auch eine genügend grosse An­ zahl an Spitzenkräften einen signifikanten Einfluss auf das Wirtschaftswachstum ha­ ben. Insofern darf man niemals die Bil­ dung in der Breite der Bevölkerung gegen die Leistung an der Spitze ausspielen: Es kommt auf beides an. Und auch wenn die Befunde auf die grosse wirtschaftliche Bedeutung mathematisch­naturwissen­ schaftlicher Basiskompetenzen hinweisen, gehen diese oft auch mit entsprechenden Leistungen in anderen Fächern oder auch im Bereich nichtkognitiver Kompetenzen wie Beharrlichkeit oder Teamfähigkeit einher, die sich – gerade im internationalen Zusammenhang – nicht so leicht messen lassen. Insofern sollten die Befunde vor al­ lem als Effekte von Bildungsleistungen ins gesamt interpretiert werden: Gute Bildungsleistungen sind die Basis des langfristigen Wachstums und damit des Wohlstands einer Gesellschaft. Im Umkehrschluss heisst das: Unzu­ reichende Bildungsleistungen sind teuer. Projektionen, die ich zusammen mit Eric Hanushek von der Stanford University im Rahmen der OECD­Studie «The High Cost of Low Educational Performance» angestellt habe, kommen etwa für die Schweiz zu dem Ergebnis, dass sich lang­ fristig (über den Lebenszeitraum eines heute geborenen Kindes gerechnet) rund eine Billion Franken an zusätzlichem Bruttoinlandprodukt erzielen liesse, wenn


— Schule —

die Bildungsleistungen auf das Niveau des PISA­Spitzenreiters Finnland gesteigert würden. Die Folgekosten unzureichender Bildung in Form von entgangenem Wirt­ schaftswachstum sind gewaltig. Das gilt für Entwicklungsländer ge­ nauso wie für entwickelte Volkswirtschaf­ ten. So zeigt sich zum Beispiel, dass die aussergewöhnlich schlechte Wirtschafts­ entwicklung Lateinamerikas über das ver­ gangene halbe Jahrhundert sich weitge­ hend auf eine unzulängliche Qualität der Bildung zurückführen lässt. Zwar weisen viele lateinamerikanische Länder eine durchaus ansehnliche durchschnittliche Bildungsdauer ihrer Bevölkerung auf. Aber in internationalen Vergleichstest der tatsächlich erlernten Kompetenzen schnei­ den die lateinamerikanischen Länder – wie auch Länder aus Subsahara­Afrika – er­ schreckend schlecht ab. Ökonomisch lässt sich damit ihre insgesamt schlechte lang­ fristige Wachstumsperformance seit 1960 komplett erklären. Dieser Befund deutet darauf hin, dass eine Neuausrichtung der Entwick­ lungsziele der internationalen Gemein­ schaft dringend geboten ist. Die Millen­ nium­Entwicklungsziele der Vereinten Nationen wie auch die Unesco­Initiative

Nicht nur für die Gesellschaft insgesamt, sondern auch für jeden Einzelnen zahlt sich eine bessere Bildung aus. Aus indivi­ dueller Sicht sinkt mit einem besseren Bil­ dungsabschluss das Risiko der Arbeitslo­ sigkeit und steigt das Erwerbseinkommen. Nach den aktuellen Zahlen der OECD haben in der Schweiz Personen mit Hoch­ schulabschluss eine Arbeitslosenquote von 3 Prozent, Personen mit mittlerem Bil­ dungsabschluss (insbesondere abgeschlos­ sene Lehre) 5 Prozent und Personen ohne mittleren Bildungsabschluss 8 Prozent. In den Ländern der Europäischen Union ist dieser Unterschied mit 5 Prozent, 8,5 Pro­ zent und über 15 Prozent sogar noch deut­ licher ausgeprägt. Eine gute Bildung ist die beste Versicherung gegen Arbeitslosigkeit, die in nahezu allen entwickelten Ländern heutzutage vor allem eine Arbeitslosigkeit der Geringqualifizierten ist. Und auch unter denen, die einen Job haben, gilt: Das durchschnittliche Ein­ kommen von Personen mit Hochschulab­ schluss ist in der Schweiz – wie auch im Durchschnitt der OECD­Länder – über 50 Prozent höher als das von Personen mit mittlerem Bildungsabschluss (Lehre) und mehr als doppelt so hoch wie das von Per­ sonen ohne mittleren Bildungsabschluss.

Es kommt auf beides an – die Bildung in der Breite der Bevölkerung und die Leistung an der Spitze. «Bildung für alle» zielen in erster Linie auf quantifizierbare Ziele in Form von erwei­ tertem Zugang zur Schule (siehe Seite 74). Selbst in Ländern, die einen hohen Schul­ besuch in weiterführenden Schulen auf­ weisen, deuten die Leistungstests aber da­ rauf hin, dass weniger als zehn Prozent der Jugendlichen auch nur ein Basisniveau an Lese­, Schreib­ und Rechenfähigkeiten erreichen. Allein diese Kompetenzen und nicht die Dauer des Schulbankdrückens sind es aber, die sich wirtschaftlich auswir­ ken. Deshalb machen Entwicklungsziele nur Sinn, wenn sie an den tatsächlich ver­ mittelten Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen ausgerichtet sind.

Generell zeigt die empirische Arbeits­ marktforschung, dass das spätere Einkom­ men mit jedem zusätzlichen Bildungsjahr je nach Studie um rund sieben bis zehn Prozent steigt. Dieser positive Effekt der Bildung auf den Erfolg am Arbeitsmarkt ist wohl einer der robustesten Befunde der empirischen Wirtschaftsforschung über­ haupt. Und die wenigen Studien, die neben den Bildungsjahren auch direkte Kompe­ tenzmasse mit dem Arbeitsmarkterfolg in Verbindung bringen können, zeigen eine grosse Bedeutung der tatsächlich erworbe­ nen Kompetenzen. Sicherlich ist die aktuell frappierend hohe Jugendarbeitslosigkeit in den südeu­

ropäischen Krisenländern mehr der ge­ samtwirtschaftlichen Krisensituation und der Inflexibilität und Segmentierung des Arbeitsmarktes geschuldet als dem indivi­ duellen Bildungsniveau. Aber auch hier hat etwa der künstliche Bauboom mit rela­ tiv hohen Löhnen für geringqualifizierte Arbeit dazu beigetragen, dass viele Ju­ gendliche ihre Bildungskarriere früh ab­ gebrochen haben. Das rächt sich nun: In Spanien stehen auch Akademikerinnen und Akademiker auf der Strasse, aber pro­ portional sind es viel weniger als bei Per­ sonen mit niedrigerer Bildung. Auch hier liegt – gerade langfristig – der Königsweg aus der hohen Arbeitslosigkeit in einer Er­ höhung der Produktivität durch eine ver­ besserte Bildung der Jugendlichen. Alle gewinnen, keiner verliert Wie die grossen gesamtwirtschaftlichen Wachstumseffekte besserer Bildung ver­ deutlichen, geht die bessere Bildung des einen auch nicht zu Lasten der wirtschaft­ lichen Chancen des anderen. Vorstellun­ gen, eine gute Bildung sei nichts mehr wert, wenn jeder sie hätte, sind völlig irrig. Sie basieren auf der falschen Vorstellung eines in seiner Grösse feststehenden wirt­ schaftlichen Kuchens, den es zu verteilen gelte. Im Gegenteil profitiert die gesamte Volkswirtschaft von der besseren Bildung jedes Einzelnen. Die Fakten belegen, dass der Kuchen wächst, wenn alle ein höheres Bildungsniveau erreichen. Damit ist nicht nur für jeden, der mehr wirtschaftlichen Wert schöpft, mehr da, sondern gesell­ schaftlich steht etwa auch mehr für die so­ zialen Sicherungssysteme zur Verfügung. Kurzum: Weil die moderne Volkswirt­ schaft vor allem von den Fähigkeiten der Bevölkerung getragen wird, ist Bildung der Schlüsselfaktor für die zukünftige Entwicklung unseres Wohlstands. Daneben lassen sich auch zahlreiche positive Effekte in wichtigen anderen Di­ mensionen belegen: Gute Bildung befä­ higt zu selbstverantwortlichem Handeln und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Sie kann zivilgesellschaftlich re­ guliertes Verhalten und staatsbürgerliches Bewusstsein entwickeln und zu einem ge­ meinsamen Wertekanon und gesellschaft­ lichem Zusammenhalt beitragen. Da­ Bulletin N° 4 / 2013 — 7


— Schule —

rüber hinaus belegen zahlreiche Studien, dass bessere Bildung etwa mit gestärktem Gesundheitsbewusstsein, verringerten Schwangerschaften im Teenageralter und sinkender Kriminalität einhergeht. Mit der Schlüsselfunktion guter Bil­ dung für wirtschaftlichen Wohlstand stellt sich die Frage, welche Ansatzpunkte die Politik hat, um die Bildungsleistungen der Bevölkerung effektiv zu steigern. Ein ers­ ter Forschungsbefund ist ernüchternd: Mit blossen Ausgabenerhöhungen lassen sich Schülerleistungen kaum verbessern. Eine umfangreiche Literatur kommt nahezu einheitlich zu dem Ergebnis, dass blosse

Bildungssystems müssen Anreize für alle Beteiligten schaffen, damit sich ihre An­ strengung lohnt. Analysen der internatio­ nalen Schülervergleiche zeigen, dass dafür drei institutionelle Faktoren sehr wichtig sind: externe Überprüfungen der erzielten Leist ungen, mehr Selbständigkeit für Schulen und Lehrer sowie mehr Wettbe­ werb zwischen den Schulen. Die Schülerleistungen sind dort we­ sentlich besser, wo es externe Prüfungen der verschiedenen Abschlüsse gibt. Dies belegen sowohl der internationale Ver­ gleich als auch der Vergleich der deutschen Bundesländer, der sich bei dieser Frage an­

Es fehlt nicht in erster Linie am Geld, es muss vor allem effektiv eingesetzt werden. Klassenverkleinerungen und Ausgabener­ höhungen innerhalb des Systems, wie es derzeit strukturiert ist, die Schülerleistun­ gen kaum verbessern. So besteht im inter­ nationalen Vergleich kein Zusammenhang zwischen dem Ausgabenniveau und den gemessenen Schülerleistungen: Die besten Länder geben nicht systematisch mehr aus. Es fehlt nicht in erster Linie am Geld – es muss vor allem effektiv eingesetzt werden. Wie man Bildungssysteme verbessert Bei der Frage, wie ein besserer Mittelein­ satz konkret aussehen muss, geht es zum einen um die Verteilung der Mittel über die Bildungsstufen. Dabei zeigt sich, dass es einen Lebenszyklus der Bildungsfinan­ zierung gibt: Die Erträge von Bildungs­ investitionen nehmen mit zunehmendem Alter tendenziell ab. Die höchsten Erträge öffentlicher Investitionen liegen im Be­ reich der frühkindlichen Bildung für Kin­ der aus sozial benachteiligten Schichten. Eine Verlagerung der öffentlichen Ausga­ ben aus späten in frühe Phasen des Bil­ dungslebenszyklus würde die Bildungsfi­ nanzierung deshalb sowohl effizienter als auch gerechter machen. Zum anderen bedarf es für einen besseren Mitteleinsatz institutioneller Re­ formen. Die Rahmenbedingungen des 8 — Bulletin N° 4 / 2013

bietet, da bis Mitte der 2000er Jahre etwa die Hälfte der Bundesländer zentrale Ab­ schlussprüfungen hatte, die andere Hälfte nicht. Externe Leistungsprüfungen ma­ chen die Akteure für ihr Verhalten verant­ wortlich und stellen sicher, dass die Lern­ anstrengungen für andere sichtbar werden und sich deshalb später auszahlen. Ausserdem belegen internationale Vergleiche, dass Schüler dort signifikant mehr lernen, wo Lehrer und Schulen mehr Selbständigkeit haben. Dabei gehören Selbständigkeit von Schulen und externe Leistungsüberprüfungen zusammen: Eine erfolgreiche Bildungspolitik legt Stan­ dards extern fest und überprüft ihr Errei­ chen extern, überlässt es aber den Schulen selbst, wie sie diese am besten erreichen können. Vor allem in Personalfragen und in Fragen des Tagesgeschäfts benötigen Schulen viel mehr Freiheit. Dort, wo Schulen selbst über die Verwendung ihres Budgets entscheiden und Lehrer die An­ schaffung von Materialien beeinf lussen können, lernen Schüler mehr. Schliesslich erweist sich der Wettbe­ werb der Schulen um die besten Ideen, der durch grössere Wahlmöglichkeiten der El­ tern entsteht, als ein entscheidender Ein­ f lussfaktor auf die Bildungsergebnisse. Müssen Schulen um die Gunst der Eltern

konkurrieren, können diese ihre bevorzug­ te Option wählen, und schlechte Schulen verlieren Schüler. Analysen der internat i­ onalen Vergleichsstudien haben wieder­ holt belegt, dass jene Schulsysteme am besten abschneiden, die relativ hohe An­ teile an Schulen in freier Trägerschaft mit relativ hoher staatlicher Finanzierung ver­ binden. Denn erst wenn durch staatliche Finanzierung alle Schüler unabhängig von ihrem Hintergrund denselben Zugang zu alternativen Schulen haben, entsteht ein Wettbewerb der Schulen um die besten Kon zepte, der allen Schülern zugute­ kommt. Selektion ja, aber nicht zu früh Ein wichtiger empirisch nachgewiesener Ansatzpunkt für grössere Chancengleich­ heit ist – neben der frühkindlichen Bil­ dung – schliesslich der Zeitpunkt der Auf­ teilung der Schüler auf verschiedene Schulniveaus. Das Ausmass, in dem die Schülerleistungen am Ende der weiterfüh­ renden Schule vom jeweiligen sozioökono­ mischen Hintergrund abhängen, ist umso geringer, je später die Aufteilung in unter­ schiedliche Schulformen erfolgt. Gleich­ zeitig geht die geringere Selektion nicht zu Lasten des Leistungsniveaus. Alles in allem ist eine gute Bildung der zentrale Faktor für den individuellen wie den gesamtwirtschaftlichen Wohl­ stand. Deshalb ist eine Bildungspolitik, die sicherstellt, dass alle Menschen die bestmöglichen Kompetenzen erreichen können, die beste Sozial­ und Wirtschafts­ politik überhaupt.

Ludger Wössmann ist Professor für Bildungs­ ökonomik an der Ludwig­Maximilians­ Universität München und Leiter des Zentrums für Bildungs­ und Innovationsökonomik am ifo Institut für Wirtschaftsforschung in München. Foto: Yury Teploukhov / fotolia


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In London. Foto: Muir Vidler

10 — Bulletin N° 4 / 2013


— Schule —

Klasse Fotos Bei diesen Schülerinnen und Schülern hat es «klick!» gemacht: In einem Workshop, den das Bulletin in Peking, Mexico City und London durchführte, fotografierten sie ihren Alltag. Betreut wurden sie von einem Berufsfotografen, der ihnen half, alles ins rechte Licht zu rücken. Vom Schulweg über die Klassenkameraden bis zum Pausensnack – die Schüler zeigen aus ihrer Sicht, wie sie die Welt sehen. Wir bitten um Aufmerksamkeit: Der Anschauungsunterricht beginnt. Workshops und Dokumentation: Katharina Hesse (China), Mark Powell (Mexiko), Muir Vidler (England), Organisation: Maria Leutner und Peggy Wellerdt

In Peking. Foto: Katharina Hesse

In Mexico City. Foto: Mark Powell

Bulletin N° 4 / 2013 — 11


Die kleine Schwester von Min.

Schulweg.

Pausensnack: Trauben und Melone.

Eingang zur Schule.

Unterricht von Frau Wang.

Heimweg mit der besten Freundin.

Gemüsegarten in der Schule.

Lieblingsecke von Jiajia: das öffentliche Telefon.

Zenglins Zimmer.

Schulweg. 12 — Bulletin N° 4 / 2013

China mit allen Provinzen – Enze mag die Karte sehr.


Schultasche von Tongtong.

Beste Freundin von Ning. Hausaufgaben.

Von links nach rechts: (hintere Reihe) Frau Wang (Lehrerin), Frau Mao (Lehrerin), Tongtong, Zenglin, Zhiqiang, Chunfeng, Enze, Katharina Hesse (Fotografin), Tu Qiang (Foto­Assistent); (vordere Reihe) Wenjie, Shouhua, Min, Jiajia, Ning, Fei, Xingling; (ganz vorne) Ruan.

Eine Schulfreundin. Pausenplatz.

PEKING CAOCHANGDI

Sportplatz.

Die Schule liegt am Stadtrand von Peking, es werden Stadt­ und Landkinder unterrichtet, was eher ungewöhnlich ist. Caochangdi ist ein bekanntes Künstlerviertel, wo Berühmtheiten wie Ai Weiwei wohnen und namhafte Galerien angesiedelt sind. Die Schulbilder stammen aus dem Kunstzirkel am Nachmittag: Eltern wollen, dass ihre Kinder möglichst viel lernen, deshalb wird auch nachmittags weitergebüffelt. Es gibt sechs Altersstufen mit jeweils vier Parallelklassen. Jede Klasse besuchen etwa 35 – 40 Schüler.

Pilz auf dem Pausenplatz.

Tischnachbarin und beste Freundin von Min.

Bulletin N° 4 / 2013 — 13


MEXICO CITY DECROLY

Die Privatschule liegt im Herzen der Metropole. 300 Kinder in 21 Klassen besuchen hier die Unterstufe. Der Unterricht folgt der Methodik des belgischen Reformpädagogen Ovide Decroly (1871–1932), der einen «globalen Ansatz» vertrat. Seine Lehre folgt der natürlichen Logik der Kinder: vom Konkreten zum Abstrakten, vom Einfachen zum Komplizierten. Die Bilder entstanden während der Sommerschule.

Sofias Zimmer, von Dario fotografiert.

Cora, die Schwester von Nicole.

Von links nach rechts: Sebastian, Julian, Patrizio, Eva, Camilo, Dario, Rebecca (die Lehrerin), Emma (auf dem Roller), Paola Donatella, Diego, Luisa Gabriela, Gaia, Nicole, Maria, Sofia.

Klassenzimmer.

Versammlungsraum.

14 — Bulletin N° 4 / 2013

Eva im Klassenzimmer.


Gitter halten Katzen ab vor dem dahinterliegenden Sandkasten.

Pausenplatz.

Vor dem Klassenzimmer, während der Reinigung.

Camilos Frühstück: Tortillas.

Auf dem Schulweg gesehen: ein Nach­ Erdbeben­Treffpunkt («Punto de Reunión»).

Seiteneingang zur Schule.

Kleiner Imbiss, bevor die Schule beginnt.

Auf dem Schulweg.

Camilo übt Flöte. Dario und Patrizio.

Bulletin N° 4 / 2013 — 15


Emanas Zimmer.

Pausenplatz mit bemalten Mauern. Der Bruder von Shanice.

Die Katze von Shanice.

Noras Frühstück.

Von links nach rechts: (4. Reihe) Merit (rote Strickjacke), Nora, Caleb, Esmond, Shamsher, Hussain, Temi; (3. Reihe) Annalise, Emana, Ilerih, Joshua, Fab, Edward; (2. Reihe) Alika, Nura, Joel, Omar, Seray; (1. Reihe) Elaine, Hanan, Shanice.

16Homerton — BulletinHigh N° 4 /Street: 2013

Schulweg von Annalise.

Seiteneingang der Schule.


Pausenplatz.

Ilerih, Shanice und Annalise auf dem Pausenplatz (v. l. n. r.).

Der König der Pause.

Rucksack von Annalise auf ihrem Platz.

Selbstporträt von Alfie.

Die Lehrerin der 5B, Lauren Backhouse.

LONDON DAUBENEY

Das Klassenzimmer der 5B. Lese­Ecke im Klassenzimmer.

Die Primarschule liegt in Hackney, im Nordosten von London, und ist stark durchmischt, 91 Prozent der Schülerinnen und Schüler stammen aus ethnischen Minderheiten. Insgesamt besuchen 605 Kinder in 22 Klassen die Daubeney Primary School. Das Bulletin war zu Besuch bei der Klasse 5B von Lehrerin Lauren Backhouse.

Caleb.

Klassenzimmer. Stuhl von Annalise.

Lunch: im Ofen gebackene Bohnen mit brauner Sauce.

Bulletin N° 4 / 2013 — 17


— Schule —

Je früher, desto v

Für den Erfolg im Leben ist entscheidend, was vor der Schulzeit geschieht, sagt der Wirtschaftsnobelpreisträger James J. Heckman. Er plädiert vehement dafür, gezielt in die frühkindliche Förderung zu investieren. Interview: Daniel Ammann und Simon Brunner

Professor Heckman, wie wichtig sind die Verhältnisse, in die ein Kind hineingeboren wird, für seinen Erfolg im Leben? Der «Zufall der Geburt», wie ich das nenne, ist die wesentliche Ursache von Ungleichheit. Laut jüngsten Untersu­ chungen ist die ungleiche Einkommens­ verteilung in Amerika zu fünfzig Prozent auf Faktoren zurückzuführen, die vor dem 18. Lebensjahr festgelegt sind. In Westeuropa sind die Zahlen genauso hoch oder vielleicht noch höher, weil die Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt generell niedriger ist. Mit anderen Wor­ ten: Wie sich ein Mensch entwickelt, wird ganz wesentlich durch seine Her­ kunft bestimmt. Was genau verstehen Sie unter dem «Zufall der Geburt»? In welche Verhältnisse wir hineingeboren werden, können wir nicht beeinflussen. Eltern, Gene, Ausbildung und Gesund­ heit – das alles wird von der Familie bestimmt. Dabei gibt es grosse Unter­ schiede, auf die wir später zum Teil einwirken können. Mein Augenmerk gilt speziell der ungleichen Verteilung der Ressourcen, die Familien zur Förderung ihrer Kinder einsetzen. Verglichen mit der Situation vor fünfzig Jahren werden in Amerika mehr Kinder in benachteilig­ te Familien hineingeboren, in denen Kinder weniger gefördert werden als in anderen Familien. In Westeuropa sorgt die steigende Zahl von nichtintegrierten Einwandererfamilien für einen ähnlich ungünstigen Trend. 18 — Bulletin N° 4 / 2013

Welche Konsequenzen kann eine solche Ungleichheit für die Gesellschaft haben? Es besteht ein nachweisbarer Zusammen­ hang zwischen bestimmten sozialen Problemen – etwa Kriminalität, Teen­ agerschwangerschaften, vorzeitiger Schulabgang, ungesunde Lebensverhält­ nisse – und einem geringen Bildungsni­ veau und geringen sozialen Kompeten­ zen. Die Kluft in den Kompetenzunter­ schieden zwischen Benachteiligten und Nichtbenachteiligten wird schon in frühester Kindheit angelegt. Können Sie ein konkretes Beispiel nennen? Nehmen wir nur die Anzahl verschie­ dener Wörter, mit denen Kinder unter drei Jahren in Berührung kommen: 500 Wörter sind es in Familien von Sozialhilfeempfängern, 700 Wörter in Arbeiter familien, 1100 in Familien von Erwerbstätigen mit qualifizierter Ausbil­ dung. Das sind Unterschiede, die sich später praktisch nicht mehr ausgleichen lassen. Kinder, die deutlich benachteiligt waren, können später durch keine Förde­ rung – und sei sie noch so intensiv – das Leistungsniveau erlangen, das Kinder erreichen, die schon früh gezielt gefördert werden. Das ist gravierend. In den USA entsteht eine wachsende Unterschicht, weil die frühen Jahre der Kinder vernach­ lässigt werden. Deswegen propagieren Sie eine frühe Förderung von Kleinkindern, möglichst schon ab der Geburt. An welche Zielgruppen denken Sie vor allem?


— Schule —

iel besser «Wie sich ein Mensch entwickelt, wird ganz wesentlich durch seine Herkunft bestimmt»: James J. Heckman an der University of Chicago, wo er Wirtschaftsprofessor ist.

