Die Beste Zeit Nr. 19

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DIE BESTE ZEIT Das Magazin für Lebensart

Ausgabe 19, 2012 - 3,50 Euro

Von Dürer bis Goya Sammlung Von der Heydt-Mueum

Nur für Eingeweihte Ein Stück über das Jahr 1968

Auf dem Vulkan Essay von Michael Zeller

Er ist verrückt, das ist alles Komödie „Mein Freund Harvey“

Die Engel von Paul Klee Ausstellung im Museum Folkwang

Magie des Lichtes Pionier Nico Ueberholz

Landschaften der Stille Modersohn im Osthaus Museum

Bluthochzeit Tragödie im Wuppertaler Opernhaus

Rock ’n’ Roll Dietrich Rauschtenberger

Kein erstarrtes Auge Fotografie als Medium der Kunst

Skulptur als Denkmal Ateliergespräch mit Tony Cragg

Karl Otto Mühl 90 ! Glückwunsch und Würdigung

ISSN 18695205

Wuppertal und Bergisches Land

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Editorial Liebe Leserinnen, liebe Leser, Die großen Dramen im Leben kleiner Leute Wuppertal mit den Augen unserer Autoren Es heißt, Wuppertal und seine Bewohner seien für Zugezogene eine sperrige Angelegenheit. Für mich, seit 1960 hier ansässig, offenbarte die Stadt ihren leuchtend-herben Charme in dem Maße, wie mir ihre Geschichte, und vor allem ihre Literaten nahe rückten. Zur prägenden Figur wurde ganz früh der Schriftsteller Robert Wolfgang Schnell, den ich über die Autorin Ruth Dirx und ihren Mann Willi kennenlernte. Wenn er bei Bier oder gutem Essen, möglichst in verräucherten Kneipen, zu erzählen begann, brannte ein geist- und anekdotenreiches Feuerwerk ab. Irgendwann gab ich auf, zu spekulieren, wo die Wahrheit sich mit Übertreibungen oder purer Phantasie (Lüge wäre hier unangebracht!) mischte, denn er war ein Meister der Pointen, ein Liebhaber des sarkastischen, deftigen Humors, und nie kamen die Wuppertaler und seine eigene sehr bürgerliche Familie, die im vornehmen Zooviertel zu Hause war, ungeschoren davon. Denn er liebte diese Stadt und ihre menschlich-schräge Schrulligkeit. Seine eigene bemerkenswerte Schlitzohrigkeit und sein Humor hatten hier ihre Wurzeln. Er brannte als Neunzehnjähriger mit einer wesentlich älteren Schauspielerin durch – und begann sein Leben als Autor, Schauspieler, Theaterregisseur, Galeriegründer, Maler und Musiker in Berlin und in aller Welt. Er war klug genug zu wissen, dass er besser daran getan hätte, sich (wie Goethe) für eine seiner Begabungen zu entscheiden, aber das verschob er aus reiner Lebenslust immer wieder, bis zu seinem Lebensende (1986). In seinen Anekdoten aus dieser Stadt zeigte sich das große Herz des Erzählers Schnell. Für mich spiegelten sie außerdem alle lebendigen Facetten, ihre bewundernswerten Traditionen von Else Lasker-Schüler über Emil Rittershaus bis zu Mina Knallenfalls und Husch-Husch, der bald auch sein Denkmal in Barmen bekommen soll. Der pathetisch-gütige Blick für die großen Dramen kleiner Leute war und ist hier zu Hause! Schnell starb schon mit 70 Jahren; vermutlich die Quittung für ein ruheloses und trinkfreudiges Leben. In seinem Kinderbuch „Pulle und Pummi“ hatte er, vermutlich aus Freundschaft zu mir, einem Apfel den Namen Hermann gegeben. Kein Apfel, sondern ein Wuppertaler Drama stand am Anfang meiner Freundschaft mit Karl Otto Mühl, der im Februar 2013 bei bester Gesundheit seinen 90. Geburtstag feiert – und mit ihm Bürger dieser Stadt aus allen Schichten der Bevölkerung. Ich hatte in einem alten Missionsblatt von 1824 die tragische Geschichte eines schwarzen Sklaven entdeckt, der in Holland von einem Barmer Kaufmann erworben worden war. Er nahm ihn mit und zeigte ihn gegen Geld auf den Jahrmärkten. Diesen eher grausigen Fund mit herzzerreißend-frommem Ausgang schickte ich an die Wuppertaler Bühnen. Holk Freytag und Gerold Theobalt gaben ihn an den schon landesweit berühmten Autor Karl Otto Mühl; er möge überlegen, daraus ein „Heimatstück“ zu machen. „Ein Neger zum Tee“ wurde 1996 aufgeführt; da gab mir Mühl schon gute Ratschläge für meinen ersten Roman. Wir sprachen über seine Kindergeschichten, und auf langen Spaziergängen über alle Gefährdungen, die das Leben lebenswert machen. Es folgten gute Jahre, als wir uns mit dem Freund Wolf Christian von Wedel Parlow im Schriftstellerverband (VS) dieser Stadt engagierten. Robert Wolfgang Schnell und Karl Otto Mühl, beide großartige Erzähler, weisen, außer dass Wuppertal sie geprägt hat, kaum biografische Ähnlichkeiten auf, wohl aber in ihrer Art und Weise, die Menschen zu sehen, ohne sie zu beurteilen, ohne zu verurteilen: Es ist der liebe- und humorvolle und kluge Blick auf das Leben der sogenannten Kleinen Leute. Weil bei ihnen alle Größe, und alles sonst zu finden ist, was die Welt wirklich bewegt. Man kann neugierig sein, wie die jüngere Generation von Autoren mit dem Erbe dieser Stadt umgehen wird. Viel Vergnügen beim Lesen. Hermann Schulz

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Impressum Die Beste Zeit erscheint in Wuppertal und im Bergischen Land Erscheinungsweise: alle zwei Monate

Kürzungen bzw. Textänderungen, sofern nicht sinnentstellend, liegen im Ermessen der Redaktion. Für unverlangt eingesandte Beiträge kann keine Gewähr übernommen werden.

Verlag HP Nacke KG - Die beste Zeit Friedrich-Engels-Allee 122, 42285 Wuppertal Telefon 02 02 - 28 10 40 E-Mail: verlag@hpnackekg.de

Nachdruck - auch auszugsweise - von Beiträgen innerhalb der gesetzlichen Schutzfrist nur mit der ausdrücklichen Genehmigung des Verlages.

V. i. S. d. P.: HansPeter Nacke Erfüllungsort und Gerichtsstand Wuppertal

Bildnachweise/Textquellen sind unter den Beiträgen vermerkt.

Trotz journalistischer Sorgfalt wird für Verzögerung, Irrtümer oder Unterlassungen keine Haftung übernommen.

Gastbeiträge durch Autoren spiegeln nicht immer die Meinung des Verlages und der Herausgeber wider. Für den Inhalt dieser Beiträge zeichnen die jeweiligen Autoren verantwortlich.

Abbildung Cover: Otto Modersohn (1865-1943), Kirchgang (Neujahr - Dingstiege in Münster), 1888, Öl auf Papier auf Karton, 21 x 21 cm, © Otto Modersohn Museum, Fischerhude

Winter Als ich die Augen öffne, sehe ich das Schneetreiben vor dem Fenster. Lässig segeln wässerige Flocken durcheinander, fallen und schmelzen. Das ist schön, denn es erweckt das Gefühl von Dauerhaftigkeit und Ruhe. Langsam steige ich aus dem Bett. Ich wäre schon früher aufgestanden, aber ich lag da in der Überzeugung, ich sei längst auf. Es war also nicht meine Schuld. Im Wohnzimmer sitzt die Tochter und sagt, sie sei immer noch erkältet. Sie

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zögert aber, zum Arzt zu gehen, denn sie weiß nicht, ob sie dann überzeugend husten kann, und wie steht sie dann da? Auf dem Parkplatz wischt der Nachbar seine Autoscheiben frei. Er berichtet, dass es zurzeit in Hattingen und am Baldeney-See viel stürmischer zugehe als hier bei uns. Das liege daran, dass die Landschaft dort einen Kessel bilde. Ich werde das nicht überprüfen, denn vielleicht stürmt es schon nicht mehr, wenn ich in Hattingen ankomme. Beim Gedanken an Husten fällt mir wi-

der alle Absicht schon wieder Hamlets Monolog ein: Zu wissen, dass ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet, die unseres Fleisches Erbteil. Ich werde dem allen die Stirn bieten und in der Bäckerei einen Kaffee trinken. Mein Auto nimmt klaglos die steile Auffahrt. Die freie Straße und das Schneetreiben liegen vor mir. Karl Otto Mühl


Inhalt Ausgabe 19, 5. Jahrgang, Februar 2013 Auf dem Vulkan

Von Dürer bis Goya „Alte Meister“ in der Sammlung des Von der Heydt-Museums

Vom Verrechnen der Zukunft Essay von Michael Zeller

Seite 6

Die Magie des Lichts

Sammlung Gigoux von Cranach bis Géricault Vorschau Von der Heydt-Museum

Nico Ueberholz leistet Pionierarbeit bei der Revolution der Leuchttechnik

Seite 10

Das Wuppertaler TiC-Theater stellt seinen Spielplan 2013 vor, von Frank Becker

Seite 12

Der Dichter als Vorleser in den Kaffeehäusern von Prag, von Heiner Bontrup Seite 55

Seite 14

Rock ’n’ Roll

Landschaften der Stille Ausstellung Otto Modersohn im Osthaus-Museum Hagen

Seite 54

Franz Kafka und die Griots von Prag

Er ist verrückt, das ist alles Mein Freund Harvey von Mary Chase von Frank Becker

Seite 51

Komödie, Krimi, Klassik

Karl Otto Mühl 90 ! Glückwunsch und Würdigung zum 90. Geburtstag von Frank Becker

Seite 49

Auszug aus dem Roman „Freejazz“ von Dietrich Rauschtenberger

Seite 16

Seite 61

Bluthochzeit

Das Verhängnis begann in Wuppertal

Lyrische Tragödie in 2 Akten im Wuppertaler Seite 22 Opernhaus von Fritz Gerwinn

Ein unglaubliches Buch des österreichischen Juristen Alfons Dür , von Matthias Dohmen Seite 64

Helmfried von Lüttichau

Geschichtsbücher, Buchgeschichten

Vom „Drachen“ in Wuppertal zum Fernseh-Serienstar, von K. Göntzsche

porträtiert von Matthias Dohmen Seite 66

Seite 25 Neue Kunstbücher

Fotografie ist kein erstarrtes Auge Die Fotografie als Medium der Kunst von Ute C. Latzke

Zur Sprache der Architektur vorgestellt von Thomas Hirsch

Seite 28

Terra incognita – Bosnien

Nur für Eingeweihte Beatles. Das weiße Album. Ein Stück über das Jahr 1968, von Frank Becker

Seite 67

Seite 32

Safeta Obhodjas

Mert – Ein Deutschtürke im Abseits von Friederike Raderer

Seite 69

Mert, ein Deutschtürke im Abseits

Kulturnotizen

Die Engel von Paul Klee Ausstellung im Museum Folkwang noch bis zum 14. 4. 2013

Kulturveranstaltungen in der Region

Seite 70

Seite 34

Beweglicher als hier kann man nicht tanzen Die Tanzschule Bellinghausen im Mirker Bahnhof, von Marlene Baum

Seite 38

Skulptur als Denkmal Ateliergespräch mit Tony Cragg über Skulptur als Denkmal, von J. Vesper

Seite 43

Paragraphenreiter Interessantes zu den Themen Steuern und Recht, von Susanne Schäfer

Seite 48

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Von Dürer bis Goya „Alte Meister“ in der Sammlung des Von der Heydt-Museums.

