daheim magazin 15: STADT

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Nr.15/Dezember– Februar 2008 www.daheim-magazin.de


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Liebe Leser, Anfang des 20. Jahrhunderts lebte ein Drittel der Weltbevölkerung in Städten, zwei Drittel auf dem Land. Heute hat sich dieses Verhältnis umgekehrt, ein Ende dieses Trends ist nicht in Sicht. Überall auf der Erde wuchern die Städte, fransen aus und schwellen an. Die Stadt bestimmt unseren Rhythmus, sie bereichert uns und macht uns frei. Damit wir so leben können, werden Flächen versiegelt, Betonbauten aus dem Boden gestampft und die Natur verdrängt. Alan Weisman sagt: So kann es nicht weitergehen. Um die Bewohner der Metropolen mit Lebensmitteln zu versorgen, muss ständig die Landwirtschaft intensiviert werden, was zu gravierenden Umweltproblemen führt. Außerdem: Wir verwenden nur noch minderwertige Materialien zum Bau unserer Häuser. Der Wissenschaftsjournalist beschreibt ein Szenario, in dem es uns nicht mehr gibt. Innerhalb kürzester Zeit wären auch unsere Städte verschwunden. Um Verschwinden von Menschen geht es auch in der Reportage „Ein letztes Spiel“. Ralf Heimann arbeitete eine Woche lang in einem Sterbehospiz. In dieser Zeit starb sein Schachpartner Hans-Jürgen. Außerdem im neuen daheim: Meredith Haaf schreibt über die Macht der weisen Männer, Philipp Mattheis über die Macht der halben Männer und Heinz Helle hebt ab. Viel Spaß beim Lesen wünscht die daheim-Redaktion!


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EDITORIAL

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INHALT

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DENK ICH AN DEUTSCHLAND Menschen, die sonst niemand fragt, sprechen über dieses Land

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STADT Häuser und Lichter, Fluss und Verkehr. Eine Hommage und ein Nachruf auf unsere Städte.

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VON EINS BIS ZEHN Zehn Gedanken über das Leben in der Stadt

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„WIR SIND ZUVIELE“ Alan Weisman hat sich überlegt, was mit unseren Städten passiert, wenn wir verschwinden

KOLUMNE 14

DAMENGEDECK

Meredith Haaf über die Macht der weisen Männer

INHALT 3

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STERBEN LERNEN Die Zeiten ändern sich, ewig währt nichts und gestorben wird immer. Reportagen zum Ende.

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EIN LETZTES SPIEL Was denken Menschen, die den Tod erwarten? Ralf Heimann verbrachte eine Woche im Sterbe-Hospiz

KOLUMNE 20

VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Philipp Mattheis über die Macht der Eunuchen

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LICHT STADT im Bild: aus der Reeperbahn nachts nach halb eins. KOLUMNE

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SELBSTBESCHRÄNKUNG Heinz Helle fliegt

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IMPRESSUM


PROPAGANDA Text HEINZ HELLE Art Direktion EKATERINA GRIZIK


DENK ICH AN DEUTSCHLAND NAME DER RUBRIK

Menschen, die sonst niemand fragt, sprechen 端ber dieses Land. Illustration MICHAEL FRITZ.

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ANTONIA JILEK, 19 IST SEMIPROFESSIONELE COUNTER-STRIKE-SPIELERIN Im Moment bin ich eine der besten Counter-Strike-Spielerinnen Deutschlands. Angefangen habe ich vor etwa fünf Jahren. Mein Bruder hat damals eine NetzwerkParty in unserem Keller gemacht und mit seinen Freunden Counter Strike gespielt. Ich hatte den Computer meiner Eltern vorher nur zum Chatten benutzt, aber damals, mit 14, wollte ich unbedingt mitspielen. Counter Strike hat mir von Anfang gefallen, man spielt im Team und ballert nicht nur einfach Leute um. Deshalb bin ich schnell treffsicher geworden. Mein Bruder hat mich dann auf die Idee gebracht, einem Mädchenteam beizutreten.

Viele gab es davon nicht, denn auch wenn die Szene wächst, spielen Counter Strike noch immer vor allem Jungs. Richtig gute weibliche Spieler gibt es selten. Die männlichen Spieler sind schon viel länger dabei, außerdem glaube ich, dass Mädchen einfach noch andere Dinge zu tun haben, als jeden Tag sechs Stunden vor dem Computer zu sitzen. Vor der Weltmeisterschaft im August haben wir viel trainiert und jeden Abend mehrere Stunden online gespielt - oft auch gegen Männerteams. Dumme Kommentare gibt es da immer wieder. Dass Frauen sowieso nichts treffen oder an den Herd gehören, nicht an den Computer. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt. Meine Eltern und meine Brüder unterstützen mich, meine Mutter

sieht sich meine Spiele sogar online in einer Live Übertragung an. In Deutschland ist eSport noch ziemlich unbekannt. Ich habe zwar einen Sponsor und verdiene ein bisschen Geld, im Vergleich zu Japan oder Korea ist das aber fast Nichts. Früher wollte ich unbedingt auswandern, heute lebe ich eigentlich ganz gerne in Deutschland. Ob ich für immer hier bleibe weiß ich noch nicht, aber hier ist meine Familie, das ist das Wichtigste. Und ich bin froh, dass es in Deutschland nicht so unsinnige Gesetze gibt wie in einigen Staaten Amerikas. Ich denke, das größte Problem Deutschlands ist die Arbeitslosigkeit. Was mir außerdem nicht gefällt ist das Wetter, das könnte durchaus besser sein. Aufgezeichnet von CHRISTOPH GURK

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BEATRICE UWAYEZU, 43, ARBEITET IM GESUNDHEITSMINISTERIUM VON RUANDA Vor einigen Monaten bin ich von einem einjährigen Trainingsprogramm in Deutschland zurückgekehrt. Die Deutschen sind sehr organisiert. Und ein bisschen reserviert. Wahrscheinlich sind sie gerne unabhängig. Bevor ich nach Deutschland gekommen bin, dachte ich: Alle Deutschen sind total kapitalistisch und leben nur für sich selbst. Das stimmt aber auch nicht. Manche kümmern sich sehr viel um andere Menschen. In Afrika respektiert man das Alter mehr. Wenn bei uns zum Beispiel ein alter Mensch in einen Bus steigt, steht man immer seinen Platz anbietet. Im Saarland bin ich mit ei-

nigen meiner afrikanischen Kollegen Bus gefahren, als eine alte Dame herein kam. Wir sind sofort aufgestanden, wie wir es gewohnt sind. Aber die Dame wollte sich nicht hinsetzen. Und die Leute haben sich auch nicht mit uns unterhalten. Vielleicht, weil wir eine so große Gruppe waren. Am liebsten mochte ich Berlin. Was für eine riesige Stadt! Aber gut organisiert. Es gibt dort auch für alles Pläne. Man kann gar nicht verloren gehen. Das gab mir ein gutes Gefühl. Faszinierend fand ich den Potsdamer Platz. Ich mag die großen, modernen Häuser. Sie stehen für Fortschritt. Auch der neue Hauptbahnhof ist sehr beeindruckend mit dem vielen Glas. Und die Züge. Wahnsinn! Im ICE zu reisen war ein echtes Erlebnis. Er fährt so schnell und

