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Gesellschaft
TAZ.AM WOCHENENDE SONNABEND/SONNTAG, 18./19. APRIL 2015
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Todesfälle gab es 2013
aufgrund von HerzKreislauf-Erkrankungen Quelle: Statistisches Bundesamt
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Millionen Deutsche nutzen bereits Fitness-
Tracker. Beliebteste Funktionen: Schrittzähler und Bewegungserinnerungen Quelle: Bitkom-Studie
ANSTUPSEN Ein Schweizer Unternehmer will mit einer einzigen Zahl das Wohlbefinden jedes Menschen messen.
Und so die maroden Krankenkassen sanieren. Seine App soll Versicherte belohnen, die sich mehr bewegen
Wie weit gehen Sie für Ihre Gesundheit? AUS BERLIN UND ZÜRICH JOHANNES GERNERT (TEXT) UND CHRISTIAN BARTHOLD (ILLUSTRATION)
evor Peter Ohnemus wieder bereit zur Weltrettung war, quälte er sich mit Fellen unter den Skiern die Walliser Berge hoch. Sein letztes Start-up hatte er gerade verkauft, und wie immer an diesem Punkt brauchte er eine Denkpause. Anfangs fühlte er sich in diesem Januar vor fünf Jahren müde, kaputt und übergewichtig, aber je länger er nach oben stapfte und durch den Tiefschnee hinunterschwang, je mehr er schwitzte, mit sich rang, desto mehr spürte er, wie er fitter wurde. Ohnemus, der seinen ersten Burn-out schon hinter sich hatte, begann, sich ein Maß zu wünschen für seinen Gesundheitszustand. „Wenn ich die Gesundheit der Menschen benchmarken könnte, das wäre eine Riesensache“, habe er beim Skiwandern gedacht, erzählt er. Oben auf der Hütte habe er seine Frau angerufen. Die sei auch Unternehmerin und gleich begeistert gewesen. Fünf Jahre später ist Peter Ohnemus dabei, den Krankenkassen dieser Welt seinen Index zu verkaufen. Eine Zahl, die den Gesundheitszustand eines Menschen exakt bemisst. Jedes Menschen, jederzeit. Peter Ohnemus, offener Hemdkragen, große Uhr, fünf Kinder, ist ein kräftiger Mann, dessen runder Kopf ohne Haare glänzt. Einer, der gewohnt ist, dass man ihm zuhört. Er kam in Dänemark zur Welt und lebt seit Jahren in der Schweiz. Seine Sätze haben etwas Sanftes, eine beschwingte Melodie. Er sitzt in seinem Büro in Zürich in einem Sessel aus weichem Leder und zieht immer neue Belege aus dem Papierstapel, in dem sich Balkendiagramme, Studien von Unternehmensberatungen und Zeitungsartikel mischen. Ohnemus will der Menschheit etwas schenken: seine Benchmark. Normalerweise hilft eine Benchmark einem Unternehmen, seine Leistung mit der der stärksten Wettbewerber zu vergleichen. Ein Mensch ist wie ein Unternehmen und ein Unternehmen wie ein Mensch, glaubt er. „Beides Lebewesen.“ „Was die ganze westliche Welt zum Zusammenbrechen bringen kann, ist nach wie vor der Gesundheitssektor“, sagt Ohnemus. Das ist die Katastrophe, die er mit seiner Zahl abwenden will. Eine Uhr von Apple, die in dieser Woche auf den Markt kommt, soll ihm dabei helfen. Wenn die Menschen solche Geräte am Körper tragen, werden sie sich hoffentlich so verhalten, dass sie weniger oft, weniger schnell oder weniger schwer krank werden. Und weil der Mensch Peter Ohnemus, 50 Jahre alt, Unter-
