Das Buch Marina Bergenbaum ist verzweifelt, als sie vom Tod ihrer Tochter auf Mallorca erfährt. Erst kurz zuvor hat sie eine Postkarte von ihr bekommen, die davon erzählt, dass sie auf der Baleareninsel ihr Glück gefunden hat. Der von der Polizei angenommenen Suizid-Theorie kann sie keinen Glauben schenken. Begleitet von Schuldgefühlen wegen des geringen Kontaktes zu ihr, fliegt sie nach Mallorca und besucht alle Orte, die Roberta wichtig waren, befragt deren Freunde und Bekannte und versucht herauszufinden, was zu ihrem Tod führte. Verwirrende Liebesbriefe, ein Einbruch und ungeklärte Salmonellenvergiftungen in Gourmet-Restaurants halten sie in Atem. Gleichzeitig wird sie gezwungen, ihre menschenscheue Zurückgezogenheit aufzugeben und die Hilfe anderer anzunehmen.
Die Autorin Heidi Fischer wurde 1954 in Oberfranken geboren, lebte einige Jahre in München, um dann mit ihrem Ehemann und ihren drei Kindern wieder nach Coburg zurückzukehren. Sie arbeitete als Lehrerin, Mutter und Hausfrau und schreibt seit vielen Jahren Gedichte und Kurzgeschichten. Ihre Arbeiten wurden in unterschiedlichen Anthologien und der Literaturzeitschrift Wortlaut veröffentlicht. Seit ihre jüngste Tochter den Wohnsitz nach Mallorca verlegt hat, ist Heidi Fischer ein Fan der Insel und verbringt mehrere Wochen im Jahr auf der Balearen-Insel. Bisher erschienen beim Lauinger Verlag | Der Kleine Buch Verlag, Laufmaschen im Strickstrumpf (2013), Wer später stirbt ist länger alt (2015) und Der verlorene Mann (2016).
Heidi Fischer
Tod der
Schmetter lingsFrau Frau Mallorca Krimi
Lauinger Verlag
Die deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar. © 2018 Lauinger Verlag, Karlsruhe Projektmanagement, Umschlaggestaltung, Bildbearbeitung, Satz & Layout: Sonia Lauinger Korrektorat: Vanessa Gantner, Julia Horn, Karlsruhe Umschlagabbildung: © stocksnap, Photographer: Boris Smokrovic Im Satz: Butterfly Landing © Clip arts Foto Seite 250/251: Heidi Fischer, Fotos Rezepte: pixaby Druck: Bookpress, Polen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes (auch Fotokopien, Mikroverfilmung und Übersetzung) ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt auch ausdrücklich für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen jeder Art und von jedem Betreiber. ISBN: 978-3-7650-9128-5 Dieser Titel erscheint auch als E-Book: ISBN: 978-3-7650-9129-2 http://www.derkleinebuchverlag.de http://www.facebook.com/DerKleineBuchVerlag
Manchmal schreibe ich in Gedanken Flßgel in den Wind – und fliege
eins Eine aufgeregte Schar von Touristen hatte sich in der idyllischen Bucht von Deià gesammelt. Stimmengewirr in Englisch, Deutsch und Spanisch brummte wie ein aufgeregter Bienenschwarm durch die sonnenwarme Bucht. Polizisten hatten den Bereich des steinigen Strandes abgegrenzt, wo die zugedeckte Leiche gekrümmt am Boden lag. Dahinter standen Menschen zuhauf mit Handy und Fotoapparat im Anschlag. Neugierig vertrieben sie sich die Zeit mit Mutmaßungen über die Todesursache. Erste Journalisten interviewten die dem Tatort am nächsten Stehenden hinter dem weiß-roten Absperrband. Was sie über die Tote wüssten und wer sie gefunden hätte, wollten sie wissen. Feststehende Tatsachen und wilde Spekulationen mischten sich zu einem Brei, der an die Medien weitergegeben wurde. Die mittlerweile brütende Mittagshitze des frühen Sommers machte es den ermittelnden Beamten nicht einfacher. Es war der zweite Juni und für die Jahreszeit unglaublich heiß. »Die ist sicher selbst gesprungen! Oder abgestürzt! Da war doch niemand um die Uhrzeit. Typischer Leichtsinn, wahrscheinlich hat sie zu weit am Abgrund gestanden und ist weggerutscht. Vielleicht ist ihr schlecht geworden und sie ist gefallen. So jung! Was sie wohl um diese Uhrzeit hier wollte?