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ist so leise. Und es gibt ein Restaurant an Bord. In einem deutschen Zug gibt es eigentlich alles, was man sich wünschen kann. Vermisst habe ich die Wärme meiner Heimat. Im Winter in Deutschland war es so kalt. Ich habe mich gar nicht getraut, an die Luft zu gehen. Meine Familie hat mir auch sehr gefehlt. In Afrika hat die Familie einen viel höheren Stellenwert, als in Deutschland. Aber das verändert sich bei uns leider auch gerade. Die Leute achten mittlerweile mehr auf sich selbst, werden egoistischer und weniger auf ihre Familie fixiert. Aber ganz so schlimm wie in Deutschland ist es noch nicht. Aufgezeichnet von GORDON REPINSKI


RAFL ABEL, 42, IMITIERT MICHAEL JACKSON Eigentlich war ich immer ein großer Fan von Prince. Trotzdem war ich sofort einverstanden, als ich gefragt wurde, ob ich auf unserer Firmenfeier Michael Jackson imitieren kann. Damals war ich 28 und noch ganz neu in der Versicherungsfirma, in der ich noch heute arbeite. Vor dem Auftritt habe ich zwei Monate lang geübt, mich so zu bewegen wie Michael Jackson. Besonders schwer fiel mir das nicht, ich habe schon immer gerne getanzt. Meinen Auftritt haben fast 1300 Leute gesehen und alle waren begeistert. Ein paar Wochen später kamen dann die ersten Anrufe: Kollegen, die wollten, dass ich auf ihrer Hochzeit tanze oder Bekannte, die mich für eine

Weihnachtsfeier buchen wollten. Erst da habe ich gemerkt, dass es einen Markt für Doubles gibt. Am Anfang bin ich fast jedes Wochenende aufgetreten, in ganz Europa. Das waren die unterschiedlichsten Veranstaltungen, die Einweihung von einem Autohaus, eine Hochzeit und sehr oft Kindergeburtstage. Das hat nachgelassen, seit das mit Michael Jackson und den Kindern passiert ist. Der Höhepunkt dieser Zeit war für mich eine Tour mit Anke Engelke und ihrer Band. Sie hatte mich durch Zufall bei einem Auftritt gesehen und noch für den gleichen Abend engagiert. Heute werde ich leider viel weniger gebucht, Michael Jackson ist nicht mehr so gefragt. Wahrscheinlich liegt das an seinen Eskapaden, viele rufen jetzt lieber ein Paris Hilton Double

an. Ich finde das schade, ich habe meine Auftritte immer gern gemacht. Trotzdem bin ich in all dieser Zeit nie zu einem MichaelJackson-Fan geworden. Eigentlich könnte ich mir also einfach einen anderen Star suchen, so wie andere Doubles auch. Noch mal von vorne anzufangen wäre mir aber zu viel, außerdem wüsste ich nicht, welcher Star das sein könnte. Ganz bestimmt wäre es kein Deutscher, obwohl ich sehr gerne hier wohne. Ich mag an Deutschland vor allem, das ich meine persönliche Freiheit habe. Wenn ich in den Nachrichten sehe, wie es Menschen in anderen Ländern geht, dann bin froh hier zu leben. Es wird zwar alles immer teurer, aber immerhin haben wir alle ein Dach über dem Kopf. Aufgezeichnet von CHRISTOPH GURK

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PHONEBITCH, 32, BIETET TELEFONSEX AN Ich habe keinen Feierabend. Seit sieben Jahren. Damals ist einem Bekannten meine Stimme aufgefallen. Im Witz hat er gesagt, ich solle es mal mit Telefonsex versuchen. Er hat bei der luxemburgischen Post gearbeitet und konnte mir sogar eine Spezialnummer besorgen. Ich habe eine Anzeige aufgegeben und seitdem rufen die Männer bei mir an. Etwa 60 am Tag, zu jeder Uhrzeit. Pro Minute bekomme ich 1,21 Euro, also gehe ich meistens ran, auch wenn es in der Nacht ist. Mein erster Anrufer hieß Bob und ich war so aufgeregt, dass ich gleich wieder aufgelegt habe. Ich wusste nicht, was ich ihm erzählen soll, was er von mir erwartet. Die Männer, die öfter angeru-

fen haben, haben mir am Anfang gesagt: „Du machst immer das Gleiche, du musst dir was Neues überlegen!“ Mittlerweile habe ich Routine, ich kann nebenbei abwaschen oder putzen. Trotzdem verblüffen mich die Kunden immer wieder, oft muss ich mir das Lachen verkneifen. Einmal wollte jemand, dass ich in den Hörer pupse. Das habe ich nicht gemacht. Wie kann man so was wollen? Was hat das mit Sex zu tun? Der längste Anruf hat dreieinhalb Stunden gedauert. Das war ein 81-jähriger aus dem Altersheim, der mir sein Lebensgeschichte erzählt hat. Normalerweise dauert ein Telefonat aber nur zwei Minuten. Viele Kunden von mir rufen zwei bis dreimal pro Woche an, die frage ich auch mal, wie es ihrem Sohn geht. Manchmal ru-

fen auch Ehefrauen bei mir an und wollen wissen wer ich bin, wieso ihr Mann mit mir telefoniert. Meistens lege ich dann einfach auf. Ich habe keine Gewissensbisse und finde auch nicht, dass Telefonsex etwas mit Fremd gehen zu tun hat. Richtig Spaß macht mir meine Arbeit trotzdem nicht, ich habe mich nur daran gewöhnt. Wenn ich ehrlich bin, reizt mich vor allem das Geld. Oft nervt es aber auch, permanent Männer stöhnen zu hören. Deutsche können mich leider nicht anrufen, weil meine Nummer nur in Luxemburg funktioniert. Aber ich mag die Deutschen und fahre immer nach Trier zum Einkaufen. Dann freue ich mich über den freundlichen Service und darüber, dass wir hier viel weniger Steuern zahlen als ihr. Aufgezeichnet von CHRISTOPH GURK

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STADT NAME DER RUBRIK

H채user und Lichter, Fluss und Verkehr. Eine Hommage und ein Nachruf auf unsere St채dte.