Albrecht Dürer, Das Meerwunder, um 1498, Kupferstich, 25,6 x 18,4 cm

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Die Sammlung des Von der HeydtMuseums geht zurück auf engagierte Bürger, die sich im 19. Jahrhundert im „Barmer Kunstverein“ und „Elberfelder Museumsverein“ zusammen schlossen und zunächst, wie damals üblich, „konservativ“ sammelten: bis etwa 1900 sammelte man Werke des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts und stellte diesen Gemälde des (protestantischen) holländischen 17. Jahrhunderts gegenüber. Werke der (katholischen) flämischen, italienischen, französischen oder spanischen Barockmalerei und des wohl

als allzu „frivol“ eingeschätzten 18. Jahrhunderts fanden dagegen zunächst keinen Eingang in die Sammlungen der protestantischen Untertanen Preußens. Etwa 80 Gemälde umfasst die heutige Sammlung „Alter Meister“ sowie eine große Anzahl bisher wenig bekannter graphischer Blätter. Die aktuelle Präsentation im 1. Obergeschoss konzentriert sich nun auf den Bestand an niederländischer Malerei und Graphik und setzt diesen in den kunsthistorischen Zusammenhang. Mit einer Auswahl von


Blättern deutscher, spanischer, französischer und italienischer Künstler gewährt sie zugleich einen Einblick in die außerordentlich reiche graphische Sammlung. Abgesehen von großen Schenkungsblöcken kamen im Lauf von mehr als 100 Jahren immer wieder auch einzelne Blätter, kleinere Konvolute und Mappenwerke an das Haus, konnten aber auch exzellente Blätter gekauft werden. So spiegelt sich heute gerade in dem Bereich der „Alten Meister“ die bürgerliche Sammeltätigkeit Wuppertaler Per-

sönlichkeiten. Diese erwarben vornehmlich intim wirkende Kunstwerke für die eigenen Privaträume, und gerade das macht heute den besonderen Charakter der Sammlung „Alte Meister“ im Von der Heydt-Museum aus.

dem Titel „Himmel auf Erden“ - Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts präsentiert. Dabei wird ein besonderes Augenmerk auf die zahlreichen Neuerwerbungen der vergangenen Jahre und ihre Einbindung in den älteren Sammlungsbestand gelegt.

Die Ausstellung „Alte Meister“ wird bis zum 1. September zu sehen sein. Parallel zeigt das Museum im Zwischengeschoss Highlights aus seiner Sammlung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Ab dem 14. April wird zudem im 2. Stock eine umfangreiche Werkauswahl unter

Ausstellung bis zum 1. September 2013

Jan Olis, Der Raucher, Eiche, 34 x 28 cm

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linke Seite oben. Pieter De Bloot, Schweineschlachten, 1638, Eiche, 59 x 84 cm rechts oben: Klaas Molenaer, Eisvergn端gen, Leinwand, 67 x 79 cm

linke Seite unten: Jan van Bylert, Singende Hirten, Leinwand, 75 x 103 cm rechts unten: Jan Miense Molenaer , Lautenspieler, Eiche, 26, 5 x 24, 5 cm

Von der Heydt-Museum Turmhof 8, 42103 Wuppertal Telefon 0202/563-6231 www.von-der-heydt-museum.de

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Die Sammlung Gigoux Von der Heydt-Museum Vorankündigung 15. 10. 2013 –23. 2. 2014 Sammlung Gigoux Meisterwerke aus dem Musée des Beaux-Arts et d’Archéologie de Besançon Von Cranach bis Géricault

Lucas Cranach, Selbstmord der Lucretia Cranach, Dürer, Tizian, Bellini, Rubens, Rembrandt, Goya – gemeinsam ist diesen weltbedeutenden Künstlern eines: sie alle sind in der Sammlung Jean Gigoux mit wunderbaren Gemälden und Zeichnungen vertreten.

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Trotzdem ist diese großartige Sammlung in Deutschland bislang nie gezeigt worden und noch völlig unbekannt. Jean Gigoux (1806-1894) war im Frankreich des 19. Jahrhunderts als Maler bekannt, vor allem aber als Zeichner und als äußerst


geschätzter Illustrator. Mit seiner Arbeit gelang es ihm, ein Vermögen zu erwerben und damit eine Kunstsammlung von enormer Strahlkraft aufzubauen. Das Von der Heydt-Museum zeigt die außergewöhnlichen Meisterwerke dieser umfangreichen Sammlung nun zum ersten Mal in Deutschland. Das Besondere an dieser Ausstellung ist, dass die Kunstwerke von einem Künstler zusammengetragen wurden. Mit seinen fundierten Kenntnissen der Malerei und seiner geübten Seherfahrung, mit seinem malerischen Können und Wissen hat Jean Gigoux aus dem Besten, was die Kunst von der Renaissance bis zum 19. Jahrhundert zu bieten hatte, treffsicher die interessantesten, oft auch ungewöhnlichsten Werke für seinen Privatgebrauch ausgewählt. So ist der Parcours durch unsere Ausstellung eine Reise durch die Geschichte der Kunst, gesehen durch das Auge eines scharfsinnigen Malers. Gigoux gelang es, sich von den allgemeinen Kunstvorstellungen seiner Zeit zu lösen und – vor allem im Bereich der Zeichnungen, in dem seine Sammlung Werke von Mantegna, Cellini, Breughel, van Dyck, Jordaens, Fragonard bis hin zu seinen Zeitgenossen David, Delacroix und Géricault enthält – die Kunstgeschichte „Gegen den Strich zu bürsten“ und ebenso überraschende wie beglückende Kostbarkeiten zu vereinen. Die Ausstellung entsteht in enger Zusammenarbeit mit dem Musée des Beaux-Arts et d’Archéologie in Besançon und umfasst ca. 100 ausgewählte Gemälde und 30 erlesene Zeichnungen. Sie verspricht, ein großer Augenschmaus und ein besonderes intellektuelles Vergnügen zu werden.

oben: Paul de Vos, Zwei junge Seehunde am Strand, um 1650 rechts: Jan Lievens, Kind mit Seifenblasen, um 1645

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Karl Otto Mühl 90 ! Ein Glückwunsch Die „Musenblätter“ haben soeben ihren sechsten Geburtstag feiern können, das Kultur-Magazin „Die Beste Zeit“ seinen dritten. Daß beide so ordentlich aus den Startblöcken gekommen sind und ihre Akzeptanz auch in Literaturkreisen gefunden haben, verdanken sie nicht unerheblich der Förderung durch den Schriftsteller und Freund Karl Otto Mühl, der in diesen Tagen seinen 90. feiert. Als Mitarbeiter der ersten Stunde stellt Karl Otto Mühl beiden Magazinen seither seine Texte zur Verfügung, vermittelt vorzügliche Autoren und rührt fleißig und uneigennützig die Werbetrommel. Dafür unseren ganz besonders herzlichen Dank! Unser Glückwunsch geht zugleich an den Schriftsteller, der nicht nur auf 90 erfüllte Lebensjahre, sondern auch auf ein umfangreiches Lebenswerk zurückblicken kann - womit nicht gesagt sein soll, daß da nicht noch einiges der Veröffentlichung harre! Gratulieren wir ihm also von ganzem Herzen. Die Unermüdlichkeit des Geistes Die Unermüdlichkeit des Geistes ist vermut-

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lich der Weg zu ungebrochener Schaffenskraft von der Frische der Jugend bis in die Reife des Alters. Der Dramatiker, Romancier und Lyriker Karl Otto Mühl ist diesen Weg gegangen und geht ihn noch. Am 16. Februar feiert er seinen 90. Geburtstag. An den Wänden seines Arbeitszimmers sind Fotos angeheftet: Max Schmeling ist zu sehen und Hermann Schulz. Franz Kafka und Siegmund Freud teilen sich den Platz mit Werner Zimmermann, Karl-Heinz Schniewindt und einigen anderen. Diese Männer bedeuten ihm etwas, deshalb möchte Karl Otto Mühl ihre Fotos da um sich haben, wo er schreibt. Angefangen hat es vor gut 80 Jahren, wenige Jahre nachdem der 1923 in Nürnberg geborene Sohn eines Werkmeisters durch die Versetzung des Vaters 1929 in die gerade erst zusammengefügte Stadt Wuppertal gekommen war. Der Anstoß zum Schreiben kam von einem alten Herrn aus der Nachbarschaft, einem ehemaligen Straßenbahnschaffner. Der kluge Mann, der – Mühl erinnert sich genau – ein altväterliches Hörrohr aus Messing benutzte, sprach oft mit dem

Knaben und ermunterte ihn, aufzuschreiben, was da in seinem Kopf vorging. Der Junge schrieb, wandte sich an die Lokalzeitung »General-Anzeiger« – und konnte 1932 in der Jugendbeilage erste Kindergeschichten veröffentlichen. Später schrieb er neben dem Besuch der Realschule und der Lehre als Industriekaufmann weiter. Gedichte, Theaterstücke und „Epigonales“, angeregt von großen Vorbildern. 1941 wurde Karl Otto Mühl zur Fahne gerufen, mußte in den Krieg ziehen. Bis 1942 hatte er die literarische Produktion vom Zufall des Einfalls abhängig gemacht. Sein Krieg währte ein Jahr, er überlebte, geriet in der libyschen Wüste bei El Alamein in englische Gefangenschaft. Nun schrieb er mit Plan – Dichtung zum Überleben. Fünf Jahre verbrachte der junge Mann, der kein Soldat hatte sein wollen, in Gefangenenlagern in Afrika, Europa und den USA. Und er schrieb: Gedichte, Aphorismen, Erinnerungen, Gedankenfetzen, Ideen – in schmale Oktavhefte, Kladden, die er bewahren konnte und 1947 mit zurück nach Hause brachte. Für das zwischenzeitlich eingestellte Magazin


»Bergische Zeit« öffnete Mühl 2003 sein Archiv und erlaubte die Erstveröffentlichung bisher ungedruckter Texte: Da wir es fühlten Die bange Lust von Sommernachmittagen, und gelbe Felder, die den Himmel tragen, ein Dornbusch, starrend, wild verzweigt, der sich in seinen Schatten neigt – die Nächte nahen barfuß, nicht zu hören, und gehen früh und wissen, daß sie stören. Wir ließen stumm erschreckt die Arme nieder. Es blinzelte durch träge Augenlider ringsum mit schmalem Blick die Welt; die Krüge wurden hingestellt, und standen durstig an verdorrten Flüssen – da wir es fühlten, daß wir sterben müssen. (auf 1944/45 zu datieren) 1944 hatte Mühl in Naples/New York als POW (Prisoner Of War) zum Traubenpressen dienstverpflichtet, den Dramatiker Tankred Dorst kennen gelernt und Impulse von ihm bekommen Die Wege der beiden sollten sich später erneut kreuzen. Ins Ruinenfeld des zerstörten Wuppertal zurückgekehrt,

Karl Otto Mühl mit Hermann Schulz links: Karl Otto Mühl mit seiner Ehefrau Dagmar folgte er dem Ruf Paul Pörtners, sich der Künstlergruppe „Der Turm“ anzuschließen. Robert Wolfgang Schnell und später Tankred Dorst gehörten wie der Maler Wolfgang vom Schemm dazu. Man sprach über Literatur und Kunst, Mühl schrieb Kurzgeschichten.