Foto: Michael Spindler / spindlerfilms.com

Bulletin N° 4 / 2013 — 19


— Schule —

Mir geht es in erster Linie um die Förde­ rung von Kindern aus benachteiligten Familien. Frühzeitige Förderung von solchen Kindern von der Geburt bis zum 5. Lebensjahr kann Leistungsdefiziten entgegenwirken und zu besserer Bildung und Gesundheit und zu besseren sozialen und ökonomischen Ergebnissen führen. Eine solche Förderung wird die Notwen­ digkeit teurer Massnahmen und Sozial­ ausgaben verringern und zugleich Pro­ duktivität und Verdienstchancen der Betreffenden erhöhen. Für jeden Dollar, der in die frühkindliche Entwicklung benachteiligter Kinder investiert wird,

Was sind die wichtigsten Fähigkeiten, die ein Kind erlernen sollte? Um im privaten und beruflichen Leben bestehen zu können, müssen Kinder mit anderen Menschen auskommen und zusammenarbeiten können. Sie müssen lernen, ihre Emotionen zu kontrollieren. Sie müssen kreativ denken können und Neues ausprobieren wollen. Sehr wichtig ist auch, den Durchhaltewillen zu för­ dern. Um zu einer selbstständigen Person zu werden, muss man überdies fähig sein, seine eigene Meinung zu vertreten und Autoritäten in Frage zu stellen.

«Um zu einer selbstständigen Person zu werden, muss man fähig sein, seine eigene Meinung zu vertreten und Autoritäten in Frage zu stellen.» kann man eine Rendite von 7 bis 10 Prozent pro Jahr und Kind veranschlagen. Wir haben am Ende besser qualifizierte und leistungsfähigere Leute und müssen später nicht Riesensummen ausgeben, um Probleme zu lösen, die von vornherein hätten vermieden werden können. Meinen Sie mit «benachteiligt» Familien unterhalb der Armutsgrenze oder Eltern mit geringer Bildung? Armut oder Bildung der Eltern muss nicht in jedem Fall ein Massstab für Benachteiligung sein. Alles weist darauf hin, dass es entscheidend auf die Qualität elterlicher Fürsorge ankommt und dass mangelnde elterliche Unterstützung die kindliche Entwicklung behindert. Wir reden hier von einfachen Dingen wie Zuwendung und emotionaler Sicherheit. In wirtschaftlich und sozial schwächeren Familien wird auch weniger geredet und werden weniger Bücher vorgelesen. Die Kinder gehen nicht in den Zoo oder ins Museum, sondern sitzen vor dem Fernse­ her. Die familiäre Umgebung ist ein wichtiger Faktor für den Erwerb kogniti­ ver und non­kognitiver Fähigkeiten, für körperliche und seelische Gesundheit, Beharrlichkeit, Aufmerksamkeit, Moti­ vation und Selbstvertrauen. 20 — Bulletin N° 4 / 2013

Nicht alle Eltern werden das gerne hören. So ist es. Erfolgreiche Programme verän­ dern die Wertvorstellungen und Motiva­ tionen des Kindes. Manchmal läuft das den elterlichen Vorstellungen zuwider. Zwischen den Bedürfnissen des Kindes und der Bereitschaft der Eltern, Förder­ massnahmen zu akzeptieren, kann es enorme Widersprüche geben. Nach welchen Grundsätzen haben Sie Ihre eigenen Kinder erzogen? Mit gesundem Menschenverstand und grosser Nähe zu den Kindern. Ich liess sie Fehler machen und daraus lernen. Ich ermutigte sie, ihren Neigungen zu folgen und ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Wir haben gelesen, dass Sie auf Ihr Forschungsgebiet kamen, weil Sie in einem der Südstaaten der USA lebten, als es noch Rassentrennung gab. Das stimmt. Ich bin in Chicago geboren. Von Rassentrennung habe ich im Grunde nichts mitbekommen, bis meine Eltern nach Lexington in Kentucky zogen. Ich muss ungefähr zwölf gewesen sein. Dort habe ich zum ersten Mal staatliche Rassentrennung erlebt. Meine Schwester und ich waren sprachlos, als wir die Schwarzen im hinteren Teil der Busse

sahen. Als wir einstiegen, gingen wir nach hinten, weil man durch die breiten Fenster einen tollen Blick hatte. Plötzlich hiess es: «Das geht nicht. Ihr dürft nicht hinten sitzen. Das ist für diese Leute.» Und ich erinnere mich an die Schilder an Brunnen und Parkbänken: «Nur für Weisse» und «Nur für Farbige». Wie haben diese Erfahrungen Sie beruflich geprägt? Mich faszinierte, unter anderem, der hartnäckige Widerstand gegen Verände­ rungen, und seien sie noch so zaghaft. Die Frage, warum Schwarze anders behandelt wurden, beschäftigt mich seit langem. Ich will verstehen, woher die Disparität von Schwarzen und Weissen kommt. Das hat mich zu meiner Arbeit über die frühkindliche Entwicklung geführt, denn wenn man das Leistungs­ gefälle zwischen den ethnischen Gruppen betrachtet, wird klar, dass trotz vieler Bemühungen, die Lage der afroamerika­ nischen Bevölkerung zu verbessern, noch viel getan werden muss. Relativieren Ihre Forschungsresultate das Konzept des lebenslangen Lernens? Keineswegs. Im Gegenteil: Lernen lohnt sich immer und in jedem Alter. Unsere Forschungen zeigen: Wenn ein Kind nicht schon frühzeitig motiviert ist, zu lernen und sich zu engagieren, ist es umso wahrscheinlicher, dass dieses Kind als Erwachsener im sozialen und ökonomi­ schen Leben scheitern wird. Je länger die Gesellschaft damit wartet, in den Lebenszyklus benachteiligter Kinder einzugreifen, desto kostspieliger ist es, Benachteiligung zu überwinden.

James J. Heckman, 69, gilt als einer der einflussreichsten Ökonomen unserer Zeit. Er ist Wirtschaftsprofessor an der University of Chicago. Für seine Beiträge für die Entwicklung von Theorien in der Mikroökonometrie erhielt er im Jahr 2000 den Nobelpreis für Wirtschafts­ wissenschaften. Heckman ist verheiratet und Vater zweier Kinder.


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— Schule —

Aus der Reihe tanzen verboten! Ausschnitt aus dem Film «The Wall» (1982).


Mauer­Power

Die Schüler von Alun Renshaw sangen die Hymne aller Erziehungsrebellen: Sie waren der Chor auf der erfolgreichsten Single der Band Pink Floyd. «Another Brick in the Wall» begleitet den Musiklehrer noch heute.

Bulletin N° 4 / 2013 — 23

Foto: Interfoto / Mary Evans

Von Julica Jungehülsing


— Schule —

«W

e don’t need no educa­ tion. We don’t need no thought control!»: Kaum ein Popsong der achtziger Jahre hallte so laut und so lange nach. Zum Walkman mitgesungen oder durch triste Schulflure gebrüllt, scho­ ckierte der Refrain strenge Lehrer, war Auf begehren, Provokation und Hymne zugleich. «Hey, teacher! Leave them kids alone!» Pink Floyds Stück war 1979/80 ein Nummer­1­Hit in England, in vielen euro­ päischen Ländern, Nordamerika und Aus­ tralien. Das Konzeptalbum «The Wall», auf dem die legendäre Rockband vom jun­ gen Pink erzählt, den unter anderem sar­ kastische Lehrer quälen, verkaufte sich über 33 Millionen Mal. Doch nicht alle waren begeistert: Südafrika verbot den Radiosendern, die Singleauskopplung zu spielen. Lehrer grauste der Refrain, viele Eltern entsetzte die Idee einer «erziehungslosen Jugend». Den Erfolg des Liedes beeinf lusste das kaum. «Another Brick in the Wall, Part 2» wurde Pink Floyds mit Abstand erfolg­ reichste Single. Folgenschweres Missverständnis «Dabei ist damals einiges gründlich miss­ verstanden worden», sagt Alun Renshaw, schiebt seine noch immer fransig langen Haare aus der Stirn und erklärt: Das Al­ bum kritisierte die autoritäre Schulzeit von Bassist und Sänger Roger Waters in den 1950ern, nicht die deutlich lässigere Bil­ dungsrealität der 1970er. «Als das Lied entstand, waren viele Schulen im Um­ bruch und die Methoden längst viel frei­ er», sagt Renshaw, der weiss, wovon er spricht. Er war es, der damals wochenlang mit seinen Schülern den rebellischen Ref­ rain übte, er brachte sie ins Tonstudio und war mit seinem Chor beteiligt am Welt­ ruhm des Songs. «Eine aufregende, eine fantastische Zeit war das», erinnert sich der 68­jährige Renshaw und lehnt sich zwischen Compu­ tern, Mischpulten und leicht angestaub­

24 — Bulletin N° 4 / 2013

tem Studioinventar zurück. Im australi­ schen Mount Druitt, einem Vorort im Westen Sydneys, schreibt der einstige Lehrer und Komponist an Büchern, bringt musikwissenschaftliche Ideen auf den Punkt und bastelt mit einem früheren Studenten an seiner Website. Seit fast 35 Jahren lebt der gebürtige Engländer in Australien – ziemlich genau, seit das Pink­ Floyd­Lied die Hitlisten stürmte, ein klei­

schoss um und mischte das System gründ­ lich auf. «Ich wollte, dass Schüler Fragen stellen, dass sie denken lernen.» Für ihn war Unterricht eher eine Begegnung als statisches Überliefern von Wissen, er be­ zog das «richtige Leben» ständig in den Schulalltag ein. «Ich schickte sie zur Hauptstrasse und fragte, was sie hörten; oder wir lauschten an Mauern nach dem Echo.» Schall, Töne und Geräusche zu er­

«Mir war klar, dass der Text ein paar Leute irritieren würde. Für eine Weile war die Direktorin ziemlich sauer.» nes Mediengewitter sich über seiner Schu­ le entlud und viele Eltern verboten, dass ihre singenden Kinder auch im Video­Clip auftraten. War die Auswanderung ein Zufall? Nicht nur: «Ich hatte einen Auftrag, drei Monate lang in Brisbane zu komponieren, das war lange vorher vereinbart worden. Aber dann flog ich einfach nicht nach Eu­ ropa zurück», erzählt Renshaw. «Margaret Thatcher hatte das Ruder übernommen, ich sah, wie sich erzkonservative Wolken zusammenzogen, und da wollte ich wirk­ lich nicht dabei sein.» «Was für eine Chance!» Renshaws Unterrichtsstil war unkonven­ tionell und energiegeladen, ihm war Inspi­ rieren wichtiger als Instruieren. Als er an die Islington­Green­Schule kam, fand Musik im Klavierzimmer unterm Dach statt: Lehrer spielten, die Schüler sangen oder büffelten Theorie. «Furchtbar lang­ weilig.» Renshaw hasste Langeweile, er wollte begeistern und Kreativität fördern. So siedelte er die Instrumente ins Erdge­

forschen, war für ihn ebenso wichtig wie Bach, Beethoven oder Stockhausen. Als ihn ein Toningenieur vom Bri­ tannia Row Studio um die Ecke fragte, ob nicht ein paar seiner Schüler für ein Pink­ Floyd­Stück singen könnten, zögerte er keine Sekunde. «Was für eine einmalige Chance! Ich dachte nur: Wie grossartig für die Schüler, ein echtes Tonstudio zu erle­ ben.» Weder kannte er den Text, noch ahnte er die Folgen. Aber es hätte ihn auch kaum abgehalten. Islington Green war damals eine der ersten Gesamtschulen (comprehensive schools), und Direktorin Margaret Maden erprobte einen progressiven Stil: «Infor­ mell, aber nicht schlampig.» Erstmals sas­ sen Schüler aus unterschiedlichen Milieus und Einkommensgruppen in einer Klasse. «Nord­London war gewiss kein einfaches Pflaster», sagt Renshaw, der sich an Gangs und Gewalt erinnert, Disziplin galt als Problem – auch für Erzieher. «Ich stand oft am Tor, um zu sehen, wann welche Lehrer kamen – und ob sie nüchtern waren», erin­ nert sich die damalige Direktorin in einem


— Schule —

«Ich liess die Schüler an Mauern nach dem Echo lauschen»: Alun Renshaw pflegte damals einen doch eher unkonventionellen Unterrichtsstil. Heute lebt der gebürtige Engländer in Australien.

Interview. In Renshaws Unterricht war Disziplin kein Problem. Im Gegenteil. Im Musikraum fühlten sich die 11­ bis 16­Jäh­ rigen gut aufgehoben, viele kamen freiwil­ lig an Wochenenden zum Üben oder flüchteten in den Pausen in die kreative Atmosphäre von Renshaws Klangwelten neben der Kantine. Noch immer Kontakt zu den Schülern «Es war cool und sicher zugleich. Hier konnte man sein, wie man war», blickt Ex­ Chorsängerin Caroline auf die Zeit zu­ rück. «Ohne den Musikraum hätte ich die Schule kaum so gut überstanden.» Ihre Erinnerung teilt die Mittvierzigerin mit einem Dutzend Ehemaliger, die sich 2007 in London trafen. Wieder waren Mikrofo­ ne im Spiel, doch diesmal wurde ein Film gedreht: Die BBC­Dokumentation «One Life» erzählt, wie und wo der Song ent­ stand und was aus den Schülern des Pink­ Floyd­Chors geworden ist. Ein «hoff­ nungsloser Faulpelz» brachte es zum Geschäftsführer, ein Mädchen befreite sich aus der Drogenszene und wurde selbst Foto: Jeff Herbert / Newspix / action press

Lehrerin. Auch Renshaw f log zu den Dreharbeiten aus Australien ein und traf seine Zöglinge von einst, ein herzliches, emotionales Wiedersehen. «Mit den meisten bin ich seither in Kontakt», erzählt Renshaw, einer seiner Schüler e­mailt fast täglich. Was seine Methoden zu bestätigen scheint: «Unter­ richten hiess für mich vor allem, eine Be­ ziehung aufzubauen, Schüler als Individu­ en zu respektieren», sagt Renshaw. «Ohne diese persönliche Ebene ist Lehren doch nur ein Weiterreichen von Informationen, überliefert von einer gesichtslosen Person hinter einem Pult.» Einige seiner Schüler gingen später auf Musikhochschulen, ein Mädchen zur Oper nach New York. «Aber das war nie mein Ziel, ich wollte vor allem, dass sie denken lernen, ihren Weg finden. Musik ist dafür ein kraftvolles Werkzeug.» Ren­ shaw erzählt von Kindern, die dank der Musikstunden besser in Mathematik wur­ den. «Sie stellten andere Fragen und lern­ ten besser.» Er reiste mit Schülern zum Carl­Orff­Institut nach Salzburg, nahm

sie mit in Konzerte und komponierte eige­ ne Produktionen wie das «Requiem für einen einstürzenden Wohnblock». Hierarchien waren nicht sein Fall. «Die Direktorin hatte ich damals nicht gefragt, ob ich die Schüler mit ins Studio nehmen dürfe», erinnert sich Renshaw grinsend. «Mir war schon klar, dass der Text ein paar Leute irritieren würde. Für eine Weile war sie anschliessend ziem­ lich sauer.» Nachdem die ersten Wellen der Em­ pörung verebbt waren, freundete sich Is­ lington Green offenbar mit dem ungewoll­ ten Ruhm an: Als Renshaw 1983 für einen Urlaub zurück nach London reiste, ent­ deckte er an einer Wand eine Erinnerungs­ plakette: «Aus dieser Schule stammten die Kinder, die für Pink Floyds …» Zu Preis­ verleihungen wurde «Brick in the Wall» ebenfalls gespielt. «In den 1980ern muss es eine Art inoffizielle Schulhymne gewesen sein», amüsiert er sich. «Zuletzt war Is­ lington also sogar etwas stolz.» Berühmt zu Lebzeiten Renshaw selbst öffnete die Episode viele Türen. Immer wieder wurde er eingeladen, Stücke zu komponieren, Menschen auf seine Art durch Musik zusammenzubrin­ gen. Derzeit arbeitet der Londoner Produ­ zent Andy Harries (Left Bank Pictures) an einem Spielfilm über Alun Renshaws Le­ ben. «So viel Anerkennung ist doch ein Glück», freut sich der Wahl­Australier mit einer Extradosis britischen Humors. «Die meisten Komponisten werden ja erst nach ihrem Tod berühmt.»

Julica Jungehülsing lebt seit 2001 als freie Journalistin in Sydney. Ihre Reportagen aus Australien, Neuseeland und anderen Ländern im Südpazifik erscheinen unter anderem in «Stern», «GEO Saison», «Financial Times» und «Die Zeit». Bulletin N° 4 / 2013 — 25


— Schule —

Mitmachen lohnt sich: Ältere Arbeitnehmer begegnen der Weiterbildung oft mit Skepsis oder gar Ablehnung – das sollte nicht sein.


— Schule —

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans

Wenn es ums Lernen geht, lautet das Verdikt: lebenslänglich! Weiterbildung auch nach fünfzig ist heute ein Pflichtstoff für alle. Davon profitieren die Arbeitnehmer und die Firmen. Von Sara Carnazzi Weber, Illustration: Jay Wright

N

eue Erkenntnisse und Tech­ nologien verändern ständig unser Leben. Will man auch im Alter am sozialen, politi­ schen, ökonomischen und kulturellen Ge­ schehen teilnehmen, kann man sich diesen Veränderungen nicht verschliessen. Wei­ terentwicklung und Neuorientierung, im persönlichen wie im beruflichen Umfeld, werden immer wichtiger und mit ihnen die Bereitschaft und die Fähigkeit, laufend neues Wissen zu erwerben. Dies ist nicht zuletzt auch für die Bewältigung des de­ mografischen Wandels in unserer Gesell­ schaft von Bedeutung. Die Frage nach der Lernfähigkeit und Lernbereitschaft älterer Menschen war lange umstritten. Trotz vieler gegen­ teiliger Belege aus der gerontologischen Forschung hielt sich bis in die zweite Hälf­ te des 20. Jahrhunderts die Annahme, dass mit zunehmendem Alter Lernfähigkeit und Leistungsfähigkeit, biologisch be­ dingt, kontinuierlich abnähmen. Die Ein­ stellung gegenüber älteren Menschen blieb lange geprägt von dieser als Defizit­Mo­ dell des Alterns bekannten Sicht. Jeder Mensch altert anders Mittlerweile geht man von einer differen­ zierten Sichtweise aus. Man spricht nicht mehr einseitig von Abbau und Verfall, son­ dern erkennt einen individuen­ und funk­

tionsspezifischen Wandel der Fähigkeiten. Anders ausgedrückt: Jeder Mensch altert zu einem anderen Zeitpunkt und auf ande­ re Weise, und nicht alle körperlichen und geistigen Funktionen sind gleichermassen davon betroffen. Im Allgemeinen sind äl­ tere Menschen heute aufgrund der medizi­ nischen Fortschritte und der verbesserten Lebensbedingungen länger geistig und körperlich fit als noch vor einigen Jahr­ zehnten; und sie haben ein stärkeres Be­ wusstsein dafür entwickelt, dass sie ihren Alterungsprozess beeinf lussen können. Die Voraussetzungen für ein lebenslanges Lernen wären damit gegeben. Entspricht dies aber auch der Realität? Untersuchungen zeigen, dass die Weiterbildungsbeteiligung im höheren Alter nachlässt. Die Schweiz weist zwar nach Schweden und Neuseeland die höchsten Weiterbildungsquoten unter den OECD­Ländern auf. Aber auch hierzu­ lande sinken die Beteiligungsquoten deut­ lich, sobald man sich dem Pensionsalter nähert oder es erreicht. Besuchen laut Er­ hebungen des Bundesamts für Statistik im Durchschnitt noch rund 65 Prozent der 45­ bis 54­Jährigen eine Weiterbildungs­ veranstaltung, so sinkt dieser Anteil in der Altersgruppe der 55­ bis 64­Jährigen auf knapp 54 Prozent (vgl. Abb. nächste Seite). Die Beteiligung lässt weniger stark nach, wenn es um ausserberuf lich motivierte

Weiterbildung geht oder um informelles Lernen über Familie und Freunde, Fach­ literatur, Computer oder audiovisuelle Hilfsmittel. Nicht der berufliche Nutzen steht hier im Vordergrund, sondern As­ pekte der Persönlichkeitsentwicklung und der Lebensgestaltung. Neue Interessen sondieren, den eigenen Wissensstand er­ weitern, sich neue Tätigkeitsbereiche für die nachberufliche Lebensphase eröffnen – das lockt ältere Menschen in Volkshoch­ schulen oder Senioren­Universitäten. Arbeitsmarkt auf Jugend zentriert Auch bestimmte Freizeitaktivitäten oder Ehrenämter bieten immer wieder Anlass zum Lernen. So kann es sinnvoll und be­ reichernd sein, zur Vorbereitung auf eine Reise die Sprachkenntnisse aufzufrischen und Informationen über die Kultur des Ziellandes zu sammeln. Tätigkeiten im Rahmen eines ehrenamtlichen Engage­ ments setzen eine gewisse Vorbereitung und unter Umständen den Erwerb neuer Kenntnisse voraus. Dementsprechend sind die Teilnahmequoten der 65­ bis 75­Jähri­ gen an Weiterbildungsaktivitäten verhält­ nismässig hoch: Rund 28 Prozent der Per­ sonen in dieser Altersgruppe besuchen Kurse oder Seminare, und 35 Prozent bil­ den sich autodidaktisch weiter, umso mehr, wenn sie bereits über ein hohes Ausbil­ dungsniveau verfügen. Bulletin N° 4 / 2013 — 27


— Schule —

Wenn Weiterbildung auf einen beruf li­ chen Nutzen ausgerichtet ist, steht sie ab 50/55 Jahren hingegen sowohl für den Ar­ beitgeber als auch für den Einzelnen nicht mehr zuoberst auf der Prioritätenliste. Ar­ beitgeber regen bei Personen in diesem Alter seltener den Besuch von Weiterbil­ dungen an und sind auch weniger oft be­ reit, diese finanziell zu unterstützen. Aber auch ältere Arbeitnehmer selber begegnen

Es ist nicht lange her, da haben sich A rbeitnehmer gegen die Einführung des Computers gesträubt. der Weiterbildungsfrage oft mit Skepsis oder gar mit einer Abwehrhaltung. Es ist nicht lange her, klingt heute aber kaum vorstellbar, da haben sich Arbeitnehmer noch gegen die Einführung des Compu­ ters gesträubt. Mit zunehmendem Alter sinkt der wahrgenommene Bedarf an Wei­ terbildung deutlich. Stimmen rund 55 Prozent der 25­ bis 34­Jährigen zu, keinen Bedarf an einer zusätzlichen Ausbildung zu haben, steigt dieser Anteil bei den 55­ bis 64­Jährigen auf fast 73 Prozent. Das Alter wird, zusammen mit der Gesund­ heit, im fortgeschrittenen Erwerbsleben

zunehmend als Partizipationshindernis an Weiterbildungsaktivitäten angegeben. Dass die Bereitschaft zu Investitio­ nen in die Mitarbeiterentwicklung mit zunehmendem Alter nachlässt, ist das Spiegelbild einer ausgeprägten Jugendzen­ trierung auf dem Arbeitsmarkt: Der Zeit­ punkt, ab welchem man in einem Betrieb zum alten Eisen gehört, wird immer früher gesetzt. In den vergangenen Jahrzehnten äusserte sich dies vor allem in einer zuneh­ menden Inanspruchnahme des vorzeitigen Austritts aus dem Erwerbsleben. Dieser Trend hat sich zwar etwas abgeschwächt, wird jedoch in jüngster Zeit von einer an­ deren Tendenz überlagert. Meldungen mehren sich, dass Firmen in der Schweiz Arbeitnehmer über 50 überproportional häufig entlassen. Betroffen sind auch obere Kadermitarbeiter und hochqualifizierte Fachkräfte. Die Lage auf dem Arbeits­ markt hat sich für über 50­Jährige spürbar verschlechtert, ihr Risiko einer Langzeit­ arbeitslosigkeit steigt. Laut dem Personal­ dienstleister Adecco stellt nur ein Drittel aller Firmen noch regelmässig Arbeitneh­ mer über 50 ein. Zu alt, zu teuer, sind die oft genannten Argumente. Dennoch schneidet die Schweiz hin­ sichtlich Erwerbsbeteiligung älterer Ar­ beitnehmer im internationalen Vergleich sehr gut ab: Nur in Schweden und Island sind mehr Personen zwischen 55 und 64 Jahren berufstätig. Und rund ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitet über das ge­

DAS BILD DER BILDUNG Teilnahme an verschiedenen Bildungsarten nach Alter, 2011 70 %

Formale Bildung (obligatorische Schule, Sekundarund Tertiärstufe)

60 % 50 %

Nicht formale Bildung (Weiterbildungskurse und -seminare)

40 % 30 %

Informelles Lernen (Freunde, Fachliteratur, Computer)

20 % 10 %

setzliche Rentenalter hinaus. Dieser kom­ parative Vorteil sollte nicht verspielt wer­ den. Mögen Firmen heute, verstärkt durch den konjunkturellen Druck, eine kurzfris­ tig orientierte Politik verfolgen, die auf die Förderung und Weiterbeschäftigung älte­ rer Arbeitnehmer verzichtet, so werden sie bald mit der nächsten Herausforderung konfrontiert sein. Bereits 2025 werden 34 Prozent der Erwerbspersonen in der Schweiz über 50 sein. Eine weitere Zu­ wanderung auf dem heutigen Niveau kann diese Entwicklung nicht umkehren. Ent­ sprechend gehen die Reformbestrebungen in der Altersvorsorge in Richtung einer Verlängerung der Lebensarbeitszeit; dabei sollte man die Anreizstrukturen für die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer nicht aus den Augen verlieren. Altersgerechte Personalpolitik Vonseiten der Arbeitgeber drängt sich daher ein Umdenken auf, um das Potenzial einer alternden Belegschaft besser zu nut­ zen. Eine altersgerechte Personalpolitik sollte flexible Rahmenbedingungen – von der Arbeitszeitgestaltung über die Funkti­ on bis zum Lohn – sowie eine gezielte Nut­ zung der Erfahrung und der spezifischen Kenntnisse älterer Arbeitnehmer enthal­ ten: Nebst dem Wissenstransfer zur jünge­ ren Generation können ältere Mitarbeiter dank ihrer Lebenserfahrung neu erworbe­ ne Kenntnisse besonders umsetzen, verfü­ gen in der Regel über ein besseres Urteils­ vermögen und haben ein ganzheitliches Verständnis für die Arbeit. Dabei können auch auf den ersten Blick unkonventionel­ le Wege beschritten werden: etwa Top­ Manager bei Erreichen einer bestimmten Altersgrenze in eine eigens kreierte Bera­ tungsgesellschaft auszugliedern, wie dies von den Firmen ABB, Alstom und Bom­ bardier gemeinsam praktiziert wird. Die Mitarbeiter arbeitsfähig zu halten, ist letztlich im ureigenen Interesse der Fir­ men. Eine Kultur des lebenslangen Ler­ nens – aber auch der Wertschätzung von Erfahrungswissen – kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten.