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I. Babylon Städte sind in ihren Zentren gleich und sie sind gleich in ihrer Peripherie. Städte sind mehr als die Menschen, die in ihnen leben, und wären sie unbewohnt, wären sie doch mehr als eine rohe Ansammlung von Häusern. Städte sind Trost, Demut, Zerstreuung. Wer allein sein will, der gehe in den Wald. II. Byzantion Die Konstitution des Lichts ist es, die die Stadt vom Land unterscheidet. Eine Stadt schläft, schweigt, doch dunkel ist sie nie. In ihr ist das Licht verschiedener, in Brechungen, Wellen und Interferenzen leuchtet es. Die Nacht beherrscht das Land, in der Stadt regiert der Schatten. III. Ninive „Ich habe den Menschen gesehen in seiner tiefsten Gestalt, ich kenne die Welt bis auf den Grundgehalt.“ (Christian Morgenstern) Was die Stadt auszeichnet, ist die unvermeidbare Unvermitteltheit des Aufeinandertreffens von Menschen. Alles was man tut, muss den Blick der anderen bestehen. Lasst uns das – auch das Wissen um diesen Blick – nicht verlieren. Auf dem Land sind es immer die gleichen Menschen, die man trifft. IV. Kambaluk Die Stadt hat eine andere Ordnung als das Land. In der Stadt ist es das Fließen, das Ineinandergreifen, der offene Raum, während dem Land die Idee der Parzelle zugrunde liegt. Wenn diese Idee in die Städte drängt, so sind sie verloren. V. Atlantis Die Stadt hat ein Recht auf Schönheit. Vergesst das nicht, Stadtplaner

VON EINS BIS ZEHN Illustration EVA BOLTZ Glaubt uns: Wir wollten nie Büros sehen, dort wo wir wohnen. Zehn Mal ein Gedanke über das Leben in der Stadt. Von ADRIAN RENNER.

und Architekten. Vergesst auch nicht: die Stadt braucht Brachen, Leerzeichen, offene, wieder zu deutende Flächen, den Asphaltdschungel. Das Gegenteil der Stadt liegt nicht dort, wo keine Menschen leben. Es ist da, wo die Tiere leben: Der Dschungel. VI. Pompeji „Die Stadt gibt es heute nicht mehr. Da die Vorstellung von dem, was eine Stadt ist, in beispielloser Weise verändert und erweitert wird, führt jedes Beharren auf ihrem Urzustand – im Hinblick auf Bilder, Regeln und Bauweise – unwiderruflich über Nostalgie in die Belanglosigkeit.“ (Rem Koolhaas) VII. Ushuaia Wo wir hinzogen, da folgte: Verdrängung, Leid, Kapitalismus. Sie nennen es Gentrifizierung. Wir konnten nichts dafür, glaubt uns und plädiert auf eure Unschuld. Schuld sind diese verdammten Architekten in ihren Erdgeschoss-Guckkästen. Wir wollten nie Büros sehen, dort wo wir wohnen. VIII. Tenochtitlàn Nein, wenn einer in die Stadt zieht, muss er nicht wissen, was er dort will. Nur so macht Stadtluft heute noch frei. Die Stadt erlaubt einem, sich zu vergessen. Das schönste Gefühl der Stadt: das Gefühl, sich in ihr treiben lassen zu können. IX. Syrakus Vergesst nicht, auch das ist Stadt: Gewerbegebiete, Messegelände, Schrebergartensiedlungen. Sie sind, wenn sie leer vor einem liegen, naturgemäß die größtmöglichen Horte an Melancholie hinter den Häusern. X. Samarkand Städte leben nicht. Wir leben.

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landwirtschaftliche Flächen umso intensiver genutzt werden. Um den Ertrag zu steigern, müssen mehr Chemikalien verwendet werden. Und das wiederum bedeutet gravierende Umweltprobleme.

Herr Weisman, glauben Sie, dass wir irgendwann alle in einer großen Stadt leben? Ich hoffe nicht, auch wenn ich Städte liebe. Ich selbst lebe aber auf dem Land, was großartig ist.

Haben Sie eine Lösung? Eine Möglichkeit ist, mehr Anbauflächen in der Stadt selbst zu nutzen. Auf Dachterrassen ließe sich ohne Probleme Gemüse und Obst anbauen. In Städten wie Stuttgart oder Budapest gibt es große Gärten innerhalb der Stadt. Dieses Potenzial müssen wir besser nutzen. Ärgern Sie sich oft über Städte? Es geht. Am schlimmsten ist die Architektur von Städten in ehemals kommu-

drastischen Umsatzrückgang. Das Gegenteil aber war der Fall. Die Menschen fühlen sich wohl und kommen erst recht in die Einkaufsstraßen. Meiner Meinung nach ist Curitiba eine der schönsten Städte der Welt. Und die hässlichste Stadt der Welt? Schwer zu sagen. Jedes Jahr mache ich mit ein paar Studenten eine Exkursion in eine „Problemstadt“. Letztes Jahr war ich in Shanghai. Dort gibt es großartige und hochwertige Architektur. Doch das ist alles nicht nachhaltig. Um den gewaltigen Wasserbedarf zu decken, leiten die Chinesen den Yangtse um. Das wiederum schafft neue Umweltbelastungen. Dieses Jahr fahre ich nach Mexico City. Das ist

„WIR SIND ZUVIELE“ Illustration VEERLE HILDEBRANDT Was passiert mit unseren Städten, wenn wir einmal nicht mehr sind? Alan Weisman spricht über minderwertige Architektur und warum es so nicht weitergehen kann. Ein Interview von KATHARINA WULFFIUS und PHILIPP MATTHEIS.

Aber die Tendenz zeigt doch in Richtung Verstädterung. Ja, das ist richtig. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten etwa zwei Drittel aller Menschen auf dem Land. Heute leben zwei Drittel in Städten. Davon haben elf Städte der Welt mehr als 20 Millionen Einwohner. Es gibt keine Anzeichen, dass sich dieser Trend umkehren würde. Was ist daran problematisch? Für die meisten Menschen macht es natürlich Sinn, in Clustern zu leben. Viele Dinge werden durch die enge Infrastruktur einfacher. Ein großes Problem aber ist die Versorgung mit Lebensmitteln. Eine 20-Millionen-Metropole kann sich unmöglich selbst ernähren. Deswegen müssen

nistischen Ländern. Damals baute man ohne jeden Sinn für Ästhetik. Selbst Havanna in Kuba macht da keine Ausnahme. Aber nicht nur das: Stalinistische Gebäude waren oft auch furchtbar ineffizient. Man brachte die Heizung außerhalb der Häuser an! Aber es gibt auch Städte, die mich sehr glücklich machen. Zum Beispiel? Curitiba ist eine brasilianische Großstadt. Anfang der Neunziger erließ der Bürgermeister ein Verbot für Autos in der Innenstadt und ließ nur noch schmale Asphaltstreifen für Busse und Taxis übrig. Der Rest der Straße wurde mit Blumen bepflanzt. Anfangs liefen die Inhaber der Geschäfte Sturm. Sie befürchteten einen

im Prinzip keine hässliche Stadt – das alte Zentrum ist wunderschön und die Berge rings um die Metropole sind malerisch. Aber die ganze Altstadt ist von einem monströsen Betongürtel umgeben, in dem 20 Millionen Menschen wohnen. Das ist sehr schade. Aber die hässlichste Stadt der Welt? Ich war noch nie dort, man müsste sie aber wahrscheinlich in Osteuropa suchen. In ihrem Buch „Die Welt ohne uns“ beschreiben Sie das Szenario, in dem der Mensch von einem Tag auf den anderen von der Erde verschwunden ist. Was passiert dann in unseren Städten? Wenn die Wasserpumpen nicht mehr funktionieren, laufen Keller, Kanalsy-