1948 legte er am Carl-Duisberg-Gymnasium sein nachgeholtes Abitur ab. Der Neuanfang war gemacht. Jetzt aber galten erst einmal Beruf und Brot. Diese Zeit beschrieb er in seinem erfolgreichen Romanerstling „Siebenschläfer“, den er als mittlerweile leitender Angestellter zwischen 1964 und 1969 geschrieben hatte, aber erst 1975, im Jahr nach seinem Durchbruch als Dramatiker mit „Rheinpromenade“ veröffentlichte. Auch das mit durchschlagendem Erfolg (ca. 70 Inszenierungen) die deutschen Bühnen stürmende Stück hatte Mühl „nebenbei“ geschrieben: „Täglich 20 Minuten hatte ich, während ich im Ratskeller Neuss auf meine Frau wartete“, erinnert er sich. Am 5. April wird „Rheinpromenade“ im Schauspielhaus Köln zu Ehren Karl Otto Mühls eine Renaissance erleben. 1970 hatte Mühl geheiratet. Drei Töchter hat er mit seiner Frau Dagmar Friebel. Weitere Theaterstücke folgen: „Rosenmontag“, „Kur in Bad Wiessee“, „Die Reise der alten Männer“. Dreizehn sind es seither geworden, dazu Drehbücher zu Fernsehfilmen, Hörspiele, Romane und Gedichte. Der 1975 verliehene Von der Heydt-Preis beflügelte. Schon 1972 hatte sich Mühl durch Vermittlung Horst Laubes und Tankred Dorsts dem Verlag der Autoren angeschlossen, aber auch beim Hermann Luchterhand Verlag und beim Rotbuch Verlag veröffentlicht. Seit 2002 hat er für Prosa und Lyrik eine neue Verlagsheimat beim Wuppertaler NordPark Verlag gefunden, der seinen jüngsten Gedichtband „Inmitten der Rätsel“ und eine Neuauflage von „Siebenschläfer“ vorlegte. Die Arbeit ging weiter. Karl Otto Mühl veröffentlichte 2005 die Romane „Nackte Hunde“ und „Hungrige Könige“ in autobiographischer Anlehnung an die 30er und 40er Jahre in Wuppertal. In Arbeit ist der ebenfalls autobiographische Roman „Der gute Amerikaner“, der die Kriegsgefangenschaft aufarbeitet. „Geklopfte Sprüche“ Mühl denkt nicht daran, aufzuhören. „Ein bißchen weniger vielleicht“, sagt er und: „Das Leben ist ein ständiges Weiterkriechen.“ Seit einer 1982 glücklich überstandenen Krebsoperation hat er einen etwas anderen Blick gewonnen. „Wir sind ein Prozeß, aber die Leute wollen immer gerne, daß wir ein Denkmal sind.“

Kurzer bio-bibliographischer Abriß: Karl Otto Mühl – Dramatiker, Lyriker, Romanschriftsteller, Hörspielautor, geboren 16. Februar 1923 in Nürnberg/ Bayern, lebt und arbeitet in Wuppertal/ Nordrhein-Westfalen 1947 Künstlergruppe „Der Turm“, 1976 Von-der-Heydt-Preis, Verlag der Autoren, Verband Deutscher Schriftsteller, P.E.N. Deutschland, seit 2006 „Musenblätter“Autor Werke (Auswahl): Romane/Bücher: Die Erfindung des Augenblicks, Neue Geschichten, NordPark Verlag 2012 Stehcafé, Geschichten, NordPark Verlag 2010 Die alten Soldaten, Roman, NordPark Verlag 2009 Laß uns nie erwachen, Gedichte, NordPark Verlag 2008 Sandsturm, Roman, NordPark Verlag 2008 Hungrige Könige, Roman, NordPark Verlag 2005 Nackte Hunde, Roman, NordPark Verlag 2005 Inmitten der Rätsel, Gedichte, NordPark Verlag 2002 Jakobs seltsame Uhren, Bilderbuch, Wuppertal, Hammer Verlag, 1999 Fernlicht, Roman, Wuppertal, Hammer Verlag, 1997 Trumpeners Irrtum, Roman, Darmstadt, Luchterhand 1981 Siebenschläfer, Roman, Darmstadt, Neuwied, Luchterhand 1975/NordPark 2003 Theater: Das Privileg, 2001 Ein Neger zum Tee, 1995 Verbindlichen Dank, 1994 Die Weber, von Gerhart Hauptmann, Bearbeitung 1989 Am Abend kommt Crispin, 1988 Kellermanns Prozeß, 1982 Die Reise der alten Männer, 1980 Hoffmanns Geschenke, 1978 Wanderlust, 1977 Kur in Bad Wiessee, 1976 Rheinpromenade, 1973 Rosenmontag, 1975 Frank Becker

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Er ist verrückt, das ist alles „Mein Freund Harvey“ von Mary Chase – Eine Komödie über die Psychoanalyse Das Falsche ist oft die Wahrheit, die auf dem Kopf steht. (Sigmund Freud)

Inszenierung: Gert Becker Ausstattung: Elke König Dramaturgie: Christian Scholze Besetzung: Elwood P. Dowd: Berthold Schirm Ruth Kelly, Oberschwester in Dr. Chumleys Sanatorium: Julia Gutjahr Veta Louise Simmons, seine verwitwete Schwester: Vesna Buljevic Myrtle Mae, deren Tochter: Sophie Schmidt Omar Gaffney, Anwalt der Familie Dowd: Francesco Russo Dr. William R. Chumley, Psychiater: Guido Thurk Betty Chumley, seine Frau / Mrs. Ethel Chauvenet / E. J. Lofgreen, Taxi-Chauffeur: Gabriele Brüning Dr. Lyman Sanderson, Psychiater: Roni Merza Marvin Wilson, Angestellter des Sanatoriums: Bülent Özdil

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„Er ist verrückt, das ist alles.“ Wenn es so einfach wäre, wie es Elwood P. Dowds Nichte Myrtle Mae es auf den Punkt zu bringen versucht, wäre „Mein Freund Harvey“ von Mary Chase ein kurzes, tragisches Stück. Ein Mann wird seit Jahren von einem unsichtbaren, großen weißen Hasen (2 Meter plus Ohren) begleitet und teilt den Alltag mit ihm - Diagnose: Wahnvorstellungen, Maßnahmen: Klapsmühle, Zwangsjacke, Eisbäder. Schrecklich. Doch Mary Chase hat mit ihrer ab 1943 am Broadway 1775mal en suite aufgeführten und 1950 mit James Stewart Maßstäbe setzend verfilmten Gesellschaftskomödie über die Psychoanalyse eine wunderbare Parabel zu der Frage geschaffen, wer denn nun verrückt sei: Elwood P. Dowd (Berthold Schirm), das medizinische Personal der Irrenanstalt, pardon, des Sanatoriums oder gar wir, die Zuschauer? Gert Becker hat mit dem Ensemble des Westfälischen Landestheaters Castrop-Rauxel auf der wunderbaren wolkig-violetten Bühne von

Elke König (die auch für die kongenialen Garderoben zeichnet) eine äußerst kurzweilige Inszenierung auf die Beine gestellt, welche der Intention der Autorin folgend das Spiel zwischen Wahn und Wirklichkeit mit weiser Komik betreibt. „Das Maß von unbefriedigter Libido, das die Menschen im Durchschnitt auf sich nehmen können, ist begrenzt.“ (Sigmund Freud) Man spürt stets – gelegentlich sieht man ihn auch im Hintergrund – Sigmund Freud im Raum, und sein Satz: „Das Falsche ist oft die Wahrheit, die auf dem Kopf steht“, wird spürbar. Vor seinem Bild entwickelt sich in den absurden Dialogen, die Mary Chase ihren Figuren auf Maß geschneidert hat und die von Gert Becker glänzend inszeniert wurden, ein köstliches Spiel mit Klischees, die mit Genuß ausgeschlachtet werden. Da ist das verklemmte, nach Sex lechzende Vorstadt-Girl Myrtle Mae (Sophie Schmidt), agieren die psychiatrieverdächtigen Psychiater Dr. Sanderson


(Roni Merza) und Dr. Chumley (Guido Thurk) als Götter in Weiß, baggert der notgeile Sanatoriumshelfer Wilson (Bülent Özdil), und verzweifelt die societysüchtige Mrs. Simmons (Vesna Buljevic). Gabriele Brüning agiert gleich in vier Rollen, bei denen sie besonders als Betty Chumley Akzente setzt. Sie führen uns eine Gesellschaft vor, die natürlich in jeder scheinbaren Abweichung von der Norm eine Gefahr sehen muß. Daß Mary Chase auch ganz nebenbei im Plauderton Albert Einsteins Relativitätstheorie bemüht, sei ebenso ganz am Rande vermerkt. An der Frauenbrust treffen sich Liebe und Hunger. (Sigmund Freud) Julia Gutjahr in einer Paraderolle Die zauberhafte Julia Gutjahr nimmt als auf High-Heels stöckelnd hüftenschwingende Betty, der stets im rechten Augenblick der obere Knopf des spacken Kittelchens aufspringt, dank ihrer pikan-

ten Karikatur auf die Karikatur einer sexy Krankenschwester eine besondere Position ein, die nahezu dem wunderbaren Berthold Schirm den Rang abläuft. Sympathisch süß gestrickt entzieht sie sich, den Blick auf die Liebe(n)swürdigkeit ihrer Mitmenschen gerichtet, der allgemeinen Hysterie. Auch hier wird Freud trefflich umgesetzt: „An der Frauenbrust treffen sich Liebe und Hunger.“ Hinreißend. Und die Herren im Publikum beneiden Dr. Sanders.

mit Fliegendreck!“. Denn: „Auch der psychiatrische Wahn enthält ein Stückchen Wahrheit, und die Überzeugung des Kranken greift von dieser Wahrheit aus auf die wahnhafte Umhüllung über.“ (Sigmund Freud) Ein großartiges Stück, ein großartiger Abend.

Das Falsche ist oft die Wahrheit, die auf dem Kopf steht. (Sigmund Freud) Berthold Schirm als „sanfter Irrer“

Frank Becker Fotos: Volker Beushausen

Berthold Schirm weiß als spleeniger „sanfter Irrer“ Elwood im weichen TweedAnzug, ein Mann ohne Arg, der en passant Ovid zitiert, davon zu überzeugen, daß es eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit gibt, was Star-Psychiater Chumley schließlich zu der umkehrenden Einsicht bringt: „Fliegendreck, ich verbringe mein Leben

Das Stück ist derzeit in NRW auf Tournee. Weitere Informationen: westfaelisches-landestheater.de

linke Seite: Vesna Buljevic (Veta Louise Simmons) rechte Seite: v. l.: BertholdSchirm(Elwood P. Dowd), Guido Thurk(Dr. William R. Chumley)

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Landschaften der Stille Otto Modersohn Landschaften der Stille Paula Modersohn-Becker – Eine expressive Malerin Werke aus Privatbesitz Osthaus Museum Hagen noch bis zum 21. April 2013

Otto Modersohn (1865-1943) Die Wolke, 1890 © Otto Modersohn Museum, Fischerhude © VG Bild-Kunst, Bonn, 2013

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Otto Modersohn, Dorfstraße in Worpswede, 1897, © Otto Modersohn Museum, Fischerhude, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2013

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Das Osthaus Museum Hagen richtet bis 21. April 2013 in Zusammenarbeit mit der Otto Modersohn Stiftung in Worpswede eine retrospektiv angelegte Ausstellung zum Werk des Landschaftsmalers Otto Modersohn (1865–1943) aus. Mit über 100 Gemälden und rund 80 Zeichnungen ist dies die erste umfassende Museumspräsentation außerhalb des Otto Modersohn Museums in Fischerhude seit 35 Jahren in Deutschland. Ziel der Ausstellung ist es, die Eigenständigkeit des außerordentlich umfangreichen malerischen wie auch des zeichnerischen Œuvres einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Sie umfasst alle Abschnitte seiner Werkgenese. Parallel zu dieser Präsentation, zeigt das Osthaus Museum eine exklusive Auswahl von Werken Paula Modersohn-Beckers aus Privatbesitz. Damit begegnen sich zwei grundlegend unterschiedliche künstlerische Sehweisen, die sich an einigen Punkten berühren und sich für kurze Zeit gegenseitig befruchten, dann jedoch wieder völlig andere, eigenständige Entwicklungen nehmen.

