startausgabe 1 Köln
Mensch Magazin über persönlichkeit
Foto: Andy Kassier
Mensch magazin über1 persönlichkeit Leute
Köln
+++ st arta
usgabe
+Steve bl ame Interview + 5 e u ro +
+++
5 Inhalt
mensch – ausgabe 1 sarah hartgens Make-Up für Pornos Egal wie viel die bieten, mach das nicht!
10
Steve Blame moderator Mit MTV bin ich bis zum Tod verbunden
14
HD Moll gastronom Ich verbinde Gastronomie mit Kunst
34
johanna koch Friseurin Ich will meine Leidenschaft leben
36
roland schmitz veranstalter Große Clubs in Köln funktionieren nicht
42
lotta boers studentin Ballett kann mich fesseln
44
kaan bulak musiker Ich kann nicht auf Deutsch singen
48
jaclyn le designerin Das Leben in Köln ist wie in L.A.
50
portfolio gregory bojorquez Streets of Los Angeles
20
text thorsten krämer Albert Toriks Schule des Scheiterns.
52
Rubriken Klassiker Der perfekte Sessel persönlichkeit Dirty Beaches Soundtrack King Georg am anfang war … Resonanz planet Ehrenfeld köln Brüsseler Platz
12 18 32 40 56 58
Impressum Herausgeber Backwash Independent Verlag UG, Bismarckstr. 42, 50672 Köln,
info@mensch-magazin.de, www.mensch-magazin.de Verantwortlich Cengiz Tüylü, Geschäftsführer Backwash Independent Verlag UG Redaktion Freia Stack Fotografie Niklas Krauthäuser Creative Director Pascal Schöning Anzeigen Christopher Mensah-Bonsu, info@mensch-magazin.de mitarbeiter dieser Ausgabe Christian Faustus, Jens-Martin Haberland, Stefan Hilger, Andy Kassier, Thorsten Krämer, Alex Lücke, Ulf Blanken-
hagen, Dirk Schmidt, Bene Taschen, Maike Witkamp, Nina Zimmermann Redaktionsschluss 15.03.2012 Mensch im Internet www.mensch-magazin.de
6 mitarBEitEr
BENE taSchEN, 24, KUNSthäNdlEr. Der 24-jährige Kunsthändler
hat nach der Schule zunächst seinen Zivildienst absolviert. Danach zog es ihn für einige Zeit nach Los Angeles, wo er in der Gastronomie tätig war. Als sein Studium der Sozialwissenschaften nicht das war, was er sich erhofft hatte, gründetet er im September 2011 seine Projekt-Galerie Hardhitta. Für die erste Ausgabe der MENSCH stellte er Bilder der Ausstellung „Streets of L.A.“ zur Verfügung.
NiKlaS KraUthäUSEr, 28, FotoGraF. Niklas hat fünf Jahre in der
Werbebranche, zuletzt als Artdirector mit dem Schwerpunkt Bildgestaltung und -bearbeitung, gearbeitet. Seine Leidenschaft ist die Fotografie im analogen Mittelformat. Dabei liegt sein Hauptaugenmerk auf Menschen. Ihre Lebensmodelle und Interessen sind die Impulse zu den Portraits von MENSCH. Er möchte mit ihnen vor allem Echtheit und Entschleunigung zum Ausdruck bringen. Jens-Martin Haberland unterstützt ihn bei der Arbeit für MENSCH als Assistent.
thorStEN KrämEr, 41, aUtor. Er veröffentlichte bislang mehrere Einzeltitel, unter anderem den Roman „Neue Musik aus Japan“ und im Sommer 2011 „Der graue Cardigan“. 2012 erscheint im Rahmen des Projektes „krämer‘s monthly“ jeden Monat ein kleiner Band mit neuen Texten - Prosa, Lyrik, Essay. Außerdem zahlreiche Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien sowie Arbeiten für den Rundfunk. Für seine literarische Arbeit wurde ihm unter anderem der Förderpreis Literatur des Landes NordrheinWestfalen und das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium der Stadt Köln zugesprochen. Thorsten Krämer ist verheiratet und hat zwei Kinder. Mehr Informationen unter www.thorstenkraemer.de
StEFaN hilGEr, 31, iNFormatiKEr UNd mEdiENGEStaltEr. Der 31-jährige Kölner hat eine Ausbildung zum Informatiker und Mediengestalter hinter sich. Zurzeit arbeitet er für eine Werbeagentur in Bonn und ist zuständig für das Programmieren und Gestalten von Webseiten und OnlineWerbemitteln. Er ist Hauptverantwortlicher für die Programmierung und Gestaltung des Internetauftritts von MENSCH.
7 Leute
Sina
Silvester in Berlin SchĂśnefeld: Sina hat eine groĂ&#x;e Party bei sich zu Hause gegeben. Abschluss ist ein Feuerwerk vor dem Haus. Foto: Andy Kassier
8 licht aus
Foto: Andy Kassier
9 licht aus
10 persönlichkeit
Sarah beschreibt sich selbst als eine Person, die sich mit „Schönheit, Farben, Formen und Lichteinfall“ beschäftigt.
11 persönlichkeit
„Egal wie viel die bieten, mach das nicht!“ Sarah H ar t g e n s , M a k e - u p f ü r P o r n o s , 2 3
M
it leicht rauchiger Stimme und Kupfer gefärbten Haaren sitzt Sarah Hartgens, Make-up-Artistin aus Köln, mit uns im Café Goldmund. Bei einem Michkaffee und einer selbst gedrehten Zigarette stellt sie sich unseren Fragen zu unmoralischen Angeboten und warum Lippenstift beim Porno-Dreh unerwünscht ist.
Wie kommt man als Make-up Artist zum Porno? Über Kontakte? Durch Zufall?
Ja, eine ehemalige Dozentin von meiner Akademie, auf der ich war, die wohnt, wenn sie mal in Berlin ist, in Düsseldorf, in so einem alten Industriehaus, wo relativ oft gedreht wird, weil da einfach tolle, riesige Loft-Wohnungen sind, mit relativ lockeren Leuten, die da auch wohnen und die Lofts für sowas vermieten. Und normalerweise hat die das hin und wieder mal für die gemacht, die konnte nicht, hat mich angerufen und gefragt. Sie hat mir gar nicht gesagt, worum es geht. Sie meinte nur, es sei ein spezieller Job. Und dann hab ich mit dem Produzenten geredet, der hat mir dann erklärt, worum es geht. Meine erste Frage war, ob ich denn auch alles schminken muss oder nur das Gesicht. Ich musste nur das Gesicht schminken. Also Body-Make-up fragen die mal, ob ich irgendwas abpudern kann oder so. Das hab ich schon mal gemacht, aber das gehört nicht zu meinem Aufgabenfeld eigentlich.
halt auch blöd aussehen kann. Also ich betone meistens schon eher die Augen. Ich sprech das eigentlich immer mit den Darstellerinnen ab, wie die aussehen wollen, außer es gibt ein Thema. Wir hatten letztens so einen 70er-Jahre Film, da war natürlich klar, wie die auszusehen haben. Da hab ich dann Perücken und Haarteile rangeschafft. Es ist schon aufwändiger, als man denkt. Also pro Darstellerin brauch ich so, wenn es was ganz normales ist, eine Stunde, sonst auch mal gerne bis zu zwei. Wenn ich wirklich Haarteile einflechten muss oder so. Also da wird wirklich auch Wert drauf gelegt. Die Darstellerinnen fühlen sich viel wohler, wenn sie gut zurechtgemacht sind und das spiegelt sich dann auch in der Szene wieder. Ich hab auch mittlerweile, wo ich das fast anderthalb Jahre mache, einen guten Draht zu den meisten, das sind ja auch oft die gleichen. Es gibt ja auch nicht mehr so viele Darstellerinnen. Also ist das schon eher ein kleiner Kreis?
(hält ihre Hand unterhalb des Halses) Bis hier, Portrait!
Es ist schon familiär geworden. Mit einigen habe ich mich auch so schon getroffen. Und es ist eigentlich viel familiärer und kuscheliger als man sich das vielleicht vorstellt. Also es nicht so, dass da nicht manchmal die Atmosphäre auch sexuell aufgeladen ist. Gerade wenn zwei Darsteller sich treffen, die noch nicht miteinander gedreht haben. Die dann halt wissen, so in einer halben Stunde haben wir eine Szene miteinander. Die Spannung ist schon da. Dann gibt es auch durchaus mal Streit. Es gibt ganz viele Darsteller, die aus Prinzip nicht mit einem bestimmten anderen drehen. Dann gibt es viele Paare.
Worauf musst du achten, wenn du Pornodarsteller schminkst?
Fällt dir irgendwas total Skurriles ein, was du mal erlebt hast am Set?
Unterschiedlich. Einerseits muss das Make-up ziemlich resistent sein, aber es gibt durchaus Produktionen, wo es gewollt ist, dass es schnell runtergerockt ist. Lippenstift ist eigentlich eher unerwünscht.
Es gibt Vieles. (Lacht) Wir haben mal in der Nähe von Hannover gedreht, den Ort nenne ich jetzt mal nicht, da wohnen nur so zwanzig Leute, und da gab es einen riesigen Garten mit einer Terrasse. Und in dem Garten waren Gänse. Die eine Darstellerin kam raus und sagte: ‚Oh guck mal, Enten!‘ Die Zweite kam hinterher und sagt: ‚Ach Quatsch, das sind doch keine Enten. Das sind
Also du musst eigentlich nur …
Echt, wieso? Hätte ich jetzt gar nicht erwartet.
Ja, weil es halt einfach schnell weg ist. Und dann
Schwäne!‘ (Lacht) Also so viel zu dem Thema Pornodarstellerinnen, es gibt einige, die wirklich richtig was draufhaben, aber es wird auch das ein oder andere Klischee bestätigt. Würdest du sagen, dass du versuchst, immer einen gesunden Abstand zu der Branche zu behalten oder fühlst du dich schon als richtiger Teil dieser Familie?
Ich glaub, ich hab das am Anfang wirklich versucht. Aber ich versteh mich mit einigen Leuten wirklich sehr, sehr gut und dadurch ist dann auch ein privater Kontakt zustande gekommen. Man ist als Maske, egal wo man arbeitet, auch immer so ein bisschen Kummerkasten. Weil die Leute da viel Zeit verbringen und entspannen, das heißt ich krieg dadurch extrem viel hintergründig mit, was ich dann an andere Leute auch nicht weitertragen darf, was manchmal schwer ist (lacht). Ja, ich glaub, ich bin da schon sehr emotional involviert, in die Sache. Hast du mal in deinem privaten Umfeld gemerkt, dass Leute komisch reagieren, wenn du denen erzählst, was du machst?