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steme und U-Bahnschächte voll. Städte wie London, Washington und Moskau haben Ihre U-Bahnen noch unter die Kanalisation gelegt, das Wasser muss permanent bergauf gepumpt werden. Unter New Yorks Straßen verlaufen Wasserrohre aus den Dreißigerjahren. Diese sind auch trotz menschlicher Wartung schon ziemlich anfällig. Das Wasser würde nach oben drücken. Bei Regenfällen werden auch noch alle Abwasserkanäle und Gullys verstopft. Stellen sie sich nur vor, in einer Stadt macht plötzlich niemand mehr sauber. Überall fliegen Laub, Papier und vor allem Millionen von Plastiktüten herum. Der Brei aus Zeitungen, Laub und Plastik verstopft alles. Und dann kommen die Tiere.

Dächern lösen sich. Wo das der Fall ist, sickert Regen ein, rosten Bolzen und löst sich der Verputz. Isolierungen liegen jetzt frei. Spätestens jetzt fängt die Stadt Feuer. Die Asche bildet mit dem Laub, den Pflanzen und den Plastiktüten dann bald eine dicke Schicht und die Gebäude stürzen ein. Innerhalb von 500 Jahren gäbe es nur noch Wald. Von den großen Metropolen würde nichts übrig bleiben? Warum gibt es dann heute noch so viele Ruinen von 2000 Jahre alten Städten? Weil damals anders gebaut wurde. Zuerst lebte der Mensch in Höhlen. Später ging er dazu über, künstliche „Höhlen“ zu bauen. Es wurde Gestein benutzt, dass von

aber nie wieder bewohnt werden. Sie zu betreten, ist lebensgefährlich. Sie klingen nicht gerade optimistisch... Sehen Sie, die Welt ist nicht besser ohne uns. Im Moment ist nur alles etwas aus der Balance. Wie kriegen wir das wieder hin? Das Problem ist: Wir sind zu viele. Im Jahr 1900 lebten 1,6 Milliarden Menschen auf der Erde. Im 20. Jahrhundert ist die Weltbevölkerung explodiert. Heute sind es weit über sechs Milliarden. Das kann so nicht weitergehen. Wir können noch mehr Chemie in den Boden pumpen, um die Erträge zu steigern. Aber das zerstört die Flüsse und Meere. Noch

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Tauben gibt es in den Städten ja jetzt schon genug… Kakerlaken sterben, weil wir sie nicht mehr mit Küchenabfällen und Abwässern füttern. Aber Vögel und Ratten vermehren sich schlagartig. Die scheiden mit ihrem Kot Pflanzensamen aus. Diese landen in Alphaltrissen und schon bald sprießen überall kleine Pflanzen und knacken den Asphalt auf. Bäume wachsen in U-Bahn-Schächten und ihre Kronen heben die Gullydeckel hoch. Ohne Heizung platzen überall die Rohre, der Frost-Tauwetter-Zyklus dringt in die Gebäude ein. Ihre Mauern ächzen, während sich ihre Kerne ausdehnen und zusammenziehen, die Verbindungen zwischen Wänden und

Natur aus perfekt ineinander passte. Diese Gebäude sind bis heute die stabilsten der Welt. Nehmen sie das Kolosseum in Rom oder die Bauten in Macchu Picchu – diese Gebäude haben Jahrtausende nahezu unverändert überstanden. Erst im 20. Jahrhundert begann der Mensch, minderwertige Materialien wie Sand und Kalkstein zu verwenden, um gleichzeitig riesengroße Gebäude zu errichten. Diese Häuser müssen ständig instand gehalten werden, sonst fallen sie auseinander. Im Osten Zyperns gibt es eine Stadt, die nach der Teilung in Nord- und Südzypern im Niemandsland stand und deswegen vor 30 Jahren von heute auf morgen verlassen wurde. Sie ist ein gutes Beispiel: Alle Häuser stehen zwar noch, können

in diesem Jahrhundert werden unsere Systeme zusammenbrechen, wenn es so weiter geht. Wir müssen es schaffen, unsere Population zu begrenzen. Das ist unsere einzige Chance. Alan Weisman ist vielfach ausgezeichneter Journalist und berichtet unter anderem für das New York Time Magazine und das Discover Magazine. Für die Recherche für sein Buch „Die Welt ohne uns“ (Piper, 2007) bereiste Weisman die entlegensten Winkel und die größten Städte der Welt. Weisman lebt in Tuscon, Arizona mit Blick auf mannshohe Kakteen.

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DAMENGEDECK Illustration EKATERINA GRIZIK Frauen und Männer sind gleich. MEREDITH HAAF sagt, was fehlt.

LABERN ODER NICHT-LABERN. Neulich war Helmut Schmidt in der Stadt, zusammen mit Richard von Weizsäcker. Auf einer Theaterbühne saßen also der offiziell „coolste Deutsche“ und Der-mit-der-Befreiung, um vor einem restlos ausverkauften Auditorium ein so genanntes Stelldichein zu geben. Der Alt-Kanzler geht mit Stock und trinkt wahnsinnig viel Coca-Cola und hat Ende des Jahres seinen neunzigsten Geburtstag - vielleicht auch die Ursache dafür, dass jetzt alle zum Schmidt rennen um wenigstens eine Jahrhundertfigur auch noch mal gesehen zu haben. Richard von Weizsäcker ist natürlich ebenfalls sehr unterhaltsam. Auch ich rannte und wurde mit einer herrlichen Konstellation belohnt: Da saßen die zwei Bundesverdienstgreise in gemütlichen Sesseln und wurden von einem grauhaarigen ZEIT-Redakteur zur aktuellen Lage befragt: „Wie sehen uns die Russen, Richard von W.?“ „Wie wird die Zukunft sein, Helmut Schmidt?“ Es war also alles wie immer. Und siehe da, es regte sich ein Unbehagen in mir gegen diese Ideal-Minatur der alten P-Ordnung: Nämlich,