« Alle hatten eine Vermutung, niemand wusste Genaues. Den ungefähren Todeszeitpunkt hatte der Gerichtsmediziner vorsichtig zwischen sechs und sieben Uhr morgens geschätzt. »Caramba. Qué mierda!«, brummte Comisario José Maria Casas in übelster Laune vor sich hin. Was so viel wie: »Zum Teufel!« oder »So ein Mist!« hieß. 9
Als er die wenigen Fakten zusammenfügte, die bekannt waren, kam er zu dem Schluss: »Wir sollten nicht so tun, als hätten wir hier einen Tatort. Sieht absolut nicht nach Fremdverschulden aus. Die Touristen sind jetzt schon ganz verrückt. Wir wollen hier gar nicht an einen Mord denken, geschweige denn davon reden.« Die Cala de Deià ist in den Sommermonaten ein beliebtes Ausflugsziel. Schon zu Beginn der Mandelblüte Ende Februar oder Anfang März wird das steinige Meeresufer vom Unrat befreit, der im Winter angeschwemmt wurde. Einige Zeit später öffnen die beiden Restaurants und die ersten Sonnenanbeter bevölkern den malerischen Flecken, der laut renommierter Reiseführer als wahres Kleinod gilt und zu den schönsten Orten Mallorcas zählt. »Wer ist die Frau eigentlich?«, fragte einer der Einsatzleute vom Rettungsdienst. »Eine Bedienung aus dem ›Sole Sóller‹ unten am Hafen in Sóller. Sie war oft morgens früh unterwegs, wanderte oder saß am Meer und zeichnete in ihren Skizzenblock. Immer war sie unterwegs, wenn es die Frau ist, die wir vermuten.« Der Polizist schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen, um zu verdeutlichen, was er von Menschen hielt, die schon vor Morgengrauen in der Natur unterwegs waren. Dann ergänzte er: »Ihre Mitbewohnerin hat sie heute Morgen als vermisst gemeldet, als sie um neun Uhr nicht wieder zu Hause war und nicht an ihr Handy ging. Sie hatten beide ihren freien Tag und wollten gemeinsam frühstücken gehen.« »Hübsche Frau! Aber ziemlich leichtsinnig, hier ganz allein rumzulaufen. Hatte sie denn ein Handy dabei?« »Wir haben keins gefunden.« Der erste Badegast, ein deutscher Urlauber, hatte den leblosen Körper der jungen Frau hinter einem Felsblock, der oft zum Sonnen genutzt wurde, entdeckt und ein Bild des blutigen Kopfes mit dem eingedrückten Auge auf der rechten 10
Gesichtshälfte per Smartphone an die Polizei geschickt. Vorher hatte er die Leiche noch so zurechtgelegt, dass alles fotogener aussah. Der Mann erlangte dadurch eine gewisse Internetberühmtheit, weil er ein Selfie von sich und der Toten auf seine Facebook-Seite stellte. Als wäre es eine Heldentat, einen leblosen Menschen am Strand zu finden. Die Polizei konnte nicht mehr mit Sicherheit sagen, wie die Frau gefallen war. Die Angaben des Mannes waren unpräzise und die Schimpftirade des Comisario über so viel Dummheit verstärkte seine Unsicherheit bezüglich des Auffindens der Leiche noch um ein Vielfaches. »Burro« und »idiota« waren noch die nettesten Ausdrücke, die er gebrauchte. Comisario Casas