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Auf den Spuren der literarischen Romantik

Gustav Mahlers Symphonie Nr. 1 D-Dur

„So! Mein Werk ist fertig! […] Wahrscheinlich bist Du der einzige, dem darin an mir nichts neu sein wird; die andern werden sich wohl über manches wundern! Es ist so übermächtig geworden – wie es aus mir wie ein Bergstrom hinausfuhr!“

Als Gustav Mahler im März 1888 dem Freund Friedrich Löhr enthusiastisch von der Fertigstellung seines jüngsten Werkes berichtet, blickt dieses bereits auf eine mehrjährige Genese zurück. Erste Pläne scheint der aufstrebende und alsbald berühmte Dirigent schon 1884 oder 1885 gefasst zu haben; allerdings fällt ein Großteil der Arbeit offenbar in die von Mahler selbst benannten „6 Wochen“ im Frühjahr 1888, in denen er „bloß den Schreibtisch“ vor sich hatte. Die für seine gesamte Symphonik charakteristische eruptive Schaffensweise prägte die Erste Symphonie also vor – und doch trat das Werk paradoxerweise zunächst nicht als „Symphonie“ in Erscheinung. Seine Budapester Uraufführung erlebte es unter Mahlers Leitung am 20. November 1889 als „Symphonische Dichtung“ in zwei Teilen und fünf Sätzen. Vier Jahre später kam das inzwischen instrumentatorisch überarbeitete Opus in Hamburg zur Wiederaufführung. Wenngleich Mahler im Konzertprogramm nicht mehr eine „Symphonische Dichtung“, sondern „eine Tondichtung in Symphonieform“ ankündigen ließ, gab er dem gesamten Werk sowie den einzelnen Teilen und Sätzen programmatische Titel und fügte einige Erläuterungen bei (siehe den beigefügten Auszug aus dem Hamburger Konzertprogramm). Ab 1896 rubrizierte Mahler das mittlerweile, unter Ausschluss des „Blumine“-Satzes, viersätzige Werk zwar als „Symphonie Nr. 1“ und sparte die programmatischen Hinweise auch bei der Drucklegung von 1899 aus; doch wirft der markante Umstand eines zurückgenommenen Programms analytische Fragen auf.

Dass der bloß für die Hamburger Aufführung von 1893 verbürgte Beiname „Titan“ dem Werk bis heute anhaftet, geht nicht zuletzt auf einige berühmte Äußerungen des Komponisten zurück. Seine Vertraute Natalie BauerLechner etwa überliefert, dass Mahler noch 1896 privat vom „Titanen“ als dem Protagonisten seiner Ersten Symphonie sprach: „[…] als Ziel der Kunst scheint mir zuletzt doch immer Befreiung und Erhebung vom Leid. Die bleibt nun auch in meiner Ersten nicht aus, aber freilich erlangt sie erst im Tode meines ringenden Titanen den Sieg, der, so oft er früher […] sein Haupt über die Lebenswogen erhebt, immer wieder vom Schicksal einen Schlag auf den Kopf bekommt und von neuem untersinkt.“ In der Tat scheint Mahlers Äußerung das einstige Programm zu bestätigen: den abstrakten Bogen eines Menschenlebens, der sich von „den Tagen der Jugend“ bis zum „Inferno“ spannt. Wie ein Brief an Max Marschalk aus dem gleichen Jahr belegt, ist mit dem finalen Triumph im Tode der programmatische Gang jedoch nicht zu Ende; vielmehr schließt an dieser Stelle die im Dezember 1895 uraufgeführte Zweite Symphonie an, zu deren Programm Mahler schreibt: „Ich habe den ersten Satz ‚Todtenfeier‘ genannt, und wenn Sie es wissen wollen, so ist es der Held meiner D-dur-Symph[onie], den ich zu Grabe trage, und dessen Leben ich, von einer höheren Warte aus, in einem reinen Spiegel auffange.“ Die Auferstehung der Zweiten schmiedet den Lebensbogen der Ersten Symphonie zur Kreisbahn.

7. „Titan“, eine Tondichtung in Symphonieform (Manuscript)

Mahler.

I. „Frühling und kein Ende“

(Einleitung und Allegro comodo)

Die Einleitung stellt das Erwachen der Natur aus langem Winterschlafe dar.