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die weißen Männer ohne Haarpigmente erzählen dem andächtigen Publikum was über die Welt. Dabei sind Schmidt und Weizsäcker keinesfalls deine handelsüblichen old-whiteTypen. Sondern intellektuell wirklich hervorragend. Sie sprachen auch gut und laut und alle hörten ihnen zu, als hätten sie tiefe Wahrheiten zu bieten. Doch hatten sie dies, dividierte man den Weltmannvibe mal weg, nur in eingeschränktem Maße. Worauf es ankam, war, dass sich jedes Mal, wenn Schmidt sich eine Zigarette ansteckte, wohlige Wellen der Erregung durchs Publikum schwappten. Und dass mehrere hundert Menschen Geld bezahlten, um sich ein Stückchen seiner persönlichen Analyse mit nach Hause zu

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nehmen. Um Machtkonstellationen zu klären, kann man zum Beispiel danach fragen, wer spricht. Nun ist es nicht so, dass in Deutschland nur Männer oder gar nur ältere Herren sprechen würden. Frauen äußern sich durchaus auch auf so ziemlich allen persönlichen und öffentlichen Kanälen. Es gibt aber keine bzw. höchstens eine große alte Dame, die sich dauernd zu gewichtigen Themen äußert, das ist jetzt Frau Hamm-Brücher. Und so präsent ist sie nun nicht. In 20 Jahren ist das dann Gesine Schwan – die, zumindest aktuell, wiederum so weise auch wieder nicht wirkt. Ein bisschen wenig ist das. Natürlich könnte man behaupten, es komme bei Weisheit nicht auf das Geschlecht an.


Aber Weisheit ist – zumindest wenn sie sich verkauft und zu politischen oder gesellschaftlich relevanten Themen geäußert wird – ja sozusagen auch nur ein Punkt im Wissen/Macht-Komplex. Wenn es um weibliche öffentliche Intellektuelle geht, kommt immer irgendwer mit Alice Schwarzer. Die ist zwar unbestreitbar weiblich und steht in der Öffentlichkeit, eine Intellektuelle zeichnet sich aber durch mehr aus, als dass sie sich unüberhörbar artikuliert. Und Unüberhörbarkeit erzeugt noch längst nicht offiziell anerkannte Weisheit. Das Problem ist offensichtlich, dass es keine Kategorie „Helmut Schmidt, aber in weiblich“ gibt. Man kann sie sich gar nicht vorstellen, ergo gibt es sie nicht. Vor einiger Zeit demonstrierte in meiner Stadt eine große Gruppe aus christlichen Aktivisten und Neonationalsozialisten gemeinsam gegen Abtreibungen. Ich ging hin, um zu stören. Die Gegendemonstranten, vor allem linke Aktivistinnen, hatten einen kleinen Laster dabei und hielten eine Kundgebung ab. Die erste Rednerin sah aus wie der perfekte Antifa-Cheerleader: Coole Ensslin-Brille, blonde Haare und ein ziemlich teurer Markenkapuzenpulli. Sie

ne Mutter sagte: „Er redet zwar Quatsch, aber wenigstens kann er reden.“ Ach ja, dasselbe hätte man an der ein oder anderen Stelle auch über Richard von W. sagen können. Man macht ähnliche Beobachtungen in beinahe jedem öffentlichen oder halbwegs professionellen Rahmen. Immer wieder: Männer reden auch Mist. Aber irgendwie gelingt es ihnen öfter, nicht so egal dabei zu wirken. Vielleicht haben Frauen auch immer Angst, man würde sie für Alice statt Helmut oder Richard halten, wenn sie eine positive Aussage oder eine vehemente Kritik äußern. Andererseits begegnet man, wenn man Feminismus macht, ja sehr vielen Frauen, die eine Meinung zu dem haben, was man tut. Und man begegnet

nung zu etwas. Möglicherweise geht es in der Geschlechterkritik einfach nicht mehr so sehr darum zu fragen, wer spricht, sondern warum worüber gesprochen wird. Aber darüber können wir nächstes Mal reden, ja? Jetzt erstmal Prost. Meredith Haaf ist Mitbetreiberin des feministischen Blogs http://maedchenmannschaft.net/ und Co-Autorin des Buches „Wir Alphamädchen“.

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stellte sich vor die paar hundert Leute, zog einen kleinen Zettel aus der Tasche und las im monotonen Erstsemester-Referatstyle einen Aufsatz über die Zusammenarbeit von NPD und Fundamentalchristen in Bayern vor. Es goss in Strömen und man konnte ihr nicht zuhören, wirklich nicht. Meine Mutter sagte: „Wieso sind die alle so langweilig? Früher gab es viele Frauen, die gut geredet haben.“ Später kam ein großer junger Mann – die personifizierte Anleitung zu „Wie bastele ich mir einen schwarzen Block?“ – auf die Bühne und feuerte die müden Demonstranten mal so richtig an. Mei-

mehr Frauen, die eloquent und lautstark darstellen, was ihnen missfällt und warum sie unmöglich mitmachen können, als solchen, die eloquent und lautstark sagen, was sie gut finden oder anders machen würden. Die eigene Eloquenz als Waffe für eine Sache einzusetzen, das haben seit Alice Schwarzer nämlich nur wenige Frauen auf politische Art getan. Angela Merkel sagt ja bekanntlich nie ihre Mei-

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STERBEN LERNEN NAME DER RUBRIK

Die Zeiten 채ndern sich, ewig w채hrt nichts und gestorben wird immer. Reportagen zum Ende.

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EIN LETZTES SPIEL Illustration SEBASTIAN SCHÖPSDAU Unser Autor wollte mit Menschen sprechen, die den Tod erwarten. Dafür ging er eine Woche in ein Sterbehospiz und traf dort Hans-Dieter. Von RALF HEIMANN.

Als du auf die Welt kamst, weintest du, und um dich herum freuten sich alle. Lebe so, dass, wenn du die Welt verlässt, alle weinen und du lächelst. — aus China

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Es ist nicht leicht, eine Tür zu öffnen, wenn man weiß, dass hinter dieser Tür ein Sterbender liegt. Es gibt kein intimeres Erlebnis als den Tod. Da möchte man nicht stören, da möchte man nicht eindringen in den Raum, der für diesen Moment geschaffen wurde. Aber dann öffnet man die Tür, weil man ein Essen abliefern muss und man trifft einen Menschen, der sich freut, dass man hereingekommen ist. Es war das zweite Zimmer im Hospiz, in das ich kam. Vor mir lag ein Mann, die Augen weit geöffnet, ich sah ihn zum ersten Mal. Es fiel ihm schwer, seine Hände zu bewegen. Sein Mund war leicht geöffnet, er lag zur Seite geneigt. Er schaute mich an. Er murmelte. Ich verstand ihn nicht. Ich beugte mich zu ihm herunter. Er schaute in mein Gesicht, als wollte er seine Augen sprechen lassen. Ich redete in die Stille hinein und wartete, obwohl ich keine Antwort erwarten konnte. Ein Moment zum Verzweifeln. Was kann man da tun? Es ist eine gute Gelegenheit für ein Lächeln. Wir lächelten uns an. Wir belächelten unsere Ohnmacht. Ich saß etwas verlegen da, an meinem ersten Tag im Haus Hannah. Das Haus Hannah ist das einzige stationäre Hospiz im westfälischen Kreis Steinfurt. Es ist ein Haus für zehn Menschen, die nicht mehr auf Heilung hoffen können. Eine Woche lang hatte ich

