Cornelia Weinberger: Die ägyptische Neo-Muslimbruderschaft – „Legalisten wider Willen?"1
Einleitung Das Wappen zeigt „al-qur`ān al-karīm“, den erhabenen, den heiligen Koran umschlosssen von zwei gekreuzten Schwertern. Darunter sind die arabischen Worte „wa aciddū“ zu lesen: „und bereitet euch vor“. Auch dies ein Verweis auf den Koran, den Teil einer Sure, der in deutscher Übersetzung lautet: „So rüstet wider sie, was ihr vermögt an Kräften und Rossehaufen, damit in Schrecken zu setzen Allahs Feind und euern Feind und andre außer ihnen, die ihr nicht kennt, Allah aber kennt.“2 Nun haben Wappen allegorischen Charakter. Sie vermitteln also bildhaft eine Aussage, die zumeist den Kern, die Maxime einer Gemeinschaft darstellt. Im Fall der 1 Der folgende Text ist ein Ausschnitt einer Studie, die im Rahmen eines Seminars von Prof. Werner Schiffauer: an der EuropaUniversität Viadrina, Frankfurt/Oder entstanden ist. Die vollständige Studie ist in der Akademischen Schriftenreihe erschienen und ist als Ebook und Taschenbuch erhältlich. 2 Sure 8 („al-anfāl“ – „Die Beute“), Vers 60, Übersetzung nach Max Henning.
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Muslimbruderschaft scheint diese Maxime klar zu lauten: „Mit Schwert und Koran gegen die Ungläubigen, die Feinde Allahs!“. Zeitsprung. Es ist März 2004. In einem Raum des ägyptischen Journalistenverbands stellt die Führung der Bruderschaft ihre Vorstellungen zur Reform der ägyptischen Gesellschaft vor. Soziale Ungerechtigkeit, ineffektive Politik und technologische Rückschrittlichkeit werden als die Schwachpunkte des Systems bezichtigt, in 13 Artikeln wird die Liberalisierung und Pluralisierung des politischen Systems gefordert sowie die Schaffung einer unabhängigen Justiz und die Trennung von Militär und Staatsapparat. Die Religionsfrage taucht lediglich in Zusammenhang mit der angestrebten Wirtschaftsordnung auf, die auf islamischem Recht gründen soll, darüber hinaus in einem Artikel, der Glaubensfreiheit innerhalb der Gesellschaft postuliert. Zwei Monate später. Dieselbe Führung ruft auf einer Großdemonstration zu Ehren des ermordeten Ḥamas-Führers Yassin zum ğihād gegen Israel auf. Daraufhin werden die Muslimbrüder in Kommentaren als „Opportunisten“ bezeichnet, deren liberale Gesinnung nur Fassade sei, die dazu diene ihr eigentliches Ziel – die Übernahme der absoluten Macht und die Reislamisierung der Gesellschaft – zu verschleiern. Liberaler Modernismus gepaart mit militantem Fundamentalismus? Lassen sich solche scheinbar offensichtlichen Widersprüche tatsächlich miteinander vereinbaren? In der folgenden Arbeit werde ich versuchen, dieser Frage auf den Grund zu gehen.
1.
Die Entstehung der ägyptischen Neo-Muslimbrüder
1.1.
„ğamā´a al-iḫwān al-muslimīn“ - die Gemeinschaft der Muslimbrüder3
1928 von dem Volksschullehrer Ḥaṣan al-Bannā gegründet, war die „Gemeinschaft der Muslimbrüder“ ursprünglich eine religiös motivierte Organisation, die sich vor allem sozial engagierte. In Tradition islamistisch ausgerichteter Reformer wie Rašīd Riḍā und Muḥammad cAbdūh4 stehend propagierte auch al-Bannā die Reislamisierung der als desolat konstatierten Gesellschaft. Im Zentrum seines Konzeptes stand jedoch nicht primär die Reform staatlicher oder gesellschaftlicher Institutionen. Für Bannā war es in erster Linie das Individuum, das es galt, durch erzieherische, soziale und ökonomische Aktivitäten zu islamischer Lebensweise zurückzuführen. Institutionelle Reformen waren zwar auch hier Ziel, der Weg allerdings führte über „ad-dacwa“ - die Missionierung der Gesellschaft. Wegen dieser praktischen Ausrichtung wird die Lehre al-Bannās, die eines konkret ausgearbeiteten ideologischen Unterbaus entbehrte, als aktivistisch bezeichnet. Dieser Pragmatismus, der ohne einen komplizierten ideologischen Unterbau auskam, fand schnell 3 Zur Geschichte der Muslimbrüder vgl. Krämer, G.: „Gottes Staat als Republik“, Kepel, G.: „Der Prophet und der Pharao“ sowie Mitchell, R. „The Society of the Muslim Brothers“ sowie Dufner, U.: „Islam ist nicht gleich Islam“. 4 vgl. hierzu: Krämer, S. 184 ff.