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nehmer ist, gibt es sein Geschenk nicht gratis. Es kostet 4,99 Euro im Monat. Im Internet-Kalifornien würde man Ohnemus einen „Serial Entrepreneur“ nennen. Er hat einige Start-ups gegründet. Zuletzt eines, das Asset4 hieß und börsennotierte Unternehmen auf Nachhaltigkeit prüft. Jetzt also Gesundheit. „Die meisten Krankenkassen sind pleite. Das können Sie drehen und wenden, wie Sie wollen“, sagt er. Er hat es so gedreht, dass eine Geschäftsidee daraus wurde. Die Gesundheitsindustrie sei die größte Industrie der Welt. Trilliarden US-Dollar. Hinzu komme: „Übergewicht kostet heute mehr als der weltweite Krieg. Das sind McKinsey-Daten.“ Er sagt die Quellen immer gleich dazu, weil er den Eindruck hat, dass die Leute ihm nicht glauben wollen. Sein neuestes Start-up nennt sich dacadoo. Ohnemus bezeichnet die App als „Lebensnavigationssystem“. Man kann mitstoppen, wenn man Sport macht, oder eingeben, wie gestresst man sich fühlt. Man bekommt Essenstipps. Die Einheiten dieses digitalen Gesundheitssystems sind: Energie und Bewegung. Kalorien und Schritte. dacadoo soll ein bisschen klingen wie Musik. Eine Idee mit Rhythmus daca-da-ca-da-ca-doo. Ohnemus trommelt mit den Fingern auf den Tisch. Es gibt Menschen, die sind der Ansicht, dass Weltrettungsvorschläge wie die von Peter Ohnemus geradewegs in eine gesellschaftliche Katastrophe führen, noch viel größer als die, die er abwenden will. Die Schriftstellerin Juli Zeh nennt diese Katastrophe Gesundheitsdiktatur. In ihrem Roman „Corpus Delicti“ hat sie eine Welt beschrieben, in der Menschen vor Gericht landen, wenn sie in „Sportrückstand“ geraten. Sport ist darin eine Bürgerpflicht, die digital überprüft wird. „Ein Mensch, der nicht nach Gesundheit strebt, wird nicht krank, sondern ist es schon“, lässt Zeh einen Vordenker dieser Gesellschaft schreiben. Als der Roman 2009 erschien, war er ein Zukunftsszenario. Peter Ohnemus schafft jetzt die technischen Voraussetzungen. Dafür hat er sich unter anderem die Allgemeine Ortskrankenkasse Nordost ausgesucht. Obwohl Sebastian Morzinek den Sonntag auf der Couch herumgelümmelt hat, sind alle Para-
meter seines Lebens im grünen Bereich. Körper, Befinden, Lebensstil. Die Uhr an seinem Handgelenk misst einen Ruhepuls von 59 und zeigt ein grünes Herz. Sein Gesundheitsindex schwankt leicht zwischen 762 und 765. Heißt: Es geht ihm gut. Sebastian Morzinek, 29 Jahre alt, trägt einen dunklen Anzug und eine schmale Krawatte, die eine Idee zu elegant ist für das Namensschild der AOK, das er ans Revers geheftet hat. Auf der Kreuzung vor seinem Büro rumpeln Straßenbahnen durch den Berliner Autolärm. Kaum einer seiner Kunden hat einen Gesundheitsindex, und wenn sie einen hätten, läge er bei den meisten deutlich unter dem des Sozialversicherungsfachangestellten Morzinek, der diese AOKFiliale leitet.