(Schüttelt den Kopf, stellt die Kaffeetasse ab.) Eigentlich finden es immer alle sau-interessant. Löchern mit Fragen. Meine Mutter fand es am Anfang nicht so toll, die hatte glaub ich ein bisschen Angst, dass ich da in irgendwas reingezogen werde. Wo du am Ende vielleicht sogar selbst vor der Kamera landest?
Ja, zum Beispiel, das hat sie gesagt. ‚Egal wie viel die dir bieten, mach das nicht!‘ (Lacht) Aber das wäre für dich auch kein Thema, oder?
Nein, der Reiz ist überhaupt nicht da. Das Angebot kam mehrfach, von Harry S. Morgan damals noch, ich wollte es aber nie. Und muss auch nicht sein. Reicht mir, wenn ich da so involviert bin, wie ich das mache. www.sarah-hartgens.com
14 persönlichkeit
„Mit MTV bin ich bis zum Tod verbunden“ S t e v e B la me , A u t o r u n d mt v - u r g e st e i n , 5 3 J a h r e
15 persönlichkeit
S
teve Blame – der Mann, der MTV nach Europa brachte und alle großen Stars von Madonna über Elton John bis hin zum Dalai Lama und Michael Gorbatschow interviewt hat. Heute lebt er in Köln, schreibt Bücher und TV-Programme und hat gar nicht mehr so viel mit dem Partytier von einst gemeinsam. Im Hallmackenreuther haben wir den sympathischen Briten getroffen und mit Fragen gelöchert: Vermisst er sein altes Partyleben? Welche Begegnung wird er nie vergessen? Wäre das Dschungel-Camp eine Option? Interviews mit dir fangen immer mit „der Steve von MTV“ an…
Ja, das ist Bullshit für mich, weil es so lange her ist! Ich finde das immer ein bisschen komisch, aber natürlich, you know, ich bin mit MTV bis zum Tode verbunden, yeah. Wenn du dich selber jetzt vorstellen würdest, wie würdest du das denn machen?
Oh GOTT lacht! Ja, wenn ich mich … Ich mach das zweimal, weil, wenn ich mich beruflich vorstellen würde, würde ich sagen, dass ich Autor bin – wirklich wichtig in meinem Leben ist, zu schreiben, egal ob es ein Artikel ist oder ein Buch, oder Drehbücher. Denn ich lerne immer was Neues über mich selber, wenn ich schreibe. Aber wenn ich mich persönlich mit anderen Fähigkeiten oder Qualitäten irgendwie vorstellen müsste, würde ich eigentlich sagen, dass ich, yeah, eine sehr gute Person bin, denke ich … bin überhaupt nicht bodenständig, aber … (lacht). Ich bin gut zu meinen Freunden, ich versuche immer, meinen Freunden zu helfen und unterstütze sie in ihren Träumen. Und ich denke, das ist wahrscheinlich, was besonders an mir ist. Und deine Freunde, sind das Leute, die du von früher kennst, die berühmt sind, oder sind das ganz normale …?
Ach, ich kenne gar keine berühmten Leute. Es war mein Job, Leute zu interviewen, aber nicht persönlich kennenzulernen. Und diese Leute, ich fand die interessant, und es ist auch ein Teil von mir, weil ich denke, wir sind alle ein bisschen schräg, wenn man weltbekannte Leute wie Madonna beschreibt, dann weiß jeder, dass sie auch ein bisschen komisch ist, ist auch nicht so normal, in dem Sinne, was wir als normal empfinden. Und ich find, wenn man ein Interview macht, ist das ein Interview, ich bin der Interviewer, sitze da, frage was usw. Aber ich muss auch die Distanz haben, ein gutes Interview zu machen, das bedeutet, ich könnte nicht wirklich befreundet sein mit Leuten, die ich interviewe, das geht nicht… Ok, aber man kann ja schon sagen, dass du Berühmtheit erlangt hast, durch deine Sendung bei MTV? EX-MTV-Star Steve Blame vor der Tür des Sixpack auf der Aachener Straße.
Ja, das habe ich, damals. Yeah, ok, ich hab ja von MTV meine Bekanntheit oder Berühmtheit oder wie es heißt, natürlich. Wenn man ständig im Fernsehen ist, dann kriegt man das …
16 persönlichkeit
„Ich habe es genossen, dass ich drogen umsonst bekommen hab“
Vermisst du dieses Gefühl jetzt? Oder konntest du das überhaupt damals genießen?
Genossen in dem Sinne, ok, ich vermisse das, wenn ich irgendwie in einer Schlange stehen müssen vor irgendeinem Club-Tor, aber dann gehe ich nicht mehr rein (lacht), oder wenn ich nicht auf der Gästeliste bin, oder, ich weiß nicht! Ich meine, damals ich habe das genossen in dem Sinne, dass ich alle mögliche Drogen umsonst bekommen hab, ich habe Getränke bekommen und Sex mit Leuten gehabt, die eigentlich nicht Sex mit mir haben wollten, na ja das ist vielleicht ein bisschen zu viel, aber es hat viele Türen geöffnet, in jeder Hinsicht (lacht). Dann würdest du auch sagen, für damals war das ok, aber du vermisst es auch nicht unbedingt?
Nee, ich bin ein anderer Mensch heutzutage und ich glaube, das ist vorbei. Ich glaube, dass jeder irgendwie wie eine Katze ist, die irgendwie manchmal gestreichelt werden muss, und es ist nett, wenn Leute was Nettes sagen, aber ich brauch das nicht mehr. Was hast du gemacht, um Aufmerksamkeit zu kriegen?
Ich war ständig draußen. Sieben Jahre lang in Nightclubs unterwegs. Und ich war fast nie allein, in diesen sieben Jahren, yeah. Ursprünglich hast du hast was ganz anderes studiert!
Öhm, yeah, am Anfang habe ich was ganz anderes studiert, als ich jung war, ich habe Mathematik und Physik studiert an der Uni. Wie warst du denn als Teenie, warst du eher so ein Mathe-Nerd?
Nee, Nerd, ja weiß ich nicht, Nerd?! Hab nicht wirklich darüber nachgedacht! Ich war in einer Schule, die auf „Sciences“ spezialisiert war, ich glaube deswegen, weil ich gar keine Chance hatte, Kunst zu studieren oder Literatur usw. … niemand hat das gemacht. Haben deine Eltern das so geplant für dich, dass du wissenschaftlich was machst?
Nee, oh Gott, meine Eltern. Ich komme aus einer Familie, wo niemand studiert hat. Insofern, you know, es war eine ganz andere Zeit. Mein Vater konnte nicht lesen und meine Mutter hat immer Druck gemacht, dass wir in eine gute Schule gehen. So, es war für die auch ungewöhnlich und die wussten nicht, was das wirklich bedeutet. Dass ich zur Universität gegangen bin war eine ganz andere Welt, und ich kannte damals auch niemanden, der zur Universität gegangen ist. Und wie bist du dann zu MTV gekommen, wie kann man sich das vorstellen, gab es ein Casting oder wie bist du überhaupt auf die Idee gekommen, dich da zu melden?
17 persönlichkeit
Yeah, nach der Universitätszeit habe ich denn einige Jobs in England gehabt und dann einige in London bei British Telecom – wie Deutsche Telekom – öhm, ganz langweilige Jobs, ich habe da in der Computer-Abteilung gearbeitet. Und dann nach drei Monaten habe ich gedacht, dass ist nicht mein Ding, und ich war eigentlich ständig in den trendy Nightclubs, und ich hab mir gedacht, ok, mach vielleicht was anderes. Und so habe ich mich für einen Kurs als Radio-DJ beworben, und die haben mich angerufen und gesagt: „Du bist zu intelligent, um als Radio-DJ zu arbeiten!“ Ist das nicht geil?! (Lacht) Hab jetzt die ganzen Radio-DJs beleidigt, gut! Das macht nix, werden die überleben…
Ich habe dann einen Radio-Journalismus-Kurs gemacht, und das hat mich wirklich interessiert, weil ich habe Leute interviewt. Und irgendwann rief ein Freund von mir an und sagte: „MTV kommt nach Europa“, und ich wusste nicht, was MTV war. Ich habe ein bisschen Recherche gemacht, was MTV damals war, weil damals hatten wir gar kein MTV in England. Und yeah, ich habe mich beworben, und die haben mich interviewt als Researcher, als jemand ,der Recherche macht. Und, öhm, die haben jedem einen Screentest gegeben – jeder, der da angefangen hat, also auch dem Chef, es war wirklich interessant – und dann habe ich dieser Screentest gemacht, und die waren Amerikaner, und ich habe das gehört, als ich fertig war, hab ich gehört, dass sie meinten: „Er ist total englisch.“ In dem Sinne ‚eccentric‘, – ‚ekzentrisch‘ – ich denke, ich war nur für Amerikaner ekzentrisch. Die haben auch in den Pausen des Screentests die Kamera laufen lassen, und während dieser Pause habe ich den Tisch geputzt, getanzt, ich hab alle bescheuerten Dinge der Welt gemacht, weil ich nervös war. Und die haben mich genommen wegen meinen bescheuerten Dingen. Zwei Tage vor dem Start war ich mit meinem neuen Chef unterwegs, und als wir durch die Straßen liefen in Camden, hat er über jede Frau gesagt, die vorbeilief, er würde sie ficken. Und dann kommt ein Typ und dann hab ich gesagt: „Yeah, den würd ich ficken“. Danach gab es ein Meeting, ob man schwul sein darf bei MTV – und das war zwei Tage vor dem Sendeanfang und ich hab mir gedacht, ok ich habe keinen Job mehr. Was wirklich interessant war, die hatten eine Pressesprecherin aus Österreich, und während dem Termin hat sie gesagt: „Jeder Moderator in Europa ist schwul!“ Und einer von den Amerikanern hat gesagt: „Echt, stimmt das?“ Und sie sagte: „Ja, jeder Moderator in Europa ist schwul!“ (Lacht) Und dann war die Sache für die o.k. Du hattest auch einen schwulen Partner in deiner MTV-Show, oder?