Keine Bildungsaktivität

0% 15 – 24 Jahre

25 – 34 Jahre

35 – 44 Jahre

45 – 54 Jahre

Quelle: Bundesamt für Statistik, Mikrozensus Aus­ und Weiterbildung

28 — Bulletin N° 4 / 2013

55 – 64 Jahre

65 – 75 Jahre

Sara Carnazzi Weber ist Leiterin Macroeconomic and Policy Research bei der Credit Suisse.


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Singapur

uSa

Credit SuiSSe Jugendbarometer

SChweiz

Was der Jugend im Leben wichtig ist. Die grosse Umfrage in den USA, Brasilien, Singapur und der Schweiz.

braSilien

Bulletin N° 4 / 2013 — 29


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

So denkt die Jugend

w

as ist den Jugendlichen und jungen erwachsenen im Leben wichtig? Wie beurteilen sie die Schule und wie investieren sie ihr geld? Was bereitet ihnen am meisten Sorgen? Und wie sehen sie ihre Zukunft? Das vierte Credit Suisse Jugendbarometer liefert aufschlussreiche Antworten und gibt einen einzigartigen einblick in das Lebensgefühl der jungen generation. erstmals wurden für die internationale Umfrage, die das Forschungsinstitut gfs.bern im Auftrag der Credit Suisse realisierte, vier Länder in vier verschiedenen Kulturen untersucht. Neben 16- bis 25-Jährigen in den USA, Brasilien und der Schweiz wurden neu auch solche in Singapur befragt. Die einbindung des aufstrebenden asiatischen raumes ermöglicht einen noch umfassenderen einblick in die gemeinsamkeiten und Unterschiede der globalen Jugend in Sachen Werte, Lebensstil und Befindlichkeit. 30 — Bulletin N° 4 / 2013

Dabei fällt auf: in allen vier Ländern zeigen die Folgen der anhaltenden Wirtschaftskrise bei den Jugendlichen Wirkung. Überall zählen sie die wachsende Jugendarbeitslosigkeit zu den grössten Problemen. Zudem beurteilen die Jungen in den USA, in Brasilien und in der Schweiz ihre Zukunft erstmals pessimistischer als in den vergangenen drei Jahren, in Singapur ist gar bloss eine minderheit optimistisch. Diese Befunde deuten auf eine trendwende hin und bergen Potenzial für gesellschaftliche Spannungen. Doch vorderhand reagieren die Jugendlichen auf die unsicheren Berufsaussichten mit Pragmatismus. Der Nationalstolz und das Vertrauen in die regierung sind mehrheitlich gross, nur in Brasilien fordert eine klare mehrheit reformen und ging deswegen bereits auf die Strasse. im Vordergrund stehen jedoch das Streben nach Sicherheit und die persönliche Berufskarriere. Schule und Bildung sind enorm wichtig, lebenslange Weiterbildung ist für diese generation unerlässlich. Doch Leistung ist nicht alles: Das soziale Umfeld, der Kontakt zu Familie und Freunden haben weiterhin einen hohen Stellenwert. Die Situation der Schweizer Jugendlichen – so zeigt die Umfrage – präsentiert sich dank dem Wohlstand und dem dualen Bildungssystem in vielerlei Hinsicht als Sonderfall: Sie sind postmaterieller eingestellt als ihre Altersgenossen in den USA und in Singapur, und ihre Chancen, die eigenen träume zu verwirklichen, sind weiterhin ausserordentlich hoch. ihre redaktion


— Lorem Ipsum —

neu: mit Singapur

erstmals gibt das Jugendbarometer einblicke in die trends, Lebensstile und die Befindlichkeit der Jugendlichen im asiatischen raum.

01: lebenSziele und werte

S. 33

Das Lebensgefühl der Jugend im Wandel: Wie sieht sie ihre Zukunft und welche Ziele möchte sie verfolgen.

02: SChule, beruf, finanzen die umfrage

Für das Credit Suisse Jugendbarometer 2013 wurden jeweils rund 1000 Jugendliche im Alter zwischen 16 und 25 Jahren in der Schweiz, in den USA, in Brasilien und Singapur befragt. Die Umfrage wurde vom Forschungsinstitut gfs.bern zwischen April und mai 2013 vorwiegend online durchgeführt. Das Credit Suisse Jugendbarometer wird seit 2010 jährlich erhoben. Die Auswertung für das Bulletin erfolgte durch die redaktion. Die Länderdaten (Seiten 32, 35, 40 und 44) stammen von der Weltbank und gelten für 2012, ausser Lebenserwartung (2011).

die VollStändige Studie

Wir haben hier für Sie die wichtigsten und interessantesten ergebnisse zusammengestellt. Die vollständige Studie mit allen Fragen und Antworten finden Sie auf der Website des Credit Suisse Jugendbarometers:

S. 36

Keine Schulschwänzer: So stellen sich die Jugendlichen ihre Karriere vor. Und dafür geben sie am meisten geld aus.

03: politik und geSellSChaft

S. 41

Viel Nationalstolz und einige gesellschaftliche Probleme: Wie die Lage im eigenen Land eingeschätzt wird.

04: lebenSStil und freizeit

S. 45

«Hot or not» ist eine Kernfrage der Jugend:

Welche Kommunikationsmittel und Freizeittrends sind in, welche out?

www.credit-suisse.com/jugendbarometer Fotos vorherige Seite: reto Sterchi; Yves Suter; Stefen Chow; eudes de Santana

Bulletin N° 4 / 2013 — 31


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

braSilien einwohner: 198,7 mio. bip (Current uSd): 2253 mrd. bip-wachstum: 0,87 % lebenserwartung: 73,4 Jahre

romulo Souza, 22, unternehmer, São paulo «ich möchte gerne erfolgreich sein in dem, was ich mache. So gott will, werden meine geschäfte gut laufen.»

32 — Bulletin N° 4 / 2013


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

01

lebenSziele und werte Das Lebensgefühl der Jugend hat sich gewandelt: Verunsichert durch die grassierende Jugendarbeitslosigkeit, präsentiert sie sich weniger hoffnungsvoll als in den vergangenen drei Jahren. Deutlich gesunken und am tiefsten ist die Zuversicht in den USA, wo nur gerade ein Viertel der Jugendlichen die Zukunft des Landes optimistisch einschätzen und damit die gegenthese zur euphorie des obama-Wahlkampfes von 2008 verkörpern. Aber auch in Brasilien ist die Auf bruchsstimmung getrübt und der optimismus erstmals rückgängig. interessant: Die Jugendlichen im boomenden Stadtstaat Singapur schätzen die gesellschaftlichen Zukunftsaussichten am zuversichtlichsten ein, die eigene Zukunft jedoch am pessimistischsten. Am stabilsten ist die Hoffnung in der Schweiz, wobei man die eigene Zukunft deutlich optimistischer (65 %) einschätzt als jene der gesellschaft (29 %). trotz globalisierung zeigen sich in der Wertefrage kulturelle Unterschiede. Sind Schweizer Jugendliche am wenigsten materiell und religiös orientiert, so dominiert in den USA und vor allem in Singapur ein karriere- und statusorientierter Lebensentwurf. in Brasilien scheint sich ein neuartiges Wertesystem zu entwickeln: Die Jugend ist sehr materialistisch und hedonistisch, gleichzeitig aber auch äusserst religiös und solidarisch. Die unterschiedlichen Wertehaltungen widerspiegeln sich in den konkreten Lebenszielen. Was die Jugend weltweit verbindet, ist der grosse Wunsch Fotos: eudes de Santana; diego_cervo / iStockphoto

33 %

Abb. 01.1

SChwindender optimiSmuS – beSonderS in den uSa

der amerikaner innen und amerikaner sehen die zukunft der gesellschaft eher düster. 2010 waren erst 20 % pessimistisch.

«Wie sieht ihrer meinung nach ihre eigene Zukunft aus? Sehen Sie zum jetzigen Zeitpunkt die Zukunft eher düster, eher zuversichtlich oder gemischt – mal so, mal so?» Antwort «eher zuversichtlich», in Prozent

68 65

67 62 54

50 45

2010

uSa

2011

brasilien

2012

Singapur

2013

Schweiz

Abb. 01.2

SChweizer weniger religiöS, amerikaner weniger riSikobereit Zusammenzug verschiedener Wertfragen zu indizes. gefragt wurde zum Beispiel, wie häufig man ein gotteshaus besucht oder ob man sich selbst als risikofreudig und erfolgshungrig einschätzt.

religioSität

riSiko

2,0

1,5 1,3 1,0

1,0 0,8

0,7 0,4

0,2

0,1 0,0

uSa

brasilien

Singapur

Schweiz Bulletin N° 4 / 2013 — 33


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

der traum Vom eigenen hauS «Wenn Sie an Ziele in ihrem Leben denken: Was streben Sie unbedingt an, was wünschen Sie sich auf keinen Fall und wo werden Sie je nach Lauf der Dinge erst in Zukunft spontan entscheiden?»

der brasilianer wollen einen akademischen abschluss (Ch: 33 %, uSa: 53 %, Singapur: 51 %).

in Prozent

eigene träume verfolgen

69 80

Abb. 01.4

68 85

freizeit und beruf im gleichgewicht halten

65 77 72 82

eigenes haus / eigene wohnung

70 76

lebenSViSionen der SChweizerinnen und SChweizer «Wenn Sie daran denken, was Sie im Leben anstreben: Wie wichtig sind dann die folgenden Dinge für Sie persönlich?» in Prozent

75 74

91 familie mit kindern

59

89 88

68

85 84

81

61

76

68

karriere im beruf

74

62 76 66

67 65 27

uSa

brasilien

Singapur

Schweiz

verantwortungsbewusst leben und handeln

60

als persönlichkeit respektiert werden

43

treue

66

einen spannenden beruf haben

62

ehrlichkeit

56

das leben in vollen zügen geniessen

Viel geld haben

ein gutes familienleben/eine gute partnerschaft führen

51

mehr wohlstand erreichen als meine eltern

34 — Bulletin N° 4 / 2013

68 %

Abb. 01.3

freunde haben, auf die man sich verlassen kann

nach einem eigenheim, das Ziel, die eigenen träume zu verfolgen, und das Streben nach einer guten Work-Life-Balance. Auch von einer Familie mit Kindern träumt in allen vier Ländern eine mehrheit, wobei dieser Wunsch in Brasilien und der Schweiz (je 68 %) besonders ausgeprägt ist. Charakteristisch für die vorherrschende Aufsteigermentalität in Singapur und Brasilien ist der Fokus auf die berufliche Karriere und auf das Streben nach Wohlstand. Die Ziele, viel geld zu haben und einmal mehr zu besitzen als die eigenen eltern, sind hier besonders wichtig. Brasilianische Jugendliche betonen zudem die Bedeutung der Aus- und Weiterbildung am stärksten, sie möchten mehr als ihre Altersgenossen in den anderen Ländern einen festen Platz in der gesellschaft haben oder für soziale gerechtigkeit kämpfen. Schweizer Jugendlichen ist das Kennenlernen verschiedener Kulturen, Nachhaltigkeit und keinen sturen Plan zu haben wichtiger als anderen. Akademische Ausbildungen, Karriere oder Status spielen in ihren Zukunftsvisionen jedoch eine untergeordnete rolle. gerade einmal 27 Prozent haben das Ziel, mehr Wohlstand zu erreichen als ihre eltern. Die jungen menschen in den USA stehen jenen der Schweiz wertemässig am nächsten, wobei die religion hier eine wesentlich grössere Bedeutung hat. ein Drittel besucht mindestens einmal pro Woche die Kirche. Bemerkenswert: Je höher das einkommen, desto häufiger sind Kirchenbesuche. Frappant ist auch der Unterschied in der risikobereitschaft. Ausgerechnet im Land des American Dream ist die Jugend mutlos und scheut das risiko am meisten.

Foto: Stefen Chow


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

Singapur einwohner: 5,3 mio. bip (Current uSd): 275 mrd. bip-wachstum: 1,32 % lebenserwartung: 81,9 Jahre

Jamie lim, 21, marketingstudentin, Singapur «ich möchte die Person sein, die mehr relevanz ins marketing in Singapur bringt. es soll ethisch und authentisch werden.»

Bulletin N° 4 / 2013 — 35


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02

SChule, beruf, finanzen Für diese generation ist klar: Die Ausbildung ist sehr wichtig und sie wird sich ein Leben lang weiterbilden müssen. Wer keine Freude am Beruf hat, soll ihn wechseln, und wer ihn gerne macht, hat auch erfolg. Allerdings durchkreuzen die Arbeitsmarktrealitäten in den USA, Brasilien und Singapur diese Vorstellungen, denn die mehrheiten sind dort der Ansicht, dass man froh sein muss, überhaupt einen Job zu haben. einmalig präsentiert sich die Situation in der Schweiz mit ihrer wirtschaftlichen Stabilität und dem dualen Bildungssystem. Die Jugendarbeitslosigkeit ist im internationalen Vergleich tief, deutlich mehr Befragte als in den anderen Ländern sind mit ihrer beruflichen Situation glücklich. Der Sonderfall Schweiz spiegelt sich zudem in der aussergewöhnlich hohen Skepsis gegenüber der universitären Ausbildung. Weniger als ein Drittel der jungen Frauen und männer sieht ein Studium als beste Basis für eine Karriere, gegenüber rund zwei Dritteln in Singapur (71 %) und Brasilien (80 %). gerade weil man hier früher reale Berufserfahrungen sammeln kann, kritisiert man in der Schweiz auch deutlich stärker die Schule. Bloss 43 Prozent sind der Ansicht, dass man mit schlechten Schulnoten auch schlechte Berufschancen hat. Und gerade einmal 37 Prozent finden, 36 — Bulletin N° 4 / 2013

dass die Schule gut auf die Berufswelt vorbereitet. in Brasilien, den USA und Singapur hingegen ist eine deutliche mehrheit dieser Überzeugung. in Sachen Ausbildung zeigen sich beachtliche geschlechtsspezifische Unterschiede. So wählen in der Schweiz und in Singapur Frauen eher einen schulisch-akademischen Weg, während sich männer eher am Beruf (Lehre, Berufsmaturität) orientieren. in Brasilien gibt es diesbezüglich kaum Differenzen, in den USA ist es genau umgekehrt. gleichzeitig legen die jungen Schweizerinnen mehr Wert auf die Work-Life-Balance (83 %) und weniger gewicht auf die Karriere (44 %) und viel geld (40 %) als die Frauen in den anderen Ländern. geht es darum, engagement zu zeigen, so sind in der Schweiz, in Brasilien und in Singapur eher die jungen Frauen dazu bereit, Verantwortung gegenüber der gesellschaft und Umwelt zu übernehmen als die jungen männer. Bedenklich: in allen Ländern ist eine mehrheit der jungen Frauen überzeugt, dass Frauen in der Berufswelt benachteiligt werden. Bei der Verwendung von geld ist der Sparwille weiterhin sehr hoch und gegenüber den letzten Jahren sogar leicht angestiegen. Die Schweizer Jugendlichen sind allerdings alles andere als Sparweltmeister: Sie legen nur gerade rund die Hälfte ihres geldes zur Seite, ihre Altersgenossen in den USA und Brasilien hingegen zwei Drittel, in Singapur sind es sogar drei Viertel. Und wofür sparen die 16- bis 25-Jährigen? Am meisten für das eigene Haus und für die Familie, während für schwierige Zeiten vor allem die Schweizer Jugendlichen etwas auf die Seite legen. Aktien und Fonds als Anlage sind in Singapur besonders beliebt, in der Schweiz besonders unbeliebt. Die Schweizer Jugend ist also am konsumfreudigsten und die höchste Zahlungsbereitschaft besteht für die Ferien. Auch in Singapur und Brasilien gibt man das geld am ehesten fürs reisen aus, in den USA hingegen investiert man am liebsten in Autos. gegenüber 2012 leicht abgenommen hat das Leben auf Pump. Am ausgeprägtesten sind die finanziellen Verpflichtungen der Jugendlichen nach wie vor in Brasilien und – etwas abgeschwächt – in den USA. Deutlicher weniger verschuldet ist man in Singapur und vor allem in der Schweiz.

Abb. 02.1

Junge möChten: Sparen, Sparen, Sparen «Angenommen, Sie erhielten 10 000 einheiten ihrer Währung geschenkt, wie würden Sie das geld verteilen?»

geSChenke kaufen 350

325 272 177

1389

1394

1227

für ein hauS Sparen 792

Abb. 02.2

hohe telefonSChulden – auSSer in der SChweiz «Haben Sie persönlich folgende finanzielle Verpflichtungen?» in Prozent

28 20 16 12

familie Schulden gegenüber bekannten/familie

Fotos: Creativeye99 / iStockphoto; wragg / iStockphoto


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

Sparkonto 3727 699

kleider/SChmuCk

3464

ferien maChen

3371

379 315

frauen noCh immer diSkriminiert

1492 291

«Wie einverstanden sind Sie mit der folgenden Aussage: Frauen werden in der Berufswelt benachteiligt?« 828

2536

uSa brasilien Singapur Schweiz

660

für familie auSgeben 740

Abb. 02.3

399

667

632

560

57 % 55 % 50 % auto kaufen

49 %

Spenden

865 585

461

385

544

347

347

70 %

145

uSa: uSd Singapur: Sgd

der Singapurerinnen und Singapurer wären gerne bei einem staatsnahen betrieb angestellt. in den uSa wollen das dagegen nur 41 % (brasilien: 73 %, Schweiz: 52 %).

brasilien: brl Schweiz: Chf

32 25

28

26 26 22

21

20

17 13 5

4

22

20 12

10 4

10

3

1

handy

priVatSChulden

kreditkarten

auto

hypothek

Schulden gegenüber handy-anbietern

privatkredit

Schulden gegenüber kredit kartenfirmen

leasing-Vertrag für autos

hypothek muss bedient werden

uSa brasilien Singapur Schweiz

Fotos: Antagain / iStockphoto; huskdesign / iStockphoto; grafart / iStockphoto; blackred / iStockphoto; electriceye / fotolia; archives / iStockphoto; themacx / iStockphoto

Bulletin N° 4 / 2013 — 37


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

Schweiz

«die Jugend Spürt die globale konkurrenz» Politikwissenschafter markus Freitag über die Werte der Jungen in der Schweiz und das getrübte Lebensgefühl einer generation.

spüren unter anderem auch die Konkurrenz einer wachsenden Zahl gut ausgebildeter immigranten. Sie haben Angst, das materielle Fundament der weitgehend sorgenfreien Lebensführung im Zuge einer langfristigen und strukturellen Wirtschaftskrise zu verlieren.

h

Wie tickt die Schweizer Jugend 2013? Verglichen mit Brasilien, den USA und Singapur streben die Schweizer Jugendlichen stärker nach immaterieller Selbstverwirklichung und weniger nach öffentlicher Anerkennung. Sie stellen sich kritisch gegen einschränkungen individueller Freiheit und Selbstentfaltung und räumen solidarischen Werten sowie der Familie und den Freunden einen vergleichsweise hohen Stellenwert ein. Die Schweizer Jugend weiss die Vorzüge der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Situation zu schätzen und zu geniessen, ist sich aber künftiger gefahren durchaus bewusst, welche den erreichten Status gefährden könnten.

Wie kommt es, dass sich die Jugend in allen vier Ländern weniger optimistisch als in den vergangenen drei Jahren präsentiert? Durch die globalisierung und Schuldenkrise werden statusgefährdende Anzeichen vernommen. Die Jungen

Was ist Ihnen bei den Resultaten besonders aufgefallen? Beachtenswert sind das Ausmass des Nationalstolzes – über 80 Prozent der Jugendlichen sind stolz auf ihr Land – sowie die weiterhin grosse Zufriedenheit mit dem politischen System, die mit einer klaren Ablehnung eines reformbedarfs einhergeht. interessant ist die Pflege der Schweizer tradition und Kultur bei gleichzeitigem Drang ins Ausland – ganz nach dem motto «Think globally, act locally». Alarmierend ist der zunehmend wahrgenommene Problemdruck in den Bereichen Kriminalität, persönliche Sicherheit, Jugendgewalt und gewalt in Stadien.

interview: michael Krobath

err Freitag, erstmals wurden fürs Jugendbarometer junge Menschen in vier Kontinenten befragt. Existiert heute eine globale Jugendkultur? Am ehesten in der Nutzung und im gebrauch der neuen Kommunikationsmedien, in welche die heutige Jugend quasi als Digital Natives hineingeboren wird. Zudem verbindet die Jugend materialistisches mit postmaterialistischem gedankengut. Sie wissen, dass es einen gewissen Wohlstand braucht, damit man sich weiter selbst entfalten und Sehnsüchte wie Visionen entwickeln kann.

38 — Bulletin N° 4 / 2013

Am meisten Sorgen bereiten den Schweizer Jugendlichen die Ausländer- und Integrationsfragen. Dies hat sich gegenüber den letzten drei Jahren sogar noch akzentuiert. Zunächst einmal bleiben für die Schweizer Jugend die erfahrungen mit Ausländerinnen im privaten Umfeld überwiegend positiv. Fremdenfeindlichkeit und rassismus werden von nahezu allen abgelehnt. immigranten werden für die Schweizer Jugendlichen nur dann zum Problem, wenn die kulturelle identität der Schweiz bedroht wird und – noch wichtiger – wenn in einem eher schwierigen wirtschaftlichen Umfeld der ökonomische Status des einzelnen gefährdet wird. entweder direkt – durch die Konkurrenz auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt – oder indirekt durch die Finanzierung und Bewältigung von zunehmenden Kosten der integration. Auch in Singapur ist die Skepsis der Jugendlichen gegenüber Ausländern laut Umfrage gross. Dort wurde 2012 auf den wachsenden Unmut in der Bevölkerung über den Zustrom an Ausländern und den härteren Wettbewerb um Arbeitsplätze und Wohnungen mit einer restriktiveren einwanderungspolitik reagiert. Politisches Engagement ist unter den Schweizer Jugendlichen out. Aber die Umfrage zeigt, dass die Mehrheit der Schweizer Jugendlichen gegen ein nächtliches Alkoholverkaufsverbot ist. Zwei Drittel sind gar überzeugt, Wege zu finden, das Verbot zu umgehen. Die traditionelle politische Arbeit ist der Jugend zu aufwendig und bringt ihr persönlich zu wenig. Aber sobald die Freiräume individueller Selbstentfaltung eingeschränkt werden, wacht sie auf.