Jeden Tag ein paar Stupser. Kein Moralvortrag Es ist bald zwei Jahre her, dass er sich über das Programm AOK mobil vital bei dacadoo registriert hat, um seine Schritte zu zählen, seine Blutwerte in die Formulare der App zu tippen, sein Stresslevel abends um acht mit einem Schieberegler einzuschätzen oder die Ernährungstipps zu lesen. Andere Kollegen haben das Interesse wieder verloren. „Mich hat es nicht mehr losgelassen“, sagt Morzinek. „Man wird ja auch täglich daran erinnert.“ Er geht heute regelmäßiger ins Fitnessstudio und tippt die Zeiten auf dem Fahrradergometer und beim Bauchmuskeltraining ein. Er hat gelernt, weniger Cola light zu trinken und mehr Hülsenfrüchte zu essen. Sein Ziel: ein Gesundheitsindex über 750. 750 von 1.000. Der Durchschnitt liegt um die 600. Der psychologische Trick, der bei Sebastian Morzinek perfekt zu funktionieren scheint, nennt sich Nudging. To nudge heißt anstupsen. Man verpasst jemandem täglich ein paar Stupser, damit er mehr von dem tut, was ein anderer als wünschenswert definiert hat, und weniger von dem, was als weniger wünschenswert gilt. Im Kanzleramt sitzen mittlerweile Experten fürs Nudging, der Internetintellektuelle Evgeny Morozov sieht ein NudgingImperium heraufziehen. Ich halt dir keinen Moralvortrag, ich geb dir einen Knuff. Nudging soll helfen, dass Leute das Licht ausmachen, wenn sie es nicht brauchen, dass sie mehr Organe spenden oder dass der Sprühverlust beim Pinkeln durch höhere Zielgenauigkeit sinkt. Dafür werden etwa MiniFußballtore in öffentlichen Pissoirs installiert. Es ist ein Beispiel für eine Untermethode des Nudging, die Gamification genannt wird, also Spielifizierung. Die Spielifizierung soll nun also nicht nur Toilettenfliesen sauber halten, sondern auch die Gesundheitssysteme dieser Welt retten. Wenn die Perspektive hier zunächst etwas männlich wirkt,
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Prozent der Deutschen wären bereit,
für finanzielle Anreize die Daten ihrer tragbaren Geräte weiterzugeben Quelle: Pricewaterhouse Coopers
könnte das daran liegen, dass sie es ist. Bei der Rettung der Gesundheitssysteme soll schließlich ein Gerät helfen, das entfernt an die wasserdichten Herrenplastikuhren der 90er Jahre erinnert, mit denen man selbst auf dem Mond bis zu 40 Meter tief hätte tauchen können. Die Apple Watch kommt am Freitag in die Läden, seit Monaten wird sie vom Hersteller und von Journalisten gepriesen. Sie stupst wirklich an, indem sie auf der Haut vibriert, wenn zum Beispiel eine Nachricht kommt. Sie kommuniziert so mit dem Nutzer. Die AOK ist die Kasse, deren Mitglieder wohl am ältesten und kränksten sind. Vielleicht ist sie deshalb eine der Ersten, die mit allen Mitteln versucht, finanziell zu retten, was noch zu retten ist. Sie hat es mit Autosuggestion probiert. Schon länger nennt sie sich nicht mehr Krankenkasse, sondern Gesundheitskasse. Es gibt die üblichen Präventionskurse, Kochkurse, Rückenschulen, Zuschüsse fürs Fitnessstudio. Das Prämienprogramm belohnt Ausdauer mit einem Haartrockner, einem Bauch-Rücken-Heizkissen, einem Dampfbügeleisen. Und neuerdings gibt es die Plattform AOK mobil vital, die im Grunde von Peter Ohnemus betrieben wird. Wer sich bei dessen Start-up dacadoo registriert, erhält von der AOK Nordost einen Jahresbeitrag von 60 Euro erstattet. Da-ca-da-ca-da-ca-doo.