Ich habe damals ein Show gemacht mit dem Lebenskünstler Lee Bowery. Er trug immer Masken mit Lichtern in den Ohren, die blinkten und trug Kleider und es sah so aus als hätte er Titten. Er war total verrückt! Bei einem AidsBenefiz in England in einem Club, „The Fridge“, saßen die Leute vorne und haben gegessen, you know, an ihren Tischen. Und Lee (lacht) kommt auf die Bühne und hat den menschlichen Brunnen gemacht - und das bedeutet, er hat vorher Wasser in seinen Arsch reingepumpt, geht auf der Bühne, macht einen
Kopfstand, öffnet seine Beine, sein Kleid geht runter, sodass er total nackt ist, and denn kommt aus seinem Arsch dieser menschliche Brunnen. Das Problem war, er furzte während dieser Performance und die Leute ganz vorne haben denn, ja, braunes Wasser, abbekommen, während sie gegessen haben. Und wie sah eure Sendung an?
Ich wollte immer ein Chat-Show machen bei MTV, und die haben mir gesagt, dass könne ich machen, aber die haben mir gar keine Unterstützung gegeben. Am Ende musste ich auch die Stars selber kriegen. Ich musste zu jedem Nightclub gehen, wo ich wusste, dass irgendein, you know, Boy George war, oder irgendein kleiner Star war, und dann diesen Star überzeugen, dass er irgendwie zur Show kommt. Ich hab ihm nur Getränke ausgegeben eigentlich. Und dann hatte ich Lee an meiner Seite, er war mein Sidekick, oder wie es heißt. Er saß an meiner Seite, er war der schräge Typ an meiner Seite. Lee hat immer Acid (LSD) vor der Show genommen, (lacht) es war so eine schräge Show. Diese Show lief sechs Wochen und in der fünften Woche hat MTV mir gesagt, dass die Show zu schwul sei. Und ich fragte: „Was ist zu schwul?“ You know, ich fand diese Idee total bescheuert. So, aber ich habe mir gedacht, nur noch eine Show und dann lade ich alle Schwulen zu dieser Show ein. Es gab mich, Lee, die Communards – Jimmy Somerville und Richard Coles, die beide schwul sind, dann habe ich einen englischen Comedien Julian Clary, der schwul ist, seinen Hund, der angeblich auch schwul ist (lacht) und auch Nina Hagen eingeladen. Weil wir gedacht haben, dass Nina lesbisch war. Guckst du heute noch MTV?
Nein, überhaupt nicht mehr. Was guckst du denn stattdessen?
Oh Gott, was gucke ich?! Ich gucke immer noch Sachen in England auf meinem iPod, ich weiß nicht, ob das legal ist, aber das mache ich manchmal. Und ZDFneo gucke ich ab und zu.In den letzten Jahren ging es nur darum, Leute zu beleidigen, Prominente in schlimme Situationen zu bringen, weil die kein Geld haben. Die schicken die dann in den Dschungel und dort machen die jeden Scheiß mit. Also ich bin auch eingeladen worden vor einigen Jahren. Ach echt?
Ja, und ich habe dem Typ von RTL gesagt: „Fuck Off!“ (Lacht) Ja, das würde ich nie machen. Die haben mich auch für die Alm gefragt, und denen habe ich geschrieben: „Sorry, ich bin in Irland zu der Zeit.“ Klar, sonst wärste natürlich gekommen?!
(Lacht) Klar! Ja, genau! Nächstes Mal! (Lacht) Nein, also das könnte ich niemals tun, wirklich. (Lacht) www.steveblame.com
18 PErSรถNlichKEit
19 PErSöNlichKEit
DIrtY BeaCheS teXt und F o t o v o n C h r i S t i a n F a u S t u S
diE aUS vaNcoUvEr, KaNada StammENdEN dirty BEachES hattEN ErSt iN oKtoBEr 2011 EiNEN UNvErGESSlichEN UNd WildEN aUFtritt im KölNEr KiNG GEorG. am Fr. 24 FEBrUar 2012 WarEN SiE aUF EiNE zWEitE rUNdE zUrÜcK UNd ich dUrFtE SiE, Nach dEr aUSvErKaUFtEN ShoW, aUF EiN KUrzES iNtErviEW EiNladEN.
l
etztes jahr im Sommer war ich auf einem Konzert der wahnsinnig guten Band „crocodiles“ die ich kurz zuvor für mich endeckt hatte. Später im herbst kam endlich meine lang erwartete lieblings-Girlrock-Band „dum dum Girls“ auf tour. Erst vor einer Woche habe ich realisiert, dass Brandon (Sänger der crocodiles) und dee dee (Sängerin der dum dum Girls) die labelbosse von dirty Beaches sind. WiE Kam ES zU dEr zUSammENarBEit zWiSchEN ihNEN UNd dirty BEachES? brandon fand meine Musik auf Myspace und er hat mich kontaktiert und mich gefragt, ob ich lust hätte, bei ihrem label zoo Music eine vinyl single zuveröffentlichen. zu diesem zeitpunkt gab es noch niemanden, der mich so etwas gefragt hätte, also sagte ich natürlich ja. das feedback auf diese erste 7“ war so positiv, dass wir uns entschlossen, auch noch einen vinyl longplayer zusammen zu veröffentlichen. ich war wirklich glücklich, endlich eine eigne platte zu haben, da ich damals nur cds hatte. na ja, der rest ist geschichte. aUF dEr FacEBooK EvENtPaGE dEiNEr lEtztEN ShoW iN KölN laS ich EiNEN KomENtar voN EiNEm GaSt, dEr Sich total ÜBEr dEiN GitarrENSPiEl aB-
GEFUcKEd hat. Er SchriEB SiNNGEmäSS SoWaS WiE, „daSS Er Nich vErStEhEN KaNN WiE EiN SolchEr hyPE Um jEmaNdEN ENtStEhEN KaNN, dEr Nicht mal iN dEr laGE iSt, EiNEN aKKord aUF dEr GitarrE zU SPiElEN“. WaS WÜrdESt dU So jEmaNdEN aNtWortEN? nichts. leute wie er sollen statt zu meinen konzerten zu kommen lieber im Musicstore abhängen. dort gibt es genug leute zu hören, die voll hart abfideln können, aber ich will so nicht spielen. ich muss niemandem etwas beweisen, außerdem haben solche leute das große ganze nicht verstanden. die gitarre ist nur ein instrument. sie ist ein diener für den song. dem song gehört die volle aufmerksamkeit, wenn ein song einen starken gitarrenteil benötigt, schreibe ich ihm einen, aber für die Musik, die ich mache ist das eben nicht nötig. das sind dieselben leute, die sagen, warum ist der so erfolgreich? der sieht ja nichtmal gut aus. so etwas muss ich nicht beantworten. dU haSt da diESEN SoNG aUF dEiNEm alBUm „BadlaNdS“dEN ich SEhr maG, Er hEiSSt „lord KNoWS BESt“. WaS BEdEUtEt rEliGioN 2012 FÜr dich? ich bin auf eine katolische schule gegangen. für mich bedeutet religion vor allem zwei dinge. sie
hat die Macht, viele leute zusammen zu bringen, aber auch viele leute von einander zu entfernen. aber auf dem album ist der focus auf americano und was tief in amerikanischer Musik verankert ist. das ist gospel und folk. dU BiSt ja jEtzt SchoN öFtEr iN UNSErEr SchöNEN domStadt GEWESEN, WaS maGSt dU dENN hiEr am liEBStEN? jan lankisch (king georg booker) GiBt ES EtWaS, WaS dU iN dEUtSchlaNd total SchEiSSE FiNdESt? nein, nichts. ich FiNdE ja, daSS daS, WaS diE dirty BEachES So BESoNdErS machEN, iSt EiNE SymBioSE zU SchaFFEN aUS altEr UNd NEUEr ExPErimENtEllEr mUSiK. WaS iSt dEiNE liEBStE altE BaNd UNd dEiNE liEBStE aKtUEllE BaNd? Meine liebste alte band, die ich erst vor zwei wochen entdeckt habe, heißt „liaisons dangereuses“. das ist eine deutsche band, wirklich coole elektronische Musik aus den späten 70ern oder frühen 80ern. Meine liebste aktuelle band, hmm das ist schwierig, es gibt soviele gute neue bands, aber am meisten mag ich die Musik meiner freunde aus Montreal z.b. „chevalier avant garde“.
20 portfolio
streets of los angeles Fotos v o n g r e g o r y b o j o r q u e z
P
rostitution, Drogen, Gewalt, – nicht gerade die Schlagwörter, die einem bei Hollywood in den Sinn kommen. Doch fernab der berühmten und glamourösen Hollywood Hills gibt es noch eine weitere Welt, eine dunkle, von Hoffnungslosigkeit und Armut geprägte. Dort auf den Straßen von
Los Angeles macht das Leben dich platt, wenn du nicht stark genug bist. Der Fotograf Gregory Bojorquez hat gekämpft und gewonnen: Sein Umfeld und seinen Weg dokumentiert er auf einzigartige Weise. Bene Taschen brachte die Bilder in seiner Projekt-Galerie Hardhitta nach Köln.
Meist sind es die kleinen Details, die ein Foto einzigartig machen: der Blick in einen Rückspiegel, eine Bewegung im Hintergrund oder der Gesichtsausdruck einer Person – der Fotograf Gregory Bojorquez versteht es, die Menschen in seiner Umwelt packend und nah zu portraitieren. Er zeigt in seinen Bildern
seine Welt, die Schattenseite von L.A.: ungeschminkt und unzensiert. Tiefgang müsse ein Bild haben, dann sei es für ihn ein gutes Bild, sagt der Fotograf über seine Motive. Und dieser Anspruch hat ihn weit gebracht: Geboren 1972 und selbst aufgewachsen auf den berüchtigten Straßen von East L.A. fing der
21 portfolio
An einem bewölkten Samstagmorgen war ich mit meinen Rad auf dem Whittier Boulevard unterwegs. Dort schoss ich Bilder von diesem sauberen, tiefergelegten Truck vor dem berühmten „El Rey Azteca“ Restaurant.
