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100 Jahre im Schatten des „Wunders” an

100 Jahre im Schatten des „Wunders” an der Weichsel

Die Rückkehr Polens auf die Karten Europas war kein augenblickliches Ereignis: Die neue Polnische Republik brauchte fast 3 Jahre, um ihre Grenzen zu erkämpfen und diplomatisch zu festigen.

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2018 feierten wir den 100-jährigen Jahrestag der Wiedererlangung polnischer Unabhängigkeit, das Jahr 2020 ist das Jahr eines weiteren hundertjährigen Jubiläums, gefeiert wird ein Ereignis, dass sowohl das Schicksal Polens als auch des gesamten Europas wesentlich beeinflusste. Die Rede ist von der Schlacht bei Warschau. Gründe für die Bedeutsamkeit dieses Jahrestages sind vielfältig – abgesehen davon, dass er „rund” ist, muss man sich dessen bewusst werden, dass es der einzige Sieg im Kampf um den Grenzverlauf war, der im Gegensatz zum Posener Aufstand und den Anschluss Mittellitauens und Vilnius eine gesamtpolnische Bedeutung hatte. Das Feiern und die Erinnerung an den hundertjährigen Jahrestag des Sieges über die Sowjets gehört zu den wichtigen Verbindungselementen, die eine Kontinuität zwischen den unabhängigen Republiken: der Zweiten und der Dritten Republik Polen herstellen. Die Bedeutung des Jahrestages der Kämpfe um Warschau 1920 und die Erinnerung an ihre Helden ist umso wichtiger, da es keine Augenzeugen dieser Ereignisse mehr gibt. Der letzte Kriegsveteran des polnisch-sowjetischen Krieges, Kapitän Józef Kowalski aus Wicyń in Podolien starb 2013 im ehrwürdigen Alter von 113 Jahren. Bei der Analyse der Ereignisse des Jahres 1920 sind wir daher auf schriftliche Quellen und Arbeiten zu diesem Thema angewiesen. Die Schlacht bei Warschau ist dennoch keine rein polnische oder osteuropäische Angelegenheit – der britische Diplomat Lord D’Abernon setzte sie auf die Liste der 18 großen, das Schicksal Europas und der Welt verändernden Schlachten.

Um die Tragweite der Schlacht bei Warschau zu verstehen, muss man um einige Jahre zurückgehen und einen Blick auf die beiden neuentstandenen Staaten – die Republik Polen und die Sowjetunion, die paradoxerweise viel gemeinsam hatten, werfen. Die Gemeinsamkeiten zwischen den als neue politische Wesen auf der Landkarte Europas erschienenen Ländern betreffen weder das politische System noch die Unterdrückung der eigenen Staatsbürger. Polen wurde nach 123 Jahren der Sklaverei und Teilung durch drei Teilungsmächte wiedergeboren; die Sowjetunion entstand auf den Ruinen des Russischen Imperiums, auf den Bruchstücken, für deren Entstehung die bolschewistischen Machthaber während beider Revolutionen – der Februar- und der Oktoberrevolution im hohen Maße selbst verantwortlich waren. Beide Länder versuchten, ihre Grenzen zu festigen – wir dürfen nicht außer Acht lassen, dass der Ausbruch des polnisch-sowjetischen Krieges auf stürmische Zeiten im Osten fiel. Nach dem Rückzug der deutschen Armee aus Regionen, die der Sowjetunion aufgrund des Friedensvertrags von Brest-Litowsk aus März 1918 zugesprochen wurden, kämpften im Februar 1919 auf dem Gebiet des heutigen Weißrusslands, der Ukraine und Litauens zahlreiche bewaffnete Gruppen – Polen, Kommunisten (die Roten), zahlreiche russische antikommunistische Kräfte (die Weißen), Litauer, Ukrainer: Józef Piłsudski stellte kurz vor der Friedenskonferenz in Paris zutreffend fest: „Im Osten gibt es eine Tür, die je nachdem, wer sie gewaltsam weit aufmacht, auf- und zugeht“.

Mit diesem einzigen Satz kann man bereits auf den ersten Blick feststellen, dass die Angelegenheit der polnischen Ostgrenze während der Konferenz in Paris aus einer möglichst guten Verhandlungsposition behandelt werden sollte. Die Tatsache, dass Teile des ehemaligen Großfürstentums Litauen für die Republik Polen unentbehrlich waren – vor 100 Jahren waren sie für die politische Elite des Landes und ein Großteil der Bevölkerung ein integrer Teil des wiederaufstehenden Landes, darf nicht vergessen werden. Für konservative Politiker war die Rückkehr Polens in Grenzen von 1772 auf die Weltkarte eine „Conditio sine qua non“. Diese Teile waren ihrer Meinung nach vor allem mit der Zivilisationsmission, die die Polen in dieser Region durchführen mussten, verbunden. In der Praxis bedeutete diese „Mission“ Zwangspolonisierung der örtlichen Bevölkerung, Kolonisation durch polnische Siedler und repressives Regierungsmodell in der Region. Die Piłsudski nahestehenden pragmatischen Politiker wollten der Vision des Marschalls entsprechend, im Osten eine Pufferzone aus einer Föderation von unabhängigen Staaten einrichten, die Polen von der Sowjetunion trennen würde. Strategische und militärische Gründe sprachen dafür, sich möglichst wirksam von dem russischen Bären zu trennen - einen Bären, der seit Jahrhunderten eine Gefahr für Polen darstellte. Dieser Bär wurde von den Bewohnern Polens sowohl respektiert als auch befürchtet. Teilweise wurde er verpönt, wodurch sich die

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