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

Das hat die «tanz dich frei»-Demonstration in Bern gezeigt und widerspiegelt sich auch in der harten opposition zum Alkoholverkaufsverbot. Weshalb spielt die Religiosität in der Schweiz im Unterschied zu den USA, Brasilien und Singapur eine völlig untergeordnete Rolle? Die religion hat in den Vergleichsländern seit je einen höheren Stellenwert. Die Schweizer Jugendlichen suchen Antworten und Hilfe auch weniger in der Spiritualität als in den konkreten Netzwerken von Freunden und Familie. Sie messen dem Diesseits eine hohe Bedeutung bei.

«die Schweizer stellen sich kritisch gegen einschränkungen der individuellen freiheit und Selbstentfaltung.» Das Schreckgespenst dieser Generation heisst Jugendarbeitslosigkeit. Wie lässt sich ihr beikommen? Die Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit wird die zentrale gesellschaftliche Aufgabe der nächsten Dekade sein, da es schlichtweg auch um die Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhaltes und den Selbstwert der heranwachsenden generation geht. Das wird ein schwieriges Unterfangen, wenngleich die Schweiz hier international gesehen nicht schlecht dasteht. Sehen die einen das grundübel im starken Kündigungsschutz und in einer ausufernden Beschäftigungsgarantie älterer Arbeitnehmer, welche den Arbeitsmarkteintritt der Jugendlichen erschwert, verweisen andere auf die geringe Flexibilität und eine gewisse Sattheit bei der Jugend. einzig der traumberuf wird angestrebt, möglichst ohne die geduld einer womöglich längerfristigen und entsagungsvollen Ausbildungsphase. Foto: Privat

Rechnen Sie mit einer Radikalisierung der Jugend? es ist nicht auszuschliessen. Die internationale Arbeitsorganisation, iLo, hat unlängst nicht umsonst davor gewarnt, dass es künftig mehr soziale Unruhen in europa geben wird, nicht zuletzt auch aus gründen hoher Jugendarbeitslosigkeit. In der Schweiz haben die Jugendlichen aber immer noch das Gefühl, dass sich Leistung lohnt und berufliche Träume verwirklicht werden können. Was läuft hier besser? insgesamt passt die Arbeitsmarktstruktur in der Schweiz wohl besser zum Bildungsangebot. Zudem scheint das duale System der Berufsbildung gewisse Sicherheiten zu geben. Auch Jugendliche mit geringer schulischer Bildung erhalten die Chance, zu angemessen bezahlten Jobs zu kommen. in den Augen der Schweizer Jugend existieren überhaupt wenig handlungsrelevante Problemfelder. Dies mag auf ein funktionierendes politökonomisches System hindeuten. es könnte aber auch Ausdruck einer grassierenden gleichgültigkeit gegenüber öffentlichen Anliegen sein. Bei Letzterem sollten sich die Jugendlichen dann aber gerne auch an die Worte des ehemaligen US-Präsidenten John F. Kennedy erinnern: «Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.»

markuS freitag ist Direktor am institut für Politikwissenschaft der Universität Bern und inhaber des dortigen Lehrstuhls für Politische Soziologie. er ist Verfasser zahlreicher Beiträge zum sozialen und politischen Leben in der Schweiz und im internationalen Vergleich. in den nächsten Jahren befasst er sich im rahmen eines gesamteuropäischen Projekts mit den familiär vermittelten Bedingungen von Jugendarbeitslosigkeit.

Sonderfall SChweiz: uni niCht zwingend «Wie einverstanden sind Sie mit den folgenden Aussagen über Beruf und Ausbildung?» in Prozent

uSa

braSilien Singapur

SChweiz

80

87

87

82

lebenslange weiterbildung ist wichtig

68

77

72

75

lehre ist türöffner für weiterbildung

67

80

71

35

universitätsstudium ist beste grundlage für karriere

58

69

70

37

Schule bereitet gut auf berufswelt vor

52

60

52

43

schlechte Schulnoten = schlechte berufschancen

Bulletin N° 4 / 2013 — 39


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

uSa einwohner: 313,9 mio. bip (Current uSd): 15 685 mrd. bip-wachstum: 2,21 % lebenserwartung: 78,6 Jahre

thomas maxwell nolen, 25, Schauspieler, new york City «Was ich werden will? Bis jetzt läuft es sehr gut – ich hoffe schlicht, es geht so weiter.»

40 — Bulletin N° 4 / 2013


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

03

politik und geSellSChaft ist das Verhältnis der Jugend zum Staat historisch betrachtet kritisch, so sind die Jungen heute mit Ausnahme von Brasilien (39 %) mehrheitlich stolz aufs eigene Land. Besonders ausgeprägt ist der Nationalstolz bei der Schweizer Jugend (83 %). Analog dazu verhält sich die Haltung in Bezug auf das regierungsversagen und den reformbedarf. Fordert in der Schweiz nur gerade ein Drittel politische reformen, so sind es in Brasilien 80 Prozent, was sich jüngst in der nationalen Protestbewegung manifestiert hat. Die Problemwahrnehmung ist geprägt vom jeweiligen nationalen politischen Diskurs, wobei sich die Hauptprobleme als relativ stabil erweisen. gemeinsam ist den Jugendlichen aller vier Länder die grosse Sorge um Arbeitslosigkeit bzw. Jugendarbeitslosigkeit. in den USA (54 %) und in Singapur (42 %) ist sie die grösste Sorge überhaupt, in Brasilien (42 %) liegt sie an zweiter und in der Schweiz (32 %) an dritter Stelle. Überraschend gehört, ausser in den USA, die Altersvorsorge überall zu den wichtigeren Problemen. Besonders verbreitet ist die Angst um die eigene rente bei der Schweizer Jugend (37 %). Auch die demografische entwicklung und die daraus resultierenden Probleme einer alternden gesellschaft beschäftigen die Schweizerinnen und Schweizer am stärksten (71 %). 34 Prozent gehen gar davon aus, dass sich das Verhältnis zwischen der Jugend und den Senioren in Zukunft verschlechtern wird.

Zu den spezifisch nationalen Problemwahrnehmungen gehören in den USA nach wie vor der erdölpreis (44 %) und der terrorismus (33 %). Für brasilianische Jugendliche sind städtische gewalt (29 %) und mehr denn je Korruption (63 %) besonders grosse Probleme des Landes. in Singapur dominieren ökonomische Probleme, was angesichts des Wirtschaftserfolgs in Asiens Boomstaat einigermassen überrascht: Neben der Arbeitslosigkeit und Altersvorsorge (26 %) sorgen sich die dortigen Jugendlichen auch um inflation (41 %) und die entwicklung der Löhne (38 %). in der Wahrnehmung der Schweizer Jugendlichen hingegen sind die Probleme rund um wirtschaftliche grössen im Vergleich zum Vorjahr gesunken. Nur noch 11 Prozent sorgen sich um die Wirtschaftskrise (–8 Prozentpunkte) und gerade einmal 2 Prozent um die inf lation (–5 PP). markant gestiegen (+8 PP) sind hingegen die Sorge um die persönliche Sicherheit und Jugendgewalt (26 %). gegenüber 2012 ebenfalls akzentuiert hat sich das Ausländerthema. Die Hälfte der Schweizer Jugendlichen (+6 PP) sorgt sich um Ausländer- und integrationsfragen, womit migration abermals das grösste Problem darstellt. gleichzeitig sind 72 Prozent der Ansicht, dass die Schweiz von den ausländischen Arbeitskräften profitiert. Nicht nur in der Schweiz (62 %), sondern auch in den USA (58 %) und Brasilien (52 %) ist eine mehrheit der Ansicht, dass sich das Aus-

Foto: reto Sterchi; Bilder: liangpv / iStockphoto; philpell / iStockphoto; imegastocker / iStockphoto; moonrun / fotolia

länderproblem in den letzten Jahren verschärft hat. mit 81 Prozent geradezu alarmierend viele sind es in Singapur (mehr dazu ab Seite 47). international äusserst gering sind hingegen die Sorgen rund um die Umwelt. in Brasilien (7 %), in Singapur (9 %) und selbst in den USA (10 %) beschäftigt das Thema nur eine kleine minderheit. Bloss die Schweizer Jugend wertet den Umweltschutz mit der Klimaerwärmung als eines der wichtigsten Probleme (27 %). Auch energiefragen haben sich nach Fukushima und dem politisch bekundeten Ausstiegswillen aus der Kernenergie im Jahr 2011 unter den top-Problemen etabliert (22 %).

Abb. 03.1

nationalStolz «Sind Sie eher stolz/sehr stolz auf ihr Land?» in Prozent

39

83

67

74

Bulletin N° 4 / 2013 — 41


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

Abb. 03.2

Abb. 03.3

auSländerfrage wird zum thema

die gröSSten probleme

«Stimmen Sie folgender Aussage zu: Die Probleme mit Ausländerinnen haben in den letzten zwei, drei Jahren zugenommen.» in Prozent

81

SChweiz

26 %

persönliche Sicherheit

50 %

«Auf dieser Liste sehen Sie einige Themen, über die in der letzten Zeit viel diskutiert und geschrieben worden ist: Sehen Sie sich bitte die gesamte Liste an, und wählen Sie dann aus dieser Liste jene fünf Punkte aus, die Sie persönlich als die wichtigsten Probleme in ihrem Land ansehen.»

ausländerinnen integration personenfreizügigkeit

22 %

energienergiefragen

32 %

arbeitslosigkeit/ Jugendarbeitslosigkeit

62 58

44 %

52

benzin-/ erdölpreis

uSa

54 %

arbeitslosigkeit/ Jugendarbeitslosigkeit

33 %

terrorismus

25 %

gesundheitsfragen

25 %

27 %

Schul- & bildungswesen

korruption

Abb. 03.5

demografie alS herauSforderung «in ihrem Land wird es auf absehbare Zeit immer mehr ältere menschen im Pensionsalter und immer weniger junge menschen geben. Halten Sie das für ein grosses/sehr grosses Problem?»

45

37

61

71

in Prozent

uSa braSilien Singapur SChweiz 42 — Bulletin N° 4 / 2013

Fotos: mgkaya / iStockphoto; DNY59 / iStockphoto; aldomurillo / iStockphoto


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

Abb. 03.4

37 %

altersvorsorge

braSilien

klimaerwärmung und umweltSChutz – ein SChweizer thema

42 %

arbeitslosigkeit/ Jugendarbeitslosigkeit

Nennung von Klimaerwärmung und Umweltschutz als eines der grössten fünf Probleme im jeweiligen Land.

27 %

umweltschutz/ klima

27 %

27

in Prozent

löhne/ entwicklung

63 %

korruption

29 %

Städtische gewalt

25 %

benzin-/ erdölpreis

24 %

altersvorsorge

42 %

arbeitslosigkeit/ Jugendarbeitslosigkeit

38 %

10

9 7

41 %

inflation/ teuerung

Singapur

löhne/ lohnentwicklung

24 %

gesundheitsfragen

uSa braSilien Singapur SChweiz

27 %

Schul- & bildungs wesen

26 %

26 %

11 %

gesundheitsesundheitsfragen

alters vorsorge

der Schweizerinnen und Schweizer machen sich grosse Sorgen wegen der wirtschaftskrise. Vor einem Jahr waren es noch 19 prozent (uSa: 19 %, Singapur: 14 %, brasilien: 8 %).

Abb. 03.6

ungleiCher reform-wunSCh «Braucht das politische System ihres Landes gründliche reformen?»

34

in Prozent

uSa brasilien Singapur Schweiz

73

Fotos: wragg / iStockphoto; mkurtbas / iStockphoto; oleandra / fotolia

65

80 Bulletin N° 4 / 2013 — 43


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SChweiz einwohner: 7,9 mio. bip (Current uSd): 632 mrd. bip-wachstum: 0,97 % lebenserwartung: 82,7 Jahre

andrea Speck, 23, Sachbearbeiterin, oberarth «mein Ziel im Beruf? ich möchte Abteilungsleiterin werden. mein grösster traum? eine fünfmonatige reise.»

44 — Bulletin N° 4 / 2013


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

04

lebenSStil und freizeit Nichts eint die Jugend so sehr wie die Freizeittrends. Freunde zu treffen und sich mit ihnen auszutauschen, ist in allen Ländern sehr wichtig, für Schweizer teenager sogar das Wichtigste überhaupt (93 %). Daneben hat sich das Smartphone seit Beginn der Untersuchung von einem bestimmenden zum dominierenden Lifestyle-Produkt entwickelt. Hierbei zeichnet sich ein dynamisches Nutzungsverhalten ab, wie die abrupte Verdrängung von SmS durch WhatsApp in der Schweiz eindrücklich zeigt. Auch die sozialen medien gehören weiterhin zu den zentralen trends, wobei Facebook zwar nach wie vor stark genutzt wird, aber als nicht mehr so in gilt. im Zusammenhang mit der aktuellen Debatte um die Überwachung des internets besonders interessant sind die Umfrageresultate betreffend die risikowahrnehmung von Datenmissbrauch. mit 95 Prozent am skeptischsten sind die Schweizer Jugendlichen, während in Brasilien nur gerade 54 Prozent der User bewusst ist, dass ihre Facebook-Daten in falsche Hände geraten könnten. in den USA wiederum geben mit 46 Prozent überdurchschnittlich viele Jugendliche an, auf Facebook schon einmal Probleme wie mobbing erlebt zu haben. Deutlich am wenigsten schlechte erfahrungen gemacht haben diesbezüglich die teenager in der Schweiz (15 %). Bei den Nicht-trends zeigt sich ein grosser gemeinsamer Nenner: out sind bei der Jugend der Konsum von Drogen, von leistungssteigernden Substanzen und das rauchen. Der Alkoholkonsum befindet sich in Singapur und BrasiFotos: Yves Suter; scanrail / iStockphoto

28 %

Abb. 04.1

groSSe bedeutung Von whatSapp «Welche möglichkeiten nutzen Sie, um mit ihren Freunden in Kontakt zu treten?» in Prozent

SmS

whatsapp

mail mobiltelefon

uSa

braSilien

Singapur

SChweiz

62

31

46

40

4

11

69

66

18

15

8

7

31

44

21

52

der Jugendlichen in den uSa machen gerne ferien im ausland. in der Schweiz sind es 84 % (brasilien: 48 %, Singapur: 61 %).

Abb. 04.2

85 81

der Smartphone-boom «Sind Smartphones in ihrem privaten Umfeld in und nutzen Sie sie?» in Prozent

67 64 47 43 36 2010

2013

Abb. 04.3

gratiSzeitungen nur in der SChweiz Verbreitet

fernsehen

25

18

«Welches ist die wichtigste informationsquelle für Sie?»

34 24

in Prozent

uSa brasilien Singapur Schweiz

9

news-apps auf Smartphone

14

9

internet: newsseiten/ zeitungsseiten

23

17 20

15

22

16 17 14

gratiszeitung 3

19

internet: facebook/twitter/ myspace/orkut Bulletin N° 4 / 2013 — 45


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

lien ebenfalls auf der top-out-Liste, nicht aber in den USA und in der Schweiz. in Singapur (39 %) und in der Schweiz (51 %) gar nicht angesagt ist die teilnahme an politischen Demonstrationen. Bei den Jugendlichen in Brasilien und der Schweiz wenig Anklang finden zudem das modell Hausfrau bzw. Hausmann, während in Singapur und Brasilien sexuelle Abenteuer out sind. in den USA rangieren mit Hi5 und myspace gleich zwei soziale Plattformen in den top ten der Nicht-trends. Die mediennutzung ist stärker länderspezifisch geprägt als die Kommunikation. Zwar ist die Kadenz der informationsbeschaffung überall sehr hoch, aber es zeigen sich deutliche Unterschiede bei den wichtigsten informationsquellen. in den USA und Brasilien dominieren neben dem tV vor allem die Neuen medien – und in Singapur bereits die News-Apps fürs Smartphone. Am klassischsten ist der informationsfokus bei den Schweizer Jugendlichen. Am häufigsten informieren sie sich nach wie vor in gratiszeitungen (22 %) gefolgt von den Newsseiten im internet (20 %). Deutlich zugelegt haben die News-Apps auf dem Smartphone: Nutzten diese 2010 gerade einmal 5 Prozent als wichtigste informationsquelle, so sind es heute bereits 16 Prozent. Bezahlte tageszeitungen sind noch für 7 Prozent der jungen Schweizerinnen und Schweizer die wichtigste informationsquelle. Besonders interessiert sind die Jugendlichen an informationen über musik, marken- und Produktneuigkeiten sowie über Computer, games und Sport. Nur in der Schweiz dominieren nach wie vor klassische Newsbereiche wie das Wetter (64 %) und regionale Aktualitäten (58 %). Wirtschaftsthemen interessieren am meisten in Brasilien (41 %) und der Schweiz (39 %), am wenigsten in den USA (22 %).

Abb. 04.4

generation kliCk: digital iSt in «Wir haben hier eine Liste von ganz unterschiedlichen Dingen im Leben aufgelistet. Beurteilen Sie, ob diese in ihrem privaten Umfeld in sind und gleichzeitig, ob Sie sie nutzen.» (top 3 aus jedem Land) Beide grafiken in Prozent

67 65 65

Smartphones wie iphone/android/blackberrys e-mail facebook

77

facebook

74 73

e-mail SmS

81

Smartphones wie iphone/android/blackberrys

77

facebook

73

e-mail

93

freunde treffen

85 84

Smartphones wie iphone/android/blackberrys ferien im ausland

Abb. 04.5

drogen Sind out «Wir haben hier eine Liste von ganz unterschiedlichen Dingen im Leben aufgelistet. Beurteilen Sie, ob diese in ihrem privaten Umfeld out sind und gleichzeitig, ob Sie sie nicht nutzen.» (top 3 aus jedem Land)

57

myspace golf drogen konsumieren

44 42 53

drogen konsumieren rauchen leistungssteigernde Substanzen konsumieren

47 43 49 47

rauchen orkut leistungssteigernde Substanzen konsumieren

44 62 61

drogen konsumieren leistungssteigernde Substanzen konsumieren an politischen demonstrationen teilnehmen uSa 46 — Bulletin N° 4 / 2013

top

brasilien

Singapur

p o l f

51 Schweiz Fotos: ChrisHepburn / iStockphoto


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

Singapur

zukunftSängSte in aSienS boom-Staat Singapurs Jugend ist religiös und stolz auf die Nation, jedoch pessimistisch, was die eigene Zukunft angeht. ihr Ziel: viel geld verdienen, um Wohneigentum zu kaufen oder ein Auto. Von ruth Bossart

m

ei Jin verbrennt ein Bündel geldscheine. mitten auf der Strasse, in einem Seitengässchen in China town, haben sie und ihre Bürokollegen eine metalltonne aufgestellt. Darin lodert ein Feuer. Bedächtig wirft mei Jin die Spielgeldnoten in die Flammen. Neben der eingangstüre zur Werbeagentur, in der sie und ihre Kollegen arbeiten, steht ein kleiner Altar mit räucherstäbchen und esswaren. es ist mittag im Stadtstaat Singapur und geistermonat. in der Arbeitspause huldigen die 23-jährige mei Jin und ihre Kollegen darum den verstorbenen Vorfahren, stellen ihnen essen bereit und verbrennen geld, räucherstäbchen, Kleider oder Autos aus Papiermaché, um deren Aufenthalt auf der erde so angenehm wie möglich zu machen. Bei Banketten zu ehren der toten lassen sie Stühle frei für deren geister. Denn: im siebten mondmonat, so glauben viele Chinesen, sind die tore der Unterwelt und des Himmels sperrangelweit offen und die unzähligen Seelen der Verstorbenen machen ihre reise zurück auf die erde. mei Jin und ihre jungen Kollegen sind keine Ausnahme, wenn sie der Verstorbenen mit religiösen ritualen geden-

ken. Wie auch das Credit Suisse Jugendbarometer zeigt, sind Jugendliche in Singapur deutlich religiöser als gleichaltrige in der Schweiz. rund ein Fünftel besucht mindestens einmal pro Woche einen tempel, eine moschee oder eine Kirche. Nur gerade sechs Prozent gehen niemals in ein gotteshaus. Für irene Ng, Sozialwissenschafterin an der National University of Singapore, ist dies kein erstaunliches resultat. in Südostasien ge-

«heute spielen wir in der ersten liga mit – das hat seinen preis.» Jayasutha Samuthiran

niesse die Familie auch unter den Jugendlichen einen sehr hohen Stellenwert. Und da religiöse rituale häufig im rahmen der Familie stattfänden, sei die religion häufig eng mit der Familientradition verwoben. religion sei für viele Jugendliche auch eine Frage der identität, erklärt der Soziologieprofessor Ho Kong Chong: «in Singapur ist religion eng mit der ethnie verknüpft.» malaien sind mehrheitlich muslime, indischstämmige Hindus, und Chinesen, die rund drei Viertel der Bevölkerung ausmachen, rechnen sich meist

dem Buddhismus oder dem taoismus zu. Ungeachtet der unterschiedlichen ethnizität sind die Jugendlichen aber sehr glücklich, einen singapurischen Pass zu besitzen. 74 Prozent gaben in der Befragung an, sehr stolz oder eher stolz auf ihre junge Nation zu sein, die sich erst vor 48 Jahren in die Selbstständigkeit verabschiedet hat. Für die Jugendlichen Singapurs ist es darum natürlich, am Nationalfeiertag, dem 9. August, die rotweisse Flagge an Fenster, treppengeländer oder an Autorückspiegel zu montieren. Hunderttausende verfolgen auch jedes Jahr die militärparade, die von folkloristischen tänzen und Sprechchören begleitet wird, die die einheit Singapurs preisen. Was im Westen an Zeremonien totalitärer Staaten erinnert, findet Jayasutha Samuthiran, eine indischstämmige Politologiestudentin, normal und nötig. «Wir sind eine junge Nation. Da braucht es solche Feste, um den inneren Zusammenhalt zu stärken.» «Du bist, wie du daherkommst» Dass viele Jugendliche ihrem Land eine rosige wirtschaftliche Perspektive attestieren, kontrastiert mit dem Befund der Studie, dass sich viele Junge um die persönliche Zukunft Sorgen machten. Unter den drei am häufigsten genannten Problemen finden sich die Angst vor Arbeitslosigkeit, inflation und teuerung soBulletin N° 4 / 2013 — 47


CreDit SUiSSe JUgeNDBArometer 2013

in zwanzig Jahren um 65 Prozent gewachsen: Die Bevölkerungszunahme hat zu Wohnungsnot für junge menschen geführt.

wie niedrigem Lohn, mit dem sich die in Singapur hohen Lebenshaltungskosten nicht berappen lassen. Jayasutha Samuthiran kann das gut nachvollziehen. «ich möchte nicht einfach nur gerade mal genug essen auf dem tisch haben. ich will mehr», sagt die Jugendliche, die in der Freizeit als DJ arbeitet und modelt. mit diesen Jobs verdient sie sich das taschengeld, das sie braucht, um sich teure markenkleider und Schuhe zu kaufen. Denn in Singapur gelte die regel: «Du bist, wie du daherkommst, dich kleidest, wie du wohnst und was du fährst.» Das Auto, in Singapur mit den hohen Steuern und Strassengebühren eine teure Angelegenheit, sei ein wichtiges Prestigeobjekt. Sie und ihr Freund, 22 und 23 Jahre alt, sparen denn auch schon heute für einen Jaguar. Auch eine eigene Wohnung steht auf dem Wunschzettel des Paares. Leider seien die Preise in den letzten zehn Jahren massiv gestiegen – für eine 2-Zimmer-Wohnung in einem 30-stöckigen Block am Stadtrand muss umgerechnet eine halbe million Franken hingeblättert werden. Doch eigentlich möchte sie lieber ein Haus statt eine Blockwohnung. Auch Samantha Kudus, eine 25-jährige Pr-Fachfrau, hätte gerne eine eigene 48 — Bulletin N° 4 / 2013