Amerikaner schon früh damit an, die Menschen aus seinem Umfeld zu fotografieren. Er ist einer von ihnen und deswegen kommt er ihnen so nah wie sonst keiner: Gangstern, Nutten, Dealern. Ziemlich schnell wurde der L.A. Weekly auf ihn aufmerksam und sorgte für einen landesweiten Durchbruch. Mittler-
weile reicht die Liste der Promis, die Bojorquez fotografiert hat, von Snoop Dog bis Mike Tyson. Seine Arbeiten sind unter anderem im Rolling Stone Magazin und in der FHM erschienen. Der Inhaber der Projekt-Galerie Hardhitta, Bene Taschen, ist mit dem Fotografen seit einigen
Jahren befreundet. In einer Bar in L.A. brachte ein Dritter die beiden auf die Idee, beruflich zusammenzuarbeiten. Gemeinsam entwickelten sie die Ausstellung zum Thema „Streets of L.A.“. „Mir war wichtig, dass in jedem der gezeigten Motive das Motto ‚Straße und L.A.‘ deutlich wird“, erläutert Bene Taschen
die Auswahl. Die finalen 46 Werke wurden zunächst in Berlin ausgestellt und dann auf rund 300 Quadratmetern in Köln auf der Venloer Straße. MENSCH zeigt auf den folgenden Seiten eine Auswahl der ausgestellten Motive. www.hardhittagallery.com
22 portfolio
23 portfolio
24 portfolio
25 portfolio
Seite 22: Am Neujahrstag 2000 bin ich die fünfte Straße entlang gefahren, um allen Hallo zu sagen. Wolf und Duck hatten ihre Shirts ausgezogen, da sie gerade ein jüngeres Little-Valley-Gang-Mitglied wegen eines Fehlers zusammengeschlagen hatten. Seite 23: Ich wurde von einigen Gangstern verfolgt und erzählte meinem Kumpel „Stomper” davon. Er machte mir einen Vorschlag, indem er seine 380er hochhielt und meinte: „Du brauchst nur deinen kleinen Freund mitzunehmen!“
Links: Monique war ein Mädchen, das ich
Unten: Josie war ein tolles Mädchen mit
mit ungefähr zwölf Jahren kennengelernt
einem besonders tollen Hintern. Wir hatten
habe. 2003 hatte sie sich gerade von einem Ehemann getrennt und wir haben viel Zeit miteinander verbracht, waren feiern und sind in Hollywood abgehangen.
immer viel Spaß zusammen auf dem Rücksitz meines 1969 Chevrolet Camaro. Diesen Schnappschuss von ihr habe ich durch den Beifahrerspiegel meines Cadillacs gemacht.
26 portfolio
27 portfolio
28 portfolio
Oben: Meine Eltern hatten ein Haus mit einem Pool in Montebello. Im Sommer verbrachte ich sehr viel Zeit dort, um mich abzukßhlen und mit Freunden abzuhängen. Einer meiner Freunde, der gerade die Navy verlassen hatte, kam rßber mit seiner Freundin und ich schoss das Foto der beiden beim Schwimmen.
29 portfolio
Seite 26: Ich hatte den Auftrag, Snoop für ein Magazin zu fotografieren. Dieses Foto entstand in der Straße vor seinem Haus. Er rollte und rauchte drei Joints in einer Stunde. Seite 27: Zum ersten Mal habe ich Danny in einem Tattoo-Shop in Hollywood gesehen. Später bekam ich den Auftrag, ihn für ein paar Magazine zu fotografieren. Dieses Bild zeigt ihn mit seinem 53 Chevy Truck zu Hause in Chatsworth.
Unten: An Sonntagen im Sommer fanden immer die Cruise-Nächte auf dem Whittier Boulevard statt. Die Polizei griff ein und versuchte, das Crusing zu verhindern. Einige der Polizisten zielten mit ihren Pistolen auf die festgenommenen Fahrer und schrien mich durch ihre Lautsprecher an, ich sei in der Schusslinie.
30 portfolio
31 portfolio
Im Frühling 2000 beauftragte mich Priority Records ein Bild für ihr Best-Of-Album „Nothing but a Gangster Party“ zu shooten. Ich kaufte jede Menge Bier und veranstaltete ein Barbeque in meinem Haus in Montebello. Das ist eines der Fotos, das dabei entstand.
34 persönlichkeit
„Ich verbinde Gastronomie mit Kunst“ hd m o ll, g a s t r o n o m , 6 4
HD Moll in seiner Küche. Im Hintergrund sehen wir einen Wildschweinkopf.
35 persönlichkeit
D
er Künstler und Gastronom HD Moll hat uns in seine Wohnung in Ehrenfeld eingeladen. Auf seinem roten Sofa, umgeben von selbsthergestellten Kunstwerken wie den Osterhasen mit Barbie-Bein-Ohren, erzählt er uns, warum er die Zeit nicht mag und wie er zu seinem Szenelokal „L“ gekommen ist. Was würdest du sagen, ist das Bedeutendste, was du mal geschaffen hast?
Und was zeichnest du dann?
Glaubst du, man kann heute von Kunst leben?
Wenn mir nichts einfällt, spritze ich Tusche ins Buch, klappe es zu und gucke, was dabei rumkommt. Einen kleinen Einblick kann ich dir geben, ich hab da eine Kladde liegen ... (holt ein dickes Skizzenbuch hervor)
Manche können es, manche nicht. Also ich konnte nicht davon leben. Teilweise schon, aber der Unkostenapparat war zu hoch. Das ging nicht.
Auf der ersten Seiten, was ist das? Eine Einkaufsliste oder ein Cocktailrezept: 4 Orangine, 2 Wodka-Lemon?
Es passiert zu wenig draußen, habe ich das Gefühl. Früher ist mehr draußen passiert. Irgendwelche Aktionen. Natürlich gibt es Leute, die draußen rumsprayen und es gibt gute Hauswände mittlerweile, was mir sehr gut gefällt, teilweise. Vor allem hier in Ehrenfeld sind einige gute Sachen an die Wand gekommen.
Also ein Bild, das würde ich nicht weggeben, das ist das was da hängt (zeigt ins Nebenzimmer an die Wand). Das Bild mit der Hand. Da fallen mir die Dürer-Hände zu ein, aber morbider, da die Hand vom Handgelenk abgetrennt ist und eine Stoppuhr hält. Das ist mein erstes Öl-Bild, das ich gemalt habe und ist von 1983. Das Motiv ist: Ich mag keine Zeit.
Ich hab keine Ahnung. Ist schon lange her, ich kriege die Kladde einfach nicht voll.
Du magst keine Zeit?
Die sind beides. Die können beflügeln, die können aber auch stören. Also hab ich beides gehabt. Vor allem hatte ich das, als ich noch ein Atelier hatte auf der Marienstraße. Dann kann ich nicht ab, wenn dann jemand anruft und sagt: ‚Um acht ist das Abendessen fertig‘. Weil den ganzen Tag hab ich nix gemacht und abends war halt Ruhe. Abends oder nachts kann ich halt am besten zeichnen.
Und keine Armbanduhren (grinst). Ganz einfach! Und wieso magst du die Zeit nicht?
Ich hab mit Zeit nix am Hut. Hast du in deiner Wohnung keine Uhr?
Doch, jede Menge (lacht). Aber ich habe keine Armbanduhr. Würdest du sagen, dass du dann versuchst, deinen Tag auch gar nicht in Stunden einzuteilen?
So wie ich mit der Zeit klarkomme. Aber ich guck nicht auf die Uhr und denk, ich muss Sachen dann und dann erledigen. Heute musste ich es machen. Denkst du, viele sind ein Sklave der Zeit?
Ja, sicher! Die haben keine Zeit zum Leben. Was ist für dich wichtig im Leben?
Es kann natürlich nicht jeder leben, wie ich lebe. Ich war im Prinzip immer ziemlich selbstständig. Es kann nicht jeder so leben. Manche Menschen müssen halt Geld verdienen, indem sie morgens auf die Autobahn gehen und schnell mal einen Kaffee zu Hause nehmen um wach zu werden und dann los auf die Autobahn – also ich würde verrückt. Das war nie mein Ding. Ist also schon Luxus, so zu leben wie du?!
Im Grunde ja. Ja! Wenn ich mich mit anderen vergleiche, finde ich, wie ich lebe, ist schon Luxus, also von der Zeit her. Materielles brauch ich nicht. Mir ist wichtig, dass ich meine Zeit hab. Meine Sachen. Nur zum Zeichnen komm ich halt nicht, weil die Kneipe, die raubt auch viel Zeit. Das ist nicht so, dass die nur abends aufhat, man muss sich auch tagsüber drum kümmern. Und wenn du doch mal Zeit zum Zeichnen hast, wie läuft das dann ab?
Komischerweise bin ich gerne draußen, an einem neutralen Ort. In einem Café, wo mich keiner kennt.
Nacktszene, woher kam hier die Inspiration?
Keine Ahnung (lacht). Frauen sind immer mit drin. Sind Frauen für dich eine Quelle der Inspiration oder eher ein Störfaktor?
Wie hat sich die Kunstszene in Köln seit den 1980ern entwickelt?
Du kommst ja eher aus der klassischen Kunstrichtung, was hältst du von modernen Formen?
Was ich liebe, sind experimentelle Filme. Zeichentrickfilme, die neuen. Es gibt darunter ja auch welche im klassischen Stil. Ich mag tendenzielle gute, kurze Sachen, die auf den Punkt kommen. Mir fallen jetzt nur gerad keine Namen ein. Und worüber kannst du dich aufregen?
Aufregen tun mich laute Leute im Laden. Autos regen mich auf, der Kindergarten nebenan regt mich auf. Ich bin nur auf der Flucht in der Wohnung und überlege, wo ich am ruhigsten schlafen kann (lacht). Disko regt mich auf.
Bist also auch eher nachtaktiv?
Ja, schon immer. Deswegen macht mir die Kneipe nicht so viel aus. Hast du vor, hieraus mal was zu veröffentlichen?
Na ja, man kann eine Kladde schlecht veröffentlichen, es sei denn, man ist mit anderen Sachen berühmt geworden. Nö, ich hab mal meine ganzen Kladden, also ich hab bestimmt zehn Stück davon, mit der Kamera abgefilmt. Und hab dann so einige DVDs, die ich dann auch bei mir im Laden laufen lasse. Du verbindest auch deine zwei Welten Gastronomie und Kunst?
Genau, ich verbinde das. Ich zeige halt meine Sachen da und wenn jemand anderes einen interessanten Film hat, den zeige ich auch. Also ich zeige nicht nur meine Sachen, ich zeige auch Sachen von anderen Leuten. Wir haben auch schon kleine Ausstellungen gehabt, wo der Billiardtisch dazu benutzt wurde, um etwas aufzubauen. Aber das ist selten der Fall. Wir haben keine Wände, um Sachen aufzuhängen. Ich hab auch keinen Platz, Sachen hinzustellen. Da sind praktisch nur meine eigenen Sachen drin und vier Bilder von anderen. Gibt es etwas, was du einem jungen Künstler empfehlen würdest?
Schwierig. Arbeiten, arbeiten, arbeiten! Öffentlich arbeiten, mehr öffentlich arbeiten. Im Kämmerchen arbeiten, das bringt nix mehr. Also wenn, dann muss man nach draußen gehen.
Also alles, was laut ist und Lärm macht?
