Deutsche Oper Berlin | Magazin Februar 2015 – Juli 2015

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Deutsche Oper Februar 2015 – Juli 2015 | Spielzeit 2014 / 2015

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Inhalt

4 Der Preis der Freiheit Rolando Villazón inszeniert Puccinis LA RONDINE 6 Der Frauenversteher Wie Giacomo Puccinis Affären in seine Opern Eingang fanden 10 Liebe kann Grenzen überwinden Sasha Waltz bringt ihre Version von Berlioz’ ROMEO UND JULIETTE nach Berlin 14 Die Gretchenfrage Philipp Stölzl wendet sich Charles Gounods FAUST-Oper zu 18 Der Feind in meinem Bett Drei Kurzopern widmen sich einem dunklen Kapitel deutsch-deutscher ­Geschichte 22 Die Kunst der leisen Töne Pavol Breslik singt Orchesterlieder von Richard Strauss 24 Zeugin eines Jahrhunderts Die Memoiren von Valentina Freimane haben eine Oper inspiriert 27 Spielplantipps Tischlerei 28 Repertoire-Tipps und Service

Das Deutsche Oper Magazin der Deutschen Oper Berlin ist eine Beilage der Tageszeitung Der Tagesspiegel Berlin © 2015 Herausgeber Deutsche Oper Berlin Vermarktungs GmbH Richard-Wagner-Straße 10 10585 Berlin Redaktion Dramaturgie / verantwortlich: Jörg Königsdorf [ Deutsche Oper Berlin ] Ulrich Amling [ Der Tagesspiegel ] Gestaltung Benjamin Rheinwald Produktion Möller Druck Die Rechtschreibung folgt den Vorlagen.


3 2 © Marcus Lieberenz

Jörg Königsdorf Chefdramaturg, Deutsche Oper Berlin

Liebe Freunde und Freundinnen der Deutschen Oper Berlin, wer Kindern Geschichten vorliest, macht schnell eine über­ raschende Erfahrung: Statt jedes Mal etwas Neues bieten zu müssen, sieht man sich im Gegenteil mit dem Wunsch konfrontiert, immer wieder dieselben Märchen oder Abenteuer hervorzuholen. Das Publikum hat offenbar überhaupt kein Problem damit, zum fünfundachtzigsten Mal zu verfolgen, wie Kasper und Seppel den Zauberer überlisten oder was am Ende aus dem roten Ball wurde, den das kleine Mädchen verloren hatte. Und sind wir Erwachsenen nicht auch so? Die zentralen Stoffe unserer Kultur begleiten uns unser ganzes Leben lang, ohne ihre Bedeutung zu verlieren. Und dass wir das Ende kennen, verringert nicht im Mindesten den Genuss, diese Geschichten immer wieder auf der Bühne zu erleben. Nur in einem wesentlichen Punkt verhalten wir uns anders: Während Kinder in der Regel streng darüber wachen, dass ihre Lieblingsgeschichten jeden Abend genau gleich erzählt werden und bei jeder Abweichung energisch protestieren, wollen wir die bekannten Geschichten hin und wieder auf eine neue Art erleben. Gerade weil wir auf die Zeitlosigkeit der großen klas­ si­schen Stoffe vertrauen, sind wir gespannt darauf, wie jede neue Generation von Opern- und Theatermachern sie auf ihre ­Weise umsetzt, was sie in Figuren wie Don Giovanni, Orfeo oder Brünnhilde entdeckt. Die Deutsche Oper Berlin präsentiert in den kommenden ­Monaten zwei der bekanntesten Geschichten der Welt: „Romeo und Julia“ und „Faust“. Beide Stoffe sind längst über die konkreten Vorgaben ihrer Urversionen hinausgewachsen und wurden von Komponisten, Theaterregisseuren und Filme­machern auf die unterschiedlichste Weise erzählt. Wir präsentieren ihnen eine der radikalsten, aber auch poetischsten Lesarten: die 1838 uraufgeführte „Romeo und Julia“-Version von Hector Berlioz, die nahezu alle äußere Handlung eliminiert und stattdessen die Gefühle ins Zentrum stellt, die diese G ­ eschichte in uns auslöst. Berlioz’ „Symphonie tragique“ hat Berlins große Choreografin Sasha Waltz zu einer bereits in Mailand und P ­ aris

gefeierten Inszenierung inspiriert, die sie für Berlin erstmals mit den Tänzern ihrer Compagnie einstudiert. Auch „Faust“ hat in den letzten zwei Jahrhunderten unzählige Künstler inspiriert: Die Frage, wie man leben würde, wenn man die Chance hätte, wieder jung zu sein, hat sich wohl jeder schon einmal gestellt – und auch in diesem Fall spielt es keine Rolle, ob der Proband ein alter Gelehrter in einer deutschen Universitätsstadt der Renaissance oder ein amerikanischer Atom­ physiker ist. Philipp Stölzl hat die „Faust“-Oper des Franzosen Charles Gounod schon einmal in Basel inszeniert. Für die Deutsche Oper Berlin wagt er nun eine neuerliche Auseinander­ setzung mit dem Stoff, der ihn so wenig loslässt wie uns alle. Neben diesen beiden Premieren haben wir natürlich noch ­einige andere Geschichten für Sie bereit – die zwar weniger bekannt sind, aber ebenso essenzielle Lebenssituationen behandeln: Diejenige der Kurtisane Magda beispielsweise, die sich in Puccinis Oper LA RONDINE zwischen einer bürger­ lichen Existenz und materiellem Luxus entscheiden muss. Oder die Geschichte eines „Romeos“, wie die Stasi-Agenten genannt wurden, die im Westen oft jahrelange Beziehungen aufbauten, um ihre Partner auszuspionieren. Oder auch die bewegende Geschichte der lettischen Jüdin Valentina Freimane, die zur Grundlage einer Oper geworden ist. Über all das können Sie auf den folgenden Seiten lesen und ich würde mich sehr freuen, wenn die Artikel dieses Magazins Sie neugierig machen auf die Geschichten, die wir Ihnen ­erzählen wollen. Wir freuen uns auf Sie,


La Rondine Giacomo Puccini [1858 – 1924] Premiere:

8. März 2015 Weitere Vorstellungen: 12., 14., 18., 27. März; 29. Juni; 3. Juli 2015

Fotografie: Sascha Weidner

Musikalische Leitung Roberto Rizzi Brignoli Inszenierung Rolando Villazón Bühne Johannes Leiacker Kostüme Brigitte Reiffenstuel Chöre William Spaulding Choreografie Silke Sense Dramaturgie Curt A. Roesler Mit Dinara Alieva / Aurelia Florian [Juni; Juli], Charles Castronovo / Atalla Ayan [27. März] / ­Joseph Calleja [Juni; Juli], Alexandra Hutton, Álvaro Zambrano, Stephen Bronk u. a. Chor, Opernballett und Orchester der ­Deutschen Oper Berlin


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Rolando Villazón inszeniert die Puccini-Rarität LA RONDINE

Der Preis der Freiheit Die Bühne der Deutschen Oper Berlin ist Rolando Villazón als Sänger sehr vertraut, nun wird er das Haus auch aus einer anderen Perspektive kennenlernen, nämlich aus der des Regisseurs. An beiden großen Häusern Berlins zu arbeiten, bereitet ihm eine besondere Freude, denn mit dieser Stadt verbindet er einige seiner großen Erfolge zu Beginn seiner internationalen Karriere. „Ich bin sehr glücklich über die Einladung der Deutschen Oper Berlin, LA RONDINE von Giacomo Puccini zu inszenieren, denn gerade an den Berliner Opernhäusern habe ich viele Freunde, für die ich einfach nur Rolando bin und mit denen ich immer wieder gerne zusammenarbeite“, erklärt der Tenor, nachdem er sich singend aus dem Generalmusikdirektorenbüro der Staatsoper im Schiller Theater verabschiedet hat. Seine Zuneigung verteilt er also gleichmäßig, auf keinen Fall will er sich in die Konkurrenz der beiden Opernhäuser einspannen lassen. Am größeren der beiden derzeit benachbarten Häuser ist er bereits als Alfredo in Giuseppe Verdis LA ­TRAVIATA und als Rodolfo in Giacomo Puccinis LA BOHEME aufgetreten, und mit einer Puccini-Oper präsentiert er sich nun dem Berliner Publikum zum ersten Mal als Regisseur. Oder handelt es sich bei LA RONDINE um eine Operette? Diese Unterscheidung möchte Rolando Villazón gerne vermeiden, zumindest wenn damit eine qualitative Abwertung des Werks gemeint sein sollte. „Es ist einfach wunderschöne Musik. Ich würde es doch Oper nennen, auch wenn die Handlung mit ihrem entsagungsvollen Ende ebenso von Franz Lehár hätte vertont werden können. Man muss gegen den Kitsch ankämpfen, aber die große Emotionalität gehört auf jeden Fall dazu und darf nicht zerstört werden. Magda ist eine ganz starke Frauenfigur, die sich bewusst entscheidet, den Mann wegen ihrer zweifelhaften Vergangenheit zu verlassen. Sie will ihre Freiheit nicht aufgeben und verzichtet auf den spießigen Mann, den sie zweifellos sehr liebt. Wir verlegen die Handlung in die Entstehungszeit und bringen sie so näher an Puccini heran. Damals haben emanzipierte Frauen nach einer neuen gesellschaftlichen Rolle gesucht, und in diese moderne Welt passt Puccinis Magda, die sich mit der Titel gebenden Schwalbe ­vergleicht, sehr gut hinein.“ Schon lange ist Rolando Villazón nicht mehr nur Opernsänger. Sein Buch „Kunststücke“ ist im vergangenen August erschienen, in dem er einen schüchternen Clown durch ein Labyrinth aus Einbildung und Realität torkeln lässt. „Schreiben ist in gewisser Weise wie Singen“, erläutert er, „auch da muss man einen Rhythmus finden, muss Gedanken in eine nachvollziehbare

Form bringen, den richtigen Ton der Erzählung treffen. Es ist sehr schön, bei dieser Arbeit allein zu sein und nach den richtigen Antworten auf selbstgestellte Fragen zu suchen. Die Arbeit als Regisseur ist ähnlich. Die Ausein­ andersetzung mit dem Stück findet erst mal am Schreibtisch statt. W ­ elche visuelle Sprache möchte ich in diesem Stück benutzen und wie kann ich den daraus hervorgehenden Regeln entsprechen? Meine Inszenierung wird Anleihen beim Surrealismus machen. Das heißt allerdings nicht, dass nun alles erlaubt ist, weil man es einfach zum Traum erklären kann. Dann entsteht nur belangloser Kitsch. Um die Sänger auf den Proben überzeugen zu können, muss ich diese ästhetischen Fragen zunächst für mich selbst ganz klar beantworten können. Der Gesang baut eine Brücke zwischen den Menschen, aber der Regisseur muss ebenso Brücken bauen.“ Die wahre Regiekunst liegt auch für Rolando Villazón in der Beschränkung auf das Notwendige. Die Geschichte der Oper muss nachvollziehbar und ohne überflüssige Mätzchen erzählt werden, damit sie das Publikum be­ rühren, im Idealfall überwältigen kann. Dass er dabei nicht selbst singend auf der Bühne steht, sondern als Regisseur den Kolleginnen und Kollegen das Feld überlassen muss, bereitet Rolando Villazón offenbar überhaupt keine Probleme. „Ich sorge für das Konzept und überlasse die Ausführung anderen. Ich habe einen Plan von A bis Z, aber wie die Künstler das um­ setzen, ist ganz allein ihre Sache. Im Laufe der Proben wird der Regisseur immer unwichtiger, bei der Premiere gehört das Stück dann ganz den Sängern.“

Uwe Friedrich

Uwe Friedrich studierte Theaterwissenschaft, Musikwissenschaft und Germanistik an der Freien Universität Berlin. Nach seiner journalistischen Ausbildung beim Bayerischen Rundfunk arbeitete er als Opernredakteur für den Saarländischen Rundfunk. Er ist als Musikjournalist und Moderator für verschiedene ARD-Radiosender, den Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur tätig.