Wohnung gekauft. Doch dies sei Wunschdenken, die Preise seien schlicht zu hoch, sogar zum mieten. Sie wohnt darum noch bei ihren eltern. Jeder Dritte ein Ausländer Schuld an der misere auf dem Wohnungsmarkt seien die Ausländer, sagen viele Junge. Zu dieser einschätzung kommen auch verschiedene ökonomische Studien, die darlegen, dass die einwanderer den Preisdruck auf dem immobilienmarkt erhöht haben. Singapurs Bevölkerung ist in den letzten zwanzig Jahren um 65 Prozent gewachsen. Heute hat jeder Dritte der 5,4 millionen einwohner einen ausländischen Pass. Der inselstaat, der flächenmässig sechs mal kleiner ist als die Schweiz, verfügt zudem kaum mehr über grössere Landreserven. Nachdem die regierungspartei bei den letzten Wahlen vor zwei Jahren unter anderem wegen ihrer liberalen immigrationspolitik ein blamables ergebnis hinnehmen musste, hat sie die Zulassung für ausländische Arbeitskräfte verschärft. Die Stadtväter wiederholen seither bei jeder gelegenheit ihren populistischen Slogan «Singaporeans First». Konkret: im Bildungswesen, auf dem Arbeits- und Woh-

nungsmarkt sollen Singapurer über die Ausländer gestellt werden. Das sei nur recht, ist Jayasutha Samuthiran überzeugt. teilweise fühle sie sich als Fremde im eigenen Land. Und: Wenn vollgepferchte Busse an ihrer Haltestelle einfach vorbeiführen, da keine neuen Passagiere mehr Platz finden, ärgert sie sich. «Daran sind nicht zuletzt auch die vielen Ausländer schuld.» Der migrationsdruck sei auch auf dem Arbeitsmarkt spürbar – insbesondere durch die gut ausgebildeten Zuwanderer aus China und indien. Samuthiran berichtet von ausländischen Kommilitonen in technischen Studienrichtungen, die nonstop lernten, später im Beruf auch am Wochenende noch Arbeit nach Hause nähmen. «Da haben wir Singapurer keine Chance, mitzuhalten.» Denn die Jungen Singapurs wollten doch auch ein Privatleben nebst der Karriere. in der tat scheint es für junge Singapurer etwas schwieriger zu sein, einen geeigneten Job zu finden: Die Arbeitslosenquote der 15- bis 24-Jährigen lag im letzten Jahr bei 6,7 Prozent, während die durchschnittliche Arbeitslosigkeit lediglich 2,8 Prozent betrug. Überfremdungsängste sind unter den jungen Singapurern verbreitet – mehr als zwei Drittel beurteilt in der BefraFoto: munshi Ahmed / Bloomberg via getty images


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gung die Präsenz von Ausländern im Stadtstaat als Problem – und das wachsende Unbehagen findet sich in internetforen, die zuweilen voll sind mit kritischen und zum teil rassistischen Kommentaren. Das internet scheint bis dato aber eines der wenigen Ventile für die jugendliche Unzufriedenheit zu sein. Digital kommunizieren ist gemäss Credit Suisse Jugendbarometer auch im Alltag allgegenwärtig: Vier Fünftel der jungen Singapurer finden, Smartphones seien in und 69 Prozent benutzen den Kurznachrichtendienst WhatsApp, mit dem sich SmS über das internet und somit gratis verschicken lassen. in der Schweiz ist WhatsApp bei 66 Prozent, in Brasilien bei 11 Prozent und in den Vereinigten Staaten lediglich bei 4 Prozent der Jungen bevorzugtes Kommunikationstool. Badi Siruno ist 21 und hat gerade seinen militärdienst beendet und will in europa Politikwissenschaften studieren: «eltern ‹whatsappen› aus dem Schlafzimmer und erinnern ihren Nachwuchs, die Zähne zu putzen oder die Klimaanlage einzustellen.» Beim Frühstück verfolgten die Jugendlichen dann minutiös, was auf Facebook und twitter geschehen sei, während sie schliefen. Hohe Staatsgläubigkeit offene Kritik oder gar politische Proteste sind in Singapur nicht vorgesehen. ein reigen von gesetzen dient dem Staat, Aufmüpfigkeit im Keim zu ersticken. Singapurer seien seit Kindsbeinen darauf konditioniert, Limiten nicht zu überschreiten. Daher riskierten nur wenige, sich und ihre Familien in Schwierigkeiten zu bringen und aufzubegehren, sagt Samantha Kudus, die auch in den USA studiert hat. man fokussiere sich auf seine Welt, seine Karriere, seine Familie. Dem pflichtet Jayasutha Samuthiran bei und fügt an, die Verantwortlichen an der Staatsspitze hätten bis dato eigentlich keine schlechte Arbeit geleistet. «Vor vier Jahrzehnten waren wir noch ein entwicklungsland, heute spielen wir in der ersten Liga mit – das hat seinen Preis.»

Singapur rund ein Drittel der rund 5,4 millionen einwohner Singapurs sind unter 24 Jahre alt. Für die Bildung gibt der Stadtstaat 3,3 Prozent des Bruttoinlandprodukts aus. rund 91 Prozent der Jugendlichen machen einen höheren Schulabschluss. Das medianalter bei der ersten Heirat beträgt 28 Jahre bei den Frauen und 30 Jahre bei den männern.

Singapur

materialiStiSChe Singapurer Jugend «Wenn Sie daran denken, was Sie in ihrem Leben anstreben: Wie wichtig ist es für Sie persönlich, viel geld zu haben?»

30 %

sehr wichtig

55 %

der Jugendlichen in Singapur möchten unbedingt einmal im ausland arbeiten (brasilien: 55 %, uSa: 43 %, Schweiz: 40 %).

28 %

äusserst wichtig

29 %

eher wichtig

2%

keine angaben

1%

1%

sehr unwichtig

äusserst unwichtig

9%

eher unwichtig

Ruth Bossart ist Südostasien-Korrespondentin der «NZZ am Sonntag» und von SrF. Bulletin N° 4 / 2013 — 49


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Brasilien

«die Jugend fühlt SiCh auSgeSChloSSen» Für den brasilianischen Philosophen José Arthur giannotti hat die junge generation seines Landes allen grund, besorgt in die Zukunft zu blicken. interview: Sandro Benini

V

ergangenen Juni wurde Brasilien von sozialen Protesten erschüttert, bei denen im ganzen Land bis zu einer Million Menschen auf die Strasse gingen. Im Sommer flauten sie schnell wieder ab. Hat Sie das erstaunt? Soziale Proteste verlaufen immer wellenförmig, das ist völlig normal. Niemand konnte erwarten, dass derart viele Personen monatelang demonstrieren. Wichtig ist, dass die Kundgebungen überhaupt stattgefunden und den enormen, in sämtlichen regionen verbreiteten Unmut ausgedrückt haben. Nun werden wir sehen, wie das politische System darauf reagiert. Unter den Demonstranten waren sehr viele Junge. Warum sind sie unzufrieden, wo doch Brasilien international als Erfolgsmodell gilt? Die internationale Begeisterung über Brasilien hat in letzter Zeit deutlich nachgelassen, weil das Land nur noch geringe Wachstumsraten erzielt und seine infrastruktur in einem schlechten Zustand ist – der öffentliche Verkehr, das gesundheitswesen, die Schulen müssen dringend erneuert werden. Die Jugend fühlt sich nicht nur vom politischen Betrieb ausgeschlossen, sie erlebt auch in ihrem konkreten Alltag fast sämtliche staatlichen institutionen als mangelhaft und korrupt. Besonders gravierend ist für junge Leute, dass das Bildungswesen so schlecht funktioniert. Die Universitäten bilden nicht genügend ingenieure und anderes technisches Personal aus, und die Lehrer von Sekundarschulen und gymnasien sind selber schlecht ausgebildet. in vergleichenden internationalen Bildungstests belegt Brasiliens Jugend immer die hintersten ränge (siehe auch Seite 4).

«Nun werden wir sehen, wie das politische System reagiert»: Proteste in rio de Janeiro, Juni 2013. 50 — Bulletin N° 4 / 2013

Und wie wirkt sich das konkret aus? Wer sich mit einem brasilianischen Diplom zum Beispiel bei einer internationalen Firma bewirbt, erhält meist nicht eine anspruchsvolle, gut bezahlte Stelle, Foto: Yasuyoshi Chiba / AFP Photo


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sondern kann höchstens darauf hoffen, irgendwann vom dritten Untersekretär zum zweiten Untersekretär befördert zu werden. Das von der Credit Suisse durchgeführte Jugendbarometer hat ergeben, dass die jungen Brasilianerinnen und Brasilianer, verglichen mit den Jungen in anderen Ländern, besonders postmaterialistisch und religiös sind, zugleich aber auch hedonistisch. Überrascht Sie das? Nein, keineswegs. Während der Amtszeit von Luiz inácio Lula da Silva zwischen 2003 und 2011 sind dank rohstoff boom, Sozialprogrammen und höheren Löhnen rund 30 millionen menschen von der Armut in die mittelschicht aufgestiegen, was eine enorme

«in bildungstests belegt brasiliens Jugend immer die hintersten ränge.» José arthur giannotti

Konsumbegeisterung auslöste. Und diese Begeisterung hat der Staat noch angefacht, etwa durch die erleichterte Vergabe von Krediten. eine eigene Wohnung, ein Auto, die berufliche Karriere sind brasilianischen Jugendlichen wichtig, weil sie zu einem Lebensentwurf gehören, wie er für viele noch vor kurzem unerreichbar schien. Wer allerdings in den letzten Jahren ein Auto gekauft hat, stellt oft fest, dass er damit in den Städten nicht zirkulieren kann, weil er stundenlang im Stau stecken bleibt. Die schlechte öffentliche infrastruktur bringt die Schattenseiten des Konsumbooms besonders deutlich zum Vorschein, und dies wiederum führt dazu, dass auch sogenannt postmaterialistische Werte ihre gültigkeit behalten. Sind Brasiliens Jugendliche wirklich so religiös, wie sie es im Jugendbarometer der Credit Suisse behaupten? Das ist schwer zu beurteilen, denn bis vor kurzem gehörte es in Brasilien zum guten ton, sich als gläubig und insbeFoto: Privat

sondere als katholisch zu bezeichnen. Unter den Jugendlichen hat allerdings eine massive Abwanderung in evangelikale Freikirchen stattgefunden. Bereits jeder Vierte im Alter zwischen 16 und 25 Jahren gehört heute dieser glaubensrichtung an. Wie erklären Sie sich das? Hier in São Paulo tragen viele Autos den Aufkleber «gott ist treu», aber für die Anhänger der evangelikalen hat gott vor allem mit geld zu tun: man geht regelmässig zur messe, und dafür belohnt er einen materiell. Das Streben nach reichtum, erfolg und macht ist für die evangelikalen Freikirchen absolut in ordnung. Damit bieten sie brasilianischen Jugendlichen die perfekte möglichkeit, ihr Bedürfnis nach religiosität mit den materialistischen Werten einer modernen Konsumgesellschaft zu verbinden. Im Sommer hat Papst Franziskus Brasilien besucht und einen überwältigenden Enthusiasmus ausgelöst, auch bei den Jungen. Kann er ihre Abwanderung zu den evangelikalen Freikirchen stoppen oder zumindest bremsen? Seine Bescheidenheit und die Hinwendung zu den Armen haben die Jungen tatsächlich begeistert. Aber ob das ausreicht, um den mitgliederschwund der katholischen Kirche langfristig zu stoppen, bezweifle ich – dies umso mehr, als sich viele Bischöfe und Kardinäle in Brasilien und anderen Ländern Lateinamerikas gegen den neuen Kurs sträuben. Sandro Benini ist LateinamerikaKorrespondent des «tages-Anzeigers».

braSilien in Brasilien leben 82 millionen Personen unter 24 Jahren, was 41 Prozent der gesamtbevölkerung von rund 200 millionen entspricht. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt knapp 18 Prozent, während sie insgesamt bei 6 Prozent liegt – für brasilianische Verhältnisse ein tiefer Wert. Wegen der im internationalen Vergleich exorbitant hohen mordrate sind tötungsdelikte die häufigste todesursache junger Brasilianer – im Nachbarland Argentinien liegen sie lediglich auf rang 12.

braSilien

39 %

der Jugendlichen in brasilien sind der meinung, das image ihres landes sei im ausland eher oder sehr schlecht, in den uSa glauben das sogar 47 % der Jugendlichen (Singapur: 13 %, Schweiz: 10 %).

José Arthur Giannotti, 83, ist emeritierter Professor der Universität São Paulo und gilt heute als einer der profilierten politischen Beobachter Brasiliens. mehrere seiner Publikationen hat er den Philosophen Karl marx und Ludwig Wittgenstein gewidmet. Zu marxistischen und neomarxistischen Strömungen ist er jedoch stets auf Distanz geblieben. Bulletin N° 4 / 2013 — 51


«An deiner Stelle würde ich meinem Leben ein Ende bereiten» Mit 14 Jahren wurde Ghyslain Raza als eines der ersten Cybermobbing-Opfer zum Gespött der Welt: Schulkollegen stellten ein Video ins Internet, in dem er unvorteilhaft eine Figur aus «Krieg der Sterne» nachahmt – und Hunderte von Millionen ergötzten sich am «Star Wars Kid». Heute, zehn Jahre später, spricht der Kanadier erstmals über das Geschehene. Er hofft, damit Jugendlichen Mut zu machen, die Ähnliches durchmachen müssen. Von Jonathan Trudel

A

b und zu begegnet er auf den Strassen seines Heimatortes Trois-Rivières oder in Montréal, wo er Jus studiert, Leuten, denen er offensichtlich irgendwie bekannt vorkommt. Dann muss er kurz schmunzeln. Denn meistens kommt dieser Eindruck nicht von ungefähr. Es ist tatsächlich so, dass er, ohne es gewollt zu haben, eine der grössten Berühmtheiten geworden ist, die das Internet je hervorgebracht hat.

vergangenen zehn Jahren erhielt Raza Interviewanfragen von Medien aus der ganzen Welt. Doch er zog es vor zu schweigen. Am liebsten würde er es dabei belassen, um den Medienrummel nicht von Neuem anzuheizen. Doch die jüngsten Fälle von Cybermobbing beschäftigen ihn sehr. Einige davon endeten mit Selbstmord. Weil es jugendlichen Opfern vielleicht hilft, wenn er seine Geschichte erzählt: deshalb redet er nun. Seine wichtigste Botschaft lautet: «Mobbing kann man überstehen.»

Seine Freunde und seine Familie kennen ihn unter dem Namen Ghyslain Raza. Doch für Hunderte von Millionen von Internetnutzern ist dieser 25-jährige Mann bloss eines: das «Star Wars Kid». Eine Lachnummer. Und das wegen eines Videos, das er als 14-Jähriger aufgenommen hatte und das nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen war. In den

Ghyslain Raza, wieso haben Sie zehn Jahre lang geschwiegen? Blenden wir in den Mai 2003 zurück. Das Video war seit einigen Wochen im Internet zu sehen, ein gewisser Rummel war bereits entstanden. Als die «New York Times» einen Artikel über mich veröffentlichte, ging die Sache richtig los. Auf einmal schien es, als seien sämtliche

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Medien der Welt gleichzeitig zum Schluss gelangt, bei meinem Fall handle es sich um News von internationalem Format, worüber sie zwingend berichten müssten. Von da an standen die Journalisten vor meiner Haustür Schlange; das Telefon war dauernd besetzt, wir mussten es ausschalten. Damals dachte ich, ich würde den medialen Sturm nur noch verstärken, wenn ich Interviews geben würde. Ich wurde gezwungenermassen weltberühmt. Da ich nicht danach gefragt hatte, fühlte ich mich auch nicht verpflichtet, beim medialen Spiel mitzumachen und mich wie eine Zirkusattraktion vorführen zu lassen. So entschied ich mich, nicht mit Journalisten zu reden. Mir war aber immer klar, dass ich eines Tages so weit wäre, darüber sprechen zu können. Jetzt bin ich bereit. In den letzten zehn Jahren hat sich die Welt verändert. Vielleicht können aus meiner Geschichte nützliche Schlüsse gezogen werden. Das


— Schule —

Phänomen Mobbing, insbesondere das Cybermobbing, hat sich ausgebreitet. Es ist zu höchst tragischen Vorfällen gekommen, die in gewissem Masse viel schlimmer sind, als was mir zugestossen ist. Wenn ich meine Erfahrungen teile: Wird dies eine öffentliche Auseinandersetzung auslösen? Und was hat sich eigentlich verändert, seit mir all dies widerfuhr und solch absurde Ausmasse annahm? Welche Erinnerungen haben Sie an die Dreharbeiten zu dem Video, das dann weltweit verbreitet wurde? Daran habe ich kaum noch Erinnerungen. Ich hatte keinerlei Absicht, der Nachwelt etwas überliefern zu wollen. Das Video drehte ich im November 2002. Damals machte ich beim Fernsehkanal meiner Schule mit. Es ging darum, mit Mitschülern eine Parodie auf «Star Wars» («Krieg der Sterne») vorzubereiten für einen Galaabend der Schule. Eines Abends war ich allein im Aufnahmestudio und übte die Choreografie. Als Laserschwert benutzte ich einen Schläger, den man sonst zum Einsammeln von Golf bällen braucht. Viele 14-Jährige, wenn man ihnen einen Stock in die Hand drückt, würden spontan dasselbe tun – womöglich etwas stilvoller als ich. Ich meinte es ja überhaupt nicht ernst, ich alberte einfach herum. Die Videokassette habe ich dann in ein Regal im Zimmer gestellt, es kam mir nicht in den Sinn, sie zu verstecken. Wer sollte so neugierig sein und sich die Zeit nehmen, sich meine Kassetten anzuschauen? Und wozu? Wann haben Sie erfahren, dass das Video veröffentlicht wurde? Eines Tages im Frühjahr 2003, als ich das Studio betrat, sah ich einen Ausschnitt des Videos als Bildschirmhintergrund auf einem Computer. Ich fragte mich, was dies zu bedeuten habe. Ein Freund sagte mir: «Ein Video von dir ist im Umlauf. Weisst du das nicht?» Dann begann das Ganze Fahrt aufzunehmen. Ich fühlte mich übel, denn mir war klar, dass meine Darbietung keine Sternstunde der Kampfkunst war … Was waren die Folgen an der Schule? Die Situation geriet schnell ausser Rand und Band. Im Gemeinschaftsraum kletterten Schüler auf die Tische, um mich zu beschimpfen. Einige äfften das Video nach mit übertriebener Gestik. Die Foto: Mathieu Rivard / © L’Actualité

Beleidigungen zielten auf mein Äusseres, auf mein Übergewicht. So erhielt ich den Spitznamen «Star Wars Kid», der nicht schmeichelhaft gemeint war. Mit meinen Freunden konnte ich keine zwei Minuten verbringen, ohne dass gegen mich Einschüchterungsversuche gemacht wurden. Schnell wurde es unmöglich, weiter am Unterricht teilzunehmen. War Ihnen bewusst, was zu dieser Zeit im Internet über Sie geschrieben wurde? Anfänglich schon. Ich wollte eigentlich gar nicht alles lesen, aber eine gewisse Neugier trieb mich an; ich wollte wissen, was abgeht. Was ich mitbekam, war bösartig, heftig. Oft wurde mir nahegelegt, mich umzubringen. An gewisse Sätze erinnere ich mich noch genau: «Du bist eine Schande für die Menschheit», «An deiner Stelle würde ich meinem Leben ein Ende bereiten!». Solche Bemerkungen sind untolerierbar. Jemanden zum Selbstmord aufzufordern, ist kriminell. Aber im Internet gibt es keine

Schule Kontakt aufgenommen, doch weder die Lehrer noch die Schulleitung verstanden das Ausmass; sie waren auch nicht gewillt, etwas zu unternehmen. Mein Vater rief dann die Polizei an, die aber bloss sagte, sie könne nichts tun. Sie riet uns, uns mit einem Anwalt in Verbindung zu setzen. Wozu ein Anwalt? Anfangs brauchten wir vor allem Hilfe, um mit der Situation umzugehen. Schon nur die Anfragen der Medien zu bewältigen, war herausfordernd. Hunderte von Anfragen flatterten aus der ganzen Welt herein. Und es gab auch das Problem mit der Schule: Es war nicht mehr denkbar, am Unterricht teilzunehmen. Die Anwaltskanzlei half uns, einen Platz zu finden, wo ich meine Jahresabschlussprüfung absolvieren konnte; damit konnte vermieden werden, dass ich mein drittes Jahr in der Sekundarstufe nicht erfolgreich abschloss. Die Prüfung fand in einer Schule statt, die der psychiatrischen

er war das «star wars kid» Ghyslain Raza ist heute 25 Jahre alt und studiert im kanadischen Montréal an der McGill-Universität Rechtswissenschaften.

Grenzen, keine Kontrolle. Mir wurde schnell bewusst, dass es sinnlos ist, dies alles zu lesen. Es ist nur Gift. Wann haben Sie Ihre Eltern alarmiert? In den ersten Tagen habe ich geschwiegen. Ich schämte mich. Kein Sohn auf der Welt wünscht sich, nach Hause zu kommen und zu sagen: «Papi, Mami, wisst ihr was? Die ganze Welt macht sich gerade lustig über mich.» Irgendwann hatte ich keine Wahl mehr. Ich musste es ihnen erzählen. Mein Vater hat mit der

Abteilung eines Spitals angegliedert war. Das war die einzige ruhige Schule, die wir finden konnten. Deshalb tauchten später Gerüchte auf, ich sei in ein Irrenhaus eingeliefert worden. Dann haben wir über unsere Optionen nachgedacht: Sollen wir gegen die Medien prozessieren, um sie davon abzuhalten, das Video weiter zu verwenden? Oder die Schule juristisch verfolgen, weil sie ihre Schutzpflichten mir gegenüber nicht wahrnahm? Lesen Sie weiter auf Seite 56. Bulletin N° 4 / 2013 — 53


— Schule —

54 — Bulletin N° 4 / 2013


— Schule —

Aus Neugier schaute sich Ghyslain Raza anfangs die Kommentare zu seinem Video noch an (hier eine Auswahl). Doch er hörte bald auf damit, denn: «Was ich mitbekam, war bösartig, heftig.»

Bulletin N° 4 / 2013 — 55


— Schule —

Schliesslich gelangten wir zur Überzeugung, ein starkes Zeichen zu setzen, indem wir die Jugendlichen in den Schwitzkasten nehmen, die das Ganze durch die Veröffentlichung des Videos ins Rollen gebracht hatten. Viele Internetnutzer goutierten dieses Vorgehen gar nicht, das im Jahr 2006 im Rahmen einer gütlichen Einigung mit den Familien der ehemaligen Schulkollegen in einer Entschädigung für Sie mündete. In den Medien wurde behauptet, es ginge uns ums Geld. Es gab sogar Leute, die behaupteten, die wahren Opfer seien die Personen, die wir juristisch belangten, weil sie das Video veröffentlicht hatten. Da wurden einfach die Rollen vertauscht. Ich galt nicht mehr als Opfer, meine Eltern aber als Profiteure. Das ist Unsinn. Unser primäres Ziel war es, ein Zeichen zu setzen, das die Medien verstehen würden.

«Es war für mich unerträglich, zum Schluss zu kommen, ich sei nichts wert.»