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Der in Soest geborene Künstler verbrachte vor seinem Studium an der Kunstakademie Düsseldorf seine Kinderund Jugendzeit in Münster. Neben dieser familiären Verwurzelung in Westfalen besitzt auch die Sammlungsgeschichte des Osthaus Museums Hagen eine Beziehung zu Otto Modersohn und seinem Werk. Das Künstlerehepaar Otto Modersohn und Paula Modersohn-Becker hatte den Hagener Mäzen und Kunstsammler sowie Peter Behrens gemeinsam mit Heinrich Vogeler auf einer 3-tägigen Reise nach Westfalen im Jahr 1905 in Hagen kennen und schätzen gelernt. Im Juli 1899 erklärte Modersohn seinen Austritt aus der Künstlervereinigung ‚Worpswede‘; nach dem Tod seiner ersten Frau Helene im darauffolgenden Jahr wurde Paula Becker, die zunächst als Malschülerin von Mackensen nach Worpswede gekommen war, seine intensivste Gesprächspartnerin; die beiden heirateten 1901. Otto Modersohn und Paula Modersohn-Becker arbeiteten zum Thema

der Gegenständlichkeitsauffassung in den folgenden Jahren intensiv an der Umsetzung der von ihnen deklarierten Maxime „Das Ding an sich in Stimmung“. Es entstanden Werke, die die naturalistische Darstellung zunehmend vernachlässigten und mehr einer inneren Welt entsprangen. Der plötzliche Tod Paula Modersohn-Beckers im Jahr 1907 veranlasste Otto Modersohn Worpswede zu verlassen. Die gemeinsame Arbeit wurde leider frühzeitig beendet. Auf Initiative von Otto Modersohn und Heinrich Vogeler fand 1913 posthum eine umfassende Ausstellung mit 77 Gemälden und Skizzen, 45 Zeichnungen sowie 9 Radierungen von Paula Modersohn-Becker in den Räumen des Museum Folkwang in Hagen statt. Otto Modersohn besuchte die Ausstellung zusammen mit seiner Tochter Mathilde. Er beschrieb seinen Eindruck der Ausstellung mit nur einem Wort: „überwältigend“. Die Ausstellung wurde von einem im Worpsweder Horenverlag herausgegebenen Katalog begleitet, an dessen Zustandekommen Otto Modersohn


linke Seite: Otto Modersohn (1865-1943) Bauerngarten mit Insel, 1911 © Otto Modersohn Museum, Fischerhude, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2013 rechte Seite: Otto Modersohn (1865-1943) Kirchgang (Neujahr - Dingstiege in Münster), 1888 Öl auf Papier auf Karton, 21 x 21 cm, © Otto Modersohn Museum, Fischerhude, © VG Bild-Kunst, Bonn, 2013

• Zur Ausstellung erscheint ein Katalog mit Beiträgen von Erich Franz zu den Bildern und Andrea Fink-Belgin zu den Zeichnungen. Der 216 Seiten umfassende Katalog mit 115 Abbildungen umreißt mit ausgewählten Beispielen das Schaffen Otto Modersohns. Der Katalog kostet in der Ausstellung 28,– Euro. • Supplementband: Paula ModersohnBecker – Eine expressive Malerin, mit einem Einleitungstext von Tayfun Belgin

wesentlich beteiligt war. Im Anschluss an die Ausstellung kaufte Karl Ernst Osthaus das Gemälde „Selbstbildnis mit Kamelienzweig“, entstanden 1907 in Paris, das letzte Selbstporträt Paula Modersohn-Beckers, die am 20. November 1907 an den Folgen der Entbindung ihrer Tochter Mathilde in Worpswede früh verstarb. Es befindet sich heute im Bestand der Sammlung des Essener Folkwang Museums. Heute besitzt das Osthaus Museum Hagen zwei Ölgemälde von Otto Modersohn.

„Abend im Moor“ kaufte die Städtische Sammlung aus dem Atelier im Oktober 1941 und aus der Ausstellung in Hagen, im Mai 1942, erwarb das Museum das Bild „Flusslandschaft im Rauhreif“. In Hagener Privatbesitz konnten aus dieser Ausstellung vier weitere Bilder vermittelt werden. Nach 1945 wurden auch wieder Werke von Paula Modersohn-Becker in die Sammlung des Osthaus Museums integriert, darunter neben drei grafischen Blät-

tern das Bildnis „Mädchen mit Lamm“, datiert auf das Jahr 1904. Die Ausstellung erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Otto Modersohn Museum in Fischerhude, und mit der freundlichen Unterstützung der Galerie Neher, Essen. www.osthausmuseum.de

Kultur, Information und Unterhaltung im Internet Täglich neu – mit großem Archiv Literatur – Musik – Bühne – Film – Feuilleton – Museen – Comic – Fotografie – Reise

Unabhängig, werbefrei und ohne Maulkorb www.musenblaetter.de

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Bluthochzeit Lyrische Tragödie in zwei Akten von Federico García Lorca Musik von Wolfgang Fortner

links: Dalia Schaechter, Verena Hierholzer unten v.l.n.r.: Ingeborg Wolff, Stephan Ullrich, Dalia Schaechter, Banu Böke, Gregor Henze, Tanja Ball, Angelika März, Marco Agostini

Eine junge Frau im Brautkleid sitzt schon auf der Bühne, wenn die Zuschauer ihre Plätze einnehmen. Dann springt diese Braut der Mutter auf den Rücken und will sie nicht mehr loslassen. Sie ist der Dämon, der kommt, wenn der Tod in der Nähe ist. Er wechselt im Lauf des Stückes seine Kleider, erst trägt er weiße, die werden aber immer mehr durch schwarze ersetzt. Einmal wirft er der Mutter einen schwarzen Schleier zu, den die aber nicht haben will. Er malt sich auch blutrot an und putzt sich ganz am Schluss die weiße Schminke aus dem Gesicht. Noch eine andere Frau ist fast immer anwesend: die Bettlerin, der Tod. Mit ihren beiden Plastiktüten, in einen alten Mantel und in eine Trainingshose gehüllt, wartet sie sanft lächelnd darauf, dass jemand stirbt, weist den Mond an, dass es passiert und öffnet den beiden Duellanten den Weg in ihr Reich. Beide Frauen lenken sozusagen das Stück. Die Bettlerin kommt im Libretto nur in einer Szene vor, der Dämon überhaupt nicht. Dass dem Regisseur, Christian von Goetz, das in dieser Weise darstellt, zeigt seine intensive, genaue und kreative Auseinandersetzung mit dem Stück. Das Wuppertaler Theater setzt seine hervorragende Arbeit fort, durch die Inszenierung von Wolfgang Fortners „Blut-

hochzeit“, die im Jahre 1957 entstand und seit einigen Jahrzehnten in der Versenkung verschwunden ist. Die Wiederentdeckung hat sich gelohnt, weil in jeder Hinsicht beste Qualität geboten wird. Fortner hat den Text von Federico García Lorca vertont, ein spanischer Dichter, der 1936 von den Franco-Faschisten ermordet wurde. Erzählt wird eine Geschichte, die aufgrund archaischer Gesetze und Bräuche blutig endet, vor allem die Geschichte einer traumatisierten Mutter, die schon Mann und ältesten Sohn durch eine Familienfehde verloren hat. Am Ende verliert sie auch noch den jüngeren, der aber seinen Widersacher aus der feindlichen Familie im Kampf um die Braut mit in den Tod nimmt. Besonders gut verstand es der Regisseur darzustellen, wie positive Gefühle anderen gegenüber keine Chance haben, weil scheinbar ewige Gesetze und überlieferte Religion dies verhindern. So bleibt die Hauptperson, die Mutter, absolut starr in ihrer Haltung, egal was passiert. Sie ist besessen vom Tod ihrer Familienmitglieder, wird ständig von Dämonen besucht, die sie immer wieder beschwört und von denen sie nicht lassen kann. Auch bei der Brautwerbung (3. Bild) wird nichts geklärt, alles bleibt formal, oberflächlich, von gegenseitigem Entgegenkom-

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Martin Koch, Ingeborg Wolff

v.l.n.r. Stephan Ullrich, Banu Böke, Verena Hierholzer, Dalia Schaechter

men der Parteien oder gar von Liebe keine Spur, alle Intimität wird auf die Zeit nach der Hochzeit verschoben. Der Machismo spielt eine große Rolle. Leonardo, der Gegner des Bräutigams, spielt dies voll aus. Er, Mitglied der „Mörder-Familie“, der mit der Braut schon einmal verlobt war, jetzt aber mit deren Cousine verheiratet ist, benimmt sich ihr und seiner Mutter gegenüber ungeheuer brutal. Auch nicht den Hauch eines Zweifels an seiner Rolle hat er, hält sich sogar für schuldlos. Kurz vor dem Duell sagt er der von ihm entführten Braut: „Nicht mein ist die Schuld, sie ist die Schuld andalusischer Erde, des Geruchs deiner Brüste und Zöpfe“. In diese Meinung unterstützt wird er ausgerechnet von der Mutter seines Widersachers, die bedauert, dass ihr Mann sie nur zweimal mit einem Kind beglückt hat, während ihr Vater „an jeder Straßenecke ein Kind hinterlassen hat“, und preist ihren Sohn, weil er „guten Samen hat“. Wie sich unterdrückte Bedürfnisse ihren Weg bahnen, wird in sehr gelungener Weise dargestellt. Unterdrückte Sexualität zeigt sich so z.B. in masturbatorischen Bewegungen mit dem Kreuz, nach dem Entfernen des Lendenschurzes des Gekreuzigten. Während der Hochzeitsfeier tanzt ein lesbisches Pärchen auf dem Tisch, ein Mann, als Frau verkleidet, und ein Frau, als Mann verkleidet, deuten einen Koitus an, und sogar die Marienfigur entpuppt sich als Schnapsflasche, deren Kopf nur abgedreht werden muss, um an den Inhalt zu kommen.

Der gesamte Plot ist schlüssig dargestellt, auch die surrealen Elemente der Geschichte werden sehr schön deutlich. So will der Mond, als Zwerg mit Scheinwerfer, beim Zweikampf der Rivalen besonders hell sein: „Denn das köstliche Zischen des Blutes will zwischen den Fingern ich hören.“ Auch der Kampf der beiden Männer wird nicht naturalistisch dargestellt, sondern der Tod (die Bettlerin) öffnet eine Tür, sie hören auf zu kämpfen und treten in ihr Reich ein. Dass Fortner zwölftönig komponiert hat, mag auf den ersten Blick abschrecken. Der Komponist hat es aber geschafft, die Musik sehr emotional zu gestalten, Gefühle und Seelenzustände werden deutlich und sind gut nachzuvollziehen. Erleichternd wirkt auch, dass nicht nur gesungen, sondern oft auch gesprochen wird. Auch hat Fortner lokales Kolorit verwendet, spanische und andalusische Lieder werden eingebunden, oft so, dass sie interpretierend wirken. So erscheinen Flamencoelemente nicht als Ausdruck freier Lebenslust, sondern der Unterdrückung, des nicht Herauskommens aus der traditionellen Lebenswelt; das Wiegenlied (2. Bild) wirkt nicht tröstend, sondern lastend und lebensschwer, das Hochzeitslied „Die Braut erwache am Morgen der Hochzeit mit smaragdenem Zweig, mit fließendem Haar, jasminener Stirn, mit schneeweißem Hemd und Lackschuh´n aus Silber“ ist angesichts der lieblosen Zeremonie eher eine Parodie, und das choralartige „Süße Nägel, süßes Kreuz, süßer Name Jesu“ kurz vor Schluss, wenn alle tot oder in anderer Weise am Ende sind, beleuchtet noch einmal die Rolle der Religion.