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hier mit Menschen sprechen wollen, die den Tod erwarten. Ich hatte nur eine Frage: Was bleibt vom Leben, wenn die Zukunft in Sichtweite endet? Ich hatte mir vorgestellt, in langen Gesprächen viele Fragen zu stellen. Jetzt schaute ich auf das Bett eines Mannes, dem die Kraft zu Sprechen fehlte. Der Zugang zu den Gedanken dieses Menschen war schmal. Ein laminiertes DinA4Blatt, darauf kleine Kästchen, 26 Buchstaben, alle Umlaute, die Wörter „Ja“ und „Nein“, die Anweisungen „Neues Wort“, „Bitte wiederholen“ und einige weitere. Ich nahm das Blatt vom Nachttisch und gab es ihm. Ein zittriger Finger glitt mit einigen Schwierigkeiten auf das „S“, auf das „C“, herüber zum „H“. Es vervollständigte sich das Wort Schach. Schach? Ob er Schach spielen wolle, fragte ich. Sein Kopf bewegte sich fast unmerklich. Er nickte wohl. Der erste Tag endete früh. Es war 14.30 Uhr, wir hatten nicht Schach gespielt. Der Mann war eingeschlafen. Ich hatte einer Pflegerin geholfen, eine alte Dame mit einer langen Narbe am Kopf aus dem Bett in einen Rollstuhl zu heben. Ihr war ein Gehirntumor entfernt worden, aber davon wusste sie nichts. Ich hatte einige Handgriffe am Bett eines 50-jährigen Mannes übernommen, dem ein Tumor das Essen und Trinken unmöglich machte. Die Pflegerin tauchte einen Waschlappen in ein Plastikbecken mit warmem Wasser. Der Mann stöhnte bei jedem Atemzug. Die Pflegerin drehte seinen

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Körper, um den Rücken des Mannes waschen zu können. „Was für eine Qual“, ächzte er. Neben seinem Bett stand ein Bild, das ihn zusammen mit seiner Tochter zeigt. Ein kräftiges Gesicht hinter einem fransigen Vollbart neben einer hübschen jungen Frau. Auf der Heimfahrt dachte ich an den Mann, der gelächelt hatte. Ich wunderte mich darüber, dass mir das so außergewöhnlich erschien. Man darf sich das Hospiz nicht als einen Ort vorstellen, an dem am Frühstückstisch nicht gelacht wird. Es ist vielleicht sogar ein Ort, an dem ehrlicher gelacht wird als anderswo. Es bleibt nicht mehr viel Zeit für verstellte Emotionen. Es wird auch mehr geweint an diesem Ort, weil das Glück, die letzten Momente gemeinsam zu erleben und der Schmerz, weil man Abschied nehmen muss, nah beieinander liegen. Freunde hatte mir ernst dreinschauend gesagt, wenn ich Ihnen von meiner Absicht, ins Hospiz zu gehen erzählte: „Das wird sicher schwer.“ Und das ist wohl so. Wenn es ans Sterben geht, wird es schwer. Gleichzeitig sagten die Freunde, ich möge den Text besser nicht zu schwer halten. Wer würde das lesen? Vielleicht liegt da der Grund dafür, dass Zeitungen gerne über helle Räume und pfirsichfarbene Wände im Hospiz schreiben, um das Vorurteil vom düsteren Sterbehaus zu brechen. Als könnte man dem

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Tod den Schrecken durch eine geschmackvolle Inneneinrichtung nehmen. Irgendwann an diesem Morgen tippte der Mann den Satz „Ich bin Hans-Dieter“ auf seine Tafel. Er schaute mich an und hob seine rechte Hand ganz leicht. Ich nahm sie und ließ mich damit etwas näher an diesen Menschen ziehen, als es die Pfleger tun würden. Sie können keine Sympathien verhindern, aber die Zeichen der Nähe. Das Du. Es macht den Abschied noch ein wenig schwerer, als er ohnehin schon ist. Hans-Dieter schrieb das Wort „Parkinson“ auf die Tafel. Dann den Satz: „Vor fünf Jahren konnte ich noch Bäume ausreißen.“ Damals hatte sich die Krankheit mit kleinen Zeichen angekündigt. Hans-Dieter hatte den Reißverschluss seiner Jacke nicht mehr zuziehen können. Schnürsenkel waren zum Problem geworden. Er hatte lange mit niemandem darüber gesprochen. Vielleicht nahm er die Zeichen nicht ernst, vielleicht wollte er niemandem Sorge bereiten. Er arbeitete als Erzieher und Tischler in einer Werkstatt für Behinderte. Mit den Menschen in der Werkstatt baute er Tische und Stühle, eine Wanduhr, sogar eine Brücke im Garten. In seinem Heimatdorf am Teutoburger Wald renovierte er zusammen mit seinem Bruder den Kindergarten, fast im Alleingang. Hans-Dieter war 45 Jahre alt, Vollbart, leichter Bauchansatz. Ein Mann so stabil wie die Möbel, die er baute.

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Dann begann die Krankheit, sich immer mehr von diesem Mann zu nehmen. Irgendwann stellte ein Arzt die Diagnose Multisystemathropie, kurz MSA. Eine aggressive Form der Parkinson-Erkrankung. Die Muskeln stellen nach und nach ihre Arbeit ein. Ein totaler Systemausfall. Nach der Diagnose saß Hans-Dieter auf im Krankenhaus auf einem Bett. Er schaute auf und fragte seine Frau: „Wie geht’s jetzt weiter?“ Und irgendwie ging es dann weiter, allerdings immer schlechter. Als zuletzt die Frage anstand, wie es weitergehen soll, entschied Hans-Dieter sich für das Hospiz. Er nahm eine Vitrine mit seinen Miniatur-Treckern und Landmaschinen mit auf sein Zimmer, einen Katalog mit den neuesten Modellen und ein paar Bücher über die Region am Teutoburger Wald, aus der er stammt. Auf einem Laptop hat er Fotos von seinem Garten gespeichert, wo die Bonsai-Kakteen stehen, die er gezüchtet hat. In das Regal in seinem Zimmer hat er drei gerahmte Fotos gestellt. Eines zeigt ihn mit seiner Frau und den drei Kindern. Er sitzt schon im Rollstuhl, aber er lächelt. Zuletzt hat er auch oft geweint. Die Menschen hinter den Zimmertüren im Haus Hannah sind keine glücklichen Menschen, aber es sind Menschen, die am Ende ihres Lebens wissen, was Glück bedeutet. Meistens ist Glück kleiner, als man es sich vorstellt.