DAS MÄDCHEN AUS DEM GOLDENEN WESTEN 13., 19., 22., 28. März 2015 Musikalische Leitung Carlo Rizzi Inszenierung Vera Nemirova Mit Emily Magee, John Lundgren, Aleksandrs Antonenko u. a. LA BOHEME 20., 24., 30. März 2015 Musikalische Leitung Donald Runnicles Inszenierung Götz Friedrich Mit Yosep Kang, Carmen Giannattasio, Davide Luciano, ­Martina Welschenbach, Marko Mimica, Noel Bouley u. a. TOSCA 21., 25. März 2015 Musikalische Leitung Donald Runnicles Inszenierung Boleslaw Barlog Mit Martina Serafin, Marco Berti, Carlos Álvarez / Roberto Frontali [25. März] u. a. MADAMA BUTTERFLY 26., 29. März; 30. Mai 2015 Musikalische Leitung Yves Abel Inszenierung Pier Luigi Samaritani Mit Hui He, Jana Kurucová, Fabio Sartori, Elia Fabbian / Markus Brück [Mai] u. a. TURANDOT 5., 11. April 2015 Musikalische Leitung Ivan Repušić Inszenierung Lorenzo Fioroni Mit Elisabete Matos, Kamen Chanev, Martina Welschenbach u. a. Giacomo Puccini © akg images

Puccini-Wochen an der Deutschen Oper Berlin Seine Opern treffen mitten ins Herz: Giacomo Puccini ist der Meister der großen Gefühle. An der Deutschen Oper Berlin sind seine populärsten Werke wie LA BOHEME und TOSCA unverzichtbarer Teil des Spielplans. Doch immer wieder widmet sich das Haus, das 1913 bereits als erstes deutsches ­Theater DAS MÄDCHEN AUS DEM GOLDENEN WESTEN herausbrachte, auch den seltener ge­ spielten Werken des Komponisten. Die Puccini-Wochen der Deutschen Oper Berlin bieten sowohl die Gelegenheit, ­seine beliebtesten Werke in erstklassiger Besetzung neu zu erleben, als auch den un­ bekannteren P ­ uccini zu entdecken.


Giacomo Puccini schöpfte die Inspiration zu seinen Opern immer wieder aus privaten Liebesverhältnissen

Die Titel seiner Opern sprechen für sich. MANON LESCAUT, TOSCA, FRÄULEIN SCHMETTERLING, TURANDOT. Giacomo Puccini liebte die Frauen. Er machte sie zu den Heldinnen seiner Dramen, auch wenn – oder gerade weil – sie die Opfer der Geschehnisse werden, die ihnen die eigene ­Verliebtheit, ein skrupelloser Mann oder das ungnädige Schicksal aufgezwungen haben. Dann sterben sie gemeinsam mit dem Geliebten in der Verbannung – wie Manon Lescaut. Dann springen sie in ihrer Verzweiflung in den Tod wie Tosca oder erstechen sich – wie Liù und Madama Butterfly, das japanische „Fräulein Schmetterling“. Oder sie nehmen einen giftigen Kräutertrank – wie Schwester Angelica, die ins Kloster verbannte Titel­heldin aus dem Mittelteil des TRITTICO, die nur diesen einen Weg sieht, um dem Leiden an der Welt zu entkommen. Doch je tragischer das Schicksal dieser Frauen endet, desto liebevoller, fürsorglicher, zugleich aber auch glühender und blühender wird die Musik, die Puccini ihnen zugedacht hat. Er leidet mit ihnen, er kleidet ihre Hoff­ nungen und Ängste, ihre Trauer und Wut in Klänge voller Sinnlichkeit, Süße oder Bitternis. Er findet Melodien, die sich perfekt dem Charakter und den Gefühlen der Figuren anpassen. Puccinis Frauen sind mehr als die ­hustende Mimì oder die leichtlebige Musetta aus LA BOHEME. Oft machen ihre ­Gefühle ungeahnte Entwicklungen durch: Eine kapriziöse, vom Glanz des Theaters geblendete Sängerin wie Floria Tosca wächst über sich selbst ­hinaus, wenn sie erkennen muss, dass nur sie ihren Geliebten Cavaradossi retten kann, indem sie Scarpia zu Willen ist. Und auch Butterfly wird klar, dass ihre Liebe zu dem leichtlebigen Pinkerton größer ist als der Schmerz darüber, dass er nach der langen Trennung mit einer anderen Frau zurückkehrt – in aller Größe verabschiedet sie sich vom Leben. Woher kommt dieser Blick des Komponisten auf das „Ewig Weibliche“? ­B etrachtet man Puccinis persönliches Verhältnis zu Frauen, bzw. die so ­genannten Verhältnisse, die er mit Frauen Zeit seines Lebens gepflegt hat, dann wirken all die opferbereiten und innerlich so starken Frauenpersönlichkeiten auf der Bühne eher wie eine Projektion, die sich den Erfahrungen der Realität entzieht. Denn als Mann [und Liebhaber] ist der Komponist nicht

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Der Frauenversteher


Puccini in seinem Auto, Modell „Isotta Fraschini“, mit seiner Frau [hinten links im Wagen]. © akg images

wirklich glücklich geworden – trotz aller Affären, die dem gut aussehenden und spätestens als Mittdreißiger höchst erfolgreichen Mann nur so in den Schoß fielen. Sie konnten die traurige Wahrheit nur kaschieren, dass ­Puccini ein Frauenheld war, dem jedoch die Attitüde des Helden voll und ganz ­fehlte. Die erste längere und leidenschaftliche Liaison des knapp 30-jährigen Giacomo hatte die weitreichendsten Folgen. Denn was als himmelhochjauchzende Verliebtheit zu der verheirateten Elvira Bonturi begann, wurde später zum psychologischen Alptraum in Puccinis Leben. Elvira verließ ihren Ehemann – ein Skandal in damaliger Zeit! – und lebte von nun an in „wilder Ehe“ mit dem Komponisten zusammen. Doch je länger die Beziehung ­dauerte, desto mehr ähnelte sie einem Psychodrama strindbergscher ­Prägung, bei dem die notorische Untreue Giacomos mit der pathologischen Eifersucht Elviras kollidierte. Ihre eigenen Hoffnungen, als Muse dem Künstler Puccini zu dienen, erfüllten sich nicht, nur als Mutter des gemeinsamen Sohnes Tonio konnte sie sich der Unterstützung ihres Lebensgefährten sicher sein. Der teilte die Frauen lieber nach der bewährten südländischkatholischen Devise ein: hier die Heilige [Mutter, Ehefrau, Schwester etc.], dort die Hure … Diese Kategorien versuchte Puccini auch Elvira klarzumachen: Er brauche die von ihm als „piccoli giardini“ [kleine Gärten] bezeichneten Abwechslungen, um sich als Künstler entfalten zu können. Um sich mit der „Bestellung“ dieser Gärten abzulenken und zugleich neue Energie für die harte Kompositionsarbeit zu sammeln. Wohl wahr: Für Puccini war der geistige Austausch mit seinen Geliebten nebensächlich, denn zumindest in jüngeren Jahren stammten sie fast immer aus unteren Schichten. Ihm ging es allein um seine Bestätigung als Mann, um seine Potenz – in sexueller wie kreativer Hinsicht. Nicht nur dort eiferte er Richard Wagner nach: ohne Affären keine Inspiration für die kleinen und großen Liebesdramen in der Oper. Nur am Rande sei vermerkt, dass Puccini selbst, introvertiert und im menschlichen

Zusammenleben eine eher unsichere Persönlichkeit, zu einer stabilen emotionalen Beziehung alle wichtigen Voraussetzungen fehlten. Aber das wäre eher ein Fall für den Psychotherapeuten! So findet sich in Puccinis Vita eine ansehnliche Reihe von Geliebten: ein zwischen Licht und Schatten changierendes Panorama „kleiner Gärten“ mit vielen blühenden, immer hübsch anzuschauenden Blumen darin. Sie alle dürften in die Operngestalten eingeflossen sein, in einzelnen Facetten, mit ihrem Temperament, mit ihrer Zärtlichkeit. Die heftigste Affäre ist zugleich auch die mysteriöseste: Die wahre Identität der Turiner Näherin Cori wurde erst vor wenigen Jahren von dem Puccini-begeisterten Schriftsteller Helmut Krausser mit kriminalistischem Spürsinn herausgefunden. Die heftige A ­ ffäre des 42-Jährigen mit der jungen Frau begann kurz nach der TOSCA-Uraufführung im Frühjahr 1900; sie dauerte über drei Jahre und bescherte ­Puccini erotische Wonnen, mit denen er gegenüber seinen Männerfreunden nicht hinter dem Berg hielt. Schließlich musste er sich von Cori auf massiven Druck von Seiten des Ricordi-Verlags, der nicht vor Privatdetektiven, Intrigen und Prozessen zurückschreckte, trennen. Die „Strafe“ war hoch: Kurz darauf ließ sich der Komponist zur Heirat mit seiner inzwischen zur Witwe ge­ wordenen Elvira überreden. Von Liebe war längst keine Rede mehr. Die tragischste Affäre [aber war sie überhaupt eine?] betrifft die Haus­ angestellte Doria Manfredi, die 1908 öffentlich von Elvira beschuldigt wird, sich mit ihrem Mann eingelassen zu haben. Puccini selbst streitet alle Vorwürfe ab, das schlichte Dorfmädchen Doria ebenfalls – und geht doch den Weg seiner Opernheldinnen: Sie stirbt an einer Überdosis Schlaftabletten. Der anschließende Verleumdungsprozess gegen Elvira endet mit einer Verurteilung, die nur durch einen außergerichtlichen Vergleich aus der Welt geschafft werden kann. Der Prozess und die monatelangen Schlagzeilen in der Presse stürzen Giacomo in eine schwere Krise und lassen die Ehe mit Elvira zur Farce werden. Nach einem kurzen Intermezzo mit einer Ungarin namens Blanka Lendvai, die er bei einem Besuch in Berlin kennenlernt,


Elvira Puccini © akg images

Michael Horst arbeitet als Musikjournalist und Autor für Radio und Printmedien in Berlin. 2012 erschien in der Reihe „Opernführer kompakt“ des Henschel-Verlags, Leipzig sein Band über Puccinis TOSCA; im März 2015 folgt in derselben Reihe ein Band über ­Puccinis letzte Oper TURANDOT.