Wissenschaftler warnen vor der Sitzkrankheit „Wenn wir therapieren, laufen wir nur hinterher“, sagt Werner Mall, der Psychologe, der die Präventionsabteilung der AOK Nordost leitet. „Mit richtig großem Einsatz, mit richtig viel Geld.“ Es gehe darum, die Menschen für einen gesünderen Lebensstil zu motivieren. Die Bundesregierung hat deshalb gerade ein Präventionsgesetz auf den Weg gebracht. Die Kassen sollen künftig 490 Millionen Euro jährlich für Vorsorge ausgeben. Es scheint eine gute Zeit für Peter Ohnemus’ Idee. Wissenschaftler warnen vor der „sitting disease“, der Sitzkrankheit. Davor, dass das viele Sitzen das Risiko für Diabetes, Krebs und Herzkrankheiten erhöhe. Die private Versicherung Generali fiel kürzlich damit auf, dass sie als erste Rabatte für gesundheitsbewusstes Verhalten verspricht. Auch andere Kassen betreiben mobile Programme, in den App-Läden stehen Tausende. Fitnesscoaches, ein netter Freizeitspaß. Nur entwickelt sich dieser Freizeitspaß gerade zum Kontrollinstrument von Institutionen, die darüber entscheiden, ob die Behandlung von Krankheiten gezahlt wird – oder eben nicht. Aus den kleinen Stupsern, die man sich heute noch freiwillig bestellt, könnte morgen ein kräftiger Schubser werden. Und übermorgen ein Arschtritt? Oh, Sie sind in den vergangenen zehn Jahren weniger als 30 Millionen Schritte gegangen? Da müssen Sie Ihr Insulin leider selber zahlen. Eine Chemo? Das sieht mit der Zuzahlung schlecht aus. Ich merke gerade, Sie hatten ja gar keine DNA hinterlegt. Muss Sebastian Morzinek in seinem hellen Büro in zehn Jahren solche Gespräche führen? Peter Ohnemus, dessen Gesundheitsfirma mehr als 20 Mit-
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Prozent der Deutschen hätten die
neue Uhr von Apple gern zu Ostern geschenkt bekommen Quelle: Goldmedia
arbeiter in Zürich, Kiew und Menlo Park, Kalifornien, hat, spricht bei Versicherern, Medizinerverbänden und Politikern vor, um seinen Gesundheitsindex zu verbreiten. Er hätte gern, dass der Index irgendwann so akzeptiert ist wie die Maße der drei großen Kreditratingagenturen, sagt er. Ohnemus fliegt oft nach Brüssel, wo die Kommission derzeit überlegt, welche Regeln es für all die Gesundheitsapps braucht. Gerade erst hat er den Gesundheitsdienstleister Stamina überzeugt, in den kommenden Jahren die Gesundheit von 600.000 Mitarbeitern in 15.000 Firmen in Norwegen und Schweden mit seinem Index zu prüfen. Die EU-Kommission hat dacadoo unter die sechs besten „eHealth-Solutions“ 2015 gewählt. Im Mai wird im littauischen Riga ein Gewinner gekürt. Bei Mediamarkt gibt es schon ein ganzes Regal für „Fitnessbänder“. Die Smartwatch von Apple Ein guter Deal, wird dafür sorgen, dass findet er. künftig noch deutlich Sebastian Mormehr Menschen sich etzinek war im Sommer waiger Sportrückstände be2013 noch Außendienstwusst sind. Fast eine Million mitarbeiter der AOK, als er Vorbestellungen hat Apple alvon seiner Chefin die App gelein am vergangenen Wozeigt bekam. Neben dem üblichenende verzeichnet, chen Programm mit den Rückenschätzen Analysten. Die Entspannungskursen Entwickler bei dacadoo arIm Grunde heißt terten Datensammlungen be- kursen, beiten längst daran, dass das auch: Die Ge- züglich seiner Gesundheit und oder Antistresstrainings erihre App auf der Uhr lausundheitskasse soll seines Lebenswandels teilzuneh- schien ihm das „wie so ein Gimfen kann. die Kranken bestrafen. men“, erfülle die Voraussetzun- mick obendrauf“. Er bekam eine gen des Versicherungsvertrags- Schulung. Aktivitäten eintragen, Apple hat in sein neuestes Schuldige Kranke. iPhone-Betriebssystem ein Klar: Jeder, der behin- gesetzes zur Beitragserhöhung Erfolge erringen, Wettbewerbe „Health Kit“ eingebaut, das sich dert geboren werde oder nicht, antwortete die Regierung. anlegen und an Ligen