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Für den Mann mit dem Foto neben dem Bett war es eine Flasche Buttermilch, die er gerne getrunken hätte. Manchmal ist schon ein so kleiner Wunsch zu groß. Hans-Dieter hatte noch ein Brot backen wollen, als er kam. Das hatte er getan. Hans-Dieter hatte in den Tagen zuvor viel geschlafen, manchmal ganze Tage lang. Auf seinem Tisch lagen Briefe von Freunden, heitere Briefe mit frohen Wünschen von Menschen, die sich ihm gegenüber genauso unsicher fühlten wie ich. Wie spricht man mit einem Menschen, dessen Gedanken permanent um den eigenen Tod kreisen müssen? Ernst, weil die Sache ernst ist? Heiter, weil das schwere Gefühl ohnehin allgegenwärtig ist? Hans-Dieter schien das Thema zu ignorieren. Seine Frau sagte halb traurig, halb resigniert, sie wisse überhaupt nicht, was in ihm vorgeht. Er verdrängte die Gewissheit mit den Requisiten des alten Lebens. Er sprach von den Landmaschinen, von den Kakteen und vom Essen. Einmal mittags reichte ich ihm die Löffel mit püriertem Gemüse. Er aß nicht mehr viel, aber diesen Teller aß er leer. Der Geschmack von püriertem Gemüse sei viel intensiver, sagte er. Ich müsse es probieren. Hans-Dieter ging es schlecht, aber er hatte genug Kraft, sein Zimmer zu verlassen. In der Küche lag ein Schachspiel. Ich sortierte die Figuren, stellte den König und die Königin falsch auf und wurde von Hans-Dieter korrigiert. Er saß in einem Rollstuhl am

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Küchentisch, setzte einen weißen Bauern zwei Felder nach vorne und warf dabei zwei andere Bauern um. Bei jedem Zug fiel etwas um, aber er ertrug sein Unvermögen mit einer enormen Geduld, manchmal gar mit Humor. Einmal schrieb er auf seine Tafel. „Ich wollte gerade zum Angriff blasen. Jetzt stehe ich mir selbst im Weg.“ Es dauert fünf Sekunden, diesen Satz auszusprechen. Als ich ihn verstanden hatte, war fast eine halbe Stunde vergangen. Er muss sich gefühlt haben wie hinter einer Glaswand. Ich hatte lange am Bett dieses Mannes gesessen, aber wirklich gesprochen hatten wir nicht. Ich hätte ihn gerne gefragt, aber ich konnte ihn nur beobachten. Ich sah einen Mann, der sich am Leben festhielt wie an einem Seil. Oben begann das Seil zu reißen, aber da war noch die Hoffnung, also schaute Hans-Dieter nach unten. Er hatte Pläne bis zum Ende des Jahres. Jeder Plan eine Hoffnung. Wir wollten noch einmal Schach spielen an meinem letzten Tag. Mit dem letzten Zug würde auch unsere Begegnung enden. Ich würde ihn nicht wiedersehen. Was sollte ich sagen? Ich machte es mir leicht und versprach, in der Woche darauf für eine weitere Partie Schach zurückzukommen, aber an diesem Tag war Hans-Dieter zu müde zum

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Spielen. Ich winkte, als ich ging. Hans-Dieters Augen waren fast zugefallen. „Freitag“, sagte ich. Dann wollten wir spielen, aber schon am Donnerstagabend klingelte gegen neun mein Telefon. Eine Pflegerin sagte den Termin ab. „Er macht sich langsam auf den Weg“, sagte sie. Als ich am Donnerstagabend zu Bett ging, schlief Hans-Dieter ein.

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Ich bin aus Neapel gebürtig, erzählte er mir. Dort kapaunt man alljährlich zwei- bis dreitausend Knäblein. Manche sterben daran,

Aufgewachsen im persischen Armenien wird im Kindesalter einer Prozedur unterzogen, die nur ein Viertel der Jungen überlebt. Narses wird kastriert.

die anderen bekommen dadurch eine Stimme, die weit schöner ist, als jede Frauenstimme, wieder andere lenken später die Geschicke der Staaten. (Voltaire, Candide)

Von der frühen Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein spielen Eunuchen wichtige Rollen im Weltgeschehen – und zwar nahezu in allen bekannten Kulturen. Was als grausame Strafe gegenüber besiegten Feinden begann, später Teil religiöser Kulte wurde (wie die entmannten Priester des Kybele-Kults) wandelte sich bald zu einem Wirtschaftszweig. In der westlichen Hemisphäre entstanden ganze Kastrationszentren – übrigens vorwiegend in christlich-koptischen Klöstern. Junge Kastraten erzielten Höchst-

VERGANGENHEITSBEWÄLTIGUNG Illustration ANNA CARINA JASS Alles war schon mal da. PHILIPP MATTHEIS erinnert.

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GANZE MÄNNER Zwei Männer kämpfen in der Mitte des 6. Jahrhunderts um die Gunst des oströmischen Kaisers Justinian. Der eine, Belisar, hat 533 nach Christus das Vandalenreich in Nordafrika vernichtet und kämpft seit Jahren in Oberitalien erfolglos gegen die Ostgoten. Belisar wird schließlich an die Ostgrenze des Reiches abberufen. Den entscheidenden Sieg über die Barbaren erringt sein Rivale Narses. 552 errichtet er die römische Herrschaft in Italien wieder und zieht im Triumph in Rom ein. Doch Narses ist kein Mann, zumindest kein ganzer. Narses ist ein Eunuch.

preise auf den Sklavenmärkten der Antike und des Mittelalters. In Byzanz nahmen Eunuchen wichtige Stellen im Staatsapparat ein und gelangten teilweise in den Rang eines Ministers. Der Grund: Sie stellten keine Gefahr für die Thronfolge dar und wurden nicht als biologische Rivalen wahrgenommen. Vor allem letzteres machte die Kastraten im muslimischen und ostasiatischen Raum zu den einzigen männlichen Wesen, die Zutritt zum Harem des Herrschers hatten. In Verbotenen Stadt in Peking lebten zu den Hochzeiten über tausend Eunuchen am Hof. Der berühmteste von ihnen war Zheng He. Er wurde 1371 im südlichen China geboren. Seine Familie war muslimisch. Mit 13 Jahren wurde er

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kastriert und trat in die Dienste des späteren Ming-Kaisers Yong Le. Zheng He war eine imposante Erscheinung. Quellen berichten, er sei zwei Meter groß gewesen sein, was bei einer Kastration vor Beendigung des Wachstums nicht ungewöhnlich ist. Zheng He wurde in einer einzigartigen Epoche geboren, nämlich in der kurzen Zeit, in der das chinesische Kaiserreich eine Hochseeflotte besaß, bevor es sich für Jahrhunderte der Welt verschloss. Zheng He wurde Admiral des Kaisers und unternahm mehrere Schiffsreisen nach Indonesien, Indien, Persien und sogar nach Ostafrika. Seine Flotte bestand aus 62 Schiffen mit einer Besatzung von über 20.000 Mann. Zheng He soll auf seinen Reisen – wie alle chine-

Ekstase versetzte. Philipp V., König von Spanien, war von seiner Stimme so angetan, dass er Farinelli verpflichtete, ihm jeden Abend zum Einschlafen vorzusingen. Farinelli sang – zehn Jahre lang immer wieder dieselben sechs Lieder. Der letzte chinesische Eunuch starb 1996. Sein Leben ist in dem Buch „Sun Yaoting: Der letzte Eunuch des Kaisers Pu-Yi“ festgehalten. Heute weiß man von Eunuchen nur noch in Indien: Die Hijras sind eine eigene Kaste von fast 1,5 Millionen Männern, von denen acht Prozent rituell kastriert sind. Ihren Lebensunterhalt verdienen die als „drittes Geschlecht“ erachteten mit Segnungen und Prostitution.