Von Michael Horst

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beginnt Puccini 1911 sein erfüllendstes Verhältnis: mit der bayerischen Baronin Josephine von ­Stengel, die zum Glück fließend Italienisch spricht. Sie ist für ihn mehr als nur ein „kleiner Garten“; mit „Josi“ reist Puccini 1912 sogar inkognito zu den Bayreuther Festspielen, um seine Lieblingsoper von Wagner, den PARSIFAL, zu hören. Auch nach Kriegseintritt Italiens 1915 dauert die Liaison an; das Paar trifft sich in der neutralen Schweiz, bis der italienische Konsul derlei „konspirative Treffen“ auf diplomatischem Wege vereitelt und die Beziehung versandet. Ironie des Schicksals: Auf dem Grundstück im toskanischen ­Viareggio, auf dem Puccini 1915 ein Liebesnest für sich und Josi erbauen wollte, wird sechs Jahre später die Villa errichtet, in der er mit Elvira die letzten Jahre bis zu seinem Tod 1924 verlebt. Doch noch einmal lächelt Venus dem mittlerweile 63-Jährigen, der vor dem Altwerden einen wahren Horror hat und jede Art von Verjüngungskuren in Erwägung zieht. Diesmal ist es eine mehr als 30 Jahre jüngere Sopranistin aus Hamburg, die dort 1921 in der Deutschen Erstaufführung der SCHWESTER ANGELICA die Hauptrolle singt: Rose Ader. In glühenden Briefen [„Wie sehr ich Lust und Durst auf Deine Küsse habe!“] beschwört er seine Liebe und bittet sie inständig, Italienisch zu lernen. Er trifft sich mit ihr zu ero­tischen Rendezvous weit entfernt von Elvira, in Mailand, München oder Wien. Er verschafft ihr sogar ein Engagement als Mimì an der Oper in Rom – und überwacht persönlich die mehrwöchigen Proben! Als 1922 dieses letzte Liebesabenteuer zu Ende geht, ist der Komponist auch mitten in der Arbeit an seiner letzten Oper TURANDOT, deshalb lässt ein Satz in seinem Trennungsbrief besonders aufhorchen: „Liù klagt, und wenn ich komponiere, denke ich an Dich, meine arme, süße und gute Rose!“ Es ist eines der seltenen Male, in denen Puccini einen kurzen Blick in seine Komponistenwerkstatt gewährt. Verdanken wir die ergreifende Schluss­ szene der Liù, in der sie der eiskalten Prinzessin Turandot ihr zukünftiges Liebesglück mit dem Prinzen Calaf prophezeit, eigentlich Puccinis Erinnerung an Roses Stimme, an ihren Körper oder ihr Lächeln? Apropos Calaf: Er ist sicher das beste Beispiel dafür, wie eindimensional die Herren der Schöpfung wohl nicht von der Natur, zumindest aber von P ­ uccinis Librettisten [und bisweilen auch in seiner Musik] angelegt sind. Dieser ­Tatarenprinz handelt nach dem antiken Motto „Ich kam, sah und siegte“; er will erobern und gewinnen, da kommt ihm die widerspenstige Turandot gerade recht. Ebenfalls als Eroberer, die amerikanische Nationalhymne sozusagen auf den Lippen, kommt Pinkerton nach Japan, um sich dort mit den Frauen zu vergnügen. Welche Schockwellen der emotionale Tsunami bei der Geisha Cio-Cio-San hinterlässt, ist ihm herzlich gleichgültig. Das Drama nimmt seinen Lauf – ohne Pinkerton, der bald wieder abreist. Der ­sensibelste Macho unter allen Puccini-Tenören ist noch der Maler Cavaradossi, Künstler und Kämpfer für eine römische Republik, ein Mann mit Idealen, der durch die Liebe zu Tosca in einen schwierigen Zwiespalt gerät. Und dennoch bleibt auch er im Kräftedreieck zwischen Tosca und dem grandiosen Bösewicht Scarpia der schwächste Punkt. Verwundert es bei dieser Auflistung – um noch einmal auf die biografische Ebene zurückzukehren –, dass Puccini die gesellige Männerrunde oder die gemeinsame Entenjagd, aber nicht so sehr die ganz persönlichen Freundschaften bevorzugte? Den Beifall holen sich diese Opern-Mannsbilder für ihr geschmettertes ­hohes C und für ihre mitreißenden Arien, die zu den Highlights der Opernbühne zählen – ob nun Cavaradossis „E lucevan le stelle“ oder Calafs „Nessun dorma“. Die Anerkennung des Publikums mag ihnen damit sicher sein, das Mitgefühl jedoch kaum. Nicht einmal die Männer von heute mögen sich mit solchen testosterongesteuerten Geschlechtsgenossen identifizieren. Und auch die Frauen dürften wenig Sympathie für ihr triumphalistisches Gehabe empfinden. Ihnen stehen die Leiden von Puccinis zarten Heldinnen allemal näher. Es ist sein menschlicher Blick, der dazu geführt hat, dass sie das Opernpublikum seit nunmehr über hundert Jahren ungeachtet aller Epochen und Moden verzaubern und zu Tränen rühren. Denn sie sind ganz aus dem Leben gegriffen. Nicht nur aus Puccinis Leben.


Roméo und Juliette Hector Berlioz [1803 – 1869] Premiere:

18. April 2015 Weitere Vorstellungen: 20., 22., 28., 29. April; 2. Mai 2015

Fotografie: Sascha Weidner

Musikalische Leitung Donald Runnicles Inszenierung, Choreografie Sasha Waltz Bühne Pia Maier Schriever, Thomas Schenk, Sasha Waltz Kostüme Bernd Skodzig Licht David Finn Chöre William Spaulding Dramaturgie Karin Heckermann Mit Ronnita Miller, Thomas Blondelle, Tobias Kehrer / Nicolas Courjal [22., 28., 29. April] Tänzer von Sasha Waltz & Guests, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin


Liebe kann Grenzen überwinden Die Geschichte selbst hat der Komponist dem Orchester oft allein anvertraut. „Ich denke, Berlioz wollte, dass der Zuhörer diese Liebesgeschichte in der eigenen Fantasie erlebt“, sagt Runnicles. „Und Tanz ist auch so ein Lied ohne Worte.“ Berlioz ist ein Meister der Orchestrierung – das hört man auch in ROMEO UND JULIETTE. „Es ist ein virtuoses Stück für das ganze Orchester“, erklärt Runnicles. „Selten ist eine Harfe so eingesetzt worden. Und diese Leichtigkeit und Brillanz des Scherzos der Königin Mab! Selbst Richard Wagner war total begeistert von der Musik. Und die große Liebesszene ist tatsächlich eine Vorarbeit zum TRISTAN – unglaublich schön, unglaublich sinnlich.“ Sasha Waltz wirft in ihrer Inszenierung einen ganz eigenen Blick auf die tieftragische Geschichte um die beiden Sprösslinge aus verfeindeten ­Familien. Als die Opéra National de Paris und das Ballett sie 2007 be­ auftragten, eine Choreografie zur dramatischen Sinfonie ROMEO UND JULIETTE zu entwerfen, betrat sie Neuland. Mit Henry Purcells Barockoper DIDO UND AENEAS hatte sie 2005 ihr Konzept der choreografischen Oper erstmals erprobt und dem Musiktheater neue Horizonte erschlossen. Sasha Waltz gelang eine für die Oper neu­artige Verschmelzung von Tanz, Gesang und Musik. Dieses Konzept hat sie weiter entwickelt in ihrer zweiten choreografischen Oper MEDEA [2007] zu Musik von Pascal Dusapin, einem der wichtigsten französischen Komponisten der Gegenwart. Die Gesangssolisten und die Chorsänger wurden auch hier in das Bühnengeschehen integriert. Mit ROMEO UND JULIETTE setzte sich Sasha Waltz zum ersten Mal mit einem Werk aus dem romantischen Repertoire auseinander. Für die ­Choreografin steht Berlioz am Anfang einer modernen Sichtweise auf die Oper: „Was ich spannend finde an Berlioz’ Form: Sie ist eher wie eine ­Collage, aufgebrochen und nicht linear erzählt. Dadurch lässt sie mir sehr viel Raum, um meine eigenen Vorstellungen zu entwickeln.“ Dieses Werk der „poetischen Entgrenzung“ – für Sasha Waltz ist es eine „extrem emotionale Musik“. Bei der Arbeit an dieser Berlioz-Komposition in

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Es war Liebe auf den ersten Blick: Als Generalmusikdirektor Donald ­Runnicles an der Pariser Bastille-Oper Berlioz’ ROMEO UND JULIETTE in der Inszenierung von Sasha Waltz sah, war er so angetan, dass er sich ­sofort dazu entschloss, die Arbeit auch in Berlin zu zeigen. Wenn ROMEO UND JULIETTE im April in der Deutschen Oper herauskommt, handelt es sich gleichwohl um eine Premiere. Denn Sasha Waltz wird die Choreografie mit den Tänzern ihres Berliner Ensembles einstudieren. Die Werke des französischen Komponisten Hector Berlioz bilden einen Schwerpunkt an der Deutschen Oper Berlin. Und Donald Runnicles ist ein ausgewiesener Berlioz-Experte. Über die formale Besonderheit der „Symphonie dramatique“, die 1839 im Salle du Conservatoire in Paris uraufgeführt wurde, sagt Runnicles: „Es ist tatsächlich eine Sinfonie, keine Oper. Sie ­besteht aus verschiedenen Sätzen, teilweise werden ein Chor und Gesangssolisten eingesetzt. In seinen Memoiren schreibt Berlioz, dass ROMEO UND JULIETTE schwer aufzuführen sei. Es brauche den gleichen Aufwand wie eine Opernproduktion.“

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Sasha Waltz bringt ihre Version von Berlioz’ ROMEO UND ­JULIETTE nach Berlin


Paris sei sie in einen regelrechten Rausch verfallen, hat sie einmal erzählt. Doch die Produktion stellte auch eine große Herausforderung dar. Das lag zunächst an den gewaltigen Dimensionen der Bastille-Bühne, aber auch an der riesigen Besetzung [Gesangssolisten, Tänzer, Chorsänger und Orchestermusiker]. Außerdem hatte Waltz zuvor noch kein Abend füllendes Stück mit einer klassischen Ballettcompagnie erarbeitet [für das Ballet de l’ Opéra de Lyon hatte sie lediglich 2006 die 20-minütige Choreografie „Fantasie“ zur Musik Schuberts kreiert]. Der verstorbene Opernintendant Gerard Mortier hatte sie noch gewarnt vor der Arbeit mit den Chören, die hier 100 Sänger und Sängerinnen umfassen. „Mortier sagte zu mir: Stell die Chöre in den Graben“, erzählt Sasha Waltz und lacht. Aber sie ließ sich nicht beirren und blieb ihrem Konzept der choreo­ grafischen Oper treu. „Das ist meine Arbeitsphilosophie, dass Tanz und Chor zusammengehören, dass sie eine Einheit bilden“, betont Waltz. Sie hat auch in Paris mit den Chormitgliedern Körperarbeit gemacht, so wie sie es schon in den früheren Opernproduktionen praktiziert hatte. Diese Choreografin geht einen anderen Weg – das war allen Beteiligten schon früh klar. Der Tanz ist für Sasha Waltz nicht nur Illustration: „Er spricht mit dem Körper und die Musik erzählt die Geschichte mit den Noten. Sie sind gleichberechtigt und verbinden sich zum großen Gesamtkunstwerk Oper.“ Ob sie nun eine reine Tanzproduktion oder eine Musiktheaterproduktion kreiert – der Ausgangspunkt für Sasha Waltz ist immer das Bühnenbild. „Ich muss den Raum verstehen, in dem ein Stück spielt“, betont sie. Für ROMEO UND JULIETTE entwarf sie das Set zusammen mit Thomas Schenk und Pia Maier Schriever, zwei langjährigen Mitstreitern. Ihre Inszenierung bricht mit allen tradierten Bildern und Vorstellungen, der Zuschauer muss erst einmal alle Erwartungen fallen lassen. „Ich wusste, ich muss einen Balkon entwerfen, aber ich wollte abstrakt bleiben“, erzählt Waltz. „Daher kam ich auf die Idee, dass das Geschehen sich zu dieser Situation hinbewegt.”