teilnehNoch nicht? men. Von da an erwähnte er AOK mit Waagen, Fitness-ArmbänKrebs bekomme, der sei da für Die Unternehmensberatung mobil vital meist am Ende seiner dern oder Uhren verbinden lässt ihn ausgenommen, sagt OhnePricewaterhouse Coopers hat in Workshops bei den Kunden. und automatisch die Schritte seimus. Unschuldige Kranke. Er bot die App in einem Kranner Besitzer zählt. Das Health Kit Bloß: Wo genau verläuft die einer Studie in den USA gerade des Konkurrenten Google heißt Grenze? Und heißt das nicht festgestellt, dass Konsumenten kenhaus an. Die Sache schien Google fit. auch, dass der Kranke künftig sich solcher Technik zögerlich ihm reizvoll. Wer läuft mehr: der ........................................................................................................................................................................................................ Uhren wie die von Apple helseine Unschuld beweisen muss? nähern, dass die Mehrheit aber Oberarzt oder die Schwester? Was Kassen anbieten fen beim Anstupsen. Die Sorge ........................................................................................................................................................................................................ Tut mir leid, 10.000 Schritte bereit wäre, Daten herzugeben – Aber die Mitarbeiter waren skepist auch klar: Werden die Stupser ■ Gesetzliche: Alle Kassen führen laufen geht so schlecht, ohne die gegen Versicherungsrabatte. Es tisch. Da wisse der Chef ja genau, ruppiger, je mehr das Nudging Bonusprogramme, oft verbunden künstliche Hüfte. Nein, ich habe werde eine große gesellschaftli- wann man Feierabend mache, Empire wächst? nicht geraucht, die Nikotinspu- che Herausforderung, die Balan- wenn jeder die Laufwege oder die mit Online-Coachings, aber nur Nachdem ihm beim Skiwan- wenige bieten bisher Fitnessren stammen aus einer Kneipe. ce zu finden zwischen dem Versi- Bauchmuskelübungen minutendern im Januar 2010 seine Idee Apps. Das ergibt eine Umfrage der Und der Nachtisch war doch nur cherungsschutz für unvermeid- genau verfolgen könne. liche Krankheiten und denen, Die Sorgen schienen Morzigekommen ist, liest Ohnemus taz.am wochenende unter den wegen des Geburtstags. sich durch Universitätsdaten- neun größten Krankenkassen. Die Ein Diabetes-II-Patient, rech- die Menschen mit ihrem Verhal- nek ein wenig übertrieben. „Ich banken, besucht Gesundheits- Barmer GEK etwa stellt die App net Ohnemus vor, verursache ten selbst verursachten, sagt die denke mal, so viel Vertrauen sollkonferenzen und spricht mit Fit2Go zur Verfügung: Wer sich an 3.500 bis 4.500 Euro Extrakosten Leiterin des dortigen Health Re- te da sein“, sagt er, „dass der weiß, dass ich Feierabend mache.“ Sein Ärzten, mit Wissenschaftlern. Er 20 Tagen 30 Minuten bewegt hat, im Jahr, „wenn Sie die OECD-Zah- search Institutes. Die freiwillige Teilnahme an eigener Chef sitzt in Schwerin will diese eine Zahl, die alles auf bekommt dafür Bonuspunkte. Das len anschauen.“ Gehe man von den Punkt bringt. Programm AOK mobil vital mit der Gesundheitskosten von 3.000 AOK mobil vital werde keine und nutzt die App gar nicht. Man Die meisten sagen, dass das dacadoo-App bietet nur die AOK bis 4.000 Euro im Jahr aus, ent- Auswirkungen auf die Höhe des könne außerdem ziemlich gut Quatsch ist, seriös nicht zu ma- Nordost. Eine Belohnung nach Ge- stehe für so einen Patienten der Beitragssatzes haben, sagt die einstellen, was andere sehen dürchen. Wie genau solle man bitte sundheitszustand lehnen alle ab. doppelte Kostenfaktor. Ge- AOK