Was war die Botschaft? Es war eine Aufforderung, verantwortungsvoller zu handeln. Ein Fernsehsender aus Quebec strahlte mein Video einmal minutenlang immer wieder aus, begleitet von Kommentaren. Erwähnt wurden dabei mein Name, mein Vorname, mein Wohnort, der Name meiner Schule. Mein Gesicht war erkennbar. Ich war damals 14! Wenn über einen minderjährigen Straftäter berichtet wird, wird sein Gesicht nicht gezeigt und sein Name nicht erwähnt. Denn man sieht ein, dass er zwar Fehler gemacht hat, aber noch am Anfang seines Lebens steht. Wieso wurde mir derselbe Schutz verweigert? 56 — Bulletin N° 4 / 2013

Haben Sie je daran gedacht, aus Ihrer Bekanntheit Profit zu schlagen? Ich wurde von allen Talkshows Nordamerikas eingeladen, von allen, ausnahmslos. Eine japanische Sendung bot mir eine grössere Summe an, damit ich bei ihnen auftrat. Wieso wollten mich alle diese Leute haben? Sie wollten eine Zirkusattraktion sehen. Sie wollten wissen, ob der Löwe brüllt, wenn man ihn an seinem fetten Bäuchlein kratzt. Seine 15 Minuten Ruhm erleben zu dürfen, wenn man etwas wirklich Heldenhaftes getan hat – das ist das eine. Bei mir jedoch ging es um ein unangenehmes, peinliches, beschämendes Ereignis. Man machte sich über mich und mein Äusseres lustig. Diese Visitenkarte wurde um die Welt gereicht. Ein solches Image will man nicht haben, schon gar nicht, wenn man 14 oder 15 Jahre alt ist und damit beschäftigt, die eigene Identität zu entwickeln. Zehn Jahre später fällt es mir leichter, offen darüber zu reden. Damals war es schwierig. Ich versuchte zwar, die Leute zu ignorieren, die mich zum Selbstmord aufforderten; es war dennoch für mich unerträglich, zum Schluss zu kommen, ich sei nichts wert und nicht würdig weiterzuleben. Einen Suizidversuch habe ich zwar nicht unternommen, aber es waren sehr düstere Zeiten. Wenn einem dann zugeflüstert wird: «Das sind jetzt deine 15 Minuten Ruhm; schlage Profit daraus!», dann tönt das reichlich irreal. Fälle von Cybermobbing gab es in den letzten Jahren viele. Hat die Gesellschaft inzwischen dazugelernt? Würde heute jemandem etwas widerfahren wie mir 2003, hoffe ich doch sehr, dass anders vorgegangen würde. Dass zum Beispiel in der Schule Profis da sind, die einem helfen. Meine Eltern mussten sich selbst um Hilfe bemühen, die eigentlich die Schule hätte anbieten sollen. Ich denke, dass Schulen sich heute stärker verantwortlich dafür fühlen, was im Internet läuft. Gut wäre auch, dass man die Jugendlichen vermehrt für das Phänomen Mobbing sensibilisiert. Man sollte sie klar mit der Frage konfrontieren: «Würdet ihr das, was ihr schreibt, auch

direkt aussprechen? Würdet ihr es auch öffentlich sagen?» Wenn man sich der Tragweite seines Handelns bewusst ist, nimmt das Verantwortungsgefühl zu. Spezielle Kurse zu Mobbing sind eine gute Sache. Noch besser wäre es, diesen Stoff im regulären Unterricht unterzubringen. Was würden Sie einem jungen Mobbing-Opfer sagen? Erstens: So etwas überlebt man. Du kannst es schaffen. Und du bist nicht allein. Um dich herum gibt es Leute, die dich lieben. Die Scham, die du vielleicht empfindest, musst du überwinden. Und du sollst dich um Hilfe bemühen. Falls du in der glücklichen Lage bist, fürsorgliche Eltern zu haben, rede mit ihnen. Falls nicht, hole dir Hilfe in der Schule, bei Lehrern oder Freunden. Was mich angeht: In der Schule war ich nicht sonderlich beliebt; ich hatte nicht 350 Freunde, und als es heftig wurde, brach auch noch der Kontakt mit den wenigen ab, die ich hatte. Um mich herum gab es nur meine Eltern und meine Anwälte. Aber sie spielten eine entscheidende Rolle, damit ich den Sturm überlebte. Gibt es im Nachhinein Dinge, die Sie anders angehen würden? Ich bin im Frieden mit den Entscheiden, die getroffen wurden. Würde ich die Vergangenheit ändern wollen, wenn ich könnte? Nein. Ich würde nichts anders machen. Ich bin zufrieden mit dem, der ich heute bin. Ich bin das Produkt von guten und weniger guten Erfahrungen. Würde man mir heute sagen: «Morgen musst du das Ganze nochmals durchmachen», dann würde ich natürlich keine Freudensprünge machen. Aber ich würde auch nicht versuchen, dem Ganzen auszuweichen.

© L’Actualité 2013 Aus dem Französischen von Stéphane Zindel.


— Schule —

Cybermobbing – Mit Necken und Hänseln hat das nichts mehr zu tun: Wenn sich Schüler in der digitalen Welt fertigmachen, kann das im richtigen Leben tödlich enden.

Der verantwortungsvolle Umgang mit dem Internet ist kein Kinderspiel.

Heimtückisch am Mobbing im Internet ist seine Grenzenlosigkeit: Immer und überall ist das Opfer den Attacken ausgesetzt, es gibt kein Entrinnen. Zudem ist das Publikum unendlich gross, und selbst wenn der Mobber von seinem Opfer ablässt, kursieren seine Beleidigungen und Lügen auf ewig im Netz. Dem Täter macht es das Internet sehr leicht: Die Anonymität senkt die Hemmschwelle, es braucht bloss ein einziges Foto, um eine Mobbing-Welle zu starten, und der Mobber hat kaum Konsequenzen zu fürchten. Besonders heimtückisch aber ist, dass das Mobbing nicht im Internet bleibt, sondern sich in der Offline-Welt fortsetzt: Plötzlich kichern auch Schüler aus der Parallelklasse oder gar der ganzen Schule, wenn sie das Mobbing-Opfer auf dem Pausenhof sichten. Und das Cybermobbing hat ganz konkrete Konsequenzen, manchmal sogar tödliche: Mehrere Jugendliche in Grossbritannien, den Niederlanden und den USA haben sich aus Scham umgebracht. Einer der berühmtesten Fälle stammt aus Kanada. Amanda Todd, ein 12-jähriges

Foto: Richard Brocken / Hollandse Hoogte / laif

Mädchen, hatte sich in einem Chat teilweise nackt gezeigt. Die Bilder fanden den Weg an die Internet-Öffentlichkeit, Amanda Todd wurde in der Schule gemobbt. Schliesslich beging sie Suizid. Täter sind kaum zu fassen Auch im Internet selbst zieht das Mobbing langfristige und schwerwiegende Folgen nach sich. Forscher von der Universität Bremen haben festgestellt, dass Kinder, die online gemobbt werden, ein viermal so hohes Risiko haben, von Erwachsenen im Netz sexuell belästigt zu werden. Solche Kinder suchten häufig Anerkennung und seien deshalb anfälliger für Annäherungsversuche, vermuten die Wissenschafter. So entwickelten sich regelrechte Opferkarrieren. Cybermobbing ist zwar kein eigener Straftatbestand, aber Beleidigungen, Bedrohungen und die Verbreitung von fremdem Bildmaterial im Internet sind sehr wohl straf bar. Doch die Polizei bekommt die Täter nur selten zu fassen. Wie oft Mobbing im Internet vorkommt, darüber kursieren sehr unterschiedliche Zahlen, weil die Ansichten

darüber, wann Mobbing beginnt, weit auseinandergehen. Je nach Studie wurden zwischen 3 und mehr als 30 Prozent der Jugendlichen schon einmal Opfer einer Attacke im Netz. Zum Vergleich: In der Off lineWelt sind es nach einer Umfrage der Universität Koblenz-Landau mehr als 50 Prozent. Die jüngste Befragung zum Mobbing im Internet, die das deutsche Bündnis gegen Cybermobbing in diesem Jahr veröffentlichte, kam auf 17 Prozent. 19 Prozent der Befragten gaben zu, schon einmal Beleidigungen, Gerüchte oder Verleumdungen ins Netz gestellt zu haben. Als Gründe nannten sie Langeweile und Spass. Oft verteidigten sie sich aber auch gegen vorangegangene Angriffe: Mehr als ein Drittel der Mobber gab an, selbst schon einmal Opfer gewesen zu sein. Gaffer spielen wichtige Rolle Als eine Hauptursache des Cybermobbings haben Forscher von der Universität Bielefeld mangelnde «moralische Kompetenz» ausgemacht. 18 Prozent der von ihnen befragten Schüler waren der Meinung, dass die sozialen Regeln des friedlichen Miteinanders im Internet keine Geltung hätten. Viele Schulen haben Programme gestartet, um die Schüler für das Thema zu sensibilisieren, in der Schweiz etwa soll ihnen nun im Rahmen des Lehrplans 21 mehr Medienkompetenz beigebracht werden, dies auch, um Cybermobbing zu bekämpfen. Es kommt aber nicht nur darauf an, potenzielle Täter vom Mobben abzuhalten – sondern vor allem darauf, die unbeteiligten Zuschauer zum Handeln zu bewegen. Häufig sind sie passiv und warten erst einmal ab, hat der Psychologe Jan Pfetsch von der Technischen Universität Berlin in einer Umfrage herausgefunden. Er ist überzeugt, dass letztlich das Verhalten der vielen Gaffer darüber entscheidet, ob das Cybermobbing eingeschränkt werden kann.

Stefanie Schramm ist Wissenschaftsjournalistin in Hamburg. Sie arbeitet u.a. für «Die Zeit», «mare» und den Deutschlandfunk.

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Lehre in der Schweiz, Karriere in der Welt

«Seine Ausdauer war aussergewöhnlich»: Daniel Humm als Lehrling. Foto von Lehrmeister Viktor Geiser, Küchenchef des Kurhotels Bad Schinznach, Frühjahr 1995, kurz vor Humms Abschlussprüfung.

Daniel Humm, 37, in der Küche des Eleven Madison Park in New York, Flaggschiff seines Gastro-Imperiums mit über 400 Angestellten.

Daniel Humm flog im Aargau von der Schule – und hob nach der Berufslehre ab. Heute gilt er als bester Koch der USA und als Nummer fünf der Welt. Sein Erfolgsrezept: Ziele sind wichtiger als Träume. Von Sacha Verna

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indestens einmal am Tag spaziert Daniel Humm durch den Madison Square Park. Die grüne Insel an der Kreuzung von Fifth Avenue und Broadway liegt zwischen Humms Hotel NoMad und seinem Restaurant Eleven Madison Park. Das Eleven Madison Park ist das beste Restaurant der USA und eines der besten der Welt. Jenes im Hotel NoMad eines der besten New Yorks. «Ich liebe New York», sagt der 37-Jährige. Die Liebe ist gegenseitig. Und auch der Rest des Gourmet-Universums liebt Humm, für Gerichte wie Rüebli-Tatar und gefülltes Ofenpoulet mit Brioche, Fois gras und Trüffelbutter. Kreationen wie diese haben dem Schulabbrecher aus dem Aargau drei Michelin-Sterne eingebracht, vier von der «New York Times» und im vergangenen Jahr die Auszeichnung als bester Koch der Vereinigten Staaten von den kulinarischen Königsmachern der James-Beard-Stiftung. Wie die meisten Erfolgsgeschichten beginnt die von Daniel Humm mit einem Misserfolg. Als Humm, der in Schinznach AG aufwuchs, mit 14 Jahren die Schule schmiss bzw. wegen exzessiven Schwänzens von der Schule geschmissen wurde und eine Kochlehre anfing, waren seine Eltern alles andere als entzückt. Architekt hätte er werden sollen. «Der Kochberuf ist nichts wert, Köche haben alle Alkoholprobleme und keine Familie und hausen irgendwo in einem Zimmer», zitiert Humm seine besorgte Verwandtschaft. Gut ist nicht gut genug Es ist kurz nach Mittag, und aus dem vollen Speisesaal des NoMad dringen die Geräusche zufriedener Gäste. Humm sitzt auf einem der schicken Sofas in der Lobby und streckt seine langen Beine aus. Die Schule sei nichts für ihn gewesen: «Ich wollte keine Zeit damit vergeuden, Dinge zu lernen, die mich nicht interessierten. Ich wollte kochen und Rad fahren.» Das Radfahren ist Humms andere LeidenFotos: Privatarchiv Viktor Geiser, Bad Schinznach; Francesco Tonelli

schaft. Ursprünglich arbeitete er an freien Nachmittagen und in den Ferien hauptsächlich deshalb in Restaurantküchen, um Geld für seine Veloausrüstung zu verdienen. Als Elite-Amateur fuhr er Rennen in ganz Europa. «Ich war immer unter den ersten zehn, aber nie unter den ersten drei», erzählt Humm, «das reichte mir nicht.» Die Lehre bot ihm neben einem geregelten Alltag, einer konkreten Berufsaussicht und einem kleinen Einkommen vor allem eines: die Möglichkeit zu beweisen, dass er zu den Besten gehören konnte. Er schloss sie in Glanz und Gloria ab. Superlative spielen in Daniel Humms Leben eine wichtige Rolle. Superlative und Ziele, die er Träumen vorzieht. Denn wenn er ein Ziel ins Auge gefasst hat, setzt er alles daran, es zu erreichen. Das fiel schon Viktor Geiser auf, dem Küchenchef

«Ich wollte keine Zeit damit vergeuden, Dinge zu lernen, die mich nicht interessierten.» des Kurhotels Bad Schinznach, bei dem Humm seine dreijährige Lehre absolvierte: «Dani war genauso wild wie die anderen Stifte», erinnert er sich, «aber seine Ausdauer war aussergewöhnlich.» Der Dani habe auch schnell kapiert, dass die Küche kein Ort für Pausenfreunde ist. «Er tauchte zwar manchmal mit gefärbten Haaren auf und flitzte in der Zimmerstunde am Nachmittag auf dem Velo um den Zugersee, aber er stand immer pünktlich am Herd.» Auch Gérard Rabaey betont Daniel Humms Disziplin und Entschlossenheit. In Rabaeys Haubenlokal Le Pont de Brent bei Montreux lernte Humm, was Spitzen-

gastronomie bedeutet und wie man mit Top-Produkten umgeht. «Daniel machte sich ständig Notizen», sagt Rabaey, der die Leitung seines Restaurants 2011 abgegeben hat. «Er war so gut, so aufmerksam, so schnell von Begriff und dabei so freundlich, bescheiden und umgänglich, dass die anderen nicht wussten, ob sie ihn lieben oder hassen sollten.» Der Beruf als zweite Natur Es ist schwer möglich, Daniel Humm zu hassen. Dazu braucht man ihm bloss zuzuhören, wenn er von den Wundern schwärmt, die sich mit der Schale von Selleriewurzeln vollbringen lassen, oder vom Lavendelhonig, mit dem er seine berühmte Ente glasiert. Erst recht verfällt ihm, wer seine Wurzelwunder und Honigenten gekostet hat. Das gilt für den Hotelier, der Humm 2003 aus dem Gasthaus zum Gupf im appenzellischen Rehetobel nach San Francisco holte, nachdem Humm seinen ersten Michelin-Stern erkocht hatte. Das gilt für die betuchte Klientel seines Flaggschiffs Eleven Madison Park, wo Humm seit 2006 das Menü diktiert und das Humm und sein Geschäftspartner Will Guidara neben dem NoMad seit 2011 besitzen. Ein wachsendes Imperium mit über 400 Angestellten. Durch die Lehre sei ihm sein Beruf zur zweiten Natur geworden: «Es ist, wie wenn man eine Sprache lernt: Je früher man damit beginnt, desto besser.» In den USA existiere nichts Vergleichbares. Tatsächlich hat Präsident Barack Obama unlängst eine Delegation über den Teich geschickt, auf dass sich amerikanische Lehrbeauftragte am dualen Bildungssystem der Schweiz ein Beispiel nehmen. Die Jugendarbeitslosigkeit kostet den US-Staat jährlich 18 Milliarden Dollar. Chef, Mentor, Vorbild Auch wenn es Lehrlinge gäbe, wäre in der Küche des Eleven Madison Park kein Platz für sie. Da arbeiten ausschliesslich Profis. Dennoch nimmt Daniel Humm seine Bulletin N° 4 / 2013 — 59


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Rolle als Mentor ernst: «Was man weitergibt, ist das, was am Schluss von einem bleibt.» In seiner Küche ist er der Chef, und Perfektion ist das höchste Gebot. Doch Humm lernt gern auch selber etwas dazu und mag es nicht, anderen etwas einzubläuen, nur um sein Ego zu streicheln. Er wolle seinen Mitarbeitern auch menschlich ein Vorbild sein.

«Ich will nicht Erfolg haben, um Geld zu verdienen. Ich will Geld verdienen, um zu kochen.» Daniel Humm ist dreifacher Vater. Seine älteste Tochter hat eben eine Service-Lehre in der Schweiz begonnen und möchte später an die Hotelfachschule. Die zwei Mädchen aus Humms Ehe mit seiner amerikanischen Frau sind für derlei Pläne noch zu klein. Aber schon gross genug, um daheim in New Jersey im Planschbecken vor dem Haus Wellen zu werfen. Ausserdem ist Humm fitter als die Turnschuhe, die er trägt. Täglich steht er in aller Frühe auf – «sechs Stunden Schlaf sind ideal, fünf Stunden genügen» –, um vor dem Familienfrühstück und der Arbeit noch zu biken oder für den New York Marathon zu trainieren, an dem er jedes Jahr teilnimmt. Ein Koch mit Alkoholproblemen, ohne Privatleben, der irgendwo in einem Zimmer haust? Mitnichten. Kunstwerk auf dem Teller Im Madison Square Park hatte Daniel Humm auf die bunten Wälle gedeutet, die sich zwischen den Bäumen hindurchziehen, ein Werk der Künstlerin Orly Genger. Das Eleven Madison Park veranstaltete 60 — Bulletin N° 4 / 2013

kürzlich ein Benefizessen für den Park, das von Orly Gengers «Red, Yellow and Blue» inspiriert war. Pochierter Hummer mit Liebstöckel-Bisque: «Weil die Wälle aus Hummernetzen geflochten sind.» Geröstete gelbe Randen mit Meerrettich und Äpfeln: «In den Farben und Formen des Werkes.» An solchen Kombinationen hirnt und häckselt Humm jeweils ab elf Uhr mit seinen Köchen herum. Das ist noch immer der Teil seiner Arbeit, der ihm am meisten Freude bereitet. Das Ziel ist klar «Ich will nicht Erfolg haben, um Geld zu verdienen», sagt Humm. «Ich will Geld verdienen, um zu kochen.» Mit seinem Ehrgeiz harmoniert diese Haltung bestens. Zurzeit rangiert das Eleven Madison Park auf der San-Pellegrino-Liste der weltbesten Restaurants auf Platz 5. Es ist klar, was Daniel Humm als Nächstes anpeilt. Für seine Massstäbe ist Nummer 1 knapp gut genug.

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WIR SIND DANN MAL WEG Wer die Ausbildung abbricht, kann es trotzdem (oder gerade deswegen) ganz nach oben bringen. Fünf erfolgreiche, abgekürzte Karrieren: 1 Nick Hayek, CEO Swatch Group, Schweiz Das Studium an der Hochschule St. Gallen schmiss er nach ein paar Semestern, um in einer Giesserei und dann als Filmproduzent zu arbeiten. 1994 stieg er in die Firma seines Vaters ein, der Rest ist Uhrengeschichte. 2 Steve Jobs, Mitgründer Apple, USA Die Ikone der Schulabbrecher brachte es auf sechs Monate am Reed College, dann befand Jobs (1955–2011), er könne nicht das Geld seiner Eltern ausgeben ohne die Gewissheit, durch das Studium einen Traumjob zu finden. Er opponierte also nicht gegen die Ausbildung, sondern dagegen, etwas ohne Ziel zu tun. 3 Anna Wintour, Chefredaktorin US-Ausgabe «Vogue» In den sechziger Jahren gab es in London Aufregenderes zu tun, als zur Schule zu gehen. Wintour, aus gutem Haus, verliess die North London Collegiate School und stürzte sich ins Nacht- und Modeleben. «Nuclear Wintour» – so ihr Spitzname – kam nach wenigen Berufsstationen zu einem Vorstellungsgespräch bei der «Vogue». Die Chefredaktorin fragte: «Welchen Job können Sie sich bei uns vorstellen?» Wintour: «Ihren.» 4 Henry Fok, Geschäftsmann, Hongkong Der Hongkonger Immobilien-, Casino- und Rohstoffmagnat (1923–2006) musste die Ausbildung abbrechen wegen der japanischen Invasion. Er machte dennoch Karriere: Fok stammte aus bescheidenen Verhältnissen und verstarb als mehrfacher Milliardär.

Sacha Verna ist freie Journalistin in New York und arbeitet unter anderem für SRF 2, den Südwestfunk, «Tages-Anzeiger» und «Das Magazin».

5 Subhash Chandra, Unternehmer, Indien Mit 12 verliess der heute 63-jährige indische Unternehmer die Schule, mit 19 war er ein aktiver Händler im Reismarkt. Heute gehört ihm die indische Medienfirma «Zee Entertainment», sein Vermögen wird auf 2,4 Milliarden Dollar geschätzt.

Fotos: Dick Vredenbregt / SI / RDB; Axel Schmidt / ddp images; Amanda Schwab / Startraks Photo / action press; Bobby Yip / Reuters; Lan / Corbis / Dukas


© Jason Sangster / CARE

CARE ist eine humanitäre Organisation, die sich in mehr als 80 Ländern gegen die globale Armut engagiert.

CARE Frankreich sucht Philanthropen, die in strategische Entscheidungen der Organisation investieren möchten. Wir haben eine neue Entwicklungsphase eingeläutet. Unser philanthropisches Programm macht’s möglich. Helfen Sie uns, mehr zu bewirken. Kontaktieren Sie Emanuela Croce, unseren Philanthropy Manager, für weitere Informationen.

+ 33 1 53 19 87 62 • croce@carefrance.org CARE Frankreich ist eine eingetragene Wohltätigkeitsorganisation.

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AGRÉÉE PAR


In jedem Menschen stecken Talente – in jedem freilich andere.

Mit Paukern und Trompeten

Falls Sie zu jenen gehören, die meinen, die Schule fördere das Falsche und verhindere das Richtige, dann wird Ihnen Sir Ken Robinson gefallen. Die Botschaft des britischen Bildungsexperten versteht jedes Primarkind: Die Schule macht alles falsch. Von Mikael Krogerus ken robinson ist in england eine

grosse Nummer. In den 1990ern verfasste er «The Robinson Report», das Standardwerk aller Bildungskritiker. Die Queen adelte ihn, und Robinson, eigentlich Dekan einer Hochschule, verbrachte die nächsten Jahre damit, Regierungen und Institutionen zu beraten. Wer Bildung ernst nahm, kam an dem Mann mit dem trockenen Humor nicht vorbei. Aber Robinson hatte noch mehr vor. Sein Aufstieg vom Chefdenker Englands zum Dalai62 — Bulletin N° 4 / 2013

Lama der Bildungspolitik begann an einem Frühlingstag 2006 in Kalifornien. Er war Redner an der renommierten TEDKonferenz, und sein Beitrag trug den schmissigen Titel «Ken Robinson says schools kill creativity». In der unterhaltsamen 19-minütigen Rede erfuhr man nicht nur, wie man den perfekten Vortrag hält, sondern lernte auch mehr über die aktuelle Bildungskrise als in neun Semestern an einer pädagogischen Hochschule. Im Kern ging es Robinson

darum, dass die Schulsysteme nicht mehr in unsere Zeit passen. Anstatt Kinder zu ermutigen, Dinge auszuprobieren und Fehler zu begehen, wird unterrichtet, Fehler zu vermeiden. Anstatt Kinder zu begeistern und ihre Leidenschaften zu wecken, sind Lehrer angehalten, einen bestimmten Stoff in einer bestimmten Zeit zu vermitteln. Anstatt darauf zu reagieren, was die Hirnforschung längst weiss, nämlich dass Intelligenz vielfältig, dynamisch und interdisziplinär ist, haben weltweit


alle Bildungssysteme die gleiche Fächerhierarchie: Am wichtigsten sind Mathematik und Sprachen, am unwichtigsten ist Kunst. Kein Schulsystem der Welt sieht täglichen Tanzunterricht vor, obwohl wir wissen, dass viele Kinder sich nur dann auf etwas einlassen können, wenn sie ihre Körper benutzen. Robinson argumentierte nicht gegen die Naturwissenschaften, im Gegenteil, sie seien sehr wichtig, aber eben nicht ausreichend. Wir haben schon zu viele Akademiker, sagt Robinson – und wir haben zu viele brillante Leute, die glauben, dass sie nichts taugen, weil sie die standardisierten Tests der Schulen nicht bestehen. Kurz: In der Schule lernen wir nicht fürs Leben, sondern für die Prüfung. Man kann von Robinson halten, was man will, aber wer schon einmal mit seinen Kindern für die Gymi-Prüfung paukte, ahnt, dass der Brite einen Punkt hat. Gut und gern «Ken Robinson says schools kill creativity» ist der erfolgreichste aller TED-Beiträge; diese werden jeweils nach einer TEDKonferenz (Technology, Entertainment, Design), an der hochkarätige Redner aus aller Welt auftreten, als Video ins Netz gestellt. Schätzungsweise 250 Millionen Menschen in über 150 Ländern haben Robinsons fulminanten Auftritt gesehen. Seine Bücher sind Bestseller, und wer ihn für einen Vortrag buchen will, zahlt fünfstellige Beträge. Jetzt doppelt Robinson mit zwei Büchern nach, deren These noch näher dran ist bei den Leuten als seine Forderung nach kreativeren Schulen. Es geht um die einfache Frage: Sind Sie in Ihrem Element? In unserem Element sind wir, so Robinson, wenn das, was wir gut können, und das, was wir gerne machen, zusammenkommen. Im ersten Buch («In meinem Element: Wie wir von erfolgreichen Menschen lernen können, unser Potenzial zu entdecken», Arkana, 2010) beschreibt er verschiedene Personen – von SimpsonsErfinder Matt Groening bis zur StarChoreografin Gillian Lynne – und wie sie ihre Berufung fanden. Die Geschichten laufen alle ähnlich: Zuerst taten sie das, was sie glaubten, tun zu müssen, und wur-

den unglücklich. Dann erinnerten sie sich an das, was sie früher begeistert hatte. Dann änderten sie ihr Leben. Dann wurden sie glücklich. Nett, denkt man beim Lesen. Aber was, wenn man nicht in seinem Element ist und zugleich keine anderen Talente besitzt? Oder sich für etwas begeistert, das man nicht gut genug beherrscht, um dafür bezahlt zu werden? Und wer putzt die Toiletten, wenn alle in ihrem Element sind? Im Frühjahr dieses Jahres publizierte Robinson «Finding Your Element: How to Discover Your Talents and Passions and Transform Your Life» (noch nicht auf Deutsch), eine Art Anleitung für jedermann, um sein Element zu finden. Auf den 243 schnell gelesenen Seiten verknüpft Robinson Kalendersprüche («Wähle einen Job, den du liebst, und du wirst nie wieder in deinem Leben arbeiten müssen») mit esoterischen Selbsthilfetechniken und erhellenden Beispielen von Menschen, die ihr Leben über den Haufen warfen, um ihrer inneren Bestimmung zu folgen. Nicht alle Geschichten gehen gut aus. Nicht jeder wurde auf der Suche glücklich, die wenigsten wurden reich. Aber es gilt das alte Proust-Bonmot: Wir bedauern nur die Dinge, die wir nicht getan haben. Fragen, die Türen öffnen Das Buch ist eine Achterbahnfahrt. Es zwingt einen, sich mit dem Leben auseinanderzusetzen. Dem eigenen. Puh. Egal, ob man am Anfang steht oder am Ende ist, die Frage lautet immer: Was mache ich eigentlich? Und weiter: Was kann ich? Was will ich? Will ich, was ich kann? Kann ich, was ich will? Die Lektüre löst das vereinnahmende Gefühl aus, dass das Leben besser sein könnte, als es ist. Und dass wir es selbst sind, die diese Veränderung herbeiführen können. Es scheint – echt wahr! –, als täte sich eine Tür im Leben auf. Der Schein trügt vermutlich, aber es war verdammt schön, betrogen zu werden. Mikael Krogerus, 1976 in Stockholm geboren, ist freier Journalist in Biel. Er hat an der Kaospilot School in Dänemark studiert und ist Ko-Autor der Beststeller «50 Erfolgsmodelle», «Fragebuch» und «Die Welt erklärt in drei Strichen» (Verlag Kein & Aber).

