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Editorial
Der Baum, mein Mitbewohner
„Der Baummieter zahlt seine Miete mit Sauerstoff, durch seine Staubschluckkapazität, als Anti-Lärmmaschine [...], durch Giftvertilgung, durch Reinigung des verseuchten Regenwassers, als Produzent des Glücks und der Gesundheit, als Schmetterlingsbringer und durch Schönheit“, schrieb Friedensreich Hundertwasser 1973. Seine Idee, Häuser könnten Lebensraum auch für Bäume und andere Pflanzen sein, ist heute aktueller denn je. Das hat gute Gründe: Mit begrünten Gebäuden lassen sich ein 60 – 80 % reduzierter Regenwasserablauf vom Dach, 1,3 – 1,4 °C geringere Umgebungstemperaturen, eine Lärmminderung um 10 dB und bis zu 85 % weniger Kühlenergieverbrauch im Sommer erreichen.
Einer der eifrigsten Sachwalter von Hundertwassers Erbe ist derzeit der Mailänder Architekt Stefano Boeri. In einem ausführlichen Interview in dieser Ausgabe erläutert er, wie seine „vertikalen Wälder“ funktionieren und warum er sie nur als einen Baustein in einem übergreifenden Netzwerk von Grünräumen sieht, die die Biodiversität fördern sollen.
Welch unterschiedliche Formen begrünte Gebäude annehmen können, verdeutlicht unsere Projektauswahl zum Thema „Grüne Städte“: In Leeds schufen Heatherwick Studio eine grüne Oase für krebskranke Patienten im ansonsten trist-grauen Klinikumfeld. Sou Fujimotos Hotelanbau im japanischen Maebashi ist für eine ganz andere Zielgruppe bestimmt und erfüllt doch eine ganz ähnliche Funktion im Stadtbild. In Osaka räumte Tomohiro Hata den „Baummietern“ viel Platz auf den Terrassen eines Einfamilienhauses ein und in Eindhoven bewiesen Stefano Boeri und Inbo, wie sich mit dem begrenzten Budget eines sozialen Wohnungsbaus Lebensraum für Bäume, Sträucher und Stauden schaffen lässt. Wie Pflanzen das Arbeitsumfeld bereichern und beruhigen können, zeigen MIA Design Office und Atelier du Pont mit ihren Büroneubauten in Ho-Chi-Minh-Stadt und Paris.
Gerade in dicht besiedelten Metropolen sind begrünte Dächer und Fassaden oft die einzige Möglichkeit, noch mehr Vegetation in die Stadt zu bringen. Zahlen belegen, dass Stadtverwaltungen und Bauherren dies erkennen: Fast 8 km2 Gründächer – die Fläche von etwa 1100 Fußballfeldern – wurden 2020 allein in Deutschland neu angelegt. Die Frage scheint also längst nicht mehr zu sein, ob der Gebäudebegrünung die Zukunft gehört, sondern in welcher Form und Intensität.
Das Editorial dieser Ausgabe als Podcast Listen to our editorial podcast: detail.de/7-8-2022- editorial