Nordost. Das widerspreche fen und was nicht. die Gesamtgesundheit eines Das widerspreche dem solidarischätzte 75 Prozent würden im schließlich dem solidarischen Menschen messen? Gesundheitssystem für die War- Grundsatz der gesetzlichen Nette Spielerei, mehr nicht, schen Prinzip. sagt die Medizinerin Krankenversicherung. Peter Ohnemus erinnert sich ■ Private: Die Generali-Versichetung Kranker ausgegeben. „Jeder sagt immer, das sei Der Datenschutzbeauftragte von an einen Physiker, den er von rungen planen für 2016 ein VitaliEine Kasse, wie er sie sich vorfrüher kennt. Im Grunde, denkt ty-Programm. Je nach persönlistellt, darf vier Mal im Jahr den nicht solidarisch“, sagt Ohne- Brandenburg, zuständig für die Ohnemus, ist das ja ein Risiko- cher Fitness werden dem Kunden Gesundheitsindex sehen, dafür mus. „Es ist auch nicht solida- AOK Nordost, hält die Standardmodell. Wie gefährdet ist einer Ziele gesetzt, für deren Erreichen gebe es dann 20 oder 25 Prozent risch, wenn Sie jeden Abend einstellungen der App dagegen gerade? Der Physiker hat solche er Prämien erhält. Die Allianz beRabatt. Im Englischen nenne zwölf Kilo Fritten essen.“ Er über- für „wenig datenschutzgerecht“ Modelle für Versicherungen be- lohnt ihre Kunden, wenn sie minman das eine „Something for treibt jetzt noch ein bisschen und sieht die Option kritisch, solmehr. Es regt ihn auf. che „sensitiven Gesundheitsdarechnet. Er steigt bei Ohnemus destens ein Jahr keine Leistungen Something Economy“. Peter Ohnemus hat selbst ei- ten“ in sozialen Netzwerken mit ein. Sie beginnen, Daten aus den in Anspruch nehmen. So können Wer keine Daten hergibt, würgrößten Gesundheitsstudien zu Vollversicherte bis zu 30 Prozent de mehr bezahlen. Bestimmt die- nen ganz ordentlichen Bauch. „sogenannten Freunden“ zu teisammeln und lassen sie durch ihrer Jahresbeiträge zurückerstat- se Logik bald unser Gesundheits- Aber er könnte für die Folgen len. Einzelheiten prüfe man nach ihre Rechner laufen. Eine briti- tet bekommen. Axa führt lediglich system, hat die Linkspartei die zahlen. Er hat mittags einen Salat der Anfrage der taz.am wochensche Krankenversicherung ge- ein Bonusprogramm. Bundesregierung neulich ge- gegessen und für die Schrittbi- ende nun. 800 Mitglieder der AOK Nordwinnen sie als ersten Partner. fragt. Eine Weigerung an „erwei- lanz ist er um den Block gegan■ Mehr auf: taz.de/fitnesskassen gen. Er sagt, er kämpfe mit sei- ost haben bisher Teilnahmeer„Wenn Sie Ihr Auto viermal genem Gewicht, und je länger er er- klärungen unterzeichnet. 70 Progen die Wand fahren“, sagt er, zählt, desto stärker gewinnt man zent sind zwischen 20 und 39 „steigt Ihre Prämie. Wenn Sie den Eindruck: Er mag auch ein- Jahren alt, wobei das Durchaber zehn Jahre lang jeden Tag fach keine Dicken. schnittsalter der AOK Nordost fünf Kilo zu viel essen, ich überOhnemus’ älteste Tochter hat bei 48 liegt. Überraschenderweitreibe bewusst, dann hat das keineulich ein Auto gekauft, der Ver- se sind 60 Prozent Frauen. ne Konsequenzen. Für Ihre Mitsicherungsbeitrag kam ihm zuDenn in der gesamten dacamenschen, aber nicht für Sie.“ nächst horrend vor. Ohnemus doo-Community sind Männer Das finde er gesellschaftlich hat das geärgert. Da haben sie ihr klar in der Mehrheit, 67 Prozent. nicht korrekt. „Für mich geht es eine kleine Box eingebaut, mit Durchschnittsalter: 35. Die meisdarum, dass Leute weniger Krander sie ihre Geschwindigkeit kenkassenbeiträge zahlen, wenn Fortsetzung auf Seite 20 DER UNTERNEHMER PETER OHNEMUS kontrollieren. Jetzt ist es billiger. sie sich gut benehmen“, sagt er.