Alles, was richtig lauter Lärm ist, aber ich liebe auch Punk und gehe auf Konzerte. Und das ist auch schon Krach. Aber die Musik mag ich. Wo gehst du sonst gerne hin?
In den Heimathirsch in Nippes. Da ist immer am letzen Donnerstag im Monat Comedy. Und da sind teilweise auch sehr bekannte Leute. Das ist schon eine fetzige Stunde da. Die Location kannte ich noch aus den 1970er Jahren, als ich noch in Nippes wohnte. Und Nippes hatte damals ein bisschen mehr als heute. Also nicht so schickimicki, da gab es so zwei, drei Sachen, wo richtig gut Power lief. Was heute nicht mehr so der Fall ist. Seit den 1980er wohne ich ja in Ehrenfeld und hab hier die Entwicklung so mitbekommen. So wirklich alte Läden wie der Sonic oder das Underground. Dabei ist der Sonic noch gar nicht so lange da, ich glaube, das müsste so zehn Jahre alt sein. Die haben damals angefangen, als der Abel das „L“ abgegeben hat und wir haben uns zu dritt da reingehängt. Der eine ist abgesprungen und der andere hat die Konzession gehabt und ich hab dann weitergemacht. Als die damals im Sonic anfingen, kamen die sogar noch bei mir Bier trinken. Aber irgendwann hatten die dann keine Zeit mehr (lacht). Und dann gab es auch mal Ärger wegen Lautstärke und dann haben sie ihre Krisensitzung bei mir abgehalten. Mittlerweile hat sich der Laden ja etabliert. www.l-koeln-ehrenfeld.de
36 persönlichkeit
Die Malerei hat es ihr angetan! Johanna träumt von einer Karriere als Künstlerin.
„Ich will meine Leidenschaft leben.“ Johann a K o c h , f r i s e u r i n , 2 2
37 persรถnlichkeit
38 persönlichkeit
A
n einem sonnigen Vormittag trafen wir Johanna Koch am Aachener Weiher. Gemütlich bei einem Coffee-to-go erzählte uns die 21Jährige aus ihrem Alltag voller Extreme, warum sie es mag, andere Menschen glücklich zu machen und wieso sie seit ihrem 18. Lebensjahr keinen Bock mehr auf Party hat.
Und dann kriegst du so eine Lebenskrise beim Arbeiten?
Womit verbringst du gerade dein Leben?
Ja, aber es ist nicht komplett selbstlos, dass ich anderen gerne eine Freude mache. Ich habe beim Frisör gelernt, sich selbst zurückzustellen. Es tut gut, manchmal die eigenen Sorgen beiseite zu schieben. Ich glaub, ich bin manchmal zu verkopft. Ich mache mir zu viel Gedanken darüber, welcher Weg der richtige ist. Eigentlich habe ich den tiefen Wunsch und die Erwartung an mein Leben, dass sich alles von selbst ergibt und lenke mich dann sozusagen von diesen ganzen schweren Überlegungen durch die Arbeit mit anderen Menschen ab.
Also momentan besteht mein Leben in erster Linie aus Arbeiten. Ich habe zwei Jobs: Einmal mache ich eine Ausbildung zur Frisörin bei Kastenbein und Bosch auf der Zülpicher Straße. Ich bin damit allerdings demnächst fertig. Nebenbei arbeite ich seit etwas über anderthalb Jahren im Underground. Was natürlich auch ziemlich viel Zeit in Anspruch nimmt. Und meinen Tagesrhythmus dann endgültig durcheinander bringt. Das heißt auch meine Organisation, wie ihr eben gesehen habt, ich bin gerne mal zu spät (lacht). Und nebenbei beschäftige ich mich noch, nicht intensiv genug, aber auf jeden Fall, mit der Frage: Was passiert nach der Ausbildung. Mir fällt als Erstes dazu ein: Wieso tust du dir das an? Eine Ausbildung ist schon sehr anstrengend, du arbeitest, musst zur Schule, dich auf Prüfungen vorbereiten, wieso also noch der Nebenjob?
Witzig, dass du das fragst, weil ich mir schon gedacht habe, dass ich das gefragt werde und ich stelle mir die Frage auch ständig selbst (lacht). Also ich habe mit 17 angefangen im Einzelhandel zu arbeiten, neben der Schule. Und ich hab das irgendwie immer als Ausgleich gebraucht, das Gefühl zu haben, in welcher Weise auch immer, Menschen weiterzuhelfen oder Menschen mit Kleinigkeiten glücklich zu machen und sei es nur mit der Beratung für die richtige Hose oder für den passenden Haarschnitt. Zumal ich auch seit meinem 18. Lebensjahr keine Lust mehr auf Partymachen hab. Ich glaube, dass es für mich nach der Trennung meiner Eltern unbewusst darum ging, zu merken: Ich werde selbstständig. Ich bin nicht auf eine so enge Familiengemeinschaft angewiesen und kann für mich selbst sorgen. Ich wollte auch ganz früh kein Taschengeld mehr haben. Und dann arbeitest du im Underground?
Ja, ich wollte irgendwie das Gefühl haben, noch Teil des Nachtlebens zu sein. Ich dachte: Das muss doch so sein, wenn man nicht mal zwanzig ist.
(Lacht) Wenn man es so extrem ausdrücken möchte, ja, dann bekomme ich eine kleine Lebenskrise. (Lacht) Dann würdest du schon sagen, dir ist am Wichtigsten, Menschen sind da und haben Spaß, dann erst geht es dir auch gut?
Möchtest du später als Frisörin weiterarbeiten?
Nee, das möchte ich nicht. Das war eigentlich von Anfang an klar. Beim Einstieg in diese Ausbildung ging es in erster Linie darum, Abstand von der bloßen Theorie und vom Schulalltag zu nehmen und in die Berufswelt einzutreten. Das war aber klar, dass ich das danach nicht weitermachen möchte. Ich fand Maskenbildnerei total faszinierend und die Option, das später zu machen, wollte ich mir offen halten. Aber der Plan hat sich für mich inzwischen erledigt. Weil es eben all das vereint, was ich momentan erlebe: Du arbeitest zu anstrengenden oder extremen Zeiten, verdienst nicht viel, du musst immer gucken, wo du bleibst. Ja, jetzt habe ich mir letztendlich doch was ausgesucht, was eben diesen Punkten entspricht, aber es ist das, was ich wirklich gerne machen möchte. Ich werde darauf hinarbeiten, zum Juni mich in Düsseldorf an der Kunstakademie für bildende Künste zu bewerben. Mit welchem Ziel?
Malerei! Ich möchte nicht Lehramt studieren. Ja, das Ziel ist hochgesteckt. Aber inzwischen denke ich mir, dass ich das wirklich ausprobieren sollte. Und wenn ich eine Leidenschaft habe, versuchen muss, sie zu leben. Für dem Fall, dass es dieses Jahr nicht funktioniert, werde ich mir noch eine Alternative suchen müssen. Ja, aber anscheinend hast du es ja durchgezogen.
Kannst du das denn wirklich genießen, wenn du dann da arbeitest?
Das Ganze hat sich ein bisschen verselbstständigt. Ich mache den Job halt, weil er gerade ansteht. Grundsätzlich mache ich den Job im Underground total gerne. Wir haben ein total nettes Team und das macht den Job natürlich um einiges angenehmer. Wenn nicht so viel los ist, sackt in letzter Zeit meine Stimmung sofort ab und ich fange an, darüber nachzudenken, was ich eigentlich wirklich will. Wo ich hin möchte, was ich hier eigentlich gerade im Moment mache.
Also ich glaube, wenn ich was mache, dann will ich gut darin sein. Deshalb, auch wenn ich weiß, dass die Frisör-Ausbildung letztendlich nicht zu dem entsprechenden Beruf für mich führt, aber ich hab trotzdem den Wunsch, meine Ausbildung sehr gut abzuschließen. Also, du bist schon sehr ehrgeizig.
Ja, wenn ich dann einmal das gefunden habe, womit ich mich beschäftigen möchte, dann ja. Ich habe inzwischen gemerkt, dass Zeichnen und Malen das
39 persönlichkeit
Einzige ist, das mich wirklich entspannt. Die einzige Tätigkeit, bei der ich total abschalten kann und ich mich wirklich gut fühle. Mein größter Wunsch wäre es eigentlich, das, was in meinem Kopf abläuft, auf eine Leinwand projizieren zu können. Und willst du damit später auch mal deinen Lebensunterhalt verdienen können? Oder sagst du hier auch, das ist erst mal ein Studium und ich schau dann mal, was danach ist?
Also mir ist schon bewusst, dass es schwierig ist, Kunst und Geld miteinander zu verbinden. Aber klar, das wäre ein Traum. Ich glaube, es gibt immer eine Gelegenheit, mit der sich was verdienen lässt. Könntest du vielleicht auch als Frisörin arbeiten und nebenbei deiner Leidenschaft Malerei nachgehen?
Schwierig! Also die Tätigkeiten sind wirklich extrem unterschiedlich. Bei der Malerei geht es um die Expression deiner Gefühle und Idee, es geht in erster Linie um dich. Du fixierst dich nur auf deine Person. Und das entspricht natürlich nicht dem, was ein Frisör macht. Wenn man sich den Ausgleich wünschen würde, würde man beidem nachgehen. Aber momentan kann ich mir das nicht vorstellen. Ja, ich merke das schon, du hast immer auch einen Plan B. Ist das wichtig für dich, immer eine Art Sicherheitsnetz zu haben?
Ja, in gewisser Weise schon. Das war auch ein Grund, warum ich die Ausbildung angefangen habe. Einfach was mit den Händen schaffen zu können, nicht auf andere angewiesen zu sein, nicht auf momentane FinanzmärkteSituationen angewiesen zu sein, Haare müssen schließlich immer geschnitten werden. Andererseits war es glaub ich auch so ein Versuch, ein bisschen aus dem geplanten auszubrechen, weil die Ausbildung nicht dem geradlinigen Lebenslauf entspricht. Wo würdest du sagen, siehst du dich dann in so zehn, zwanzig Jahren? Was wäre da so deine Traumvorstellung?
(Schaut einige Momente nachdenklich vor sich hin) Konkret weiß ich, wünsche ich mir eigentlich eine wundervolle, harmonische Familie. Ich will auch auf jeden Fall Kinder haben. Was dann auch wieder so ein bisschen mit dem Künstlertum kollidiert, weil das passt halt einfach nicht. Und zuletzt noch eine Frage, die mir auf den Nägeln brennt. Gibt es einen Ort in Köln, wo du besonders gerne bist?