II. „Blumine“ (Andante)

III. „Mit vollen Segeln“ (Scherzo)

IV. „Gestrandet!“

(ein Todtenmarsch in „Callot’s Manier“)

Zur Erklärung dieses Satzes diene Folgendes: Die äussere Anregung zu diesem Musikstück erhielt der Autor durch das in Österreich allen Kindern wohlbekannte parodistische Bild: „Des Jägers Leichenbegängniss“, aus einem alten Kindermärchenbuch: Die Thiere des Waldes geleiten den Sarg des gestorbenen Jägers zu Grabe; Hasen tragen das Fähnlein, voran eine Capelle von böhmischen Musikanten, begleitet von musicierenden Katzen, Unken, Krähen etc., und Hirsche, Rehe, Füchse und andere vierbeinige und gefiederte Thiere des Waldes geleiten in possirlichen Stellungen den Zug. An dieser Stelle ist dieses Stück als Ausdruck einer bald ironisch lustigen, bald unheimlich brütenden Stimmung gedacht, auf welche dann sogleich

V. „Dall’Inferno“ (Allegro furioso) folgt, als der plötzliche Ausbruch der Verzweiflung eines im Tiefsten verwundeten Herzens.

Auszug aus dem Hamburger Konzertprogramm vom 27. Oktober 1893; zit. nach Gustav Mahler, „Sämtliche Werke. Kritische Gesamtausgabe“, Band I, hrsg. von Sander Wilkens, Wien 1992, S. VI.

Die allgemeinmenschliche Dimension des Programms rückt den „Helden“ der Ersten Symphonie, wie der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer konstatiert, folglich etwa von Richard Strauss’ distinkten Helden in „Till Eulenspiegels lustige Streiche“ oder „Don Quixote“ ab. Auch wenn der zwischenzeitliche Titel „Titan“ eindeutig auf Jean Pauls gleichnamigen Roman in vier Bänden verweist, bleibt die programmatische Bezugnahme dabei unscharf. Zwar mag man im anfänglichen symphonischen „Erwachen der Natur aus langem Winterschlafe“ eine Allusion an den Beginn des Romans „An einem schönen Frühlingsabend“ erkennen, doch rückt spätestens das konträre Ende – „Inferno“ bei Mahler versus Hochzeit bei Paul – eine direkte Identifikation des symphonischen mit dem Romanhelden Albano in weite Ferne. Dass es Mahler schwerlich um eine Vertonung des Paul’schen „Titan“ ging, erhärtet zudem ein Blick auf die weitergehenden literarischen Bezüge. So verweist die sperrige Bezeichnung des ersten Teils als „Blumen-, Frucht- und Dornstücke“ auf Pauls Roman „Siebenkäs“, und auch der später ausgesonderte „Blumine“-Satz spielt auf dessen Werksammlung „Herbst-Blumine“ an. Die offenkundigen Jean-Paul-Bezüge verlieren sich jedoch im zweiten Teil des Programms; an ihre Stelle treten Referenzen auf Moritz von Schwinds Holzschnitt „Des Jägers Leichenbegängniss“, auf die literarisch einst von E. T. A. Hoffmann beschworene groteske „Manier“ des bildenden Künstlers Jacques Callot sowie auf Dante Alighieris „Divina Commedia“.

Jene Gemengelage, die schon mit Blick auf das Programm von 1893 verwickelt zu nennen ist und durch die anschließende Zurücknahme desselben wohl kaum an Eindeutigkeit gewinnt, macht Mahlers Erste bis heute zum analytischen Problem. Einen probaten Lösungsansatz hat der Musikwissenschaftler Hermann Danuser geliefert, indem er vorschlug, Mahlers Helden nicht primär als fiktive Person zu betrachten, sondern ihn in seiner „formalen Funktion“ als „imaginäre[s] psychische[s] Subjekt der Musik“ zu bestimmen. Die Symphonie folgt demnach einem inneren Programm, einer Abfolge von Affekten und Stimmungen, die mit den Mitteln der Wortsprache kaum zu schildern ist. Die der literarischen Gattung des Romans entlehnte Imagination eines Subjektes jedoch, eines Helden, der jene Affekte und Stimmungen unmittelbar durchlebt, lässt eine intensivere psychische Anteilnahme des Publikums zu und erleichtert die Artikulation von Höreindrücken. Vielleicht erklärt sich der rätselhafte Jean-Paul-Bezug gerade vor diesem Hintergrund – als Hinweis darauf, dass sich Mahlers Symphonie mit den Mitteln des Romans artikuliert.