Über Solidarität „Es ist auch nicht solidarisch, wenn Sie jeden Abend zwölf Kilo Fritten essen“
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Minuten pro Tag sitzen Deutsche
zwischen 46 und 65 Jahren im Durchschnitt Quelle: Studie der DKV und der Sporthochschule Köln
Kilometer legen Deutsche im Schnitt pro
Wanderung zurück. Die alten Römer sollen täglich 30 Kilometer gelaufen sein Quelle: Deutscher Wanderverband Recherche: Tobias Hausdorf
Fortsetzung von Seite 19 ten machen zwei oder drei Aktivitäten in der Woche und verbrennen dabei 504 Kalorien. 110.000 Nutzer sind verzeichnet, um die 40 Länder. „Was Sie hoffentlich freuen wird: 22 Prozent haben Gewicht verloren, 10 Prozent haben ihren Körperumfang verringert, 11 Prozent haben niedrigeren Blutdruck. Und das Diabetesrisiko sinkt“, bilanziert Ohnemus. Peter Ohnemus kippt aus einem Mäppchen einen kleinen Haufen Geräte auf den Tisch. Eine winzige Pille, die als Kamera den Darm fotografieren kann. Cholesterintest übers Smartphone. Oder hier: Damit kann man rote und weiße Blutkörper testen, mit einem einfachen Pikser in den Finger. Längst messen Sensoren den Blutzuckerspiegel, ganz ohne Blut. Es wird immer einfacher, immer mehr über den eigenen Körper zu wissen. Das Programm, in dem diese Informationen zusammenlaufen sollen, muss dacadoo sein, findet Peter Ohnemus. Apple wiederum ist der Meinung, es sollte Apple Health Kit heißen. Apple hat einen etwas größeren Marketing-Etat, aber weniger gute Beziehungen zur AOK Nordost. An dieser Stelle wäre vielleicht ein guter Moment für einen weiblichen Blick auf die Weltrettungspläne des Peter Ohnemus. Ingrid Mühlhauser stammt aus Wien, ist Professorin in Hamburg, hat jahrelang zu Diabetes geforscht, der Krankheit also, die Gesundheitsökonomen mit am meisten umtreibt, und sie gehört dem Netzwerk für evidenzbasierte Medizin an. Die Wienerin braucht keine Viertelstunde, um Ohnemus’ Arbeit der vergangenen fünf Jahre am Telefon wegzuschmähen. Für sie zählt nur, was mit wirklich fundierten Studien belegt ist. Programme wie dacadoo richteten sich sowieso vor allem an mittlere und höhere soziale Schichten, also nicht an die
....................................................................... Radikale Lösungen ..................................................... Digital: Die New Yorker Firma Oscar ist ein Start-up – und eine Krankenkasse. 2013 gegründet, verbindet Oscar konsequent das Sammeln von Daten und die Belohnung für gesundes Verhalten. Kunden erhalten ein Fitnessarmband. Wer das tägliche Schrittziel erreicht, bekommt einen Dollar. Ab 20 Dollar gibt es einen AmazonGutschein. Bis zu 240 Dollar pro Jahr werden so vergeben. ■ Analog: Wie zwei ZDF-Journalisten herausfanden, werben einige deutsche Krankenkassen wie KKH und HEK nicht nur um möglichst gesunde Kunden, sondern versuchen gezielt, Alte und chronisch Kranke loszuwerden. Indem sie etwa einer Multiple-SkleroseKranken Leistungen verweigern, die ihr zustehen – oder einem HIVInfizierten nahelegen, die Kasse zu verlassen. ■
Wer mehr läuft, soll weniger zahlen, sagt der Start-up-Gründer Peter Ohnemus Foto: dacadoo
wahrscheinlich wichtigste Zielgruppe: Übergewichtige aus einem sozial schwächeren Umfeld. Mühlhauser hat ein paar Studien gefunden: „Die Ergebnisse sind enttäuschend. Es gibt keinen signifikanten Einfluss auf das Körpergewicht, auch nicht auf die längerfristige Aktivierung körperlicher Aktivität.“ Die Abbruchquoten seien enorm. Es sei wie bei den Bonusprogrammen. Sie würden vor allem von Leuten wahrgenommen, die ohnehin schon im Sportverein seien. Die Berechnungen hält sie für eine „nette Spielerei für Menschen, denen es sehr gut geht“. Für Jungs wie Peter Ohnemus oder Sebastian Morzinek. Warum, fragt Mühlhauser, ist neben Kitesurfen oder Klettern nicht auch Kinderbetreuung eine Aktivität in der dacadoo-App? Wieso kommt schwere körperliche Arbeit gar nicht vor? Mühlhausers Netzwerk beschäftigt sich damit, wie mit der Festlegung von Gesundheitskennziffern Politik gemacht wird – und Geld. Das Gewicht etwa, sagt sie, werde völlig überbewertet bei Erwachsenen. Wer ei-
nen Body-Mass-Index von 27 habe, weise die höchste Lebenserwartung auf. Dazu gebe es tatsächlich riesige Studien. Nur ist es so, dass ein Wert von 27 als Übergewicht gilt. Die Fitnessprogramme hält sie für eine Modeerscheinung. „Ich sehe das mit Beunruhigung, dass die Kassen das so fördern.“ Sie habe aber ohnehin ihre Zweifel, wie hoch die wissenschaftliche Kompetenz bei denen sei.