Diese Musik wird vom Wuppertaler Sinfonieorchester unter Hilary Griffith in ganz hervorragender Weise interpretiert. Interessanterweise spielt das Orchester nicht im Graben, sondern auf der Hinterbühne und ist teilweise sogar sichtbar. Deshalb rückt das Geschehen auf der Bühne ganz nah an die Zuschauer heran. Auch an den Leistungen der Sänger gibt es nichts zu kritisieren. Auch in schauspielerischer Hinsicht sind sie ohne Fehl und Tadel. Hervorzuheben ist die Darstellerin der Mutter, Dalia Schächter, in jeder Hinsicht die Zentrale des Stücks. Banu Böke stellt die Hinund Hergerissenheit der Braut wunderbar dar, Thomas Laske seinen machismogeprägten Leonardo. Ebenso hoch ist das Niveau des Chors, aus dem einige Mitglieder solistisch hervortreten, und der übrigen Sänger. Besonders gut gefallen hat mir Annika Boos in einer kleinen Rolle als Kind, die Seilchen springend locker ihre Koloraturen, darunter sogar das hohe cis, bewältigt. Also: eine hervorragende Oper ist wiederentdeckt worden und wird in Wuppertal hervorragend gesungen und gespielt. Unbedingt hingehen! Weitere Aufführungen: 8. und 17 Februar, 17. März Fritz Gerwinn Fotos: Uwe Stratmann


Helmfried von Lüttichau Vom „Drachen“ in Wuppertal zum Fernseh-Serienstar

Auch das kann er: Helmfried von Lüttichau bei SAT 1 als Pornofilm-Regisseur in der Komödie „Ausgerechnet Sex“…

Er ist der Mann mit dem KlassenkasperGesicht. Etwas weniger ironisch und harmoniebetont formuliert, könnte man auch sagen: mit einem Gesicht, dem man nie böse sein kann. Es geht um Helmfried von Lüttichau. Schon der ungewöhnliche Name macht neugierig. Dabei ist es ziemlich einfach, ihn zu sehen. Derzeit jeden Montagabend um 20.15 Uhr in der 4. Staffel der Serie „Der letzte Bulle“ in der Rolle des chaotischen Chefs Martin Ferchert. Ein Millionenpublikum eroberte sich auch die ARD-Vorabendserie „Hubert und Staller“, deren zweite Staffel im Februar auslief und deren Fortsetzung fest geplant ist. Bei den Titelhelden Hubert und Staller handelt es sich um zwei „mittelhelle“ Dorfpolizisten in einem bayerischen Kleinstadtrevier (gedreht in Wolfratshausen und Münsing am Starnberger See), die mit höchst ungewöhnlichen Methoden ihre Fälle lösen. In den Hauptrollen der beiden unterschiedlichen Ermittler in Uniform

sind Christian Tramitz und Helmfried von Lüttichau zu sehen. Der sagt über diese Rolle: „Gerade in sie fließt einiges von mir und meinem Charakter ein. Ich muss also nicht etwas Fremdes erfüllen, sondern kann es selbst erfinden. Ich werde immer wieder von lachenden Menschen auf der Straße angesprochen, denen die Serie offenbar gut gefällt.“ Serienrollen im Fernsehen und nun auch Autor eines Gedichtbandes mit dem Titel „Was mach ich wenn ich glücklich bin“. Helmfried von Lüttichau ist auf der Leiter der Karriere ziemlich weit oben angekommen. Die erste Stufe dieser Leiter aber war Wuppertal. Der 1956 in Hannover geborene und in München lebende Schauspieler mit dem Namen eines 1355 erstmals erwähnten deutschen Adelsgeschlechts mit dem Stammsitz im Landkreis Oberspreewald-Lausitz hat, seine Karriere in der Spielzeit 1980/81 im Wuppertaler Schauspielhaus begonnen. Intendant war

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Mit Christian Tramitz (rechts) als „Hubert und Staller“ in der ARD. (Bild: ARD/TMG/ Chris Hirschhäuser)

Schmidt-Mühlisch verfasste in der WELT einen Totalverriss, in dem unter anderem zu lesen war: „Überhaupt machte man sich in Wuppertal viel Mühe, verschwendete großes Talent an belanglosen Schmäh.“ Mit den Darstellern allerdings ging er gnädig um und bilanzierte: „Aber das verhinderte nur den totalen Durchfall des Stückes.“ Ein damals 25-jähriger Anfänger bekam die Bestnote: „Lediglich in der Figur des fast blinden Kevin ist dem Autor eine gewisse Authentizität gelungen. Offenbar ein Blumenkind von einst, gealtert, enttäuscht, zivilisationsmüde, mit intellektueller Attitüde mit der resignierend tödlichen Geste des letzten zerstörten Kraftaktes. Freilich: Auch das gewann erst Kontur durch die faszinierende Rollengestaltung Helmfried von Lüttichaus. Fast ein apokalyptischer Todesengel, dessen Traumvisionen von einem fernen Glück

Helmfried von Lüttichau als fast blinder Kevin (2.v.rechts) im Jahre 1981 im Wuppertaler Schauspielhaus in der Komödie „Strawberry Fields“ mit Barbara Grupe, René Peier und Monika Hess. Foto: Kaspar Seiffert/Stadtarchiv Wuppertal

Die Protagonisten aus „Der letzte Bulle“. (v.l.n.r.) Meisner (Robert Lohr), Ferchert (Helmfried von Lüttichau), Andreas (Maximilian Grill) und Mick (Henning Baum), Steffi Averdunk (Franziska Weisz). © SAT. 1 Fotograf: Martin Rottenkolber Professor Hellmuth Matiasek, der mittlerweile 81-jährige Ehemann von Cornelia Froboess. Lüttichau: „Er hat mich aus München von der Otto Falckenberg-Schule als Anfänger für zwei Jahre engagiert. Es war wunderbar, denn ich durfte sehr viel spielen. Meine erste Rolle war die Figur des Heinrich in ,Der Drache‘.“ Der Schauspieler, der seinen seltenen Vornamen der Zusammensetzung des väterlichen Vornamens Friedrich-Wilhelm und des Großvaters Helmut verdankt, stand auch auf dem Besetzungszettel der vom Intendanten selbst inszenierten Lokalposse von JohannNestroy „Zu ebener Erde und erster Stock oder:

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Die Launen des Glückes.“ Franz Trager spielte die Hauptrolle, der Wuppertaler Theaterhistoriker und Siegfried Becker schrieb in seinem Standardwerk „50 Jahre Theater in Wuppertal“ über die Premiere am 1. März 1981: „Dem Nestroy Landsmann Matiasek gelang eine Aufführung, die das Publikum begeisterte.“ Doch auch damals herrschte keineswegs nur Begeisterung über das im Schauspielhaus Gebotene. Am 4. Juli 1981 kam „Strawberry Fields“ in der Inszenierung von Christoph Held zur deutschen Uraufführung und das lockte die überregionale Presse ins Tal. Der im Jahre 2007 verstorbene Kritiker Lothar

die ästhetische Begründung der Zerstörung schaffen. Man möchte diesen Schauspieler in besseren Rollen sehen.“ Eine Spielzeit später mit der Premiere am 8.Mai 1982 gab er in „Früchte des Nichts“ von Ferdinand Brückner die Rolle des „Foss“ und wurde von der renommierten Fachzeitung „Theater heute“ zum „Jungen Schauspieler der Saison“ gewählt. Nach zwei Spielzeiten hat er Wuppertal und seine Wohnung an der Briller Straße verlassen. Erinnerungen sind geblieben:„Besonders an Franz Trager, Ursula von Reibnitz, Rena Liebenow, Ingeborg Wolff, Erich Leukert und dessen Frau, die meine Maskenbildnerin war. Mit Hans Richter habe ich mich besonders gut verstanden. Noch besser aber mit Bernd Schäfer. Wir hatten eine Szene auf der Bühne, bei wir beide derart lachen musste, dass wir uns vom Publikum wegdrehen mussten.“


Helmfried von Lüttichau zog nach zwei Jahren weiter nach Frankfurt, an die Volksbühne Berlin, das Nationaltheater in Mannheim, nach Oberhausen, an das Düsseldorfer Schauspielhaus und als letztes festes Engagement 1997 an die später in finanzielle Turbulenzen geratenen Düsseldorfer Kammerspiele. Lüttichau: „Die letzte Gage bekamen wir aus der Konkursmasse.“ Schon zu diesem Zeitpunkt war er bei Film und Fernsehen gut gebucht: „Ich habe seitdem kein Theater mehr gespielt und mich nur auf Film und Fernsehen konzentriert.“ Der Bühnenanfänger aus Wuppertal der frühen 80-er Jahre hat seitdem in unzähligen Filmen und Fernsehstücken- und Serien gespielt. Oft in kleineren Rollen, aber immer im Geschäft und das auch bei populären TV-Serien wie Balko, Der Fahnder, Alarm für Cobra 11, Tatort, Ein starkes Team, SKKölsch, Die Kommissarin, Um Himmels willen und Die Rosenheimcops. Lüttichau hat in beiden Wickie-Filmen von Bully Herbig mitgespielt und bei „Pünktchen und Anton“ drehte er gemeinsam mit der in Wülfrath lebenden und aus Wuppertal stammenden Kollegin Dorothea Walda. Die Rolle in der ARD-Serie hat ebenfalls einen

Freundschaft mein Feind der mir am Stuhlbein sägt Gott sei Dank hab ich noch drei aber wackeln tut`s gewaltig mein Freund sägt wenigstens alle vier ab dann muss ich wieder stehen oder er lässt mich sitzen H. von Lüttichau Was mach ich wenn ich glücklich bin. Verlag Fixpoetry 2012, Gedichte, 144 S., ISBN 978-3-942890-15-1 Preis: 14,90 Euro

Das Lieblingsgedicht des Autors Schauspielhauses gesehen hat. Wuppertal war für mich also wirklich ein Sprungbrett.“ Klaus Göntzsche

Wuppertal-Bezug. Lüttichau: „Redakteur der Serie ist Elmar Jaeger vom Bayerischen Rundfunk. Er hat mir erzählt, dass er mich damals in Wuppertal auf der Bühne des Sparkassen-Finanzgruppe

„Wunderbar, dass unsere Sparkasse einer der größten Kulturförderer Wuppertals ist.“

Die Stadtsparkasse Wuppertal unterstützt Soziales, Kultur und Sport in Wuppertal mit rund 5 Mio. € pro Jahr. Wir sind uns als Marktführer unserer Verantwortung für die Menschen und Unternehmen in unserer Stadt bewusst und stellen uns dieser Herausforderung. Mit unserem Engagement unterstreichen wir, dass es mehr ist als eine Werbeaussage, wenn wir sagen: Wenn’s um Geld geht – Sparkasse

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Fotografie ist kein erstarrtes Auge

Mario van Middendorf, Nibelungenwald, Cologne 2011, 100 cm x 80 cm, Fotografie, C-Print In ihren Anfängen, noch lange danach und zum Teil sogar heute war und ist Fotografie als Kunstform umstritten, Motto: Kann ein leicht reproduzierbares Massenmedium, bei dem nur auf den Auslöser gedrückt wird, überhaupt Kunst sein? Schließlich bildet der Fotograf die Welt lediglich ab, während ein Maler oder Bildhauer mit seinen teils aufwändigen Arbeiten die Wirklichkeit interpretiert oder eine ganz neue Welt erschafft...