Einer meiner Lieblings-Orte in Köln ist eindeutig die Bar Königsblut in Ehrenfeld. Sie vereint alles, wofür ich im Alltag zu wenig Zeit habe: Gespräche mit Freunden, Ruhe, Gemütlichkeit, sich in ein Sofa zurückfallen und die Seele baumeln lassen. Und vor allem, dass ich mich mal von jemandem bedienen lassen kann. (Lacht)
„Ich hab seit dem 18. Lebensjahr keine Lust mehr auf Party“
42 persönlichkeit
Der Veranstalter Roland Schmitz träumt von einem temporären Musikclub.
43 persönlichkeit
„GroSSe Clubs in Köln funktionieren nicht“ rol and sch m i t z , v e r a n s t a l t e r , 4 0
I
n einer der ältesten Kaffeeröstereien Kölns haben wir uns mit dem Kulturunternehmer von Köln getroffen: Roland Schmitz. Zwischen Röstmaschinen und Kaffeebohnen erklärte er uns, worauf es ankommt, wenn man in Köln einen Club eröffnen möchte und warum der Club Papierfabrik schließen musste.
che, damit es sich lohnt da ein Einkaufszentrum zu bauen. Es zeigt halt, wie wichtig es ist, dass sich Leute auch dafür interessieren, was in der Stadt passiert. Wie wenige lesen heutzutage noch die Tageszeitung und schauen sich an, was Lokal passiert. Also meistens ist es ja so, dass die Leute erst aufschreien, wenn es zu spät ist.
Ich kenne dich vor allem im Zusammenhang mit der Papierfabrik. Das ist wohl das Bekannteste, an dem du beteiligt warst, oder?
Noch mal zurück zur Papierfabrik, gab es danach Anschlussprojekte? Also Veranstaltungen im Bereich Nachtleben, Club, Techno?
Ja, jetzt in Köln war das mit Sicherheit so das Projekt, das die größte Aufmerksamkeit bekommen hat. Erstaunlich war, den Club gab es fünfzehn Monate und hatte unheimlichen Zuspruch bekommen von außen. Am Anfang war das Problem, dass viele Leute meinten, große Clubs in Köln funktionieren nicht. Alles muss immer klein sein.
Ja, wir mussten dann recht schnell ein neues Objekt finden und haben dann in der Hornstraße das Gelände „Schrebergarten“ gefunden. Das liegt direkt neben der Kanalstraße und zwischen mehreren Bahntrassen. Das Gelände ist für die Großstadt sehr besonders, man ist da umringt von Bäumen und Sträuchern - das ist ein unheimlich schönes Gelände. Ja, das haben wir dann erst mal ohne Konzession betrieben. Das war dann aber auch so, dass wir direkt bei der ersten Veranstaltung die Polizei und das Ordnungsamt vor der Tür stehen hatten.
Wie genau sah das Projekt Papierfabrik im Einzelnen aus?
Das Projekt Papierfabrik war eine alte Fabrikhalle, die sozusagen leer stand, ein klassischer Leerstand. Und so kam es, dass der Betreiber vom Sensorclub mich und meinen damaligen Partner Boris Witschke gefragt hat, ob wir Lust hätten, da einen Club zu machen. Und für uns war von vornherein klar, dass das ein limitiertes Projekt wird. Was hältst du von den Bebauungsplänen für das Helios-Gelände? Was hältst du von der Bürgerinitiative?
Die Bürgerinitiative finde ich super. Ich finde es generell wichtig, dass es bei so großen Projekten eine Bürgerbeteiligung gibt. Letzten Endes werden da ja auch Entscheidungen getroffen, die Auswirkungen auf ein ganzes Stadtviertel haben, deswegen finde ich es wichtig, dass da viele unterschiedliche Leute dran beteiligt werden. Die Stadt gehört uns allen. Insofern finde ich das einen positiven Prozess. Das Problem ist halt, dass das Gelände nicht der Stadt Köln gehört und die Stadt kann dann zwar gewisse Bedingungen schaffen wie, so viel Quadratmeter sind Einzelhandelsflä-
Wann ging das los?
Das war im Juni letzten Jahres. Wir haben das Ganze auch ohne Werbung gemacht und teilweise nicht mal mit Facebook, also keine öffentliche Facebook-Veranstaltung, und hatten dann aber auch schon so einen Zulauf. Das hatte sich einfach so rumgesprochen. Dann haben wir dort unregelmäßig Partys veranstaltet. Und die liefen alle erfolgreich?
Ja, die waren alle erfolgreich. Nur war es dann am Ende so, dass wir anonym angezeigt wurden und die Stadt Köln beziehungsweise das Bauamt und das Ordnungsamt enormen Druck ausgeübt haben, sodass da jetzt erstmal keine Veranstaltungen stattfinden können und das Ganze erstmal legal gemacht werden muss. Was sagst du zu der RaucherEcke, die die Papierfabrik-Ep rausgebracht haben?
Die haben uns angefragt, ob die das machen dürfen
und der Marcel Janovsky hat das dann bei seinem Label Treibstoff herausgebracht. Und anscheinend war es so, dass die davon inspiriert waren durch die Papierfabrik und die Partys da. Was hältst du von dem Label 200?
Es gibt ja in Köln die verschiedensten Strömungen. Ich bin ja nicht mehr der Jüngste, ich werd dieses Jahr 40, und ich beschäftige mich seit Anfang der 90er Jahre mit Techno-Musik und hab dann auch den Köln-Sound verfolgt und fand das auch irgendwie immer klasse. Auch was aus dem Kompakt-Umfeld kam, weil die es geschafft haben, einen eigenen Sound zu kreieren. Also jetzt nicht irgendwie einen Sound zu kopieren, in den 90er Jahren war das ja so, Techno-Musik kam aus Detroit und die haben aber nicht versucht zu klingen wie Künstler aus Detroit. Die haben ihre eigene Interpretation gefunden. Was macht für dich einen guten Act aus?
Der technische Part ist für mich gar nicht so wichtig. Mir ist die Person, die dahinter steht, wichtiger. Vor allem, welche Ausstrahlung sie hat und nach Außen vermittelt. Also jemand, der jetzt am Laptop spielt, oder jemand, der analoge Geräte aufgebaut hat, da weiß ich per se nicht, was besser ist, sondern kann er das transportieren – das finde ich viel entscheidender. Genauso steht für mich das Mixing nicht an erster Stelle, sondern für mich ist das vielmehr wie bei einem Fotograf, der braucht auch ein Auge für die Motive, da kann er technisch noch so gut sein, aber wenn er dieses bestimmte Auge nicht hat, bringt das nix. Wie sieht da jetzt die Zukunft aus?
Das Projekt „Schrebergarten“ geht weiter, aber ich bin im Oktober dort ausgestiegen, mein ehemaliger Partner führt das jetzt alleine weiter fort. Ich selbst bin jetzt gerade eher in einer Orientierungsphase. Zum aktuellen Zeitpunkt interessieren mich vor allem die temporären Sachen, das kann ich mir zurzeit sehr gut vorstellen. Sowas wie einen Musikclub, der immer weiter wandert, wie ein Zirkus. Das fände ich sehr spannend.
44 persönlichkeit Leute
„Ballett kann mich fesseln“ l otta b o e r s , s t u d e n t i n , 2 3
45 persönlichkeit
D
ie Studentin Lotta erzählte uns in Ehrenfeld von ihrer Suche nach dem richtigen Studiengang, wie sich ihr Leben nach der Schule verändert hat und warum ihr gerade der Sport eine Möglichkeit gibt, um den Kopf frei zu bekommen. Was studierst du?
Ich habe gerade gewechselt, ich habe vorher Lehramt Deutsch und Englisch studiert und bin jetzt im ersten Semester zur Ausbildung als Logopädin.
auch bis zum Nachmittag, Abend da bin. Und dadurch bin ich, wenn, dann mit Freunden unterwegs. Das heißt Party?
Naja, das ist abends unter der Woche nicht so möglich, aber dass wir uns treffen oder meine Geschwister wohnen auch nicht weit von hier. Und an den Wochenenden bin ich dann in Oberberg und manchmal fahren wir dann samstags doch nach Köln rein. Wo gehst du gerne feiern?
Und bist du froh über deine Entscheidung?
Ja, ich bin total froh damit. Und auch froh, dass das jetzt so eine Richtung ist, die mir gefällt und das ich jetzt was gefunden habe, in das ich gern investiere. Dabei kann ich mir gut vorstellen, das länger zu machen. Was sind da deine Ziele?
Ich möchte auf jeden Fall mit Kindern arbeiten, das war ja auch schon in meinem Lehramtsstudium ein bisschen die Richtung. Ich habe Grundschullehramt studiert, aber ich würde gerne näher und therapeutisch mit ihnen arbeiten und weniger mit einer ganzen Gruppe. Also hast du deinen Weg gefunden?
Auf jeden Fall! Warum bist du gerade nach Köln gekommen?
Ich mag das Feeling hier. Natürlich habe ich hier auch viele Bekannte und Freunde, aber ich weiß nicht, im Vergleich zu Bonn oder so, ist hier irgendwie mehr Leben und das Multikulti mag ich. Ich finde, Kölner sind kreativer und offener. Vielleicht liegt es auch nur daran, weil es eine große Stadt ist und dadurch ein breiteres Bild entsteht. Was machst du denn so in deiner Freizeit? Lotta hat sich bewusst gegen eine Model-Karriere entschieden und möchte lieber mit Kindern arbeiten.
Also früher habe ich viel Ballett und Kunstturnen gemacht, das ist auf jeden Fall jetzt sehr viel weniger geworden, weil auch einfach die ganze schulische Ausbildung viel Zeit braucht, und ich halt
Meistens irgendwo privat. Das ist auch das, was ich gerne mag. Natürlich dann in geschlossenen Gruppen wegzugehen, aber besonders Zeit zusammen zu haben und auch ein bisschen füreinander. Das ist irgendwie in der Schulzeit so viel einfacher gewesen, jetzt sind wir alle so verteilt, ich glaube, dann genießen wir das auch einfach, etwas zu unternehmen. Welche Orte in Köln gefallen dir denn?
Im Moment bin ich gerne am Rheinauhafen, am Rhein oder auch im Stadtgarten mit Freunden. Außerdem bin ich auch gern bei mir in Mühlheim oder in Ehrenfeld, weil es dort so multikulti ist. Gibt es sonst noch Hobbies, die du gerne machst?