hasste die allgegenwärtige Präsenz moderner Medien, ganz besonders die Erfindung des Smartphones. Mit seinen nicht besonders gelenkigen Fingern brauchte er ewig, bis seine Meldungen per WhatsApp eingetippt waren und ständig vergaß er seinen Nachrichten-Eingang zu überprüfen. Seine Vorgesetzte im Präsidium hatte ihn schon mehrfach ermahnt, gewissenhafter zu arbeiten. Dabei war er ein äußerst genauer Beamter, nur eben ein Vertreter der alten Generation, der seine Ausbildung an der Schreibmaschine und mit einem Festnetztelefon begonnen hatte. Bis zum Eintreffen des ersten Streifenwagens hatten weitere Neugierige, vielleicht auch hilfsbereite Touristen, alle Spuren, die Aufschluss über den Ablauf des Unfalls hätten geben können, vernichtet. Ein streunender junger Hund verrichtete pietätlos sein Geschäft genau neben der Toten, bevor er einen kleinen Schmetterling entdeckte, der in Richtung der gelb blühenden Ginsterbüsche oberhalb der Felsen flog, und diesem hinterherjagte. Der Polizeifotograf trat in den stinkenden Haufen, als er Bilder der Verletzungen aufnehmen wollte. Noch tagelang roch sein Turnschuh nach Hundekot und seine ohnehin schon heftige Abneigung gegen herrenlose Straßenköter bekam neue Nahrung. 11
Für die Tote Roberta Bergenbaum interessierte sich sehr schnell niemand mehr. Schon drei Tage später war ihr Bild wieder aus den Medien verschwunden, was eigentlich verwunderlich war, denn das mallorquinische Fernsehen und auch die Mallorca-Zeitung liebten es, Selbstmorde, die sehr wahrscheinlich aus Liebeskummer begangen worden waren, genüsslich auszuschlachten. Aber der Tourismusdirektor selbst war diskret mit der Bitte an die Medien herangetreten, doch möglichst wenig über den Fall zu berichten. Mallorca galt als einer der wenigen Orte auf der Welt, die man sicher und bedenkenlos bereisen konnte. Die Insel war ein Platz, an dem die Welt noch in Ordnung schien und alle Menschen unbeschwert lebten. Dieses Image wollte man sich doch nicht verderben! Es gelang ihm nicht oft, die Presse auf seine Seite zu ziehen, aber in diesem Fall hatten die Journalisten ein Einsehen oder sie versprachen sich keine wesentlich höhere Auflagensteigerung von einer ausführlichen Berichterstattung. Wie auch immer, Roberta Bergenbaum geriet sehr schnell in Vergessenheit. Sie war als Saisonarbeiterin auf die Insel gekommen und hatte gerade mal drei Monate in dem Restaurant am Hafen gearbeitet. Flink und freundlich wurde sie von den Mitarbeitern beschrieben, aber viel wusste man nicht von ihr. Niemand brachte sie mit Waldemar Bergenbaum, dem vor vier Jahren verstorbenen Schauspieler in Verbindung und keinen interessierte, mit wem sie ihre Freizeit verbrachte. Junge Frauen, die im Gastgewerbe jobbten, gab es massenhaft auf der Insel. Dass sie besonders gerne idyllische Motive am Meer zeichnete, war der Grund, dass sie sich so früh oberhalb der Cala Deià aufgehalten hatte. Das weiche Blau des Meeres einzufangen hatte es ihr vielleicht angetan oder die verträumte Einsamkeit des Ortes, bevor Badegäste wie ein Bienenschwarm einfielen. Sie war von zu Hause aus im 12