Roméo und Juliette © Bernd Uhlig

Die ursprüngliche Idee, dass die Clans der Capulets und Montagues durch eine Wand voneinander getrennt sind, ließ sich technisch nicht realisieren. Nun sieht man zwei übereinander gefaltete und verschobene Flächen, eine weiße und eine schwarze. Wenn sich die obere Plattform langsam hebt, wird daraus der Balkon für die Liebesszene. Wird sie weiter hochgezogen, sieht man schwarze Farbspuren auf dem weißen Grund – ein Zeichen für den nahenden Tod. Später falten sich die Flächen ganz auseinander. Das Bühnenbild gibt in ROMEO UND JULIETTE die Dramaturgie vor. Für die Tänzer ist es zudem sehr herausfordernd, sich auf der Schräge zu bewegen. Es gilt die Höhenunterschiede zu beachten, sie müssen schon mal springen oder sich im Spalt zwischen den beiden Platten ducken. Der Kontrast von Schwarz und Weiß visualisiert den Konflikt zwischen den ver­ feindeten Familien. Er durchzieht die ganze Inszenierung – und bestimmt auch das Kostümdesign von Bernd Skodzig. Die vom Chor verkörperten Clans der Capulets und Montagues stehen sich als schwarzer und weißer Block gegenüber. Die Hüte und Kopfbedeckungen lassen an jüdische, ­muslimische oder indische Einflüsse denken, wenn auch auf sehr freie und stilisierte Weise. Sie habe bei der Arbeit an den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern denken müssen, erzählt Waltz, doch sie wollte alles ­Plakative vermeiden. „Es klingen viele Assoziationen an unterschiedliche Kulturen an“, sagt sie. „So kann sich jeder sein eigenes Bild machen.“ Juliette wird meistens als ein naives, unschuldiges Mädchen dargestellt. Sasha Waltz sieht sie anders: „Juliette ist bei mir eine junge Frau, die heute lebt und ein anderes Selbstbewusstsein hat. Aber man muss sich vorstellen: In der Zeit, in der Shakespeare sein Stück geschrieben hat, ist es ein unglaublicher Schritt, den dieses Mädchen geht. Sie beugt sich ja nicht dem Willen ihrer Eltern. Das erfordert sehr viel Mut.“ Sasha Waltz hält in ROMEO UND JULIETTE die Spannung zwischen dem Abstrakten und dem Narrativen. Die wunderbare Sinnlichkeit und die


Sandra Luzina

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­ motionale Intensität ziehen den Zuschauer von Anfang an in den Bann. e Und wie Sasha Waltz den Zauber der ersten Liebe einfängt! Roméo und Juliette können einfach nicht voneinander lassen. Waltz ersinnt eine ­Palette an zarten Berührungen, wie man sie im Tanz noch nicht gesehen hat. Die lange Scène d’ a mour wird bei ihr nicht zum süßlichen Schwebetraum. ­Momente aus Zärtlichkeit, Hingabe, Verzückung und Verzweiflung wechseln sich ab. Es sind Extreme, die die beiden Liebenden durchmessen. Die enorm einfallsreich choreografierten Gruppenszenen veranschaulichen die schicksalhaften Verkettungen der Figuren: Immer wieder vereinen sich die Tänzer zu einem Kollektivkörper, rollen in Wellen über die Bühne, stürzen ineinander wie Dominosteine. Trios, Quartette, Quintette bilden raffinierte Körperarchitekturen mit sich kreuzenden Linien und Leidenschaften. Die Liebenden begegnen sich zunächst auf Augenhöhe. Bis sich das Podest hebt und Juliette über Roméos Kopf schwebt – die Umdeutung der BalkonSzene spielt mit der Ambivalenz. Die Angebetete ist entrückt, fern gerückt. Ein Riss tut sich auf. Das stärkste Bild ist die Sterbeszene. Die tot geglaubte Juliette wird zunächst mit Kieselsteinen zugeschüttet, doch Steinchen für Steinchen legt Roméo das Gesicht der Geliebten frei, und die Liebe wird Beschwörung und unauslöschliche Erinnerung zugleich. Inspiriert ist die Szene von einer Vorarbeit im Radialsystem, dem „Dialog 06 – Radiale Systeme“. Sasha Waltz benutzt diesen offenen Dialog, um Skizzen zu bestimmten Themen zu erarbeiten. Zwei Tänzer verwendeten damals Kieselsteine von der Terrasse des Radialsytems. In ROMEO UND JULIETTE symbolisieren die Steine nicht nur das Grab: „Ich habe auch noch andere Assoziationen“, erklärt Waltz. „Ich dachte auch an die Steinigungen von Frauen. Für mich hat die Szene deshalb noch eine andere Dimension.“ Liebe kann Grenzen überwinden – davon ist Sasha Waltz überzeugt. Deshalb setzt sie am Ende von ROMEO UND JULIETTE ein Zeichen der Hoffnung. Standen die beiden Clans sich anfangs noch unversöhnlich gegenüber, so vermischen sich in der Beerdigungsszene die schwarz- und weißge­kleideten Chorsänger. „Der Tod von Roméo und Juliette ist ja ein Opfertod“, erklärt Waltz. „Durch dieses Opfer können die beiden Familien sich wieder verbinden, wird der Zwist aufgelöst, der Fluch gebannt. Das zeige ich auch so. Die Auflösung ist auch in der Musik zu hören. Das ist unglaublich er­hebend und befreiend. Auf jeden Fall macht es Hoffnung. Wenn man sich die aktuelle politische Situation anschaut, gibt es zwar wenig Anlass zu Hoffnung. Aber ich finde es trotzdem wichtig, diese Möglichkeit aufzuzeigen.“ Erste Skizzen zu ROMEO UND JULIETTE entstanden schon in Berlin, S ­ asha Waltz hat sie mit ihrem eigenen Ensemble erarbeitet. Danach hat sie die Choreografie mit den Pariser Tänzern entwickelt. Wenn sie das Stück nun ihren Tänzern überträgt, schließt sich in gewisser Weise ein Kreis. Eine komplette Überarbeitung der Choreografie hat sie nicht im Sinn. „Ich möchte das Stück im Original bewahren“, erklärt Waltz. „Natürlich wird es durch die Interpretation meiner Tänzer noch einmal eine andere Note bekommen. Das finde ich auch schön und wichtig. Aber ich habe mir angewöhnt, an meinen eigenen Choreografien nicht mehr so viel zu verändern, weil es sonst irgendwann ein anderes Stück wird. Und irgendwann hat das Werk ein Eigenleben – und dann respektiere ich das Werk, dann muss ich zurücktreten.“ Für Donald Runnicles dagegen besteht die Herausforderung darin, den großen Bogen zu finden. „Es muss organisch sein, die Spannung muss ­gehalten werden. Aber man muss nicht viel interpretieren – das ist das ­Gigantische an Berlioz. Er schreibt genau, wie er sich das vorstellt. Er will, dass seine Musik atmet.“ Dieser wunderbare Atem zeichnet Runnicles’ Ansicht nach auch die Aufführungen von Sasha Waltz aus: „Sie ist unglaublich musikalisch – das ist ein Genuss. Sie räumt dem Dirigenten und dem Orchester einen Freiraum ein. Man kann jede Aufführung anders gestalten, mal etwas langsamer, mal etwas schneller spielen. Man kann richtig spontan musizieren.“

Roméo und Juliette © Bernd Uhlig

Sandra Luzina studierte Philosophie, Germanistik und Sozio­ logie an der FU Berlin. Sie schreibt über Tanz und Theater für den Tagesspiegel und arbeitet für den Fernsehsender ARTE.


Faust Charles Gounod [1818 – 1893] Premiere:

19. Juni 2015 Weitere Vorstellungen: 24., 27., 30. Juni; 2., 5. Juli 2015

Fotografie: Sascha Weidner

Musikalische Leitung Marco Armiliato Inszenierung, Bühne Philipp Stölzl Co-Regie Mara Kurotschka Mitarbeit Bühne Heike Vollmer Kostüme Ursula Kudrna Licht Ulrich Niepel Chöre William Spaulding Dramaturgie Sebastian Hanusa, Anne Oppermann Mit Teodor Ilinca�i, Krassimira Stoyanova, ­Ildebrando d’ Arcangelo, Markus Brück, Jana Kurucová, Ronnita Miller u. a. Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin


Die Gretchen­ frage

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Philipp Stölzl wendet sich der FAUST-Oper von Charles Gounod zu

Herr Stölzl, Goethe holt Sie offenbar immer wieder ein. Mit dem Film „Goethe!“ haben Sie „Die Leiden des jungen Werthers“ mit der ­B iografie des Dichters kurzgeschlossen, die FAUST-Oper des ­französischen Komponisten Charles Gounod haben Sie bereits am ­Theater Basel inszeniert und bringen sie nun auch an der ­Deutschen Oper Berlin auf die Bühne. Was fasziniert Sie an Johann Wolfgang Goethe? Gerade dieser französische Goethe-„Remix“ ist deshalb eine geniale Oper, weil er den emotionalen Teil der Geschichte in den Vordergrund rückt. Mit der Konzentration auf die Gretchen-Tragödie kann Gounod eine ergreifende und tieftraurige Geschichte erzählen. Die Librettisten haben das a­ usufernde und philosophisch eingefärbte Schauspiel virtuos für das Musiktheater ­verwandelt, das ist zweifellos ein großer Wurf. So entfällt das Altmänner­ gehabe des Faust mit seinem Weltschmerz und der Sinnsuche, das einem als Durchschnittszuschauer doch immer ziemlich fern bleibt. Eine Frau aus armen Verhältnissen, die dem Charme und dem Reichtum eines jungen Mannes verfällt und wegen moralischer Verfehlungen auf dem Schafott endet, ist viel direkter nachvollziehbar. Es ist eine hypnotische Passions­ geschichte, die auch Lars von Trier verfilmen könnte. Viele Opernkenner halten Charles Gounods Musik ja für ziemlich seicht, aber gerade die Musik von Charles Gounod gibt der Geschichte den richtigen Schwung und sorgt für den perfekten Rhythmus. Der ganze Abend entwickelt einen unge­heuren Sog. Es ist die Oper, die mir beim Inszenieren den größten Spaß bereitet hat. Es kommt in der Oper doch immer mal wieder vor, dass man während der Arbeit meint, diese Szene ist eigentlich bereits auserzählt, in jener Szene stimmt der musikalische Fluss nicht ganz oder der psychologische Bogen bröckelt gefährlich. Gerade in dieser Oper ist das Zusammenspiel der ­verschiedenen Ebenen hingegen mustergültig gelungen. Was Sie gerade als Vorzug der Oper darstellten, begründete in Deutschland den Hauptvorwurf: Der „welsche“ Komponist habe die „deutsche“ Gedankentiefe nicht verstanden und den Klassiker auf dem Pariser Tingeltangel verhunzt. Ist das alles nationalistische ­Vergangenheit? Jede Nation hat in ihrem Kunstschaffen Stärken und Schwächen. Es gibt eben keinen deutschen Victor Hugo und keinen Dumas. Dafür haben wir andere Größen, die einen anderen Erzählcharakter entwickelt haben und die an anderen Themen interessiert waren. Das zieht sich bis heute durch, in den Vereinigten Staaten wird in der Literatur, aber auch im Film anders erzählt als in Frankreich oder Deutschland. Dass bei den Franzosen der