Fotos: Stephanie Tetu / Picturetank / Agentur Focus; Graeme Robertson / Eyevine / Dukas

Sind Sie in Ihrem Element? Lernen Sie etwas über sich selbst: Setzen Sie sich. Schliessen Sie die Augen. Achten Sie einige Minuten nur auf Ihren Atem. Öffnen Sie die Augen. Denken Sie an eine typische Arbeitswoche und erstellen Sie eine Liste von allen Dingen, die Sie tun (Sitzungen, E-Mails, Hausarbeit usw.). Erstellen Sie nun eine Rangordnung: Welches sind die fünf Aktivitäten, die Sie am liebsten ausüben, und welches die fünf, die Sie ungern machen? - Erklären Sie: Was genau gefällt Ihnen an Ihren fünf Lieblingsaktivitäten? - Haben Sie das Gefühl, dass das, was Sie täglich tun, wertvoll ist? Für Sie? Für andere? - Unabhängig von Ihrer Liste: Was sind die Tätigkeiten, bei denen Sie die Zeit vergessen? - Was, würden Sie sagen, sind Ihre Talente und wann wurden Sie zum ersten Mal darauf aufmerksam? - Haben Sie Talente, die Sie nie weiter verfolgt haben? - Gibt es etwas, das Sie früher gern getan haben, aber seither nie wieder? Was hält Sie davon ab, es wieder aufzugreifen? - Angenommen, es würde Ihnen nicht misslingen: Was würden Sie gern probieren? - Was hält Sie davon ab, das zu tun? - Was würde passieren, wenn Sie es tun? - Was würde passieren, wenn Sie es nicht tun?

Ken Robinsons TED-Vortrag: www.ted.com/talks/ ken_robinson_says_schools_ kill_creativity.html Bulletin N° 4 / 2013 — 63


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Der Frieden will gelernt sein Der Südsudan hat die tiefste Bildungsrate der Welt. Wegen des jahrzehntelangen Bürgerkriegs konnten viele Kinder nicht zur Schule gehen. Dies ändert sich nun, zögerlich. Ein Besuch an der technischen Berufsschule in der Hauptstadt Juba, wo erste Erfolge sichtbar werden. Von Barbara Achermann (Text) und Espen Eichhöfer (Fotos)

Eingang zur Juba Technical High School. Ein Motorrad können sich nur wenige leisten, die meisten Schüler kommen zu Fuss, zum Teil von weit her. 64 — Bulletin N° 4 / 2013


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Michael Kom Kom macht seine Hausaufgaben in einer Wellblechhütte ohne Strom und Wasser.

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ichael Kom Kom verknotet seine langen Finger, senkt den Kopf und schliesst die Augen. Er betet inmitten von 603 Schülern, betet für den Südsudan, den jüngsten Staat der Welt. Als Kindersoldat wurde er gezwungen, für die Unabhängigkeit seines Landes zu töten. Jetzt will er helfen, die zwei Jahre alte Nation aufzubauen. Jedes Haus solle dereinst Licht haben, sagt Michael. Er lernt Elektriker, weil er sich davon ein Auskommen verspricht und weil er sich vor der Dunkelheit fürchtet. «Herr, Du machst meine Finsternis hell.» Nach dem Morgengebet auf dem Hof gehen alle Schülerinnen und Schüler der Technical High School in ihre Klassen. Die Berufsschule liegt im Zentrum von Juba, der Hauptstadt des Südsudans, in der schätzungsweise 400 000 Menschen leben. Michael setzt sich zu seinen Kollegen. Einer bewundert die neue Jacke seines Freundes, einer schielt zu den Mädchen in der ersten Reihe, und wieder einer steckt sich ein Stück Kreide in den Mund und 66 — Bulletin N° 4 / 2013

zieht daran, als wäre es eine Zigarette. Auch Jugendliche im Südsudan sind zuallererst einfach Jugendliche. Selbst wenn sie den Krieg besser kennen als den Frieden. Die 84 Schüler verstummen, als Rektor Samuel Amuzai das Zimmer betritt, Typ schusseliger Professor, auf den Gläsern seiner Lesebrille klebt noch das Preisschild. Er schreibt an die Wandtafel, wie man ein Spiegelbild der Sonne konstruiert. Michael überträgt die Ausführungen in sein Heft. Als die Tafel voll ist, tritt der Rektor einen Schritt zurück, kratzt sich am Hinterkopf und hinterlässt weisse Kreidewolken auf der dunklen Haut. Eine grausame Vergangenheit Er träumt davon, dass sich seine technische Berufsschule zu einer Universität entwickelt. Aber er weiss, dass das ohne Internet und mit den wenigen alten Büchern, die sein Kollegium besitzt, im Moment nicht möglich ist. Zunächst will er einfach nur eine hohe Mauer um seine Schule bauen und eine Wache ans Tor stellen, damit das spärliche Material, das sie haben, nicht wieder durch bewaffnete Banden geraubt wird. Die Stimmung in Juba ist angespannt, das Leben manchmal gefährlich. Der Bürgerkrieg, der sich über beinahe fünfzig Jahre hinstreckte und vor zwei Jahren in der Unabhängigkeit des Südsudans mündete, wird oft verkürzt erklärt mit Nord gegen Süd, Diktatur gegen Demokratie, Moslems gegen Christen, Reich gegen Arm. Es war ein grausamer und chaotischer Konflikt, die verschiedenen Stämme im Süden bekriegten sich auch untereinander. Humanitäre Verbrechen geschahen auf allen Seiten. Tausende

von Kindern, genaue Zahlen gibt es nicht, wurden als Soldaten rekrutiert und in den Kampf geschickt. Zwei Millionen Menschen starben, und vier Millionen wurden aus ihren Heimatdörfern vertrieben. Zweite Stunde, ein junger Lehrer gibt einen Test zurück. Michael hat den Grund- und Aufriss einer komplizierten Figur skizziert. Null Fehler. Er lacht und zeigt dabei seine wilde Zahnstellung. Der Lehrer erarbeitet mit den Schülern einen technischen Plan, fragt nach, ob alle folgen; fordert, dass alle mitdenken. Dritte Stunde Englisch, vierte Religion, fünfte Mathematik, sechste und siebte Physik. Vor dem Fenster liegt ein weiter Platz. Kinder spielen Fussball, Ziegen suchen zwischen Plastiksäcken Grasbüschel, Männer auf Motorrädern schlängeln sich an Pfützen vorbei, und Schülerinnen hacken mit einfachen Werkzeugen den Boden auf. Eine Hauptstadt wie ein gigantisches Dorf, darüber ein grellgrauer Himmel. Vielleicht brennt die Sonne die Wolken weg, oder es kommt ein Platzregen. Das Wetter in der Regenzeit ist so unberechenbar wie die Politik im Südsudan. Präsident Salva Kiir hat unlängst alle seine Minister entlassen und neue eingesetzt. Aus heiterem Himmel. Es ist zehn nach zwei, die Elektriker, Maurer, Zimmerleute und Automechaniker haben Schulschluss. Michael packt Bleistiftstummel und Ringheft in seine Tasche mit Vierfruchtmuster. Er geht zu Fuss nach Hause, zunächst einer der wenigen geteerten Strassen entlang, dann auf matschigen, von Müll gesäumten Pisten. Eine Stunde und vierzig Minuten später kommt er bei seiner Frau und sei-


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Die Berufsschule bildet Mechaniker, Elektriker, Maurer oder Zimmerleute aus.

nem einjährigen Sohn an. Die kleine Familie hat ein Zimmer in einer Wellblechhütte gemietet, ohne Wasser, ohne Strom. In einer Ecke ein hüfthoher Bücherturm: der Oxford Dictionary, die Bibel, ein esoterischer Ratgeber und ein dünnes Fotoalbum. Darin klebt ein Bild von Michaels Zeit im Krieg. Er sitzt auf einem Feldbett in einer Grashütte, hinter ihm hängt die grüne Uniform der Rebellenarmee SPLA, die ihm seine Kindheit geraubt hat. Kinder mit Kalaschnikow Michael Kom Kom wurde vor 23 Jahren geboren, hundert Kilometer von der Stadt Warrap entfernt, an einem abgeschiedenen Ort im Norden des Landes, wo es bis heute keine Autos, keine Schule und kein Spital gibt. Er war ein ängstliches Kind, versteckte sich während der rituellen Kuhschlachtungen und fürchtete sich nachts vor den Schreien der Hyänen. Als die Soldaten der Sudanesischen Volksbefreiungsarmee in sein Dorf kamen, war er zehn oder zwölf Jahre alt, genau weiss er das nicht. Sie wollten die Männer mitnehmen, aber weil die

sich versteckten, gab der Häuptling den Soldaten eine Schar Kinder mit. Michael kam ins Trainingscamp, musste immer wieder einen Hügel hochrennen. Er reibt sich die Oberschenkel: «Meine Beine schmerzten so sehr, dass ich weinen musste.» Ein Ausbilder schlug ihn mit einem Stock in die Kniekehle, ein anderer kam hinzu und schickte ihn zum Wäschewaschen. Trotzdem bekam Michael ein Sturmgewehr, eine Kalaschnikow AK-47, die so schwer war, dass er sie kaum halten konnte. Dann musste er gegen die «Araber» in den Krieg ziehen. So nennen die Südsudanesen ihre nördlichen, muslimischen Nachbarn, die damals von der Stadt Khartoum aus den ganzen Sudan kontrollierten. Michael kämpfte in Raga, Warrap, Rumbek und Equatoria, also in beinahe jeder Gegend des Südsudans, ein Land, das so gross ist wie Frankreich und das er jahrelang zu Fuss durchquerte, tagelang ohne Essen. «Ich vermisste meine Mutter», sagt er. Man kann sich Michael als Soldat kaum vorstellen. Er ist ein stiller Mann mit we-

nig Körperspannung. Seine Statur ist hager, er redet mit hoher Stimme und hat einen Händedruck wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. In der Armee nannten ihn manche «Hure». Er hasste diesen und die anderen vierzig Übernamen, die er in seinem Tagebuch aufgelistet hat. Er wurde Funker, das war Fluch und Segen zugleich. Zum einen war er mit seiner hohen Antenne exponiert und ein strategisches Ziel des Gegners, zum anderen mussten ihn seine Kollegen verteidigen. Auch sein bester Freund Lual Garang, den er sterben sah. «Das war … das war so traurig.» Er stockt, schaut Hilfe suchend zu seiner Frau. «Lual hat immer Essen für mich aufgehoben. Ich aber hatte nicht einmal Zeit, ihn zu begraben.» Geier stritten sich um den kleinen Körper. Michael nimmt sein Söhnchen auf den Schoss, schmust mit ihm. Er ist heute ein liebevoller Vater und Ehemann, sein Lachen steckt an. Er habe mit sich und seinen einstigen Feinden Frieden geschlosLesen Sie weiter auf Seite 72. Bulletin N° 4 / 2013 — 67


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Links: In der Hauptstadt herrscht nach dem Bürgerkrieg wieder eine Art von Normalität. Doch die Stimmung ist oft angespannt und das Leben gefährlich. Unten: Schülerinnen und Schüler der Technical High School lernen, wie man Lampen fachgerecht montiert. Vielerorts aber gibt es noch keine Elektrizität. Rechts: Markt in Juba. Im Südsudan sind die Preise für Lebensmittel hoch. 2,3 Millionen Menschen erhalten Nahrungsmittelhilfe.

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Links: An der Juba Technical High School gibt es nur wenige Schulbücher, viele davon sind veraltet. Ganz oben: Rektor Samuel Amuzai möchte aus seiner Schule eine Universität machen. Oben: In einer Halle lernen die Schülerinnen und Schüler verschiedene Maurertechniken.

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Der Bürgerkrieg dauerte, mit Unterbrüchen, fast 50 Jahre (1955–2005). Auf beiden Seiten wurden Kindersoldaten eingesetzt – Jungen und Mädchen, die keine 18 Jahre alt waren. Rund um die Welt kämpfen noch heute Zehntausende Kindersoldaten in bewaffneten Konflikten.

Sudan

Northern Bahr Awel El Ghazal

Upper Nile

Unity

Malakai

Bentiu

Warrap

Warrap

Western Wau Bahr El Ghazal

Lakes

Zentralafrikanische Republik

Western Equatoria Yambio

Demokratische Republik Kongo 0

100

Äthiopien Jonglei

Rumbek

Bor

Juba

Central Equatoria

200

Eastern Equatoria Torit

Kenia Uganda

km

SÜDSUDAN IN ZAHLEN - Friedensvertrag: 2005, Unabhängigkeit vom Sudan: 2011 - Bevölkerung: 11,1 Millionen - Anteil der Bevölkerung unter 25 Jahren: 66 % - Fruchtbarkeitsrate: 5,5 Kinder/Frau - Alphabetisierungsrate: 27 % (Frauen: 16 %) - BIP (Current USD): 9,337 Milliarden

Quellen: CIA, The World Factbook; Weltbank

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sen: «Ich glaube an einen gnädigen Gott.» Manchmal plagen ihn dennoch Albträume. Michaels Frau hat auf dem Feuer Fisch aus dem nahen Nil gekocht, dazu Maniokbrei. Er muss sich beeilen mit dem Abendessen, damit er rechtzeitig zur libanesischen Firma kommt, deren Generator er überwacht, bis drei Uhr nachts. Etwa 120 Franken verdient er umgerechnet im Monat, die Hälfte davon geht für die Miete weg. Michael isst nur eine Mahlzeit am Tag. Das sieht man ihm an. Wenn er aber im Mai seinen Schulabschluss macht, hat er gute Chancen, dass er sich wenigstens um sein Essen keine Sorgen mehr machen muss. Die Regierung und die hunderten von Hilfsorganisationen im Land suchen dringend technische Fachkräfte. Weniger als zwei Prozent der Südsudanesen haben die Primarschule abgeschlossen. Die Bildungsrate des Landes, in dem zwei Drittel der Einwohner unter 25 Jahre alt sind, ist die tiefste der Welt. Das muss sich nun ändern, da sind sich alle einig, die Regierung, die internationalen Organisationen, die Kirchen, die Medien. Bloss, was wird unternommen? Schulhäuser ohne Lehrer Melaniaia Itto, Programmleiterin bei Radio Bakhita, einem von acht Sendern des Landes, sagt: «Ich vermute, dass während des Kriegs mehr Kinder zur Schule gingen als heute.» Südsudanesen seien in den Flüchtlingscamps unterrichtet worden oder hätten in Khartoum, Uganda oder Kenia studiert. Jetzt kämen alle zurück, die Bevölkerung wachse exponentiell, aber die Regierung habe keinen Plan. «Politiker haben in ihren Heimatdörfern Schulhäuser hingestellt, aber niemand geht hin. Weshalb? Weil es weder Lehrer noch Unterrichtsmaterial gibt.» Die Journalistin kritisiert die Regierung offen und riskiert damit, dass sie verhaftet wird. In ihrer Morgensendung war der ehemalige Bildungsminister zu Gast. Hörer riefen an und tadelten ihn, das Geld

versickere, er sei korrupt. Seither hat er alle Einladungen der Radiostation abgelehnt. Wie sieht die Journalistin die Zukunft des neuen Staates? «Zu vierzig Prozent positiv.» Sie hofft auf eine Bildungsstrategie der neuen Regierung, aber sie glaubt nicht so richtig daran. «Der Tag wird kommen» Es ist acht Jahre her, seit der Friedensvertrag unterschrieben wurde, und zwei Jahre, seit das Volk für die Unabhängigkeit gestimmt hat. Der Südsudan ist ein Baby, das nun sprechen lernen muss und von dem man nicht erwarten kann, dass es schon fähig ist zu lesen. Noch gibt es keinen geregelten Staatsapparat und keine funktionierende Justiz. Der Prozess der Trennung vom Norden ist unfertig, die Grenze umstritten. Der Südsudan ist mausarm und steinreich zugleich, es gibt Grundwasser, Edelmetalle und enorme Erdölvorkommen. Alles andere fehlt, zum Beispiel die Raffinerien, die stehen im Norden, oder internationale Investoren, denen ist die politische Lage zu instabil. Gegen Abend leuchtet der Staub in Juba golden, dann bricht jäh die Nacht herein. Nur wenige Häuser haben elektrisches Licht, die meisten liegen im Dunkeln. «Möge die Nacht auch lange dauern, der Tag wird kommen», sagte Präsident Salva Kiir bei der Unabhängigkeitsfeier. Josephine Angelo erwacht, wenn es dämmert. Die Schülerin besucht gemeinsam mit dem ehemaligen Kindersoldaten Michael Kom Kom die technische Berufsschule. Sie zieht einen blauen Overall an, verlässt ohne Frühstück ihr Wellblechhaus, fährt mit dem Bus zur Schule und setzt sich auf eine Treppe neben Winnie Bojo. Die Mädchen schauen sich an, wie sich nur beste Freundinnen anschauen. Dann lachen sie. Beide lernen Maurer, sind 18 Jahre alt, möchten später an der Universität Ingenieurwesen studieren und mögen metallblauen Nagellack. Heute haben sie Foto: Martin Adler / Panos; Karte: Crafft


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Josephine Angelo (links) und Winnie Bojo sind beste Freundinnen. Die 18-Jährigen lernen Maurer und möchten Ingenieurinnen werden.

praktischen Unterricht, sie lernen, aus Backsteinen eine sogenannte f lämische Mauer zu bauen. In einem regelmässigen Muster schichten sie Steine aufeinander und kontrollieren die Konstruktion mit Winkel und Wasserwaage. Manchmal schäkern sie mit den Jungs in ihrer Klasse, aber meistens arbeiten sie schweigsam und schnell. Es ist harte Körperarbeit, doch die Mühe zahlt sich aus: Winnie hat in den Ferien mit einem Kollegen ein kleines Haus gebaut, Josephine einen neuen Ofen für die Mutter, auf dem sie nun Schnaps brennen, den sie später verkaufen. Es ist nicht selbstverständlich, dass Frauen im Südsudan klassische Männerjobs machen. Aber es wird akzeptiert. Nicht zuletzt deshalb, weil die Eltern bei der Hochzeit mehr Mitgift für ein Mädchen bekommen, das eine Ausbildung hat. An der Juba Technical High School sind über zehn Prozent der Studierenden weiblich. Jedes Jahr werden es mehr. Lehrer Jeffrey Elia Waraka, den alle nur «funny teacher» nennen, klatscht in die

Hände: «Schauen Sie doch, wie schnell und sauber sie arbeiten!» Sie seien mindestens so gut wie die Jungs, und nach dem Abschluss fänden alle Arbeit. «No problem.» Ihre Ausbildung gleicht einer technischen Lehre in der Schweiz. 10.30 Uhr, Pause. Auf dem Markt setzen sich Josephine und Winnie mit ihren Kollegen in eine stickige Hütte und bestellen Bohnen mit Brot. Eine Stimmung wie in einer Schweizer Schulkantine: Alle reden durcheinander, tauschen ständig die Plätze. Die Gespräche drehen sich nicht um Politik, davon hätten sie keine Ahnung, auch nicht um den Krieg, den wollten sie vergessen. Alle Schüler haben Verwandte verloren, jeder vierte sogar den Vater, die Mutter oder beide Eltern. Nein, sie kichern und tratschen über die Lehrer. Den «funny teacher» mögen alle, andere Lehrer fürchten sie. Etwa den Physiklehrer, der Winnie ins Gesicht geschlagen habe, weil sie einen Fingerring trug. Mit dem Essen kommt die Stille. Sie beugen sich tief über die Schüssel in ihrer Mitte.

Bei Schulschluss ist die Mauer von Josephine und Winnie kniehoch. Der «funny teacher» misst nach, nickt, lobt und macht sich Notizen. Sie haben die Prüfung bestanden. Jetzt müssen die Mädchen heim zu ihren Grossfamilien: kochen, waschen, Hausaufgaben machen. Ein Stück des Weges gehen die Freundinnen gemeinsam, dicht nebeneinander, so dass sich zuweilen ihre Arme berühren. Die Sonne brennt auf ihre schmalen Schultern, ihre offenen Gesichter glänzen. Sie gehen vorbei an einem Plakat für Telefonwerbung mit der Aufschrift «Together we build our new nation», vorbei an einem Bus mit dem Aufkleber «Rich people also cry». Barbara Achermann ist Reporterin/Redaktorin der Zeitschrift «Annabelle». Espen Eichhöfer ist Fotograf bei der Agentur Ostkreuz in Berlin.

Mehr zum Thema auf der nächsten Seite. Bulletin N° 4 / 2013 — 73


— Schule —

Hintergrund – Die Technical High School in Juba hat eine Schüsselrolle im Südsudan. Wer steht dahinter? Plan International Credit Suisse ist Sponsor der Hilfsorganisation Plan International. In Zusammenarbeit mit der südsudanesischen Regierung errichtete Plan International die Technical High School in Juba und ermöglichte die Ausbildung von Berufsschullehrern. Diese Schule in Juba war die erste höhere Berufsschule in Südsudan. Der Direktor von Plan International in Südsudan, Gyan Adhikari, sagt: «Wir arbeiten mit der südsudanesischen Regierung auf mehreren Gebieten zusammen, wie etwa Bildung, Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit und Wiederauf bau des Landes nach Erlangung der Unabhängigkeit vor zwei Jahren. Für die Regierung hat die Berufsausbildung Priorität, und diese Schule spielt eine zentrale Rolle dabei. Sie ist ein nationales Vorzeigeprojekt in Südsudan, insofern hier der technische und der konkrete Teil von Berufsausbildungen gelehrt werden.» Plan ist eine weltweit agierende Kinderhilfsorganisation, die in 50 Entwicklungsländern in Afrika, Asien und Lateinamerika für die Rechte der Kinder eintritt und sich dafür engagiert, Millionen von Kindern aus Armut zu befreien. Im Jahr 2012 arbeitete Plan mit 84 Millionen Kindern in 90 131 Gemeinden. In den Provinzen Juba, Lainya und Yei des südsudanesischen Bundesstaates Central Equatoria setzt sich Plan dafür ein, die Lebensverhältnisse von Kindern in einem Land, das aus fünfzig Jahren Bürgerkrieg hervorgegangen ist, nachhaltig zu verbessern. www.plan-international.org Fünf Jahre globale Bildungsinitiative Die Partnerschaft mit Plan International ist Teil der 2008 lancierten weltweiten Bildungsinitiative der Credit Suisse. Durch die Zusammenarbeit mit sechs Nonprofitorganisationen versucht die Credit Suisse, den Zugang zu Bildung und deren Qualität für Kinder im Schulalter zu verbessern. Die Initiative unterstützt Programme in 38 Ländern. Erfahren Sie mehr über die Initiative und wie die Partner von Credit Suisse Lehrer und Schüler unterstützen: credit-suisse.com/5jahregbi Den monatlichen Corporate Responsibility Newsletter von Credit Suisse können Sie abonnieren unter: credit-suisse.com/responsibility/newsletter 74 — Bulletin N° 4 / 2013

«Bildung ist ein Menschenrecht» Noch immer können Millionen von Kindern nicht zur Schule gehen. Jo Bourne, Global Chief of Education der Unicef, über die weltweiten Anstrengungen zur Förderung von Bildung. Interview: Daniel Ammann

Gemäss dem zweiten UNMillenniumsziel soll «bis zum Jahr 2015 sichergestellt werden, dass Kinder in der ganzen Welt eine Primarschulbildung vollständig abschliessen können». Warum ist dieses Ziel besonders wichtig? Bildung ist unerlässlich für eine bessere Welt. Sie befähigt die Menschen, ein gutes, gesundes und erfüllendes Leben zu führen. Sie ist die wirksamste Waffe im Kampf gegen Armut. Aus ökonomischer Sicht ist Bildung eine der sinnvollsten Investitionen. Sie bringt aber auch soziale Vorteile, sie führt zu einem friedlicheren Miteinander, zu mehr Bürgersinn und stärkeren Demokratien. Besonders für Mädchen ist Bildung enorm wichtig. Der Rückgang der Kinder- und Müttersterblichkeit ist zu rund 50 Prozent auf bessere Bildung zurückzuführen. Wir dürfen in der ganzen Diskussion auch nicht vergessen, dass Bildung ein Menschenrecht ist.