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Anklang in der Bevölkerung. Im Laufe weniger Jahre bildete sich ein überregionales Netzwerk von Einzelzellen heraus, deren Hauptsitz sich ab 1933 in Kairo befand. In den vierziger Jahren stellte die Muslimbruderschaft eine straff hierarchisch aufgebaute Massenorganisation mit mehr als zwei Millionen Anhängern dar. Von diesem Zeitpunkt an begann die Gruppe nun auch immer mehr, zu konkreten politischen Ereignissen Stellung zu nehmen, was nicht selten in gewaltsamen Ausschreitungen endete. Zwar sprach al-Bannā sich wiederholt explizit dagegen aus, dass die Muslimbrüder eine primär politische Organisation darstellten, das Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Islamisierung implizierte jedoch schon in nuce politisches Engagement. Auch trat Bannā selbst schließlich zweimal bei Parlamentswahlen an. Im Zuge ihrer Einmischung in die Politik geriet die Muslimbruderschaft jedoch immer mehr auf Konfrontationskurs mit dem Staat. Dies fand im Winter 1949 seinen ersten Höhepunkt in dem Attentat auf Premierminister Nuqrašī sowie der zwei Monate später erfolgenden Ermordung Ḥaṣan al-Bannās. Innerhalb der Forschungsliteratur wird der frühe Tod al-Bannās als erste bedeutsame Zäsur gewertet, die den Auftakt bildete für den späteren Niedergang der Muslimbrüder. Als „unermessliche Tragödie“ bezeichnete ihn etwa Richard P. Mitchell, der mit seiner „Society of the Muslim Brothers“5 das Standardwerk über die Geschichte der frühen Muslimbruderschaft verfasst hat. Eine der wesentlichsten Folgen dieses Ereignisses beschreibt der Arabist und Politikwissenschaftler Gilles Kepel. Es habe sich nach dem Tod Bannās ein „ideologisches Vakuum“ herausgebildet, in dem sich „geistige Strömungen ungezügelt artikulieren konnten, die zwar im Namen Bannas auftraten, sein doktrinäres Erbe aber auf unterschiedliche Art und Weise interpretierten“6. Der zweite und endgültige Einschnitt in der Geschichte der frühen Muslimbruderschaft erfolgte im Jahr 1954. Nach einem vorübergehenden Kooperationskurs mit dem Nasser-Regime ging die Gruppe in den 50er Jahren vor allem in Reaktion auf den anglo-ägyptischen Vertrag erneut in Oppositionshaltung. Nachdem bereits zwei Jahre vorher alle übrigen Parteien verboten worden waren, nutzte Nasser ein Attentatsversuch, welches er den Muslimbrüdern zuschrieb, um die Organisation zu zerstören und ihre Mitglieder in Konzentrationslagern zu inhaftieren. 19 Jahre sollte es dauern, bis diese Phase gesellschaftlicher Isolation für die Bruderschaft unter Sadat ein – wenn auch nicht andauerndes – Ende fand. Dass sie als „miḥna“, „große Heimsuchung“, in den Sprachgebrauch der Anhängerschaft, einging7, ist bezeichnend. Der Terminus verweist auf die Zeit der abbasidischen Khalifen, die im 9. Jahrhundert8 unter Ausnutzung ihrer herrschaftlichen Gewalt versucht hatten, die Klasse der Religionsgelehrten, culamā`, zu entmachten und das religiös-ideologische Monopol auf sich zu konzentrieren – das Wort wird damit nicht nur zum Topos für ungerechte Machtausübung, es weist auch in mehrerer Hinsicht auf die Selbstsicht bzw. programmatische Ausrichtung der BruMitchell, R. „The Society of the Muslim Brothers“, Oxford 1996. Kepel, S. 35/36. 7 vgl. Krämer, S. 195/196. 8 genauer: die Jahre 827 – 847, Beginn der mihna war die Erhebung der Erschaffenheit des Korans zum Staatsdogma durch alMa`mūn, vgl. hierzu etwa: Endres, E: „Der Islam; Eine Einführung in seine Geschichte“, S. 57-67. 5 6
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derschaft. In Analogie zu den unterdrückten culamā` werden die inhaftierten Muslimbrüder als gerechte Opfer dargestellt, deren Streben (anders als im Fall des ungerechten Herrschers) nicht profaner Machtkumulation sondern der Deutung und Durchsetzung der in Koran und Sunna manifestierten göttlichen Gebote galt. Die Haftphase leitete für die Muslimbruderschaft in gewisser Weise einen Paradigmenwechsel ein. Als sie sich in den 70er Jahren begann, neu zu konstituieren, hatte sich sowohl der gesellschaftliche wie auch der diskursive Hintergrund geändert. Hinzu kam, dass die Gemeinschaft durch die nasseristischen Repressionen personal und strukturell extrem geschwächt war, so dass von der ursprünglichen Stärke der Gruppe nicht mehr viel übrig war. Gilles Kepel war es, der als erster versuchte, dieser Entwicklung gerecht zu werden, indem er für die re-formierte Organisation den Terminus der „Neo-Muslimbruderschaft“ einführte. Vor dem Hintergrund des empirischen und ideologischen Wandels der Muslimbrüder, der im Rahmen dieser Arbeit näher ausgeführt werden soll, meinte er deshalb, „dass die Bezeichnung „Muslimbrüder“ auf die Jama`at al Ikhwan al Muslimin beschränkt bleiben sollte“ und nannte die neue Organisation in der Folge „Neo-Muslimbrüder“. „Denn“, so Kepel, „wenn beide auch denselben Ursprung haben, so ist es doch unbestreitbar, dass im Laufe der Jahre ein großer Teil des gemeinsamen Erbes verloren gegangen ist“.9 Beides, Ursprung und Wandel der Bruderschaft, wird Inhalt der folgenden Kapitel sein.
(…)
Die vollständige Studie ist als Ebook oder Taschenbuch erhältlich!
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Krämer, S. 113.
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