Schwerpunkt auf dem Frauenschicksal liegt, ist ja fast schon ein Klischee. In den französischen Opern des späten 19. Jahrhunderts geht es ohnehin immer um das großflächige Erzählen eines möglichst emotionalen Schicksals. Wenn man sich die Entstehungsgeschichten der Werke mal genauer anschaut, läuft das ganz ähnlich wie heute beim Film. Ein Komponist stößt auf einen Stoff, der ihm geeignet erscheint. Dann sucht er nach einem Libret­ tisten, der ihm einen Entwurf liefert, mit dem er nicht zufrieden ist. Dann wird überarbeitet und nochmal überarbeitet. Im glücklichen Fall wird dann aus einem Erfolgsroman oder einem Erfolgsschauspiel schließlich eine ­Erfolgsoper. Bis dahin haben aber viele Menschen am Stoff geschliffen, gekürzt und umgeschrieben, bis es dann möglichst schmissig für das ­Publikum funktioniert. Genauso funktioniert heute das Populärkino. Das ­entspricht nicht dem gängigen Geniekult, aber als Filmregisseur ist mir d ­ iese Arbeitsweise sehr vertraut. In Basel haben Sie die Oper weiter verknappt und alles gestrichen, was nicht direkt zur Gretchen-Tragödie hinführt. Spielen Sie diese Fassung auch in Berlin? Diese Version hat sehr gut funktioniert, deshalb werden wir sie auch in ­B erlin so spielen. Wir haben gekürzt und umgestellt und die Oper noch ­weiter auf das Frauenschicksal konzentriert. Gerade im ersten Akt gibt es Szenen auf dem Jahrmarkt oder in Auerbachs Keller, die nicht direkt mit der Gretchen-Handlung zu tun haben, die lassen wir weg. Bei Gounod gibt es kaum das Phänomen der gedehnten Zeit wie noch bei Verdi oder Wagner. Hier wird sehr kinohaft erzählt, und das kommt meinem Gefühl für den ­Erzählrhythmus sehr entgegen.

Gretchens Wahn­ vorstellungen und Erinnerungen an den einzigen ­Moment, in dem sie glücklich war, sind sehr ergreifend.

Derselbe Vorwurf, der auch Charles Gounod gemacht wurde, wurde auch Ihnen nach dem Film „Goethe!“ gemacht, nämlich, dass das Werk des hehren Genius Goethe nicht bearbeitet und verändert ­werden dürfe. Das scheint Sie nicht anzufechten, Sie bearbeiten jetzt auch die Oper. Bei vielen meiner Kinofilme gab es eine Vorlage, die selbstverständlich ­bearbeitet werden musste, um sie als Film umsetzen zu können. Bei ­„Goethe!“ waren das die „Leiden des jungen Werthers“, die im Film mit Goethes Leben frei verbunden wurden. Auch für „Der Medicus“, mein letztes großes Filmprojekt nach dem Roman von Noah Gordon, mussten wir eine Form finden, in der die Geschichte auf Kinolänge ausgebreitet wird, aber dennoch ausreichend Zug hat, um ein Filmpublikum zu fesseln. Mein Vater schenkte mir vor vielen Jahren ein Büchlein „Stoffe der Weltliteratur“. Darin sind die berühmten Geschichten in alphabetischer Ordnung aufgelistet und es wird erklärt, wie sie von den Autoren im Lauf der Jahrhunderte verändert wurden. Diese fortwährende Weiterentwicklung ist etwas sehr Schönes. Dazu gehört auch die Entwicklung des philosophischen Dramas zur emotionalen Oper, und wir entwickeln den Stoff heute weiter, das finde ich legitim. Ein Großteil des Publikums scheint aber ein tiefes Bedürfnis zu ­verspüren, das komplette „Original“ hören und sehen zu wollen, und reagiert heftig auf Veränderungen. Andererseits wissen die Zuschauer auch, dass eine Interpretation immer eine Veränderung des Stoffs bedeutet. Im Mittelalter gehörte es zum guten Ton, am Anfang eines Romans zu versichern, man erzähle die Geschichte ganz originalgetreu, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzulassen. So macht es Wolfram von Eschenbach beim „Parzival“ und Gottfried von Straßburg beim „Tristan“ – und dann erzählen sie die Geschichten doch ganz anders als ihre Vorgänger. Im Musiktheater gibt es einen Unterschied zwischen dem Gesungenen und dem szenisch Gezeigten. Gerade in Berlin zeigt das Publikum aber eine große Toleranz gegenüber den Inszenierungen. Die Leute regen sich mal sehr auf und mal gefällt es ihnen, aber eigentlich zweifelt kaum noch jemand dieses Prinzip der Erneuerung an. Meiner Meinung nach wird das im Bereich von Libretto und Musik noch viel zu wenig gemacht. Es gibt noch immer ein starkes Tabu, auch in der Oper stärker auf die Collage zurückzugreifen. Die Partitur gilt noch immer als unantastbar. Merk­ würdigerweise sind bei einer Oper wie FAUST auch essenzielle Striche oder


17 16 Philipp Stölzl © Matthias Baus

­ mstellungen kein so großes Problem, denn die Musik gilt in Deutschland U ­ohnehin als seicht und zweitklassig. Sobald es aber um die 25 verehrten Meisterwerke des Kernrepertoires geht, ist Schluss mit lustig. Für die ­Zukunft plane ich Projekte, in denen ich freier und experimenteller mit der Musik umgehen werde. Ich möchte wegkommen von den ganz klassischen Opern, möchte mich stärker austoben und nicht an eine Partitur gefesselt fühlen. Vielleicht habe ich da noch andere Dinge zu sagen als in der Reproduktion in Stein gemeißelter Werke. Es kommt allerdings auch vor, dass Kürzungen und Umstellungen vor allem von der Faulheit des Regisseurs zeugen, der den Pro­ blemen des Werks ausweicht und es sich auf die einfachste Weise passend macht. Wo ist da die Grenze? Gounods FAUST hat im Grunde keine Längen und entspricht damit unserem Gefühl vom zeitgenössischen Erzählen. Das ist nicht in jeder Oper so. Viele Menschen, die keine ausführliche Vorbildung mitbringen, tun sich schwer mit dem Zeitverständnis der Oper. Oft verläuft die Geschichte in merk­ würdigen Bahnen oder wird in komplizierte Wendungen gezwungen, die mehr mit einer überkommenen musikalischen Form zu tun haben als mit erzähltechnischen Erfordernissen. Der geübte Operngänger kann diesen Spagat problemlos machen, weil er die Strukturen kennt. Der ungeübte ­Zuschauer hat damit häufig Probleme, die man sich ersparen könnte. Große Kunstwerke stellen dem Betrachter mitunter auch Schwierigkeiten in den Weg und sind vielleicht auch nicht für den enthusias­ tischen Anfänger gedacht. Anders gesagt: Thomas Manns „Zauberberg“ wird nicht besser, wenn er auf 200 Seiten gekürzt wird, „Vom Winde verweht“ ist in einer 90-Minuten-Fassung nicht besser. Das ist absolut richtig. Man muss sich vorher überlegen, an wen man sich wendet. Das kann man nicht verallgemeinern. Jeder Künstler muss entscheiden, welche Form für sein Anliegen angemessen ist. Michael Thalheimers neunzigminütige Fassung der „Orestie“ ist etwas ganz anderes als Peter Steins fünfzehnstündige Version an der Schaubühne. Es ist wie Kirschsaft und Kirschbrand. Beides basiert auf derselben Frucht, hat aber wenig miteinander zu tun und passt zu vollkommen verschiedenen Anlässen und für

unterschiedliche Menschen. Ich bin dafür, einfach auszuprobieren und zu schauen, was letztlich dabei rauskommt. Ich bin auf jeden Fall für ästhe­ tischen Wildwuchs. Eine episch breit und langsam erzählte Oper kann zu einer völlig anderen Wahrnehmung führen, die den Blick öffnet für größere Zusammenhänge. Dann ist es nicht langweilig, sondern die Zeitwahr­ nehmung verändert sich. Das ist aber bei Goethes „Faust“ von mir nicht gewünscht. In der französischen Oper ist eine Tanzszene obligatorisch, auch im FAUST hält der Walzer die Handlung auf. Haben Sie den Tanz ­konsequenterweise auch gestrichen? Nein, der Tanz ist drin. Allerdings ein bisschen verschoben und ein bisschen verändert. Wie es auch damals üblich war, haben wir noch Musik aufge­ nommen, die man verwenden kann, so dass eine traurig-schöne Traum­ sequenz aus der Ballettszene wird. Mir gefällt es, wenn eine Szene im ­Zwischenspiel noch nachwirken kann. Es gibt zwar kein Happy End mit glücklich Liebenden, aber die Kindsmörderin Marguerite wird für ihre Standhaftigkeit mit sofortiger ­Aufnahme in den Himmel belohnt. Streicher, Flöte und Harfe sorgen für ausgedehnte Harmonie, wofür sich Gounod einen handfesten Kitschvorwurf eingehandelt hat. Was kann ein intelligenter Regisseur mit diesem religiös-affirmativen Schluss anfangen? Man kann es so erzählen, dass sie der Hinrichtung nicht entgeht, und die Apotheose findet ja zunächst nur in der Musik statt. Dem kann man szenisch etwas entgegensetzen, indem man die Passionsgeschichte so bitter zu Ende erzählt, wie sie ist. Sowohl bei Goethe als auch bei Gounod ist der Schluss aufregend und mitreißend erzählt. Gretchens Wahnvorstellungen und Er­ innerungen an den einzigen Moment, in dem sie glücklich war, sind sehr ergreifend. Wie so häufig in der Oper besteht dieser Schluss mit Harfe und großem Orchester eigentlich nur aus ein paar Takten, so dass man sehr überzeugend einen Missklang zur traurigen Szene zeigen kann.