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Für den britischen Maler David Hockney ist „Fotografie einfach ein Medium. Die Frage, ob sie Kunst ist oder nicht, ist für mich irrelevant. Man könnte sich genauso fragen, ob die Wasserfarbenmalerei Kunst ist. In gewisser Weise ist die Fotografie auch ein sehr beschränktes Medium, denn sie verlangt von uns im Grunde, die Welt mit einem erstarrten Auge zu betrachten.“ Und überhaupt:


Folgt man der Argumentation von Swantje Karich, Feuilletonredakteurin der FAZ und Leiterin des Kunstressorts, in ihrem Artikel „Wohin steuert die zeitgenössische Kunst?“ (FAZ.net vom 11. 11. 2011), dann sind Malerei und Fotografie ohnehin abgegessen und werden abgelöst vom bewegten Bild. Karich schreibt dazu: „Die Fotografie hat einst den Wettstreit aufgenommen mit der Malerei. Die Malerei des 20. Jahrhunderts steht gleichzeitig unter dem Paradigma der Fotografie. Nach dieser kamen das Video und nun auch das Netz. Das bewegte Bild wird zum Zentralfetisch der Informationswelt. Nicht im Fernsehen, sondern auf Youtube und Facebook werden die gesellschafts-künstlerischen Inhalte verbreitet.“

Wie soll man denn in der Fotografie ein Original definieren? Zweifelsohne ein Einwand, trotzdem tut das dem Ideenreichtum, der Kreativität und Qualität vieler Protagonisten der Fotografie keinen Abbruch. Denn zwischenzeitlich hat sich viel getan: Der Sprung von der analogen zur digitalen Fotografie und Hilfsmittel wie Photoshop eröffnen den Kreativen vielseitige Möglichkeiten –

auch wenn Fotobearbeitungsprogramme ein Reizthema sind: Von den einen werden sie als Kreativmedium geliebt, von anderen als schnödes Verschönerungswerkzeug mieser Fotos herabqualifiziert. Aber grundsätzlich spricht doch nichts dagegen, unterschiedliche Mittel einzusetzen, insbesondere wenn es der Sache (= Kreativität) dient.

Mag sein, dennoch gibt es schlichtweg erstklassige Fotografen mit Konzepten – ob digital oder analog –, die so kreativ, spannend, bewegend und schön sind, dass es vermessen wäre, deren Werk herabzuqualifizieren mit Äußerungen wie: ‚nur auf den Auslöser gedrückt’ oder gar ‚ist das überhaupt Kunst?’. Solche Aussagen frei nach Karl Pawek und der in seinem Buch „Das optische Zeitalter“ gedruckten Sentenz: „Der Künstler erschafft die Wirklichkeit, der Fotograf sieht sie“ sind schlichtweg borniert. Denn bei einigen Kreativen der Fotoszene kommen die vor dem eigentlichen Akt des Fotografierens betriebenen Anstrengungen einer Regiearbeit gleich. Die aufwendigen Inszenierungen der im Sommer 2011 im C/O BERLIN gezeigten Serie „In a lonely Place“ von Gregory Crewdson beschreibt die Süddeutsche Zeitung als „Hollywood fürs Foto“. Die bekannteste Serie des amerikanischen Fotografen ist wohl „beneath the roses“. Die Süddeutsche Zeitung notierte dazu: „Jenseits, unter der schönen Oberfläche der Häuslichkeit, so empfindet Crewdson es, schlummern Geheimnisse. Etwas Verbotenes, Abgründiges“. Damit haben er und der Kult-Regisseur David Lynch eines gemein: die verborgene Abgründigkeit und Verderbtheit hinter der idyllischen Fassade des Lebens. Ein ebenso aufwändiges doch weniger düsteres und zudem internettaugliches

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links: Ian Ruhter Kim Grant/Los Angeles Ca., 2010 Kollodium-Nassplatte rechts: Ian Ruhter Scotty/Los Angeles Ca., 2010 Kollodium-Nassplatte

Gregory Crewdson Untitled (Kent Street), ‘Beneath the Roses, 2007, Digitaler Pigmentdruck 144,8 x 223,5 cm, Courtesy Gagosian Gallery, New York

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Konzept verfolgt Crewdsons Landsmann Ian Ruhter mit „Silver & Light“: In einem umfunktionierten Bus fahren der Fotograf und sein Team durch die USA und machen Fotos, die gleich an Ort und Stelle entwickelt werden. Der Clou: Ruhter arbeitet analog und völlig traditionell, und zwar mit einer Kollodium-Nassplatte. Erstmalig wurde diese Technik 1850/51 von den Fotopionieren Frederic Scott Archer und Gustave

Le Gray eingesetzt (Quelle: Wikipedia). In einem Video kann man sich anschauen, wie das Verfahren funktioniert und was dabei entsteht, wirklich sehenswert! (Internet: www.vimeo.com/39578584) Für sein Projekt setzt Ian Ruhter auf Social Media und ruft die Menschen über Facebook dazu auf, sich bei ihm zu melden, wenn sie von ihm fotografiert werden wollen.


Die ausdrucksstarken Arbeiten von Mario van Middendorf schweben über dem schmalen Grat zwischen Fotografie und Malerei. Irgendwie tröstlich, denn seine Bilder schaffen es, die beiden Disziplinen respektive deren jeweiligen Anhänger und Opponenten miteinander zu versöhnen. Der Kölner Fotograf kreiert magische Traumwelten, in denen selbst die ödeste Gegend leuchtet und scheinbar doch nicht so trist ist oder sogar ein Geheimnis birgt. Mit seinem Statement zur Serie „aquaCity als Zeitzeugen am Wasser von Köln und Düsseldorf“ bestätigt van Middendorf übrigens genau meinen Eindruck: „Sehr früher Morgen. Fotografie und Malerei kommen sich bedenklich nah. Ganz gezielt, denn das besondere Morgenlicht trennt ohnehin Licht und Schatten kaum.“ Grandios ist übrigens auch die limitierte Serie zum deutschen Wald („German Woods“) – ohnehin hierzulande ein großes, mythenreiches und ergiebiges Thema – allen voran die fantastischen Foto(Gemälde): „Der Nibelungenwald“ sowie „Lueneburg Heath“. van Middendorf arbeit zu unterschiedlichen

Themen in Serie: „Thematische und farbliche Zusammenhänge stehen für eindeutigen Seriencharakter. Schwülstig, üppig oder cool und völlig reduziert. Hell oder dunkel, mich faszinieren Widersprüche und Experiment. Ich lasse mich ungern festlegen.“

„Rankin: Show-off“, die bis zum 13. Januar zu sehen war. Wer die Ausstellung verpasst hat: Im NRW-Forum sind mehrere Kataloge von Rankin erhältlich. Ute C. Latzke

Rankin ist einer der einflussreichsten Beauty- und Celebrity-Fotografen und mit seinen teils provokanten Arbeiten gleichzeitig auch ein Grenzgänger zwischen Werbung/Kommerz und Kunst. Neben seiner Fotokarriere dreht der Brite Spielfilme, Werbefilme und Musikvideos. Erste Bekanntheit erlangte der auch mit Künstlern wie Damian Hirst kooperierende Fotograf mit seinem Kommilitonen Jefferson Hack: Gemeinsam gründeten sie das Magazin Dazed & Confused, „das sich zu einem der führenden Magazine der 90er entwickelte und bis heute die Stil-Bibel aller Kreativen ist. Stylings und Fotos in Dazed & Confused sind nach wie vor die Messlatte für die Mode-Elite“, schrieb das NRW-Forum Düsseldorf im Ankündigungstext der Ausstellung

www.nrw-forum.de.

Gregory Crewdson Untitled (Railway Children), 'Beneath the Roses', 200, Digitaler Pigmentdruck, 144,8 x 223,5 cm Courtesy Gagosian Gallery, New York

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Nur für Eingeweihte Beatles. Das weiße Album. Ein Stück über das Jahr 1968 und den Massenmörder Charles Manson Buch und Regie: Reinhardt Friese Musikalische Leitung: Tankred Schleinschock – Ausstattung: Annette Mahlendorf Fotos: Volker Beushausen Besetzung: Beatrice Reece (Prudence) Sophie Schmidt (Julia) Cornelia Löhr (Martha) Andrea Köhler (Sadie) Roni Merza (Anchorman)

Roni Merza (Charlie) Fotos: Volker Beushausen www.beushausenbild.de

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Beatles-Revival-Show? Fehlanzeige! Nein, ein fröhliches Beatles-Revival zum mitswingen ist es nicht, das muß sich rumgesprochen haben, denn gerade mal ca. 100 Gäste zwischen 20 und 70 - die Mehrheit war Ü 60 - hatten sich im Remscheider Teo Otto Theater eingefunden, um Reinhardt Frieses Stück „Beatles. Das weiße Album“ in einer Aufführung des Westfälischen Landestheaters zu sehen. Der Prolog mit Zitaten von u.a. Josef Stalin, Mao Zedong, Che Guevara und John F. Kennedy sprach es deutlich aus: „Ein Stück über das Jahr 1968 und über Menschen, die die Kunst für die Wirklichkeit hielten“. Revolution! Es war ein erschütterndes Jahr, dieses 1968, in das zugleich mit dem Höhepunkt der Flower Power-Bewegung Ereignisse wie die Niederschlagung des „Prager Frühlings“, das Massaker von My Lai in Vietnam, das Attentat auf Rudi Dutschke, die Ermordung von Martin Luther King und Bobby Kennedy sowie die Frankfurter KaufhausBrandstiftungen durch die RAF.

Mystifikationen In kein weiteres Album der Beatles außer Abbey Road wurde und wird mehr hineingeheimnist als in das „White Album“, das im November 1968 erschien, den Zerfall der besten Band aller Zeiten einläutete und legendär wurde. Daß es zugleich von Charles Manson zum Fanal für eine grauenhafte, blutrünstige Mordserie seiner „Family“ ausgerufen wurde, einer Hippie-Kommune, die sich um den Kriminellen gesammelt hatte, ist eine mehr als bittere Ironie, die sicher nicht in der Intention der genialen Musik von John Lennon und Paul McCartney gelegen hatte. Susan Atkins, Patricia Krenwinkel, Linda Kasabian, Tex Watson, Leslie Van Houten und Charles Watson hatten Anfang August 1969 auf Anweisung Mansons sieben Menschen brutal abgeschlachtet, darunter die hochschwangere Schauspielerin Sharon Tate. Reinhardt Friese, der auch Regie führte, setzt bei seinen Zuschauern die Kenntnis dieser fatalen Folgen von „Revolution No.