Kann es sein, dass es unschuldige Dicke gibt? Bei der AOK Nordost behauptet niemand, man könne genau nachvollziehen, wie der Gesundheitsindex von dacadoo berechnet wird. Als nächster Schritt soll AOK mobil vital ins Bonusprogramm aufgenommen werden. Die AOK Nordost wird Mitglieder dann dafür belohnen, dass eine Zahl steigt, die sie selbst nicht versteht. Er sehe das ganz entspannt, sagt der Leiter der Präventionsabteilung. Der Index diene vor allem der Visualisierung: „Dacadoo misst nicht Gesundheit, sondern gesundes Verhalten.“
AOK-Filialleiter Morzinek mit Medaille Foto: J. Gernert
Das alles wäre weniger bedeutsam, wenn dacadoo bloß die Spielerei von ein paar Technikjungs mit einer Vorliebe für Sportuhren wäre. Nur krempeln diese Technikjungs gerade die Gesundheitssysteme um. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dacadoo bald neue Kooperationen verkündet. Was, wenn im Apple Health Kit und bei dacadoo irgendwann die Gene dazukämen? Auch die lassen sich längst einfach testen. Juli Zehs Gesundheitsapokalypse wäre perfekt. Es gibt den begründeten Verdacht, dass es bei dem neuen Fitnessregime, das viele Schritte für weniger Kalorien verlangt und die 10.000-Schritt-pro-Tag-Regel etabliert hat, nicht so sehr um ein medizinisches, sondern eher um ein ästhetisches Ideal geht, das sich mit einem pseudomoralischen Anspruch verbindet: Wer fett ist, ist ein asozialer Gesundheitsschlamper. In den USA berichten Kunden von Fitbit, einem der größten Schrittzählungsunternehmen der Welt, dass sie trotz der App zunehmen. Es sind schlichte per-
sönliche Erfahrungen, die Peter Ohnemus’ komplette Idee von Gerechtigkeit zerschießen. Kann es sein, dass es unschuldige Dicke gibt? Algorithmen sind nie böse, sie können nur manchmal ziemlich dumm sein. Sollen sie darüber entscheiden dürfen, wer als krank und wer als gesund gilt? Im Sommer 2013 bekommt Sebastian Morzinek eine Mail übers firmeninterne Intranet. Es finde ein Wettbewerb statt, wer die meiste Energie verbrauche. Die Mitarbeiter könnten sich in die Gruppen mit den Buchstaben A, O und K aufteilen. Gewinn: ein Wellnesswochenende. Mal den Chef schlagen zu können, sei doch ein netter Ansporn, sagt Morzinek. Anschließend hat er allerdings beobachtet, wie bei vielen das Interesse nachließ. Die Motivationsschwierigkeiten seiner Kunden sind dem
Unternehmer Peter Ohnemus bewusst. „Sie müssen immer wieder mit Karotten kommen“, sagt er, mit Anreizen. Nur, wer zahlt die Karotten, wenn alle pleite sind? Da lacht Peter Ohnemus sehr laut. Gute Frage. Sebastian Morzinek hat gerade erst eine Urkunde und eine Medaille geschickt bekommen. Dritter Platz bei einem Wettbewerb unter dacadoo-Mitgliedern mit einem Gesundheitsindex von mehr als 700. Ein bisschen ulkig findet er das schon. Aber er freut sich auch. Die Versicherten, die an diesem Morgen die Filiale betreten und an Morzineks verglaster Bürotür vorbeilaufen, wirken nicht, als könnte sie das interessieren. 10.000 Schritte täglich? An Krücken? ■ Johannes Gernert, 34, ist Redakteur der taz.am wochenende. Für diesen Text hat er einen Selbstversuch unternommen: taz.de/schrittzähler
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