Das Gespräch führte Uwe Friedrich


Der Feind in meinem Bett Neue Szenen II – OHIO Musiktheater von Elisa Quarello, Robert Krampe und Mischa Tangian Libretti von Michel Decar, Jakob Nolte und ­Sascha Hargesheimer Auftragswerke der Deutschen Oper Berlin Musikalische Leitung Manuel Nawri Bühne, Kostüme Kerstin Laube Kostüme Maria Wolgast Projektbetreuung Claus Unzen Dramaturgie Curt A . Roesler Echo Ensemble für Neue Musik der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Uraufführung 10. April 2015, 20.00 Uhr [Tischlerei] Weitere Vorstellungen 11., 14., 15. April 2015, jeweils 20.00 Uhr

© Stephan Bögel


Ein großer Liebhaber ist dieser Romeo nicht. Mit Shakespeares jugend­ lichem Helden hat er überhaupt nur eines gemeinsam: die Bereitschaft zur Selbstaufgabe. Wohinter in seinem Fall jedoch keine edlen, sondern arg­ listige Motive stehen. Thomas Zaletzki ist ein Lügner. Ein Spion. Ein Romeo. So lautet die nachrichtendienstliche Bezeichnung für einen männlichen Agenten, der im Zuge seiner Mission eine Liebesbeziehung mit der weib­ lichen Zielperson eingeht. Undercover, selbst im Bett. Eine Methode, die besonders bei der Stasi beliebt war. Thomas hat seine Frau Katja über J­ ahre getäuscht, sogar ein Kind mit ihr bekommen. Jetzt zieht ihn seine Vorgesetzte beim konspirativen Treffen am Ehrenmal im Treptower Park von dem Auftrag ab. Woraufhin der Spion mit einer schweren Identitätskrise zurückbleibt: „wer bin ich, wenn man das spiel wegnimmt. wenn man alle masken abreißt. die maske ehemann, die maske vater“, fragt er sich. Die Szene stammt aus dem Libretto OHIO, das die jungen Dramatiker S ­ ascha Hargesheimer, Michel Decar und Jakob Nolte verfasst haben. Eine Geschichte aus den achtziger Jahren der DDR, als der Krieg noch kalt und die Front noch klar war. „Wir alle drei betrachten Themen gern durchs Fernglas“, sagt Sascha Hargesheimer, der den ersten Teil des Librettos geschrieben hat. „Über gegenwärtiges Zeitgeschehen trifft man schließlich nicht nur Aussagen, indem man es eins zu eins abbildet“. Anders gesagt: „Wir wollten nicht über den Fall Edward Snowden schreiben“. Stattdessen hat das ­Autoren-Trio mit OHIO die Überhöhung gesucht. Mit einer Spionagestory, die in Hargesheimers Augen viele klassische Opernmotive bietet: „Betrug, Intrige, Mauschelei und Machtspielchen“. Großartiger Stoff für das Kraftwerk der Gefühle. Bereits zum zweiten Mal hat die Deutsche Oper Berlin in Kooperation mit der Berliner Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ den Internationalen Kompo­sitionswettbewerb „Neue Szenen“ ausgerufen. Ein Instrument der Nachwuchsförderung, das aufstrebenden Talenten die Uraufführung des Musiktheaterwerks garantiert, das da entstehen soll. Und ihnen in der Spielstätte Tischlerei den Freiraum bietet, sich auszuprobieren, Experimente sowie ungewöhnliche Formen zu wagen. „Immer wieder neue Herausfor­ derungen zu suchen, das war von Beginn an die Philosophie der Tischlerei“, fasst es der Dramaturg Curt A. Roesler zusammen, der auch in der Jury der „Neuen Szenen“ sitzt. Gesucht sind dabei möglichst vielfältige Zugänge zum Genre Oper. Die einge­reichten Partituren – um die 50 waren es beim ersten und auch beim zweiten Mal – müssen den gekonnten Umgang mit analogem Instrumentarium und Singstimme beweisen. „Und darüber hinaus erkennen lassen, wie ein szenischer Raum geschaffen werden könnte“, so Roesler. Die Jury – der diesmal der renommierte Komponist Manfred Trojahn ­vorstand – hatte jedenfalls keine Mühe, drei so vielversprechende wie wesens­ verschiedene Komponisten zu wählen. Es sind Robert Krampe, den Roesler in der Tradition der Neuen Musik sieht, in der Tradition von Igor Strawinskijs GESCHICHTE VOM SOLDATEN oder Alban Bergs WOZZECK. Elisa

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Drei Kurzopern des Kompositionswett­ bewerbs NEUE SZENEN II beleuchten ein dunkles Kapitel der deutsch-deutschen ­Geschichte

© Stephan Bögel

OHIO I: Unsichtbare Fronten Nachtstück in drei Szenen Komposition Robert Krampe Libretto Sascha Hargesheimer Regie Tristan Braun Mit Rebecca Koch, Anna Schors, Dongho Kim, Philipp Mayer OHIO II: in absentia Komposition Mischa Tangian Libretto Michel Decar Regie Julia Glass Mit Sera Jung OHIO III: ObstHaine Im Oktober Komposition Elisa Quarello Libretto Jakob Nolte Regie Franziska Guggenbichler Mit Susanne Fischer, Xenia Romashova, ­Valentina Stadler, Mathias Monrad Möller, ­Jeongwhan Sim


© Stephan Bögel

Patrick Wildermann, geboren 1974 in Münster, lebt als freier Kultur­ journalist in Berlin. Er schreibt unter anderem für den Tagesspiegel, das tip-Magazin und die Zürcher SonntagsZeitung. Die Schwerpunkte liegen auf Theaterkritiken, Portraits und kulturpolitischen Berichten.

­ uarello, die mit einer höchst originellen Überschreibung von Wagners Q ­LOHENGRIN und ihrer ganz eigenwilligen „Suche nach Klängen“ die Jury überzeugen konnte. Sowie Mischa Tangian, der an der Deutschen Oper Berlin erst kürzlich mit seiner Komposition für das Projekt IN TRANSIT ­aufgefallen ist und „mit überbordender Phantasie vielgestaltige Stile zu­ sammenfügt“, wie Dramaturg Roesler beschreibt. Die Kurzopern, die diese drei Nachwuchskräfte komponieren, werden von Studierenden des Studien­ gangs Regie der Musikhochschule „Hanns Eisler“ inszeniert. Was wiederum dem Fördergedanken dient und sich bereits bei „Neue Szenen I“ bewährt hat. Ein Novum ist hingegen, dass diesmal drei junge Librettisten mit von der Partie und in den Entstehungsprozess eingebunden sind. Beim ersten Wettbewerb war die literarische Vorlage vorgegeben – mit Christoph Nussbaum­ eders „Ich werde nicht sterben. In meinem Bett“. Ein Monolog, gewidmet der russischen Journalistin Anna Politkowskaja, die 2006 in Moskau unter nie geklärten Umständen ermordet wurde. Die Idee war, drei verschiedene Musikstücke zum gleichen Text komponieren zu lassen. Für „Neue Szenen II“ sollte nun hingegen je ein Librettist mit einem Kompo­ nisten zusammenarbeiten. „Dadurch sind wir mit dem Studiengang Szenisches Schreiben der Universität der Künste in eine weitere Kooperation gekommen“, so Roesler. Sascha Hargesheimer, Michel Decar und Jakob Nolte wurden von ihrem Dozenten John von Düffel angesprochen, ob sie sich die Arbeit an einem Libretto vorstellen könnten. „Wir konnten“, lächelt Hargesheimer. Obschon das Musiktheater für alle drei Neuland war. Ganz im Gegensatz zum Sprechtheater. Michel Decar und Jakob Nolte haben sich als Autorenduo bereits einen Namen gemacht. Mit ihrem Stück „Das Tierreich“ gewannen sie 2013 den Brüder-Grimm-Preis des Landes Berlin. „Helmut Kohl läuft durch Bonn“ wurde 2014 zu den Autorentheatertagen des Deutschen Theaters eingeladen. Für die kommende Ausgabe dieses renommierten Festivals 2015 wurde Sascha Hargesheimer mit seinem Stück „In Salz“ ausgewählt. Auch er ist bereits ein prämierter Nachwuchsautor, unter anderem gewann er bei der Langen Nacht der Neuen Dramatik an den Münchner Kammerspielen den Förderpreis. In der Dreierkonstellation hatten sie bis dato noch nicht zusammengearbeitet. „Wir haben eine erste Rohfassung des Librettos gemeinsam geschrieben und an die Komponisten gegeben“, erzählt Hargesheimer. Verbunden mit der Zusicherung: „Wenn ihr damit nichts anfangen könnt, lassen wir uns etwas Neues einfallen“. Doch der Entwurf stieß gleich auf Gegenliebe. Das Thema Spionage hatte vor allem zwei Inspirationsquellen. „Nolte und Decar haben nachts in einer Neuköllner Bar einmal jemanden kennengelernt, der erzählte, er sei der Sohn eines DDR-Spions“, berichtet Harges­ heimer. Eine Familiengeschichte wie aus dem John-le-Carré-Krimi tat sich da auf: Die Großmutter war CIA-Agentin und wurde beschattet von einem DDR-Spion, der dafür eine Beziehung mit der Tochter eingegangen ist. ­Motive davon bilden die Folie des Librettos OHIO. Der zweite authentische Fall, der Stoff lieferte, war der eines aufgeflogenen britischen Undercover-Agenten, der 2011 auch durch die deutsche Presse ging. Dieser Mark Kennedy hatte im Auftrag der Polizei jahrelang alternative Gruppen unterwandert, war bei Protesten gegen den G8-Gipfel oder den Anti-G20-Kundgegebungen in geheimer Mission mit dabei. Vor allem aber hatte der Staat ihn angeblich mit einer „Lizenz zur Promiskuität“ ausgestattet. Eine der Frauen, mit denen Kennedy eine Affäre anfing, ­verklagte den Romeo nach Bekanntwerden seiner wahren Identität. „Dieses extreme Aufeinanderprallen von Staatsinteressen und Privats­phäre, von Öffentlichem und Intimem, fanden wir spannend“, sagt Hargesheimer. Vor allem, weil ja gar nicht mehr hinterfragt werde, ob solche Spionage prinzipiell falsch sei, unmoralisch. Spätestens seit den Snowden-Enthüllungen wisse man, dass kein Hollywood-Szenario die Realität überbieten könne: totale Überwachung, Abhöraktionen – alles keine paranoiden Phantasien, sondern Alltag. „Nun haben wir es nicht mehr mit einem System zu tun, das verschleiert. Sondern mit einem, das uns sagt: Das alles ist nötig“. Wo die Terrorgefahr allgegenwärtig sei, müssten eben persönliche Freiheiten ­beschnitten werden. Klar könne der Einzelne erklären, damit nicht einverstanden zu sein. „Aber damit kann das System leben“, so der Dramatiker.


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Die Gut-gegen-Böse-Dichotomie der Agentenfilme habe ebenso ausgedient wie der Glaube, die Verhältnisse grundlegend ändern zu können. Ein ­Epochenwechsel, auf dessen Ursprünge sich die Jung-Librettisten zurückbesinnen. „Mit dem Ende der DDR kam auch das Ende der bilateralen Weltanschauung“, so Hargesheimer. OHIO ist eine Geschichte in drei Akten. In Hargesheimers erstem Teil wird der Spion abberufen. Der zweite Teil von Michel Decar rückt die verlassene Ehefrau ins Zentrum. Und Jakob Noltes Schlussakt erzählt – ohne hier zuviel verraten zu wollen – vom Treffen zweier CIA-Agentinnen, was den Kreis der Spionage schließt. Die Librettisten haben dabei eingangs die Figuren unter sich aufgeteilt. Und dann mit je einem Komponisten ein Team gebildet, das fortan eng zusammenarbeitete. „Im Laufe eines fast einjährigen Entwicklungsprozesses“, wie Dramaturg Curt A. Roesler berichtet. „Robert Krampe hat mir vieles mit dem Rotstift gestrichen zurückgeschickt“, erzählt Hargesheimer lächelnd. Eigentlich funktioniere die Poesie bei ihm über Länge und verschachtelte Sätze. „Dieses Kondensieren war neu für mich“. Aber eben auch eine bereichernde Erfahrung: „Man wird direkter in der Sprache, auch pathetischer“. Er sei nicht mehr davor zurückgeschreckt, ­beschreibt Hargesheimer, „die großen Wörter wie Liebe oder Rache zu benutzen“. Da setzt sich schon die emotionale Wucht der Oper durch. Der Dramatiker könnte sich durchaus vorstellen, weitere Libretti zu schreiben. Es wäre nicht das erste Mal, dass die „Neuen Szenen“ Folgen hätten. Für den Komponisten Evan Gardner, beim ersten Wettbewerb ausgewählt, war das Format „geradezu eine Initialzündung“, so Roesler. Er habe seitdem weitere Opern geschrieben, produziere erfolgreich Musiktheater mit freien Gruppen in Berlin. „Die Neuen Szenen“, so der Dramaturg, „haben ihn einen bedeutenden Schritt weiter gebracht“.