Aus dem jüngsten Bericht wird allerdings klar, dass das für 2015 angestrebte Ziel verfehlt wird. Wie ist das zu erklären? Die Zahl der Kinder, die keine Primarschule besuchen, ist seit 2000 um mehr als 50 Millionen zurückgegangen. Das ist eindrucksvoll. Fortschritte wurden aber vor allem in der ersten Hälfte des Jahrzehnts erzielt, während die Bemühungen in den letzten Jahren stagnieren. Für uns heisst das, dass der Kampf für Schulbildung erst am Anfang steht. Was sind dabei die grössten Herausforderungen? Fortschritte haben wir bislang vor allem bei Kindern erzielt, die leicht zu erreichen waren. Eine der grossen Schwierigkeiten besteht darin, an all jene heranzukommen, die in Konfliktregionen leben, behindert sind oder arbeiten müssen, damit die Familie zu essen hat; Kinder, die wegen ihrer Volkszugehörigkeit, Religion, Sprache oder ihres


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Geschlechts marginalisiert, und solche, die mehrfach benachteiligt sind, also etwa Kinder aus armen Familien in entlegenen Regionen. Mit «business as usual» erreichen wir diese zehn Prozent nicht. Um all unsere Ziele zu erreichen sind etwa 26 Milliarden Dollar an externen Finanzierungshilfen notwendig. Das klingt nach viel, aber die Kosten sind noch viel höher, wenn wir die Ziele nicht erreichen. Geht es dabei auch um die Qualität der Bildung? Dies ist in der Tat eine weitere Priorität. Schulbesuch ist wichtig, aber noch wichtiger ist das Lernen. Etwa 250 Millionen Kinder im Primarschulalter erwerben keine Grundkenntnisse wie Lesen, Schreiben, Rechnen, Lebenskompetenzen. Mehr als die Hälfte dieser Kinder besucht eine Schule. Das ist nicht nur

Mädchen erstmals bis ins Teenageralter hinein zur Schule gehen. Das ist das Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen von Regierung, ausländischen Partnern und örtlichen NGOs, skeptische Eltern und religiöse Repräsentanten mit ins Boot zu holen. Was ist die wirksamste Strategie für den Ausbau der Primarschulbildung? Um Chancengleichheit zu garantieren, müssen oft besondere Anstrengungen unternommen werden, damit wir die am meisten benachteiligten Kinder erreichen. Abgelegene Gemeinschaften brauchen vielleicht mehr, dafür kleinere Schulen. Für Mädchen braucht es vielleicht Stipendien, damit der Familie kein Verlust entsteht, weil sie nicht zu Hause mitarbeiten. Behinderte Kinder brauchen speziell ausgebildete Lehrer oder besonders eingerichtete

«Schulbesuch ist wichtig, aber noch wichtiger ist das Lernen.» brachliegendes Potenzial – es ist eine Verschwendung von Zukunftsinvestitionen. Deutlich mehr Mädchen als Jungen gehen vorzeitig von der Schule ab. Wie kommt das? Oftmals sind es kulturelle oder religiöse Gründe. Es gibt allerdings viele Beispiele, die eindeutig belegen, dass Bildung für Mädchen in «traditionellen» Gesellschaften einen Anstoss erhalten kann, wenn geeignete staatliche Massnahmen ergriffen werden. In Nordost-Somalia beispielsweise können immer mehr junge Foto: © Unicef / 2013 / Susan Markisz

Klassenzimmer. Binnenflüchtlinge in Konfliktregionen brauchen vielleicht komplett neue Schulen und Lehrer. Zugleich müssen die Lernergebnisse rasch verbessert werden. Wo sehen Sie die «good news»? Viele Länder machen enorme Fortschritte, vor allem in Asien und Lateinamerika. Aber auch afrikanische Länder weisen Erfolgsgeschichten vor, etwa Ghana und Ruanda. Die eigentliche erfreuliche Nachricht ist aber nicht dieses oder jenes Land, sondern die Tatsache, dass auf der ganzen

Welt der Stellenwert von Bildung erkannt wird, auch in Krisensituationen. Trotz der enormen Herausforderungen in Haiti und Pakistan nach Erdbeben und Überschwemmungen, nach den Kämpfen in Syrien und anderen Regionen des Nahen Ostens spielt die Unicef eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, Hunderttausenden von Kindern den Zugang zu Schulen zu ermöglichen. In Südsudan arbeiten wir mit der Regierung und anderen Partnern zusammen, um einen gezielten Wiederaufbau der Bildungsinstitutionen zu erreichen. Wie bekämpft man die hohe Jugendarbeitslosigkeit, besonders in den Entwicklungsländern, am effektivsten? Die Krise auf dem Arbeitsmarkt zwingt viele Familien, ihre Kinder aus der Schule zu nehmen, damit sie sich einen Job suchen und zum Lebensunterhalt der Familie beitragen; und auch die Kosten für den Schulbesuch können viele Familien nicht mehr tragen. Schulbildung führt zwar nicht unbedingt zu einem Job, aber sie steigert die Produktivität und begünstigt Innovationen. Umso mehr, wenn sie von guter Qualität ist. Auch deswegen legen wir so viel Wert auf bessere Lernergebnisse, damit die Jugendlichen mit besseren Qualifikationen auf den Arbeitsmarkt kommen. Gemäss dem «Education For All Global Monitoring Report 2012» ist jeder achte Jugendliche arbeitslos. Ein weiteres Viertel ist in Jobs gefangen, mit denen sie sich auf oder unterhalb der Armutsgrenze bewegen. Wir brauchen die richtige Kombination von makroökonomi-

schen und beschäftigungspolitischen Massnahmen, damit Arbeitsplätze entstehen. Welche Rolle kann der private Sektor bei der Verwirklichung dieser Ziele spielen? Neben Spenden und Förderung von sozialen Projekten könnte der private Sektor noch mehr auf die Regierungen einwirken, dass alle Kinder eine Schule besuchen, er kann jungen Leuten Arbeitserfahrung bieten und die Schulen unterstützen. Davon würden langfristig auch die Unternehmen selbst profitieren. Denn auf diese Weise würde nicht nur der Konsum angekurbelt, sondern auch der Pool potenzieller Arbeitskräfte erweitert. Könnte das «duale» Schweizer Modell ein Weg sein? Es zeigt gut, wie man Berufspraxis und Ausbildung zusammenbringen kann. Dieses Modell ist jedoch nicht ohne Weiteres auf andere Länder zu übertragen. Es braucht dafür nicht nur umfangreiche Veränderungen in Lehrplan und Lehrerausbildung, es muss auch von Familien und Arbeitgebern angenommen werden. In Ländern, die versucht haben, das Schweizer Modell zu übernehmen, hat sich die öffentliche Wahrnehmung als das grösste Hindernis herausgestellt.

Jo Bourne ist Associate Director und Global Chief of Education der Unicef, des 1946 gegründeten Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen. Bourne stammt aus England. Bulletin N° 4 / 2013 — 75


— Schule —

Das Kind steuert ihn vom Krankenbett aus via Computer und nimmt per Videocam am Unterricht teil; es kann dank seinem elektrisch betriebenen Stellvertreter sogar in den Pausen, halbwegs real, mit den Mitschülern zusammen sein und kommunizieren – jedenfalls solange die InternetVerbindung nicht zusammenbricht. Ein Massenma rk t sind d iese «Remote Student»-Roboter nicht, im Einzelfall aber eine grosse Hilfe.

Seniorenbildung

MAN HAT NIE AUSGELERNT

University of the Third Age, Reykjavík (Island)

So fern und doch so nah: Der Roboter wird von einer Schülerin gesteuert, die krank zu Hause liegt.

Auch das macht Schule

Im Stundenplan hiessen diese Seiten wohl «Freifach»: sieben Kurzlektionen über Vorbildliches, Bemerkenswertes und Erstaunliches aus der Welt der Bildung. Homeschooling

LERNEN VON ZU HAUSE AUS

Schulroboter «Remote Student»

Zur Schule gehen, ohne das Haus zu verlassen: Homeschooling erlebt seit einigen Jahren ein Revival. Eltern unterrichten ihre Kinder selber oder beschäftigen Hauslehrer, wie das in wohlhabenden Familien bis tief ins 20. Jahrhundert üblich war. In manchen Ländern ist Privatunterricht zwar verboten oder nur in Ausnahmefällen erlaubt, in vielen jedoch gilt lediglich eine Bildungspflicht, die auch ohne Schulbesuch erfüllt werden kann. Warum Eltern ihre Kinder nicht auswärts auf eine Schule schicken, dafür 76 — Bulletin N° 4 / 2013

gibt es viele Gründe. Die einen wohnen zu abgelegen, andere ziehen aus beruflichen Gründen oft um und wollen ihren Kleinen eine stabile Lernumgebung bieten. Besonders in den USA, wo Homeschooling im Vergleich zu Europa stärker verbreitet ist, spielen oft auch ideologische Gründe eine Rolle: Bibeltreue Eltern wollen nicht, dass ihre Kinder an öffentlichen Schulen mit der Evolutionsbiologie in Kontakt kommen, die sie aus religiöser Sicht ablehnen. Es gibt aber auch das Gegenteil – Kinder, die gezwungenermassen nicht zur Schule können, es aber unbedingt möchten; Kinder etwa, die wegen Krankheit länger zu Hause oder im Spital bleiben müssen. Für sie wurde der Schulroboter entwickelt.

Die Lernangebote für ältere Semester sind gross und vielfältig, auch die EU unterstützt das «Lifelong Learning» und unterhält ein Programm für Erwachsenenbildung (siehe dazu den Beitrag zur lebenslangen Fortbildung auf Seite 26). Ein interessantes Konzept nennt sich «University of the Third Age», abgekürzt: U3A. Die Idee stammt aus Frankreich, wo U3A als normale Seniorenuniversität 1972 gegründet wurde. In England fand U3A Nachahmer, die begannen, den selbstorganisatorischen Charakter in den Vordergrund zu stellen, das sogenannte Peer Learning. Heute gibt es über 800 Gruppen weltweit, von den USA über Zypern bis nach Sibirien, wobei Australien führend ist in der Entwicklung von «U3A online». In Reykjavík, Island, zum Beispiel wurde dieses Jahr eine U3A-Gruppe gegründet. Sie zählt 29 Mitglieder, die sich mit den verschiedensten Themen beschäftigen, von Literatur, Film und Rhetorik bis zu Tai-Chi und Lachyoga. Zu jedem Thema gibt es einen Gruppenführer, die Person, die am meisten davon versteht. Unter den Mitgliedern der Reykjavík-Gruppe finden sich: ein Psychologe, eine Buchhalterin, eine Schauspielerin. Die Gründerin der Gruppe, Ingibjörg Rannveig Gudlaugsdóttir, ist eine pensionierte Stadtplanerin. Sie ist begeistert: «Wir haben erst gerade angefangen – mit der Gründung von U3A in Island wurde ein Traum wahr für mich.»


— Schule —

Architektur

WO DAS GEBÄUDE EIN SPIELZEUG IST

Kekec-Kindergarten, Ljubljana (Slowenien) Den Geruch des Kindergartens oder der ersten Schule, wo man ein und aus ging, vergisst man nie. Wie diese Gebäude gestaltet und ausgestattet sind, ist keine Nebensache. Denn nach dem Elternhaus und dem Spielplatz sind sie der Ort, an dem ein Kind die meiste Zeit verbringt. Er prägt. «Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Gestaltung von Schulgebäuden von erheblicher Bedeutung für die Leistungsfähigkeit, für Wohlbefinden und Gesundheit ist», meint Christian Rittelmeyer, einer der führenden Experten auf dem Gebiet und Autor des Standardwerks «Schulbauten positiv gestalten». Die Zeiten von einschüchternd-monotonen Betonklötzen sind vorbei, Architektur für Kinder und Jugendliche ist heute zumeist eine fantasievolle Angelegenheit – jedenfalls in jenen Weltgegenden, wo das Bildungsbudget zu mehr als Stuhl, Pult, Wandtafel reicht. Es beginnt schon bei den ganz Kleinen, zum Beispiel im Kekec-Kindergarten im slowenischen Ljubljana: Das Gebäude, in der Tradition von Fertighäusern gebaut, war innert drei Tagen erstellt. Das Innere

ist von Holz geprägt, der Hingucker ist die Fassade. Die auf einer Seite farbig bemalten Holzlatten lassen sich beliebig drehen, was die Kinder auch ausgiebig tun. Sie haben nicht nur ihren Spass daran, dass ihr Kindergarten jeden Tag anders aussieht, sondern lernen so auch die Farben kennen: das Gebäude als Spielzeug und Lehrmittel – und mittlerweile auch als Reiseziel von Architektur- und Designinteressierten.

Generation konkret

PRAxIS UND THEORIE GEHÖREN ZUSAMMEN

Bankeinstieg für Mittelschulabsolventen, Schweiz Das Pendel schwingt zurück: Mit der zunehmenden Akademisierung der Gesellschaft erklingt der Ruf der Arbeitgeber nach Praxiserfahrung wieder lauter. Arbeit und Ausbildung bietet zum Beispiel der «Bankeinstieg für Mittelschulabsolventen» (BEM) in der Schweiz. Der BEM dauert mindestens 18 Monate, vermittelt viel Praxiserfahrung, aber auch Theorie, und heisst zum Beispiel «Junior Banking Program» bei der Credit Suisse. Über 30 Institute bieten einen BEM an, jährlich absolvieren ihn mehrere hundert Maturandinnen und Maturanden. Was reizt sie

Spiel mit den Farben der Fassade: Kekec-Kindergarten in Ljubljana. Fotos: John W. Adkisson / New York Times / Redux / laif; Miran Kambič

daran? «Mein Mathematikstudium war mir zu theoretisch. Darum habe ich mich für eine praxisnahe Ausbildung entschieden», sagt Mélanie, eine Absolventin des Junior Banking Programs.

Single-Sex-Schulen

MÄDCHEN ZU MÄDCHEN, JUNGS ZU JUNGS

The Young Women’s Leadership School of Astoria, New York (USA) Am 5. September 2006 eröffnete Schulleiterin Laura Mitchell eine Mädchenschule im New Yorker Stadtteil Queens. 79 Sechstklässlerinnen strömten in die Young Women’s Leadership School of Astoria. Letztes Jahr zählte die Schule bereits 500 «Leaders» – so werden die Mädchen genannt, die mehrheitlich aus unterprivilegierten Familien stammen. Wie geht es ihnen? Gut. Ihre Noten liegen 25 Prozent über dem Durchschnitt gleichaltriger Mädchen in Englisch und Mathematik. Sind sie leistungsstärker, weil keine Jungs sie ablenken und einschüchtern? Oder gibt es andere Gründe, unabhängig vom Geschlecht, die ihre Leistung erklären? Die Debatte Koedukation vs. Monoedukation ist in den letzten Jahren wieder aufgeflammt. Einige Pädagogen antworten mit «Ja» auf die Frage: «Könnte es besser sein, Mädchen und Knaben besuchten den Unterricht getrennt?» Was bringt die Erziehungswissenschafter zu diesem Schluss? In den monoedukativen Schulen wird oft Forschung betrieben. Einige Resultate: a) Mädchen getrauen sich in getrennten Klassen, mehr Risiken einzugehen, b) sie haben an der Uni weniger Berührungsängste mit naturwissenschaftlichen Fächern, c) die Leistung der Knaben ist nur in gemischten Klassen systematisch schwächer als die von Mädchen, d) es werden mehr Hausaufgaben erledigt in gleichgeschlechtlichen Klassen, e) laut einer letztjährigen Studie aus Korea schliessen mehr Schüler nach der Mittelschule ein langes Studium ab. Was entgegnen die Fürsprecher der Koedukation? Ein oft zitierter Artikel im «Science»-Magazin trug 2011 den Bulletin N° 4 / 2013 — 77


— Schule —

Titel «The Pseudoscience of Single Sex Schooling» («Die Pseudowissenschaft der Monoedukation»), darin wird die Wissenschaftlichkeit von einigen der obigen Studien infrage gestellt. Ausserdem betonen Verfechter von Gemischtklassen, wie wichtig diese seien für den Abbau von Geschlechterklischees und -Stereotypen. Es mag Knaben besser gehen unter Knaben und Mädchen unter Mädchen – aber irgendwann müssen sie das Zusammenleben lernen. Besser früher als später. Immer mehr Eltern sind von der Monoedukation überzeugt: Single-Sex-Schulen nehmen zu, zumindest in den USA, Israel und England (hier vor allem die «All boys»-Schulen). In New York, an der Young Women’s Leadership School of Astoria, fragen sich die jungen «Leaders» vermutlich nicht, woher ihre guten Noten stammen. Sie freuen sich schlicht auf das College, das sie sich damit verdient haben. Eine Schülerin, die aus Guyana stammt, hat es an die Spitzenuniversität Brown geschafft. Sie sagt: «Ich habe erst jetzt realisiert, dass ich in der Elite bestehen kann.» Seit 2006 unterstützt die Credit Suisse die Young Women’s Leadership School of Astoria.

Schulen für morgen

ÖKOLOGISCHE BRUTSTÄTTE IM TROPENPARADIES

Green School, Bali (Indonesien) Die Green School liegt im Dschungel im Hinterland von Bali. 320 Schülerinnen und Schüler zwischen 3 und 17 Jahren aus 44 Ländern sollen hier zu verantwortungsbewussten, globalen Führungspersonen heranwachsen. Darunter 31 indonesische Schüler, die dank Sponsoring kostenfrei eingeschrieben sind. Der weltweite Trend der «Nachhaltigkeit» hat also auch die Schulen erreicht. Die Green School fördert solches Bewusstsein: Das fängt an bei der wasserfreien Komposttoilette, geht über den ökologisch einwandfreien Bambus, aus dem die Schule gebaut ist, das Arbeiten in schuleigenen Biogärten bis hin zum Ziel, demnächst den ganzen Campus energieunabhängig zu betreiben. Die Schule folgt 78 — Bulletin N° 4 / 2013

Ökologisch ist hier nichts als logisch: Unterricht an der Green School in Bali.

einem Lehrplan des derzeitigen Rektors, des bekannten australischen Reformpädagogen Allan Wagstaff, der neben dem üblichen Fächerkanon auf schülerzentriertes Lernen setzt, ökologische Kompetenz und verantwortungsbewusste Führung. Darin haben auch hinduistisch-balinesische Rituale, Marimba-Musikunterricht und Yoga-Lektionen ihren Platz. Die Green School, gegründet von John und Cynthia Hardy, erhält wegen ihres Konzeptes und ihres Bambusdesigns weltweit hohe Beachtung. 2012 wurde sie vom US-amerikanischen Green Building Council’s Center for Green Schools zur «grünsten Schule der Welt» erkoren. Prominente wie Donna Karan oder David Copperfield sind Sponsoren.

Lernen aus Distanz

WENN DER UNI-BESUCH ZU GEFÄHRLICH IST

Syrian Virtual University, Syrien

Wer diesen Sommer nicht musste, ging nicht auf die Strasse in Syrien. Weder in Homs noch in Aleppo, nicht in Latakia und nicht in Damaskus, den vier syrischen Universitätsstädten. Viele Studenten trauten sich nicht mehr an die Vorlesungen – so diese überhaupt stattfanden. Und so manifestiert sich auch in Syrien, wenn auch aus anderen Gründen als anderswo, ein weltweiter Trend: das Virtual Learning. Schon 2002 liess Bashar al-Assad die SVU, die Syrian Virtual University, in Damaskus gründen. Die erste virtuelle Uni-

versität der Region, der Stolz des Ministeriums für höhere Bildung, zählte 18 Telecenter in Syrien, zehn in Saudi-Arabien, eines in Dubai; dazu kamen internationale Partnerschaften. Man wollte unter die Top-Universitäten der Welt, hiess es vollmundig vor dem Krieg. Nun ist man immerhin die Uni mit den höchsten Zulaufraten in Syrien. 9000 Studenten waren es 2010, seitdem hat sie keine Zahlen mehr bekannt gegeben; spricht man aber in Beirut mit den Programmierern der Uni, wird klar, dass der Zulauf massiv ist. Für viele ist die SVU der einzige Weg zur Bildung, in einem Land, das zurzeit einen der brutalsten Bürgerkriege der jüngeren Geschichte erlebt. Die SVU bietet Bachelor- und Masterstudiengänge an, Schwerpunkte sind: Recht, Wirtschaft, Technik. Auch dort, wo kein Krieg herrscht, ist virtuelles Lernen im Kommen. Es geht um einen alten Traum: Bildung für alle, überall. Für die Armen, für Studenten in entlegenen Dörfern, für Behinderte und Kranke. Seit etwa einem Jahr gewinnen die Online-Unis massiv an Beliebtheit. «MOOC» lautet der neue Zauberbegriff, die Abkürzung für «massive open online course». «Nichts hat grösseres Potenzial, mehr Leute aus der Armut zu befreien», überschlug sich die «New York Times» kürzlich zum Thema. Die grossen amerikanischen Unis wie Harvard, das MIT oder Stanford spielen Vorreiterrollen. Die Zukunft der Bildung ist digital, auch in Syrien. Zusammengestellt von Gabriela Bonin, Simon Brunner, Andreas Dietrich und Fritz Schaap. Foto: Green School Bali


Teach For All ist ein weltweites Netzwerk, das sich der

Schaffung von Bildungsmöglichkeiten verschrieben hat.

Nationale Organisationen suchen dabei talentierte zukünftige Führungskräfte, die zwei Jahre lang in Regionen mit

hohen Bildungsdefiziten unterrichten und sich langfristig im Bildungswesen und in anderen Sektoren für bessere Ausbildungschancen einsetzen.

Weltweit gilt es ähnliche Ausbildungshindernisse zu beseitigen.

Teach For All setzt auf gemeinsame Lösungen. Erfahren Sie mehr über unser wachsendes Netzwerk auf teachforall.org

Diese Anzeige wurde durch die grosszügige Unterstützung der Credit Suisse ermöglicht.


DIE LETZTE SEITE

Pausenlos

Jody Barton ist Illustrator und lebt in Canterbury, England. Seine Arbeiten erscheinen u.a. in «Dazed & Confused», «Vice» und der «New York Times». 80 — Bulletin N° 4 / 2013


Besuchen Sie uns! Neuer旦ffnung an der Industriestrasse 1, 8307 Effretikon am 26. und 27. Oktober 2013. Besuchen Sie uns am neuen Standort an der Industriestrasse 1 in Effretikon mit einer permanenten Ausstellung an Exklusiv Fahrzeugen ab dem 26. Oktober 2013. Im neuen Ausstellraum findet jeder etwas f端r seinen Geschmack. Einen Teile-Shop f端r eine bessere Visualisierung der Individualisierungsprodukte, sowie TECHART und BRABUS Komplettfahrzeuge. Neu finden Sie bei uns auch weitere Sport- und Luxuswagen der Extraklasse. Besuchen Sie uns und lassen Sie sich von unserem exklusiven Showroom verzaubern.

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