Morgengrauen losgegangen und auf dem Wanderweg nach Deià gelaufen, der entlang der Küste verlief. Auf dem letzten Stück war sie dann hinunter in die Bucht gestürzt. Dieser Pfad war nicht ungefährlich, da er an einigen Stellen ungesichert war. Ausdrücklich wiesen Schilder darauf hin, dass nur geübte Wanderer ihn gehen sollten. Dass sie sich manchmal spät abends ausnehmend chic gemacht hatte, um sich in Palma oder Portals Nous mit ihrem Freund oder einer Freundin zu treffen, war auch nichts Ungewöhnliches. Ihre Mitbewohnerin konnte nicht viel über sie beisteuern. Am Anfang hoffte die Polizei noch, irgendein Zeuge würde sich bei ihnen melden und wenigstens ein bisschen Licht in das Dunkel der Ermittlungen bringen, aber als nach einer Woche kein Anruf eingegangen war, ruhte die Akte. Es gab viele andere Tatorte auf der überfüllten Ferieninsel, die die volle Aufmerksamkeit der Behörden beanspruchten. Das verzerrte Gesicht der jungen Frau, das vom Aufprall auf den Steinen zerschmettert war, geriet bald in Vergessenheit. Die Polizei fand am Fundort der Leiche keine Spuren von Fremdeinwirkung und entschied, dass es sich entweder um einen Selbstmord oder um ein tödliches Missgeschick gehandelt haben musste. Vielleicht war die junge Frau unvorsichtigerweise bis an den Rand der Klippe gelaufen, hatte auf dem Meer etwas Interessantes entdeckt und nicht auf den Verlauf des schmalen Pfades geachtet. Eine weitere Vermutung war natürlich auch, dass sie eventuell ihr Handy verloren hatte. Vielleicht war es ihr über die Klippen hinuntergefallen und sie hatte versucht, es wieder zu finden. Oder sie hatte probiert, von unten die felsige Wand hinaufzuklettern und war abgerutscht. Beide Variationen waren möglich. Die Steilküste hatte durchaus ihre Tücken und ein Fehltritt konnte tödliche Folgen haben. 13
Ihr Handy musste jedenfalls ins Meer gefallen sein, denn es ließ sich nicht orten und wurde auch nicht gefunden. Nur ein prall gefüllter Skizzenblock und ein Mäppchen mit Stiften lagen neben einem Felsen oben am Wanderweg. Dieser Fund bestätigte die Theorie, dass es sich um einen bedauerlichen Unfall handeln könnte. Aber das Bild von einem ertrinkenden Mädchen und eine Sprechblase darüber, in der »Help!« stand, deutete die Polizeipsychologin als mögliche Ankündigung eines Suizids. Der Fall blieb unklar. Nur Fremdeinwirkung schlossen die Beamten mit ziemlicher Sicherheit aus.
ZWEI Marina Bergenbaum lebte ein ruhiges, fast schon kontaktarmes Leben. Bei ihren Nachbarn galt sie als unzugänglich, manche hielten sie für ungastlich, weil sie kaum jemanden zu sich nach Hause einlud und auch nicht an den zweimal im Jahr stattfindenden Straßenfesten teilnahm. Nach ihrer Scheidung vor fünf Jahren war sie in eine fränkische Kleinstadt gezogen, übersetzte langweilige, aber gut bezahlte Texte für ein wissenschaftliches Fachblatt vom Spanischen ins Deutsche und versuchte sich in der verbleibenden Zeit am Schreiben von Gedichten und Kriminalromanen, die nur selten einen abnehmenden Verlag fanden. Ihre Krimis wurden zwar lobend in einigen Literaturzeitschriften erwähnt, aber der Verkauf ging schleppend. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass sie nur ungern Lesungen abhielt und gegenüber der Presse nicht durch Freundlichkeit glänzte. Von ihrem Tick, sich unter Anspannung oder Stress ständig mit beiden Händen durch die Haare fahren zu 14