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sischen Eunuchen – eine Schatulle mit seinen Geschlechtsteilen mit sich geführt haben, um im Jenseits wieder zu einem ganzen Mann zu werden. Die Kastration war eigentlich im Christentum (ähnlich wie im Judentum, wo sogar die Kastration von Tieren untersagt ist) seit dem Jahr 325 verboten. Eunuchen durften zwar getauft werden, doch Männer, die sich freiwillig kastrieren ließen, war eine Karriere im Klerus nicht gestattet. Allzu genau nahm man es mit dem Verbot jedoch nicht: Im Europa des Neuzeit wurden Jungen kastriert, um ihre hohen Knabenstimmen zu erhalten. Der bekannteste Sänger war Farinelli, der von 1705 bis 1782 die Opernhäuser in

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STADT im Bild: aus der Reeperbahn nachts nach halb eins. Fotografien EKATERINA GRIZIK.

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FLIEGEN. Laut genug, dass man sie hören kann, aber leise genug, dass man sie nicht hören muss, dudeln langweilige Jazz-Bläser durch die Kabine. „Habt keine Angst!“, singen sie allen, die Angst haben. Für alle anderen sind sie so nebensächlich wie der Tod. Die Maschine setzt zurück. Eine Flugbegleiterin simuliert lächelnd den Gebrauch der Sauerstoffmasken. Die Maschine bremst, der Flügel wackelt, schwer von

leicht bekleidete Frau. Die Maschine rollt an. Der Araber da vorne hat die Augen geschlossen. Die Maschine hält. Ob er betet? Der erste Offizier macht eine Durchsage. Er hat alles im Griff. Auch das Wetter. Triebwerke. Noch eine vor uns. Soso. In der Zeitschrift kauft ein Typ auf einem Markt ein. Anscheinend ein berühmter Fernsehkoch. Die Maschine rollt an. Er ist irgendwo zwischen Thailand und Laos. Die Maschine hält. Ich hasse Kochsendungen. Die Triebwerke der Maschine vor uns brüllen auf. Ich hasse Kochsendungen. Wir machen eine Kurve auf die Startbahn. Der Boden ist schwarz von Gummi. WIR SIND IN POSITION. Ich hasse Kochsendungen.

fängt, um sich zu beruhigen, Arschloch, bist wohl cooler als ich, was?, bist wohl zu blöd um dir vorzustellen, was mit uns passiert wenn hier eine kleine Schraube fehlt, willst es dir nicht vorstellen, dass nichts von all dem was du jemals gesehen, gespürt, gesagt und gedacht hast, nichts von allem was du gewesen bist und hättest werden können übrig bleibt, wenn du verglühst, pulverisiert wirst, verschmolzen, Haut mit Hirn, Augen mit Händen, Du mit Darminhalt... ICH VERLIERE DEN BODEN UNTER DEN FÜSSEN. Als wir eine Stunde und zwanzig Minuten später wieder gelandet sind, atme ich durch und sehe aus dem Fenster. Nach einer Weile sind wir am Gate, ich warte

SELBSTBESCHRÄNKUNG Illustration EKATERINA GRIZIK. Jeder Mensch ist frei. HEINZ HELLE sucht Grenzen.

Kerosin. Tonnenweise sitzt es da vor meinem Fenster und erwartet seine kontrollierte Sprengung. ICH SCHNALLE MICH AN. Lange fahren wir an immer gleichen Flughafengebäuden entlang. Irgendwann dann eine Kurve in Richtung Startbahn, vermutlich. Man sieht ja nichts. Doch, jetzt: Noch drei Maschinen vor uns. Ich bin ruhig. Konzentriert sehe ich auf meine Zeitung. Einige Buchstaben sind größer als andere. In der Tasche des Vordersitzes finde ich eine Zeitschrift der Fluglinie. In einiger Entfernung brüllen Triebwerke auf. Der Titel ist bunt. Noch zwei Flugzeuge. Ich hab vergessen, den Film zurück zu bringen, Mist. War irgendwie langweilig. In der Zeitschrift ist eine

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Dieter Bohlen hasse ich auch, komisch, die Leute hier wissen ganz genau, dass vor ein paar Wochen eine Maschine beim Start verbrannt ist, hier in Europa, wegen irgendeiner Lappalie, einer nicht ausgefahrenen Landeklappe oder so, aber es interessiert keinen, unsere Triebwerke brüllen auf, die Wartungsvorschriften sind bestimmt nicht so streng da drüben wie hier bei uns, volle Schubkraft, wir starten, aha, vier Minuten zu spät, ich muss unbedingt die Getränkekästen aus der Abstellkammer, Schwachsinn, blöde, sinnlose Gedankenfetzen, die zu Ende zu formulieren keine Zeit, ich hasse den Lärm, den Geruch, den dicken Typen im Sitz neben mir, seine Frau, seine Mutter, sein Leben, das Gespräch, das er nicht mit mir an-

noch ein wenig, dann stehe ich auf. Winke den Herrn von gegenüber durch, prüfe, ob ich nichts vergessen habe und drehe mich nochmal zu meinem Sitznachbarn um: „Tschüß! Alles Gute.“ Ich bin froh, am Leben zu sein. Aber ich verrate es nicht.

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IMPRESSUM NAME DER RUBRIK

Herausgeber

Philipp Mattheis, Ekaterina Grizik

Inhalt

Christoph Gurk, Meredith Haaf, Ralf Heimann, Heinz Helle, Philipp Mattheis, Adrian Renner, Gordon Repinski, Katharina Wulffius

Kreation

Ekaterina Grizik

Programmierung

Bernhard Slawik

Illustration/Gestaltung

Eva Boltz, Michael Fritz (www.herr-fritz.de), Veerle Hildebrandt (www.hildebrandt.be), Anna Jass, Sebastian Schรถpsdau

Internet

www.daheim-magazin.com

Email

redaktion@daheim-magazin.de, kreation@daheim-magazin.de, abo@daheim-magazin.de

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