Hargesheimer, 1982 in Frankfurt am Main geboren, ist als Quereinsteiger zum Theater gekommen. Nach ersten Hospitanzen in seiner Heimatstadt ging er als Assistent mit Armin Petras – den er neben Jan Bosse als p ­ rägenden Einfluss beschreibt – ans Maxim Gorki Theater. Eine arbeitsintensive Zeit, in der Hargesheimer aber auch eine Reihe eigener Inszenierungen realisieren und mit seiner Theatersprache experimentieren konnte. Seine Uraufführungsinszenierung des Comics „Alans Krieg“ von E ­ mmanuel Guibert wurde 2011 zum Internationalen Figurentheaterfestival Erlangen eingeladen. Mit dem Ende der Petras-Intendanz in Berlin entschied sich Hargesheimer indes, die Regie nicht weiter zu verfolgen. Sondern sich stattdessen – ein lang gehegtes Vorhaben – an der Kunsthochschule zu bewerben. An der Universität der Künste klappte es mit dem Studiengang „Szenisches Schrei­ ben“ gleich im ersten Anlauf. Wenn man Hargesheimer fragt, ob er selbst thematische rote Fäden in seiner Arbeit erkennt, fallen ihm gleich mehrere ein. Der Zusammenbruch von Systemen etwa. Den beschreibt er auch in seinem furiosen Stück „Polen ist mein Italien“, der Phantasmagorie über einen Science-fiction-Regisseur, dem im Polen der achtziger Jahre die Grenzen zwischen Fiktion und Realität zer­ fallen. Während um ihn herum auch politisch die Gewissheiten bröckeln, „versucht er, seine Utopie zu finden“, beschreibt der Autor das Ringen seines Protagonisten. Noch so ein großes Thema seines Schreibens: die Frage, wie eine Utopie in vermeintlich postideologischen Zeiten aussehen könnte. Hargesheimers OHIO-Part endet mit einem Blick in die Zukunft. „es kommt eine zeit in der niemand mehr spion sein wird“, heißt es da. „oder alle“.

Patrick Wildermann


Die Kunst der leisen Töne

Sinfoniekonzert 12. Mai 2015 Frederick Delius [1862 – 1934] „The walk to the Paradise Garden“ aus ROMEO UND JULIA AUF DEM DORFE Richard Strauss [1864 – 1949] Ausgewählte Lieder für Tenor und Orchester Edward Elgar [1857 – 1934] „Falstaff“, Sinfonische Studie op. 68 Dirigent Jeffrey Tate Solist Pavol Breslik Orchester der Deutschen Oper Berlin

Mit seinen Tenören ist Richard Strauss nicht zimperlich umgegangen. Die Rollen sind in der Regel kurz, undankbar und liegen unbequem in der ­Stimme. Während ihm für Frauenstimmen eine großartige Partie nach der anderen eingefallen ist und er die tiefen Männerstimmen immerhin noch mit effektvollen komischen Rollen versorgt hat, müssen sich die Tenöre abplagen und erzielen kaum mal einen nennenswerten Effekt. „Ich hätte gerne die T ­ enöre der Strauss-Zeit live gehört und nicht nur in Aufnahmen“, wünscht sich P ­ avol Breslik, „denn diese Partien sind für uns einfach harte Arbeit. Das hat ­Richard Strauss offenbar so gefallen, und deshalb wüsste ich gerne, wie es im Theater klang, als meine Vorgänger das gesungen haben.“ Ein bisschen angenehmer ist die Lage für die Tenöre bei den Liedern des bayerischen Komponisten. Zwar setzen vor allem Sopranistinnen die „Heimliche Auf­ forderung“, „Ich trage meine Minne“ oder „Morgen“ auf das Programm, aber einige dieser Lieder entstanden einst für Männerstimmen, auch wenn sich heute kaum noch Tenöre daran trauen. Wenn es doch einer wagt, dann meistens ein eher heldisch timbrierter Kollege von Pavol Breslik, der zu den lyrischen Stimmen gezählt wird. Die Herausforderungen der spätromantischen Lieder sieht er allerdings weniger in der reinen Lautstärke: „Man muss schon viele Farben bieten können, die Noten dürfen nicht einfach absolviert werden, sondern die Stimme muss den Inhalt fühlen. Man muss mit den Wörtern spielen und die Anregungen aus dem Orchester aufnehmen ­können. Strauss schreibt immer wieder ‚piano‘ in die Noten, das ist keine Brüllerei.“ Deshalb war es Pavol Breslik auch so wichtig, einen erfahrenen Dirigenten wie Jeffrey Tate an seiner Seite zu haben, wenn er sich den langjährigen Wunsch erfüllt, Strauss mit Orchester zu singen. „Das ist keine Frage von kleiner oder großer Stimme. Die Stimme muss einfach Schmelz, eine Spitze und Durchsetzungskraft haben. Ein schlechter Dirigent kann auch eine große Stimme ruinieren, ein guter Dirigent weiß hingegen, wie er eine lyrische Stimme wie meine musikalisch unterstützen kann. Wir wollen gemeinsam etwas Schönes schaffen. Musizieren ist kein Macho-Wettstreit, in dem es darum geht, wer lauter sein kann – den würde sowieso immer das Orchester gewinnen.“ Dass sowohl das Publikum als auch die Musiker am konzentriertesten zuhören, wenn leise gesungen wird, hat Breslik von Edita Gruberová gelernt. „Sie hat mir beigebracht, dem Sängerreflex zu widerstehen, immer lauter zu


23 22 Pavol Breslik © Neda Navaee

Pavol Breslik singt Orchesterlieder von Richard Strauss

werden, wenn es um mich herum lauter wird. Das war eine sehr wichtige Lektion.“ Mit der ebenfalls slowakischen Koloratursopranistin hat Pavol Breslik schon recht früh in seiner spektakulären Karriere gesungen, die in Berlin ihren Ausgang nahm. Er war noch Ensemblemitglied der Staatsoper Unter den Linden, als seine Karriere nach einer Nominierung als „Nachwuchskünstler des Jahres“ im Magazin „Opernwelt“ Fahrt aufnahm und er schnell auch international gebucht wurde. Seine Debüts an den großen ­internationalen Opernhäusern wurden regelmäßig bejubelt, erst kürzlich feierte er an der Seite von Diana Damrau in Donizettis LUCIA DI LAMMERMOOR einen weiteren Triumph an der Bayerischen Staatsoper. Obwohl er die Lieder von Richard Strauss schon singen wollte, seit ihm zu Beginn seiner Berliner Zeit eine CD in die Hände fiel, auf der Fritz Wunder­ lich sie interpretiert, hat Breslik sich einige Jahre Zeit dafür genommen. „Ich habe gewartet, bis sich die Stimme in diese Richtung entwickelt hat. Nachdem ich die Kammerfassung von Gustav Mahlers ‚Lied von der Erde‘ gesungen habe, dachte ich, jetzt ist wohl die Zeit gekommen, auch die Strauss-Lieder auszuprobieren. Mit Klavierbegleitung habe ich sie bereits gesungen, jetzt freue ich mich riesig auf die Orchesterfassung. Fritz Wunder­ lich hatte ja auch keine besonders große Stimme, aber seine Gestaltung, seine musikalische Phantasie und sein Können sind bis heute ein Ansporn für uns alle.“ Wo seine Stimme in Zukunft hin will, weiß der 35-jährige Tenor noch nicht genau, er will auf jeden Fall genau darauf hören, was in Zukunft möglich ist. Die langen Planungsvorläufe im internationalen Opernbetrieb sind da durchaus ein Problem. „Wenn ich heute Anfragen bekomme, ob ich im Herbst 2019 eine bestimmte Partie singen möchte, die heute noch außerhalb ­meines Repertoires liegt, kann ich nur antworten: ‚Keine Ahnung!‘ Ich versuche daher immer, zumindest früh genug zu sagen, wenn ich eine Rolle doch nicht singen kann. Es gab einen Fall, in dem ich einem Dirigenten einen Brief geschrieben habe, dass ich eine Partie mit großem Bedauern zurückgeben muss. Er hatte dann auch Verständnis dafür. Wir Sänger müssen gelegentlich den Mut haben ‚nein‘ zu sagen, wenn wir feststellen, dass die ursprüngliche Zusage keine gute Idee war.“

Uwe Friedrich


Zeugin eines Jahrhunderts

Jahreswechsel 1939 / 1940. Das letzte Silvester im freien Lettland: Valentinas Eltern und drei Verehrer.


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Die Memoiren von Valentina Freimane haben die Oper VALENTINA inspiriert, die als Gastspiel der Lettischen Nationaloper Riga an die Deutsche Oper Berlin kommt. Eine Begegnung

Mit Dima im Boot auf der Lielupe, Sommer 1940.

VALENTINA Arturs Maskats [*1957] Gastspiel der Lettischen Nationaloper am 19. Mai 2015 Musikalische Leitung Modestas Pitrenas Inszenierung Viestur Kairish Bühne, Kostüme Ieva Jurjane Mit Inga Kalna [Valentina], Ensemble, Chor und Orchester der Lettischen Nationaloper

Ein Mietshaus in Kreuzberg, West-Platte, nur wenige Minuten vom Landwehrkanal entfernt. Hier lebt Valentina Freimane: zwischen meterlangen Regalwänden, Büchern, Zeitschriften, Videos, DVDs. Wirklich gut geht es der 92-Jährigen gerade nicht, das unlängst gebrochene Bein schmerzt, Laufen macht Schwierigkeiten, täglich Arztbesuche. Aber ihre Wohnung ist ihre Burg, prall gefüllt mit gelebtem Leben, mit Erinnerung: an Lettland, an den Krieg, an die Menschen, die sie gerettet haben, an die Jahrzehnte in der Sowjetunion, an die zahllosen Filme, die sie als Dozentin für Theaterund Filmwissenschaft an der Lettischen Akademie der Wissenschaften studiert und analysiert hat. Ein Leben, in dem sich auch die Geschicke Lettlands und Deutschlands spiegeln. 2010 hat sie ihre Biografie „Adieu ­Atlantis“ [dt. im Wallstein Verlag] veröffentlicht, die in Lettland ein Best­ seller wurde. Im März erscheint die deutsche Übersetzung, Komponist Arturs Maskats hat auf Grundlage dieses Buches die Oper VALENTINA geschrieben, Uraufführung war im Dezember 2014 in Riga. Am 19. Mai kommt die Produktion als Gastspiel an die Deutsche Oper Berlin. „Adieu Atlantis“ – das meint den Abschied von der Welt Vorkriegslettlands, wo Valentina Freimane 1922 zur Welt kam, vier Jahre, nachdem die baltischen Staaten ihre Unabhängigkeit von Russland erlangt hatten. Es meint aber auch das Berlin ihrer Kindheit. Vom vierten bis zum 14. Lebensjahr lebte sie hier: „Meine Eltern wohnten in der Meinekestraße, dort, wo sich heute das Hotel ,Residenz‘ befindet“, erzählt sie, in einem wohlüberlegten Deutsch, das klingt, als hätte es eine lange Reise bis in die Gegenwart des Jahres 2015 unternommen. „Jemand hat mir mal gesagt“, erklärt sie verschmitzt, „ich spräche so ein angenehm altmodisches Deutsch der dreißiger Jahre“. Es war ein großbürgerlicher jüdischer Haushalt, in dem sie aufwuchs, der Vater arbeitete für die UFA, die Mutter war kunstliebend, viele Schauspieler gingen ein und aus. Als der Nazi-Terror immer unerträglicher wurde und viele Freunde der Eltern plötzlich verschwanden, kehrte die Familie nach Riga zurück – nur um zu erleben, wie das Land im Mahlstrom der Diktaturen zerrieben wurde. Erst besetzte die Sowjetunion nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1940 das Baltikum, „eine verheerende, gesetzlose Zeit“, nennt es Valentina Freimane und findet in der heutigen Politik Wladimir Putins fatale Parallelen zu den falschen Versprechungen und Lügen der Sowjets von damals. 1941 dann die Nazis, ein noch brutaleres Regime. Die Eltern mussten, wie andere Juden Rigas, ins Ghetto gehen. Valentina Freimane überlegt kurz: „Meine Mutter war eine … nicht-sentimentale Frau. Sie wusste, dass es ein Abschied für immer war.“ Die Nazis liquidierten alle Ghettobewohner, es war eine Generalprobe für noch größere Verbrechen in Warschau. Valentina Freimane überlebte in


Valentina mit ihren Eltern, 1925.