9“, „Happiness is a Warm Gun“, „Piggies“ und des dramaturgisch als Schlachtruf (bitte wörtlich nehmen) eingesetzten „Helter Skelter“ voraus. Weiß man darum, ist es ein eingängiges, wenn auch zu verklärendes Stück, das Manson zwar als den durchgeknallten Guru darstellt, der er war, seiner durch und durch kriminellen Struktur (Drogenhandel, Diebstahl, Köperverletzung, Vergewaltigung, Zuhälterei etc.) aber nicht den notwendigen Raum gibt. Zu sehr hebt Friese auf das Sendungsbewußtsein Mansons ab, der mit dem White Album in der einen und der Offenbarung des Johannes in der anderen Hand die Welt in das Chaos eines Rassenkonfliktes zu stürzen beabsichtigte, aus dem nur er und seine „Family“ unbeschadet hervorgehen würden. Helter Skelter Weiß man nicht darum, ist es unter dem Strich dann doch eine gut gemachte Revue über das „White Album“ der Beatles, dessen o.a. Songs und viele andere

wie „Sexie Sadie“, „Honey Pie“, „I´m so tired“, „Birthday“ „Julia“, „Martha My Dear“, „Dear Prudence“, „Cry Baby Cry“, und „Back in the USSR“ vom Ensemble (Beatrice Reece, Sophie Schmidt, Cornelia Löhr, Andrea Köhler, Roni Merza – alle ganz in unschuldigem Weiß) ausgezeichnet interpretiert wurden. Dann wiederum versteht der Uneingeweihte aber auch nicht, daß die mit roter Farbe auf die Kulisse gemalten Graffiti „Pig“, „Helter Skelter“, „Rise“ und „Death to Piggies“ den an den Tatorten mit dem Blut der Opfer geschriebenen Worte entsprechen. Die begleitende Band mit Tankred Schleinschock (p), Jürgen Knautz (b, g), Rudi Marhold (dr), Claus Michael Siodmok (g, uk) und Matthias Feige (g, tb) fand brillant Sound und Gefühl der Beatles, „While my guitar gently weeps“ wurde zum musikalischen Sahnestück des Abends. Und zum Trost für alle Enttäuschten gab´s als Zugabe zum versöhnlichen Schluß „All you need is Love“ aus

dem Album „Magical Mystery Tour“. The Family Zur begleitenden bzw. nachbereitenden Lektüre empfiehlt sich „The Family. Die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand-Buggy Streitmacht“ von Ed Sanders und Volker Rebell: „Die Beatles 1968. Das weiße Album“. Dann wird auch das Stück zugänglich. Das Stück ist derzeit in NRW auf Tournee. Weitere Informationen: westfaelisches-landestheater.de Frank Becker

v. l. n. r.: Cornelia Löhr (Martha), Roni Merza (Charlie), Beatrice Reece (Prudence), Sophie Schmidt (Julia), Andrea Köhler (Sadie).

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Die Engel von Paul Klee Ausstellung im Museum Folkwang noch bis zum 14. 4. 2013 In Zusammenarbeit mit dem Zentrum Paul Klee, Bern Ermöglicht mit Unterstützung der Sparkasse Essen

Paul Klee Engel, noch weiblich, 1939, 1016 Kreide auf Grundierung auf Papier auf Karton, 41,7 × 29,4 cm Zentrum Paul Klee, Bern © Foto: Zentrum Paul Klee, Bern Paul Klees Engel gehören zu den beliebtesten Werken des Künstlers. Sie sprechen nicht nur Kunstliebhaber an, sondern haben auch als poetische Lebenshelfer eine hohe Popularität gewonnen. Als geflügelte Mischwesen, halb Mensch halb Himmelsbote, repräsentieren sie eine Übergangsform zwischen irdischer und überirdischer Existenz, die dem Bedürfnis nach Spiritualität entgegen kommt. Zugleich reflektieren die Engel aber auch die moderne Skepsis gegenüber Religion und

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Glaubensfragen. Darüber hinaus bieten sie nicht nur Kunsthistorikern, sondern auch Schriftstellern, Philosophen, Theologen und Psychologen gedankliche Ansatzpunkte.


links: Paul Klee Schellen-Engel, 1939, 966 Bleistift auf Papier auf Karton 29,5 × 21 cm Zentrum Paul Klee, Bern © Foto: Zentrum Paul Klee, Bern rechts: Paul Klee vergesslicher Engel, 1939, 880 Bleistift auf Papier auf Karton 29,5 × 21 cm Zentrum Paul Klee, Bern © Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

Paul Klee mehr Vogel, 1939, 939 Beistift auf Papier und Karton 21 × 829,5 cm Zentrum Paul Klee, Bern, © Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

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Paul Klee Engel, noch tastend, 1939, 1193 Kreide, Kleisterfarbe und Aquarell auf Papier auf Karton 29,4 × 20,8 cm Privatbesitz Schweiz, Depositum im Zentrum Paul Klee, Bern © Foto: Zentrum Paul Klee, Bern linke Seite: Paul Klee Ohne Titel (Letztes Stilleben), 1940 Ölfarbe auf Leinwand, 100 x 80,5 cm Zentrum Paul Klee, Bern, Schenkung Livia Klee, Foto: Zentrum Paul Klee, Bern

Die meisten Engel entstanden in den letzten Lebensjahren des Künstlers zwischen 1938 und 1940. Die Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde sind damit auch Ausdruck seiner damaligen Lebenssituation, die von schwerer Krankheit und offenen Anfeindungen seitens der Nationalsozialisten geprägt war. Sie lassen erkennen, wie Klee sich am Übergang vom Leben zum Tod empfand, sie zeigen Angst und Bedrohung, aber auch intellektuelle Distanz, Witz und Heiterkeit. Klees Engel – und dies ist der tiefere Grund ihrer Popularität – sind noch weitgehend im menschlichen Dasein verhaftet. Sie haben

kleine Schwächen und Schönheitsfehler, sind vergesslich oder hässlich, sorgenvoll oder verspielt, so dass jeder sich in ihnen wiederfinden kann. Stilistisch handelt es sich um charakteristische Beispiele für den minimalistischen Zeichenstil des Spätwerks von Paul Klee.

Museum Folkwang Museumsplatz 1, 45128 Essen Telefon 0201 8845 444

Die Ausstellung rückt erstmals diese außergewöhnliche Gruppe des mannigfaltigen Werks von Paul Klee in den Fokus und präsentiert mit rund achtzig Zeichnungen, Aquarellen, Gouachen und Gemälden den weitaus größten Teil seiner erhaltenen Werke zu dieser Thematik.

www.museum-folkwang.de

Öffnungszeiten: Di bis So 10 - 18 Uhr, Fr 10 - 22.30 Uhr Mo geschlossen

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Beweglicher als hier kann man nicht tanzen Die Tanzschule Bellinghausen im Mirker Bahnhof

Der stillgelegte Mirker Bahnhof. Im ersten Stock liegt der Tanzsaal Edgar Bellinghausen Für Edgar Bellinghausen ist Tanzen Profession und Leidenschaft zugleich: „Seit meinem sechzehnten Lebensjahr war Tanzen mein Hobby. Nach dem Abitur und einer Lehre war von einer kaufmännsichen Ausbildung keine Rede mehr.“ In der Tanzschule Koch, wo er bereits als Schüler Tanzen gelernt hat und an Wochenenden beim Unterrichten aushalf („wobei das Wochenende immer länger wurde“), kam schließlich die Frage: „Wäre das denn nichts für Dich?“ Da war für ihn alles klar: drei Jahre Ausbildung zum Tanzlehrer und zwei Jahre für den Tanzsportlehrer, 1980 die Übernahme der Tanzschule Koch als Tanzschule

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Koch-Bellinghausen in der Laurentiusstraße mit seiner damaligen Frau, 1995 der Umzug der Tanzschule in das damalige Edekagebäude in der Varresbeck, die Trennung, und dann, als hätte es so sein müssen, die Bekanntschaft mit dem Mirker Bahnhof im Jahre 2000 ! Mit diesem Bahnhof ist Edgar Bellinghausen seitdem verheiratet. Es war Liebe auf den ersten Blick, als er das denkmalgeschützte, aber verkommene, städtebaulich hochinteressante Bauwerk aus dem Jahr 1882 durch einen ehemaligen Schüler, den Mathematiklehrer Becker, kennenlernte. „Der war wie besessen von dem Bahnhof, und der Wahnsinn ist sofort übergeschwappt.“ Edgar Bellinghausen war sofort klar, dass dies der


ideale Ort für eine Tanzschule sei. Der eigentliche Auslöser war die Holzdecke des Saales im ersten Stock. Dazu muss man wissen, dass der heute als Tanzsaal genutzte Raum insofern existierte, als man den ehemaligen „Wartesaal Zweiter Klasse“ bereits horizontal geteilt hatte, weshalb der Zugang im ersten Stock liegt. Entstanden ist ein Raum mit angenehmen Proportionen und einer prächtigen hölzernen Balkendecke, der Edgar Bellinghausen nicht widerstehen konnte. Er hat sie liebevoll restauriert. Gemeinsam machte man sich daran, Schutt und Unrat zu entfernen, das Gebäude zu entdecken und so weit wie möglich herzurichten. „Der Visionär Becker hatte den Bahnhof bis zur letzten

Schraube im Kopf“, aber es gelang nicht, eine solide finanzielle Basis für das historische Gebäude zu entwickeln. Seit der Stilllegung der Strecke 1991 scheiterten alle Konzepte für eine neue Nutzung. Über Einbrüche, Vandalismus, Brandstiftung, Besitzerwechsel, Mieterwechsel, drohende Zwangsversteigerungen und Verkäufe, konnte sich Edgar Bellinghausen bis heute mit seiner Tanzschule behaupten – mit ihr ist ein einmaliges stimmungsvolles Ambiente entstanden, das vom Sachverstand, der Liebe und der Sorgfalt, aber auch vom Idealismus seines Retters Zeugnis gibt. So offen und unkonventionell Edgar Bellinghausen mit dem Standort

seiner Tanzschule umgeht, ist auch sein Konzept: Ihm ist es wichtig, dass seine Schüler „tanzend lernen, statt nur Tanzen zu lernen.“ Die Kurse sind klein, die übliche Klassifizierung in Anfänger und Fortgeschrittene gibt es nicht, jeder kann dann kommen, wann es die Zeit erlaubt, weil er individuell betreut wird. Der Tanzlehrer hat im Kopf, wie weit seine Schüler sind. Selten steht er in der Mitte, sondern er hilft den Paaren spontan da, wo sie Hilfe benötigen. Das hat er den sogenannten „Pratica“ im „Tango Argentino“ abgelauscht: „Sonst wäre der Sprachanteil des Unterrichtes viel größer als das Tanzen selbst. Tanzlehrer sein heißt nicht, in der Mitte zu stehen und schön zu sein. In anderen

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Tanzschulen läuft der Unterricht nach festem Programm, so dass schon mal jemand einspringen könnte.“ Für Edgar Bellinghausen wäre das undenkbar, weil ihm die persönliche Betreuung und die Atmosphäre der Tanzabende besonders am Herzen liegen. Diese Atmosphäre dankt sich nicht nur einem höchst engagierten Lehrer, sondern dem besonderen Raum mit der Architektur der kunstvollen Holzdecke, die durch seitliche Fensterreihen und das helle Parkett zur Geltung kommt und zugleich eine besonders angenehme Akustik erlaubt. Hier gibt es keine Lichteffekte, keine Discokugel, aber dafür wechselnde Ausstellungen von Kunstwerken, die ihren Teil zur Stimmung beitragen. Angelpunkt ist die Theke gleich hinter der Eingangstüre, hier empfängt Edgar Bellinghausen die Tänzer, hier gibt es Getränke, und hier steht die Musikanlage, die nie so laut ist, dass man sich nicht unterhalten könnte. Wahrscheinlich wäre Bellinghausen ebenso gut Psychologe geworden, denn sein ganzes Interesse gilt den Menschen, Blick in den Saal der Tanzschule Bellinghausen