Ich hab früher auch noch Geige gespielt, aber davon ist wirklich nichts mehr geblieben. Also ich bewege mich natürlich noch immer gern. Und sonst turne ich noch ab und zu oder mache ein wenig Ballett, aber es ist nicht mehr regelmäßig. Aber ich würde es auf jeden Fall gerne wieder machen. Was fesselt dich denn?
Ganz oft, wenn ich zum Beispiel noch ein wenig Ballett für mich mache, merke ich plötzlich, wie drin ich wieder bin. Und wie sehr ich die Schritte dann auf einmal doch gut hinkriegen will. Und dann vergehen auf einmal anderthalb Stunden, bis ich mich vom Ballett-Tanzen wieder losreißen kann.
48 persรถnlichkeit
Seine Zukunft sieht der Jung-Musiker Kaan eindeutig im Bereich Kunst.
49 persönlichkeit
„ich kann nicht auf deutsch singen“ kaan b u l a k , M u s i k e r , s t u d e n t , 2 1
E
in leicht verschlafener Kaan Bulak öffnet uns die Tür zu seiner Wohnung im Kwartier Latäng. Er habe gerade noch schnell aufgeräumt und die letzten Partygäste von vergangener Nacht nach hause geschickt. Ein Duft von Räucherstäbchen liegt in der Luft. In seinem Wohnzimmer, ausgestattet mit vielen Instrumenten und einigen Ikea-Möbeln, machen wir es uns bei einer Tasse Tee gemütlich.
ist Kunst, finde ich auf jeden Fall, aber nicht unbedingt etwas, das man so eine hässliche Industrie daraus machen muss. Was willst du denn nebenbei noch machen? Du studierst auch, richtig?
Ja, ich studiere. Und was?
Ich studiere Wirtschaftsmathematik. Kaan, wir haben gehört, deine Band Room 16 hat sich aufgelöst?
Ja, die ist gerade inaktiv. Aber ich habe auf jeden Fall vor, die Band unter dem Namen irgendwann wieder aufzunehmen. Ok, es ist also kein totes Projekt?
Nö, das ist halt einfach mein Projekt. Die waren halt mit der musikalischen Entwicklung nicht so wirklich zufrieden und deswegen hab ich halt für mich entschieden, noch mal was anderes zu machen. Jetzt arbeite ich an einem Solo-Album und schreibe die Songs dafür. Und tobe mich da eher aus. Und dann wirklich die Art von Musik machen, die ich will. Und da dann sehe, ob ich das wirklich machen will, oder auch nicht. Auf welche Art von Musik konzentrierst du dich dann jetzt?
Ich bin gerade jetzt in Radiohead verloren. Und viel Triphop-Sachen auch und avantgardistisch würde ich das ein bisschen beschreiben. Hast du schon eine Idee, was für Themen du auf deinem Solo-Album behandeln möchtest?
Ich habe zum Beispiel, ähm das wurde schon sehr, sehr oft behandelt, den Song 1984 von George Orwell, das hat mich zum Beispiel beeinflusst für meinen Song ‚Pure‘. Aber ich versuche mittlerweile einfach, eine Momentaufnahme zu machen, also nicht Gedankengänge oder eine Story zu erzählen. So situativ alles weitergeben. Oder ich habe ein Lied, das heißt ‚Couture‘. Da hat mich meine Freundin Mel dazu gebracht. Das war eine Geschichte mit Couture. Also die Modeecke, klar
hier ist so angenehm, deswegen habe ich mich für Köln entschieden. Ich hatte schon ein bisschen Bezug zu Köln, da meine Eltern in Aachen studiert haben, dadurch kannten wir in der Gegend ein paar Leute. Und ich wusste, wie die Menschen hier drauf sind. Die sind einfach sehr angenehm.
Das ist ein absoluter Kontrast zu deinem anderen Leben. Brauchst du diesen Kontrast?
Ich habe schon immer den Traum gehabt von einem eigenen Label. Um das auch wirklich so umsetzen zu können, dass ich damit glücklich bin, brauche ich dieses Wissen. Du willst dein Studium also nutzen, um deine künstlerische Laufbahn zu unterstützen.
Ja, genau. Das war auch so, dass ich die besten Riffs geschrieben habe, wenn ich gerade gelernt habe, Informatik beispielsweise. Weil das analytische Denken hilft beim Songschreiben. Du bist eigentlich Türke, lebst und studierst jetzt in Köln, wie kam es dazu?
Ich bin in Aachen geboren, dort haben meine Eltern studiert. Und mit knapp einem Jahr bin ich mit ihnen nach Istanbul gezogen, wo die ganze Familie ist. Und in Istanbul war ich dann im Kindergarten und in der Grundschule. Und dann war ich zwölf, dreizehn Jahre alt, als ich wieder hierher gezogen bin. Für mich war das allerdings kein Zurückkehren, weil ich keinen Bezug zu Deutschland hatte, bis auf Studienfreunde von meinen Eltern. Das hat sich halt für meinen Vater angeboten und deswegen sind wir nach Stuttgart gezogen, da habe ich Abitur gemacht. Bin dann Zuhause ausgezogen und nach Köln gekommen. Warum gerade nach Köln?
Ich wollte eigentlich nach Hamburg. Dann habe ich gedacht, dann immer nach Stuttgart fahren, wird vielleicht ein bisschen viel. Aber diese Ecke
Du singst ja sogar teilweise auf Französisch, du bist sowieso mehrsprachig unterwegs. Was für Sprachen sprichst du?
Türkisch, Englisch, Deutsch halt. Türkisch und Englisch konnte ich halt schon seit ich ganz klein war. Meine Großonkel wohnen alle in Philadelphia, Virginia. Dadurch bin ich zu Englisch gekommen und werde diesen amerikanischen Akzent auch nicht los, den ich gerne loswerden würde (lacht). Ja, und Deutsch hab ich dann hier gelernt. Und mit Deutsch gemeinsam habe ich dann auch angefangen Französisch zu lernen an der Schule. Und später dann noch Spanisch. Das sind fünf Sprachen, die ich spreche. Aber mein Spanisch ist ziemlich eingerostet, würde ich sagen. Würdest du sagen, dass es gewisse Sachen gibt, die nur in einer bestimmten Sprache funktionieren?
(Nickt nachdenklich, nippt an seinem Tee) Also ich bin der Meinung, von der Art her ist Deutsch super für Kurzgeschichten oder für Bücher. Literatur lese ich am allerliebsten auf Deutsch, ich finde da gibt es auch einfach die beste Literatur. Und Englisch finde ich für Essays toll und für Songs sowieso. Auf Deutsch singen ist gar nicht mein Ding. Das hört sich bei mir schrecklich an. Wenn du als Musiker keinen Erfolg mehr hättest, könntest du dann auch im Hintergrund arbeiten, beispielsweise als Manager?
Nein! Das ist für mich das Schrecklichste eigentlich! Dann würde ich einfach von einer Kunstsparte in die nächste überspringen, bis ich damit irgendwie überlebe. Ich schreibe zum Beispiel auch sehr gerne Kurzgeschichten. www.kaan.fm
50 persönlichkeit
Die Amerikanerin mit vietnamesischen Wurzel wundert sich über das deutsche Verständnis von Freundlichkeit.
51 persönlichkeit
„Das Leben in Köln ist wie in L.A.“ j acl y n l e , 2 7 , d e s i g n e r i n
W
as haben Texas und Bayern gemeinsam? Und wieso lächeln die Deutschen so wenig? Die Austauschstudentin Jaclyn berichte über ihre Erfahrungen, die sie während ihrer Zeit in der Domstadt gemacht hat.
meinem Wunsch verbinden, ins Ausland zu gehen, zu reisen und eine fremde Sprache zu lernen. Ich wusste, ich wollte nach Europa. Ich wusste nur nicht genau wohin. Dann fiel deine Wahl auf Köln!
Wo genau kommst du denn her?
Ich bin in Amerika geboren und komme eigentlich aus Kalifornien, aber meine Großeltern kommen aus dem Vietnam. Das ist eine ziemlich aufregende Geschichte: 1974 endete der Vietnamkrieg und mein Großvater war ein hoher Militär, aus dem Süden. Der Norden hatte ja gewonnen, das bedeutete, die Leute aus dem Süden versuchten nach dem Vietnamkrieg ihr Land weiterhin zu verteidigen. Um dem zu entkommen, nahm mein Großvater seine sechs Töchter und ging nach Malaysia. Dort kamen sie in ein Flüchtlingslager. Vor Ort wurde entschieden, welche der Leute nach Australien, nach Frankreich oder nach Amerika verschifft wurden. Da mein Großvater einen hohen Rang hatte, war klar, dass er nach Amerika geschickt wurde. Kannst du uns was über deine Ausbildung in den Staaten erzählen?
Ich habe meinen Schulzeit zu einem Drittel in einem Vorort von San Francisco, zu einem Drittel in Texas und zu einem Drittel in Long Beach, Kalifornien verbracht. Und ich denke, diese vielen Umzüge haben meine Ausbildung stark beeinflusst. Also hatte ich eine sehr gute Ausbildung, solange ich in Texas war. Und dann bin ich acht Jahre später nach Kalifornien gezogen. Für mich war das wie die Trennung mit einem Freund und Texas war mein Freund. Vielleicht kann das keiner verstehen, der nicht in Texas lebt, aber Texaner sind sehr stolz drauf, dort zu wohnen. Also ähnlich wie die Bayern. Und nach der Uni?
Da habe ich als Grafik-Designerin gearbeitet, aber das lag mir nicht und ich war nicht glücklich. Also habe ich mich entschieden, wieder an die Uni zu gehen. Denn das konnte ich dann perfekt mit
Ja, Deutschland ist toll, vor allem wegen seiner Geschichte im Bereich Design. Und das Leben, vor allem finanziell, in Köln ist vergleichbar mit dem in L.A. Das fand ich super. Ich hatte die Wahl zwischen London, Rotterdam und dann Köln. Aber das Leben in London oder Rotterdam ist sehr teuer. Also dachte ich, du musst nach Köln. Und dazu kam, dass der Masterstudiengang „Integrated Design“ wie für mich gemacht war. Er ist perfekt für Leute mit unterschiedlichen Backgrounds und für Leute, die sich verändern wollen. Ich konnte ganz neue Kunstbereiche kennenlernen und Erfahrungen sammeln, zum Beispiel die Bereiche Service-Design. Was hat dich in deiner Zeit hier am meisten bewegt oder vielleicht verwundert?