Udo Badelt, Kulturjournalist, studierte Germanistik und Geschichte in Düsseldorf und Berlin.Volontariat bei der Märkischen Oderzeitung in Frankfurt [Oder]. Er ­arbeitet regelmäßig für den Berliner Tagesspiegel und die ­Fachzeitschrift „Opernwelt“.

verschiedenen Verstecken, erst bei ihrem nicht-jüdischen Ehemann, der verraten und abgeführt wurde, dann bei anderen Einwohnern Rigas, mal ein paar Tage, mal mehrere Monate. Am Ende des Krieges war ihre ganze ­Familie umgekommen, 30 Menschen, sie war völlig allein. Und wurde von sowjetischen Offizieren gefragt, warum sie überlebt hatte. Nicht „wie“. ­S ondern „warum“. Das Misstrauen gegen die Opfer war groß, von „ermordeten Juden“ durfte die Presse nicht schreiben, nur von „ermordeten Sowjetbürgern.“ Dennoch machte sie Karriere, erst journalistisch, dann als Wissenschaft­ lerin. Im „Filmlektorium“ zeigte sie Rigaer Studenten indizierte Filme aus dem Westen, von Visconti, Fellini, Bergman. „Es waren keine politischen Filme“, sagt sie, „aber sie sprachen Wahrheit mit den Möglichkeiten der Kunst aus.“ Auch der Komponist Arturs Maskats und der Regisseur Alvis Hermanis, der heute an vielen großen Häusern inszeniert, haben einst an diesem Kreis teilgenommen. Gab es Schwierigkeiten, verwies Valentina Freimane darauf, dass auch in gewissen geschlossenen Zirkeln in Moskau diese Filme zu sehen waren: „Immer mit Moskau operieren, das half!“ Sie war und ist eine scharfsinnige Frau, eine Überlebende. Bis zum Ende der UdSSR galt für sie strenges Ausreiseverbot, zeitweilig durfte sie sogar die sozialistischen Bruderländer nicht besuchen. Heute lebt sie wieder in Berlin, ein alter Wunsch. „Damit hat sich ein Kreis geschlossen“, erklärt sie. ­Heimisch fühlt sie sich hier, hat viele Freunde – auch wenn es weniger werden. „­Theater heute“-Gründer Henning Rischbieter etwa, den sie 1989 auf einem Festival des deutschen Theaters in Moskau kennengelernt hat, ist inzwischen verstorben. Zur Uraufführung von VALENTINA konnte sie wegen ihres Beins nicht nach Riga reisen. Aber zur Berliner Aufführung wird sie kommen. Sie ist unbeugsam. Eine Überlebende.

Udo Badelt


© Thomas Aurin

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14 / 15 SPIELplAN TIPps

Wiederaufnahme HOFFMANN nach Jacques Offenbach 6., 7., 8. Mai 2015

GESCHICHTE VOM SOLDATEN – Igor Strawinskij 6. März 2015 Musikalische Leitung Ivan Repušić Mit Simon Pauly, Markus Brück, Paul Kaufmann; JARNOTH, Myriam Rossbach [Puppenspieler]; Musiker des Orchesters der Deutschen Oper Berlin 5. Tischlereikonzert „Shakespeare – With Love” Kammermusik mit Shakespeare-Vorlage 13. April 2015 Mit Clémentine Margaine [Mezzosopran]; Reinhard Scheunemann [Schauspieler]; Musiker des Orchesters der Deutschen Oper Berlin SOUNDS FOR A WHILE Eine Musiktheaterinstallation von Anselm Dalferth und Studenten des Studiengangs Sound Studies der UdK Berlin Premiere 25. Juni 2015 27., 28., 29., 30. Juni; 2. Juli 2015

TISCHLEREI

© Simon Pauly

Musikalische Leitung Jens Holzkamp Inszenierung Jakop Ahlbom Mit Alexandra Hutton, Paul Kaufmann, Seth Carico u. a.; Musiker des Orchesters der Deutschen Oper Berlin


Repertoire-Tipps

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© Betinna Stöß

FAUSTS VERDAMMNIS – Hector Berlioz 8., 13., 15. Mai 2015 Musikalische Leitung Jacques Lacombe Inszenierung und Choreografie Christian Spuck Mit Clémentine Margaine, Yosep Kang [8. Mai] / Klaus Florian Vogt, Samuel Youn u. a.

© Marcus Lieberenz

© Bettina Stöß

DER BARBIER VON SEVILLA – Gioacchino Rossini 28. Februar; 20., 22. Mai 2015

EUGEN ONEGIN – Pjotr I. Tschaikowskij 7., 10., 14., 24. Mai 2015

Musikalische Leitung William Spaulding / Moritz Gnann [Mai] Inszenierung Katharina Thalbach Mit Matthew Newlin, Noel Bouley, Stephanie Lauricella, Davide Luciano / Etienne Dupuis [Mai] u. a.

Musikalische Leitung Alain Altinoglu Inszenierung Götz Friedrich Mit Karan Armstrong, Nicole Car, Ekaterina ­Sergeeva, Ronnita Miller, Etienne Dupuis, ­Georgy Vasiliev, Ante Jerkunica / Albert ­Pesendorfer [10., 14. Mai] u. a.


29 28 © Bernd Uhlig

© Bernd Uhlig

DON CARLO – Giuseppe Verdi 23., 26., 30. April; 3. Mai 2015

NABUCCO – Giuseppe Verdi 6., 11., 13., 17., 20. Juni 2015

Musikalische Leitung Donald Runnicles Inszenierung Marco Arturo Marelli Mit Giacomo Prestia, Rolando Villazón / Stefano La Colla [26. April], Etienne Dupuis, Gideon ­Poppe, Tobias Kehrer / Albert Pesendorfer [26., 30. April], Adrianne Pieczonka, Anna Smirnova u. a.

Musikalische Leitung Paolo Arrivabeni Inszenierung Keith Warner Mit Dalibor Jenis, Bruno Ribeiro [6., 11. Juni] / Stefano La Colla, Hans-Peter König, Liudmyla Monastyrska, Ronnita Miller [6., 11. Juni] / Jana Kurucová, Andrew Harris [6., 11. Juni] / Marko Mimica, Elbenita Kajtazi, Gideon Poppe / Jörg Schörner [17., 20. Juni]

© Barbara Aumüller

SAMSON UND DALILA – Camille Saint-Saëns 26. Februar; 1. März 2015 Musikalische Leitung Jacques Lacombe Inszenierung Patrick Kinmonth Mit Clémentine Margaine, Aleksandrs Antonenko, Melih Tepretmez, Seth Carico, Ante Jerkunica u. a.

© Bernd Uhlig

DAS MÄDCHEN AUS DEM GOLDENEN WESTEN – Giacomo Puccini 13., 19., 22., 28. März 2015 Musikalische Leitung Carlo Rizzi Inszenierung Vera Nemirova Mit Emily Magee, John Lundgren, Aleksandrs Antonenko u. a.


© Bettina Stöß

MADAMA BUTTERFLY – Giacomo Puccini 26., 29. März; 30. Mai 2015 Musikalische Leitung: Yves Abel Inszenierung: Pier Luigi Samaritani Mit Hui He, Jana Kurucová, Fabio Sartori, Elia Fabbian / Markus Brück [Mai], Gideon Poppe /  ­Burkhard Ulrich [Mai] u. a.

© Bettina Stöß

LA BOHEME – Giacomo Puccini 20., 24., 30. März 2015 Musikalische Leitung: Donald Runnicles Inszenierung: Götz Friedrich Mit Yosep Kang, Noel Bouley, Davide Luciano, Marko Mimica, Jörg Schörner, Carmen ­Giannattasio, Martina Welschenbach u. a.

© Janine Guldener

© Bettina Stöß

Konzert der BigBand 22. Juni 2015

CARMEN – Georges Bizet 4. April; 16., 21. Mai 2015

Vocals Katharine Mehrling Special Guest Uli Scherbel Musikalische Leitung Manfred Honetschläger Moderation Sebastian Krol

Musikalische Leitung: Nicholas Carter / Alain Altinoglu [Mai] Regie: Søren Schuhmacher nach der Inszenierung von Peter Beauvais Mit Rinat Shaham / Nora Gubisch [Mai], Elena Tsallagova / Norah Amsellem [Mai], Marcelo Puente / Massimo Giordano [Mai], Marko Mimica / Bastiaan Everink [Mai] u. a.


Tischlerei [Eingang: Richard-Wagner-Straße / Ecke ­Zillestraße] Einlass ab 30 Minuten vor Beginn Kasse mit Abo-Service [Eingang: Götz-Friedrich-Platz oder Bismarckstraße 35] Mo bis Sa 11.00 Uhr bis 1,5 Stunden vor der Vorstellung; an freien Tagen bis 19.00 Uhr; So 10.00 – 14.00 Uhr

© Barbara Aumüller

DIE LIEBE ZU DEN DREI ORANGEN – Sergej Prokofjew 29. Mai; 4., 12. Juni 2015 Musikalische Leitung Steven Sloane Inszenierung Robert Carsen Mit Ante Jerkunica, Thomas Blondelle, Dana Beth Miller, Markus Brück, Burkhard Ulrich, Bastiaan Everink, Marko Mimica, Barbara Krieger, Stephanie Lauricella, Alexandra Hutton, Heidi Stober, ­Andrew Harris, Seth Carico, Christina Sidak, Jörg Schörner u. a.

Restaurant Deutsche Oper Reservierung / Pausenbewirtung: Tel 030-343 84 670 oder www.rdo-berlin.de

Abendkasse ohne Abo-Service [Bismarckstraße 35] 1 Stunde vor Beginn Anfahrt U-Bahn: U2 Deutsche Oper / U7 Bismarckstraße Buslinien: 101 und M49 Parkhaus Deutsche Oper Einfahrt Zillestraße Operntarif € 3,– [ab 2 Stunden vor Beginn bis 2.00 Uhr]

Auch auf:

L & P Opernshop im Foyer Tel 030-880 430 43 oder www.lpclassics.de

Bestellcoupon Per Post Deutsche Oper Berlin, Vertrieb und Marketing Richard-Wagner-Straße 10, 10585 Berlin Per E-Mail info@deutscheoperberlin.de Per Fax 030-343 84 683

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