müssen und sich Oberschenkel und Unterarme zu zerkratzen, bis diese rot und wund waren, erzählte sie niemandem. Öffentlichkeitsarbeit war für sie auch aus diesem Grund ein rotes Tuch und ihre Abneigung dagegen für die Verlage ein weiterer Punkt, ihre Manuskripte abzulehnen. Aber sie kam finanziell über die Runden. Mit ihrer Tochter hatte sie schon seit ein paar Jahren nur noch wenig Kontakt. Genau genommen seit ihrer Scheidung von Waldemar Bergenbaum, dem Vater von Roberta. Bei seiner Beerdigung hatten sie sich das letzte Mal getroffen, aber nur ein paar wütende und vorwurfsvolle Sätze ausgetauscht. Zu mehr war Roberta nicht bereit gewesen. Sie war nach der Trauerfeier sofort wieder abgereist. Ihrer Mutter hatte sie die Trennung von ihrem Vater nie verziehen. Und sie gab ihr die Schuld an seinem frühen Tod. Marina hätte ihm das Rauchen abgewöhnen müssen, hätte ihn zur Vorsorgeuntersuchung schicken sollen. Auch ihr Mangel an Liebe ihm gegenüber wäre ein Auslöser für seine Erkrankung gewesen, sagte sie voller Zorn und übermäßiger Trauer. »Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Lass mich einfach in Ruhe!« Das waren ihre letzten Worte, bevor sie ging. Gib ihr Zeit, sie wird wieder einen Weg zu dir zurückfinden, sagte sich Marina. Immer mal wieder hatte Marina Bergenbaum in Erwägung gezogen, ihre Tochter anzurufen oder ihr einen Brief zu schreiben und das Scheitern ihrer Ehe zu erklären, doch wie das eben so ist, sie hatte es nie getan. Dass Roberta nicht mehr in ihrem Beruf als Sozialpädagogin arbeitete, wusste Marina, aber dass sie in einem Restaurant auf Mallorca als Bedienung gejobbt hatte, war ihr neu. Sie erfuhr es erst, als sie die amtliche Nachricht über Robertas Tod erhielt. Diese wurde von einem Polizeibeamten überbracht, 15
der schwitzend und schlecht gelaunt an ihrer Tür klingelte. Sie hatte nicht den leisesten Hauch einer Vorahnung, was ihn zu ihr führen könnte, als sie ihm öffnete. Drei Wochen vorher hatte sie sich noch über eine erste Postkarte gefreut. Eine kurze Nachricht, die ihr die Hoffnung gab, dass sich ihr Verhältnis wieder normalisieren könnte. Roberta hatte geschrieben: Mallorca ist MEINE Insel! Ich habe meinen Platz zum Leben gefunden und bin glücklich!!! Hast Du nicht Lust, nach Sóller zu kommen? Bobby Neben ihrer Unterschrift flatterte ein winziger blauer Falter, den sie mit Buntstiften dorthin gemalt hatte. Auf der Vorderseite war der Rote Blitz zu sehen, die alte Holzeisenbahn, die mehrmals täglich von Palma nach Sóller fuhr und zu den Touristenattraktionen der Insel gehörte. Die Nachricht war typisch für ihre Tochter. Kurz und lebensfroh. Die Karte war mit einer ziemlich unleserlichen Adressangabe versehen, die Marina nicht entziffern konnte. Sofort versuchte sie Roberta telefonisch zu erreichen, aber die Handynummer war nicht mehr gültig. Deshalb heftete sie die Postkarte an das leere Notizbrett neben der Eingangstür und freute sich im Vorbeigehen, dass Roberta sie nicht ganz vergessen hatte. Irgendwann wird sich unser Verhältnis wieder normalisieren. Zeit heilt alle Wunden, dachte sie. Und sie wartete ungeduldig auf eine nächste Nachricht, die eine leserliche Adressangabe enthalten würde. So wie die meisten Mütter vertraute sie darauf, dass sich die Beziehung zu ihrer Tochter wieder einrenken würde. Sie dachte nicht im Traum daran, dass es dazu vielleicht zu spät sein könnte. 16