Auch weitergehend scheint der Roman des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts Mahlers symphonischer Konzeption Modell gestanden zu haben. Denn ganz wie in Goethes „Wilhelm Meister“ oder in Novalis’ „Heinrich von Ofterdingen“ durchziehen Lieder die episch konzipierte symphonische „Handlung“. Ohrenfällig wird dies bereits im ersten Satz. Aus einem vom ätherischen FlageolettKlang geprägten Streicher-Unisono auf dem Ton a entfalten sich peu à peu Zitate aus Mahlers eigenem Lied „Ging heut’ morgen über’s Feld“, dessen Melodie dem Satz als Thema zugrunde liegt. Selbst ohne Worte scheint der Transfer aus den 1884 komponierten „Liedern eines fahrenden Gesellen“ den ursprünglichen semantischen Kontext einzubeziehen. Genauso, wie das Lied von der morgendlichen Naturbetrachtung kündet, versieht Mahler – entgegen Theodor W. Adornos verstörender Assoziation des Streicher-Flageoletts mit dem Klang „altmodische[r] Dampfmaschinen“ – die ersten Takte mit der Bezeichnung „Wie ein Naturlaut“, um wenige Takte später der Klarinette die Nachahmung eines Kuckucksrufs vorzuschreiben. Dass sich der Ruf des Kuckucks, entgegen der „naturalistischen“ kleinen Terz, in Quartsprüngen vollzieht, trägt der sukzessiven, mit Jens Malte

Fischer gesprochen, bausteinartigen Einführung des Themas Rechnung, beginnt dieses doch selbst mit einem Quartsprung abwärts. Dass sich die symphonische Form auch im weiteren Verlauf des Satzes deutlich an jenem mit dem Liedzitat einhergehenden Gestus der Entfaltung orientiert, hat am besten der hinsichtlich des Flageoletts noch eigenwillig argumentierende Adorno auf den Punkt gebracht. So beanspruche die „Idee des Durchbruchs“ das Primat gegenüber dem traditionellen Sonatensatz: „Der Durchbruch in der Ersten Symphonie tangiert die gesamte Form. Die Reprise, der er den Weg bahnt, kann danach jenes Gleichgewicht nicht wieder herstellen, dessen Erwartung an die Sonate sich knüpft. Sie schrumpft zum hastigen Epilog. […] Die Idee des Durchbruchs, die dem gesamten Symphoniesatz seine Struktur anbefiehlt, überflügelt die traditionelle, die er flüchtig noch entwirft.“

Bevor im stürmisch aufbrausenden vierten Satz der finale Durchbruch, zusätzlich markiert durch eine für den Dirigenten vorgeschriebene „Luftpause“, mit einer gewaltigen Rückung von C-Dur nach D-Dur gelingt, bezeugt der langsame Satz einmal mehr Mahlers konzeptuellen Grenzgang zwischen Instrumental- und Vokalmusik. Wird hier zunächst das Kinderlied vom „Bruder Martin“ oder „Bruder Jakob“ in einen grotesken Trauermarsch umgemünzt, in den noch dazu die Klänge einer „Capelle von böhmischen Musikanten“ einfallen, weist auch der Mittelteil des Satzes einen überdeutlichen Liedbezug auf. Das Zitat der an Franz Schuberts „Winterreise“ alludierenden Lindenbaum-Episode des letzten Gesellen-Liedes

„Die zwei blauen Augen“ unterstreicht einmal mehr, dass Mahlers Symphonik die Schranken „absoluter“ Musik fremd sind – oder, um ein letztes Mal mit Theodor W. Adorno zu sprechen: „jeder Takt bei Mahler öffnet weit die Arme“.

Karikatur auf die Uraufführung der 1. Sinfonie von Gustav Mahler am 20. November 1889 in Budapest. Aus der Budapester Wochenzeitung Belond Istók vom 24. November 1889.

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