Für mich war die Zeit hier wie in einer Achterbahn. Bevor ich ankam, hatte ich Amerika noch nie verlassen. Und als ich dann hier war, war ich so beeindruckt, wie anders alles ist. Zuerst dachte ich: Wow, alles ist toll und vor allem so europäisch! Und dann merkte ich, so toll ist es doch nicht. Ich komme aus Kalifornien und bei uns ist es normal, dass man viel lächelt ohne einen Grund zu haben. Aber hier schauten mich alle an. Anfangs dachte ich, weil ich asiatisch aussehe? Ich war nicht gewohnt, dass Leute mich anstarren. In den USA macht man das einfach nicht, jemanden anstarren ist wie eine Kampfansage. Ich war davon wirklich verletzt. Ich dachte, die sind überhaupt nicht freundlich hier, keiner mag mich. Und nach einiger Zeit wurde mir dann klar, es liegt nicht daran, dass sie mich nicht mögen, es ist, weil sie eher zurückhaltend sind. Deutsche brauchen ein bisschen Zeit, um sich zu entscheiden, ob sie jemanden kennenlernen wollen. Ich habe einfach ein anderes Verständnis von Freundlichkeit.
52 text
Albert Toriks Schule des Scheiterns. T ex t: T hors ten kr ä m e r , Ill u s t r a t i o n : D i r k S c h m i d t
53 text
A
lles, was ich über das Leben weiß, habe ich von Albert Torik gelernt. Wer mich heute sieht, wie ich mich durch die Straßen der Stadt bewege, würde niemals glauben, dass ich noch vor zwei Jahren voller Komplexe war. Ich traute mich kaum aus meiner Wohnung, und wenn ich doch einmal zum Einkaufen in den nahe gelegenen Edeka musste, schlich ich an den Häuserwänden entlang wie das personifizierte schlechte Gewissen. Jedem anderen Passanten ging ich frühzeitig aus dem Weg, als gäbe es keine Rechtfertigung dafür, dass ich überhaupt einen Teil des öffentlichen Raumes für mich in Anspruch nahm. Mein Geld verdiente ich damit, Betriebsanleitungen für Küchengeräte zu übersetzen. Eines Morgens war die Milch aus. Ich hatte vergessen, rechtzeitig neue zu kaufen. Das trockene Müsli in der Schale auf dem Küchentisch schaute mich vorwurfsvoll an, so konnte ich es unmöglich essen. Auch Joghurt gab es nicht, ich mochte ihn nie. Mir blieb nichts anderes übrig, ich musste aus dem Haus. Schon von Weitem sah ich, dass der Edeka geschlossen hatte. Ein Schild am Eingang nannte den Grund: Inventur. Während ich es las, spürte ich plötzlich, wie sich jemand hinter mich stellte, wahrscheinlich, weil auch er das Schild lesen wollte. Ich drehte mich langsam um und erblickte einen Mann Anfang 30 mit lockigen Haaren. Er trug einen roten Trainingsanzug und stützte mit der rechten Hand ein altes Fahrrad. „Zu, was?“, fragte er. Ich nickte. Er zeigte mit der linken Hand über die rechte Schulter. „Zwei Straßen weiter ist ein Kaiser‘s.“ So lernte ich Albert Torik kennen. Sein Fahrrad hatte einen Platten, er schob es den ganzen Weg ne-
ben sich her. Später erfuhr ich, dass er zwar schon seit Jahren nicht mehr damit fuhr, aber es regelmäßig spazieren führte, wie er es nannte. Als ich ihn fragte, warum er nicht einfach einen neuen Schlauch einsetzte, erklärte er mir, dass das sinnlos sei es gäbe zwei Arten von Radfahrern: Solche, die Platten bekommen, und die anderen. Da er nun also zur ersten Kategorie gehörte, würde er ohnehin immer wieder einen neuen Platten bekommen, da könnte er sich die ständigen Reparaturen auch gleich sparen. Diese Argumentation war typisch für ihn. Nach kurzer Zeit hatte er auch mich durchschaut. „Du bist ein Schisser“, sagte er, und ich konnte ihm nicht wirklich widersprechen. Also bot er mir an, mein Lehrmeister zu werden. Eine Woche nach unserem Kennenlernen fand am U-Bahnhof Friesenplatz meine erste Unterrichtseinheit statt. Das Ziel war einfach: Ich sollte von einem Bahnsteig mit der Rolltreppe zum tiefer gelegenen Bahnsteig fahren, um dort die Bahn zu bekommen. Er stand am Fuß der Treppe, ich wartete oben auf sein Zeichen wir hatten Walkie-Talkies dabei. Ich hörte, wie unten die Bahn einfuhr, und kurz darauf seine Stimme: „Und los!“ Hastig lief ich die Rolltreppe hinab, an den anderen Fahrgästen vorbei, die ebenfalls die Bahn noch erreichen wollte. Als ich unten ankam, schlossen sich gerade die Türen. Enttäuscht sah ich zu Albert hinüber, aber der lächelte nur. „Kein Problem“, sagte er, „wir machen gleich weiter.“ Auch die nächste Bahn verpasste ich, und die danach. Dabei hatte ich das Gefühl, mein Tempo durchaus gesteigert zu haben. Erst nach drei weiteren Durchläufen kam mir der Gedanke, dass Albert mir von Mal zu Mal immer später das Zeichen gab - er ließ mich absichtlich zu spät loslaufen! „Du lässt mir ... gar keine Chance“, fuhr ich ihn an, inzwischen schon sehr außer Atem. „Ganz genau. Und weiter!“ Nach zwei Stunden hatte ich wohl fürs erste Mal genug gelernt. Ich durfte ihn noch auf eine Pizza einladen, dann verabschiedeten wir uns. Bei unserem nächsten Treffen war Theorie angesagt. Albert ging
mit mir durch den Stadtwald und redete auf mich ein. „Hast du schon mal erlebt, wie die Menschen reagieren, wenn ein Platzregen niedergeht?“, fragte er zum Beispiel. Ich kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dies eine rhetorische Frage war. Tatsächlich beantwortete er sie nach einer kurzen Pause selbst. „Zuerst laufen alle wild herum wie aufgescheuchte Hühner, weil sie um ihr Aussehen fürchten, vor allem um ihre Haare. Aber irgendwann merken sie, dass sie sowieso schon völlig durchnässt sind, die Strähnen kleben auf der Stirn, sie sehen auf einmal alle aus wie Clowns, die man mit einem Eimer Wasser übergossen hat. Die ganze Seriosität ist futsch, einfach so. Und wenn sie das erstmal begriffen haben, bekommen sie gute Laune und lächeln sich im Vorbeigehen sogar an. Was der Regen mit den Frisuren macht, das macht die Stadt mit deinen Vorstellungen vom Leben. Sie bringt sie gehörig durcheinander, und am Ende erkennst du dich selbst nicht wieder, aber der Effekt ist, dass du ab sofort viel entspannter bist. Verstanden? Ok, dann gehen wir jetzt ins nächste Brauhaus und bestellen dir ein Glas warme Milch.“ Fast ein halbes Jahr lang sahen wir uns regelmäßig einmal die Woche. Albert dachte sich ständig neue Aufgaben für mich aus: Ich musste versuchen, Socken umzutauschen, nachdem ich sie eine Woche lang ununterbrochen getragen hatte; er ließ mich bei McDonalds mit Ein-CentStücken bezahlen, während hinter mir eine Schlange von hungrigen Jugendlichen wartete; im Kino sollte ich während eines einzigen Filmes fünfmal auf die Toilette gehen - aber schon nach dem dritten Mal ließen mich die wütenden Zuschauer nicht mehr zurück in meine Reihe. Albert war trotzdem zufrieden, zusätzliche Komplikationen freuten ihn stets besonders. Natürlich blieb sein Unterricht nicht ohne Folgen. Im Laufe unserer gemeinsamen Zeit wuchs mein Selbstbewusstsein wie noch nie zuvor. Als Erstes setzte ich ein höheres Zeilenhonorar für meine Übersetzungen durch. Mit dem Geld, das ich nun mehr verdiente, konnte ich mir eine schönere Wohnung leisten. Ich fing an, öfter auszugehen. Fünf
Monate, nachdem ich vor dem geschlossenen Edeka gestanden hatte, sprach ich zum ersten Mal in einer Diskothek ein Mädchen an, das mir gefiel. Als ich Albert davon erzählte, schlug er mir übertrieben auf die Schulter und sagte: „Ich bin stolz auf dich, mein Junge.“ Wir lachten, aber tatsächlich sollte dies unser letztes Treffen werden. Denn beim nächsten Mal erschien er nicht, und als ich ihn anrief, war die Nummer nicht zu erreichen. Seine Adresse kannte ich nicht, im Telefonbuch und auch im Internet war nichts über ihn in Erfahrung zu bringen. Wahrscheinlich hatte er sich den Namen einfach ausgedacht, als ihn danach gefragt hatte. Meine Reaktion auf seinen abrupten Abgang folgte einem klassischen Muster: Sorge, Ärger, Trauer und schließlich Akzeptanz. Er war offenbar der Meinung, dass ich nun alles gelernt hatte, was er mir beibringen konnte. Heute weiß ich, dass sein Timing perfekt war - so wie damals an der Rolltreppe am Friesenplatz. Denn kurz nach seinem Verschwinden bekam ich plötzlich große Lust, mir ein Fahrrad zu kaufen, allein aus Neugier, um nämlich herausfinden, zu welcher Kategorie von Fahrern ich wohl gehöre. Schon nach einer Woche hatte ich meinen ersten Platten, und ich war stolz darauf. www.thorstenkraemer.de
54 meerblick
55 meerblick
middelburg, niederlande
58 KölN
BrÜSSeler PlatZ
der bis 1889 amtierende Stadtbaumeister hermann Josef Stübben hatte die aufgabe, die ehemalige Stadtmauer abzureißen und einen prächtigen Ringboulevard zu erschaffen. Durch den Abriss wurde neue Baufläche geschaffen, unter anderem im Belgischen viertel. im Mai 1889 ging die Fläche des Brüsseler Platzes in das eigentum des erzbistums über, das dort den Bau einer kirche plante. 1894 entstand zunächst ein provisorischer Backsteinbau, der in den Folgejahren zu St. Michael wurde. 1907 wurde der Brüssseler Platz als große Freifläche konzipiert, die sich um die kirche erstreckt. erst anfang der 1980er Jahre erhielt der Platz seine heutige optik. Mit freundlicher genehmigung: konservator Stadt köln / www.bilderbuch-koeln.de.
startausgabe 1 Köln
Mensch Magazin über persönlichkeit
Foto: Andy Kassier
Mensch magazin über1 persönlichkeit Leute
Köln
+++ st arta
usgabe
+Steve bl ame Interview + 5 e u ro +
+++