Die Nachricht vom Tod der einzigen Tochter traf sie hart. Stundenlang saß sie in ihrem verwilderten Garten unter dem Kastanienbaum, der gerade erste Fruchtansätze gebildet hatte und dessen Blätter in einem hellen frühsommerlichen Grün leuchteten. Erst war sie wie gelähmt vor Schmerz, dann heulte sie wie ein Schlosshund, laut und trostlos. Ihre Hände arbeiteten sich durch Haare, Oberschenkel und Unterarme und hinterließen blutige Spuren. »Du hast ein schlechtes Gewissen. Mit echter Trauer hat das nichts zu tun! Sie war doch nie wichtig für dich.« Das waren die Worte ihres Lebensabschnittsgefährten. Er war Schauspieler am örtlichen Provinztheater und forderte Aufmerksamkeit für sich selbst, nicht für verstorbene Familienmitglieder seiner Geliebten, die er nicht einmal kannte. Seine unsensiblen Worte rissen Marina aus der Lethargie, die sie, gemeinsam mit den Tränen, wegzuschwemmen drohte. Sie kümmerte sich um die rasche Überführung der Leiche ihrer Tochter nach Deutschland, informierte die Freundinnen und Freunde Robertas von früher, telefonierte mit den Verwandten, die zur Beerdigung kommen sollten und suchte Sarg, Blumenschmuck und Grabstein aus. Dann organisierte sie eine Trauerfeier, von der sie glaubte, dass sie Roberta zugesagt hätte. Viel Ahnung hatte sie nicht mehr von den Vorlieben und Träumen ihrer Tochter. Deshalb orientierte sie sich am Geschmack, den diese in der Zeit gehabt hatte, als sie noch mit ihr redete, ließ einen befreundeten Gitarristen den Bob Dylan-Song »Blowing in the wind« spielen und trug selbst das Gedicht »Stufen« von Hermann Hesse vor. Es wurde ziemlich trostlos. Sie verhaspelte sich dreimal beim Aufsagen der Verse und niemand verstand etwas, weil sie viel zu leise sprach und immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Aber es war immer Robertas Lieblingsgedicht gewesen. 17
Bei der anschließenden Zusammenkunft nach der Trauerfeier in einem Café am Marktplatz war Marina betrunken, bevor die letzten Gäste ihren Kaffee serviert bekommen hatten. Sie wusste nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war. In ihrem Inneren herrschte kalte Leere. Als hätte sie mit Robertas Tod eine dicke Eisschicht eingehüllt, die, wenn sie schmelzen sollte, eine graue Geröllhalde zum Vorschein bringen müsste. Am nächsten Morgen setzte sie ihren Geliebten vor die Tür. Marina wusste schon länger nicht mehr, warum sie mit ihm zusammenlebte. Sie beendete die Affäre so emotionslos, dass es von ihrer Seite aus an Unverschämtheit grenzte. Sie weigerte sich, seine Betroffenheit zur Kenntnis zu nehmen. Die neue Kälte in ihrem Inneren half ihr dabei. Am gleichen Abend buchte sie einen Flug von Nürnberg nach Palma de Mallorca für den folgenden Tag, packte wahllos einige Kleidungsstücke in einen kleinen Koffer und bat die Nachbarin, Post und Zeitungen aus dem Briefkasten zu nehmen. Sie wollte auf der Ferieninsel Mallorca auf Spurensuche gehen, wollte sehen, wie ihre Tochter gelebt hatte und eine Antwort darauf finden, warum sie so plötzlich gestorben war. Alle Fragen in ihrem Kopf schrien nach Antworten. Und sie wünschte sich sehnlich, dass die Antworten, die sie finden würde, nicht neue Fragen aufwarfen.
drei Für Motorradfahrer gehört die Straße entlang der Westküste von Andratx nach Sóller zu den schönsten auf Mallorca. Herrliche Kurven, wunderbare Ausblicke entlang der Steil18