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mit denen er arbeitet. Etwaigen Hemmungen seiner Schüler begegnet er mit hintergründigem Humor, der ebenso entwaffnend wie entspannend ist. „Viele haben Angst vor dem Scheitern an ‚VorSeit-Ran’, der eine trägt es mit Humor, dem anderen ist es peinlich, alle Paare sind unterschiedlich. Tanzen bleibt nun einmal weiblich, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. SIE möchte helfen, damit es funktioniert, ER aber hat nun einmal zu führen. Das ist zunächst ein rein physikalisches Problem: Es gibt kein Paar unter zwei Zentnern, und wenn einer davon nach rechts will, und der andere nach links, wird es schwierig. Erst wenn der Mann seine Füße beherrscht, kann er planen, was er tanzen möchte, das ist wie beim Autofahren, da lernt man auch nur durch Üben, Blinker, Handbremse, Gaspedal und Kupplung zu koordinieren. Tanzen lernt man eben nur durch Tanzen.“ Bei so viel Humor und Sachlichkeit brauchen nur wenige Paare zu verzweifeln, manche kommen schon seit dreißig Jahren, manche hören auf, um doch zurückzukehren. Sie erkennen schnell: Die Leidenschaft ihres Lehrers liegt darin, sie so zu fördern, dass sie Freude haben: „Die Tanzenden sollen sich zur Musik

bewegen und fast keinen Gedanken daran verschwenden, in einer Tanzschule zu sein. Sie sollen - ohne Druck - genießend weiterkommen.“ Dieses Konzept scheint aufzugehen. Eher reserviert wehrt einer der Tänzer meine Fragen ab: „Jetzt bitte nicht, wir wollen doch tanzen.“ Aber seine Frau erzählt dann doch, ihnen gefalle gerade die lockere Atmosphäre, das Unverschulte, denn man übe nicht stur bestimmte Schrittfolgen, sondern die Freude am Tanzen stehe an erster Stelle, auf welchem Niveau auch immer, ohne Bierernst, sondern mit viel Geduld und Sinn für Humor seitens des Tanzlehrers. Dazu trägt die familiäre Stimmung bei und die Möglichkeit, andere Menschen kennenzulernen. „Trotz unterschiedlicher Leistungen führt er uns doch am Ende alle zusammen, bis wir bestimmte Schrittfolgen gemeinsam beherrschen. Ohne Druck, mit dem Gefühl, Zeit zu haben.“ So spielt auch das Alter keine Rolle. Viele Brautpaare kommen eigentlich nur, um den Brauttanz einzuüben und begeistern sich dabei fürs Tanzen. Ein anderes Paar meint, Edgar Bellinghausens Schüler seien „besondere Köpfe, Leute mit Weitwinkelobjektiv, Individualisten, auf deren unterschiedliche Ansprüche der Lehrer einzugehen weiß.


Man freut sich auf die nächste Stunde, und plötzlich ist nichts mehr wichtiger als Tanzen.“ Entsprechend kritisch sieht Edgar Bellinghausen den sogenannten Tanzsport: „Tanzen ist kein Vergleichssport. Tänze bis ins Letzte durch zu choreographieren, ist fragwürdig. Ab einem gewissen Stadium erübrigt sich eine Bewertung, denn Tanzen ist schön, aber eben unterschiedlich schön.“ Konsequenterweise meidet er Tanzturniere, denn die „Tanzakrobaten“ schaden letztlich auch den Tanzschulen, weil sie zu unerreichbaren Vorbildern werden. Ihm geht es um Gesellschaftstanz im besten Sinne. Für ihn hat „Tanzen den Vorteil, dass es menschlich ist. Das Gehirn ist beschäftigt, es hört und interpretiert die Musik, die Schrittfolge im Raum muss geplant werden (denn dieser ist endlich), und es gilt, den eigenen Körper mit dem des Partners im Gleichgewicht zu halten. Damit ist jeder Gedanke an den Alltag ausgeschaltet, Körper und Seele können sich entspannen. Mein Ziel ist es, dass man nicht mehr über Schritte nachdenken muss, sondern die Bewegung im Einklang mit dem Partner zur Musik genießen kann.“ So war es für Edgar Bellinghausen

eigentlich keine Herausforderung, als ein ehemaliger Schüler, Lehrer an der Christian Morgenstern Schule, vorschlug, mit behinderten Menschen zu tanzen. Begonnen hat es mit etwa zehn Teilnehmern, heute sind es über dreißig. Der Lehrer braucht nicht seine Grundeinstellung zu ändern, Freude am Tanzen zu vermitteln und soziale Kontakte zu ermöglichen, wohl aber muss er seine Ansprüche reduzieren und zugeben, dass „nichts falsch ist, sondern nur anders.“ Die geplanten Auftritte, und diese werden immer häufiger, sind motivierend und helfen, sich nicht durch Wiederholungen entmutigen zu lassen. Besonders eine Schülerin freut den Lehrer, die anfänglich jeden Kontakt zu vermeiden suchte, „aber dann innerhalb von vier Jahren so gut tanzen lernte, dass sie mich ersetzen könnte. Für sie ist das Tanzen zum Lebensinhalt geworden.“ Seit etwa eineinhalb Jahren tanzt Edgar Bellinghausen auch mit Demenzkranken. Dazu wurde er durch die Diakonisse Ursula Herre angeregt, die weiß, wie wichtig Bewegung ist. Während keiner der Kollegen auf entsprechende Anfragen reagierte, sieht Bellinghausen darin eine Aufgabe. Bereits die ungewohnte Umgebung des

Mirker Bahnhofs stellt für die Kranken einen wichtigen Anreiz dar, den Alltag zu vergessen - auch für die Angehörigen und die Betreuer bedeuten diese Stunden in der Tanzschule Entspannung. Erstaunlicherweise erkennen ehemalige Schüler zwar den Lehrer nicht unbedingt wieder, beherrschen aber immer noch die Tanzschritte, denn oft stellt sich das Erinnern auch über die Musik ein. Ganz selbstverständlich wirkt die leitende Diakonisse als Tanzlehrerin mit – in Tracht und Haube! Seit einigen Monaten ist Edgar Bellinghausen mit seiner Tanzschule nicht mehr allein im Bahnhof: „Utopiastadt“ hat das Gebäude für zweieinhalb Jahre von der Stadtsparkasse gepachtet, Bellinghausen ist einer der neuen Untermieter. „Utopiastadt“ ist eine Initiative von jungen Menschen, zu denen auch Christian Hampe gehört. Man ist dabei, unkonventionelle Konzepte zu entwickeln. So gibt es bereits ein Reparaturcafé, einen offenen sonntäglichen Treffpunkt für die Bewohner des Stadtquartiers, eine eigene Biersorte, die Bärtig Bräu, einen Improvisationschor, der Blick zur anderen Seite auf die Bar des Tanzsaals

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dort Probenräume anmieten konnte und den Utopiagarten. Auch der Künstler Gregor Eisenmann, dessen Arbeiten derzeit in der Tanzschule Bellinghausen zu sehen sind, hat dort sein Atelier. Christian Hampe ist der Ansicht, der Mirker Bahnhof sei als zentrales Gebäude der Nordstadt geradezu prädestiniert, zum Dreh- und Angelpunkt, zur Schnittstelle für infrastrukturelle Projekte wie Kultur, Wirtschaft und Kreativität zu werden, zumal die Nordbahntrasse erstmalig Stadtviertel miteinander verbindet, die bisher durch ihre besondere Topografie getrennt waren. „Doch eins steht fest,“ sagt Christian Hampe, „ohne Edgar Bellinghausen gäbe es den Mirker Bahnhof nicht mehr.“ Auch die Gründer von Utopiastadt sind dem Reiz dieses Gebäudes verfallen und entdecken nach und nach ungeahnte Möglichkeiten. Auch sie improvisieren mit viel Idealismus, auch sie wollen beweglich bleiben und um die Ecke denken dürfen. Ebenso wie Edgar Bellinghausen lassen sie sich in kein vorgefertigtes Konzept pressen. Ihn interessieren Menschen, denen er „auf Augenhöhe“ begegnen kann, und die er für das Tanzen zu begeistern vermag: „Ich arbeite nicht, ich gehe sieben Tage in der Woche Tanzen, dabei vergesse ich die Zeit. Niemals würde ich tauschen.“ Marlene Baum www.tanzschule-bellinghausen.de

16. und 17. März 2013

Stilblüte

Schloss Lüntenbeck

Knospe, Spaten und Feines

Öffnungszeiten: 11 bis 18 Uhr | Tageskarte: 4 € | Schloss Lüntenbeck | 42327 Wuppertal | www.schloss-luentenbeck.de

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Foto: iStockphoto, LiliGraphi

Die Tanzschule Bellinghausen mit einer Gruppe bei einem Auftritt in der Historischen Stadthalle anlässlich eines Benefitzkonzertes für die Schule am Nordpark 2012. (Diese beiden Fotos sind von Uwe Schinkel, die übrigen von Edgar Bellinghausen)


Skulptur als Denkmal Ateliergespräch mit Tony Cragg über Skulptur als Denkmal und über sein Denkmal zur Erfindung der Antibiotika durch Gerhard Domagk am 19. September 2012 in Wuppertal

Tony Cragg und Dr. J. Vesper im Gespräch. Foto: Marlies Meier

Zwischen London, Hannover und Shanghai, augenblicklich zu Hause in Wuppertal, befasst mit Journalisten und Videoaufzeichnungen, findet Tony Cragg dann doch, wie verabredet, Zeit für unser Gespräch. Noch ist er beschäftigt, aber in seinem Atelier fällt das Warten leicht. Schnell ergibt sich ein Gespräch mit einem der Mitarbeiter. Tony Cragg arbeitet nicht alleine. Er verfügt über eine Schar von Helfern, die nach seinen Vorstellungen und Ideen Skulpturen tatsächlich „erarbeiten“ und in die Welt reisen, um die in Wuppertal entstehenden Skulpturen auf den Ausstellungen aufzubauen, zu positionieren und zu präsentieren. Allein in Shanghai werden derzeit 50 Skulpturen und 127 Zeichnungen ausgestellt, Beim Betreten des Raumes fällt der Blick auf das Regal mit Flaschen und Gefäßen, also den Urformen Craggscher Skulptur. An der großen, weißen, unübersichtlich sich windenden Skulptur aus pflanzlich

anmutenden Lianen und Keulen kann man kaum vorbei gehen, ohne diese zu berühren und zu beklopfen. Die weißen Schlangen sind hohl. Weiter hinten dann gedrehte rationale Wesen („rational beeings“), frühe Formen („early forms“), drei elegante Schichtholzskulpturen, eine davon in leuchtendem Rot, mit edel geschliffener Oberfläche und Stapel von Ausstellungskatalogen. Ein Weichholzschrank, in den zahllose Rundhaken gebohrt wurden, ist als Schrank nicht mehr zu gebrauchen, hat seine ursprüngliche Bestimmung als Möbelstück aufgegeben und die Metamorphose zur Skulptur hinter sich. Beim Gang durch das helle Atelier fällt immer wieder der Blick durch die Fenster in das weite bergische Land. Das Atelier befindet sich in einer von Cragg für seine Zwecke umgebauten Panzergarage mit riesiger Glaswand nach Norden, Fenstern nach Süden und holzverkleideter Fassade.

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Hier könnte auch ein mittelständisches Unternehmen zu Hause sein. Was draußen auf dem umgebenden Gelände an skulpturalen Objekten herumliegt, dort einer Verwendung harrt bzw. bereits verwendet und abgelegt wurde, das ist eine eigene Betrachtung wert. Schließlich öffnet sich die Tür, Tony Cragg kommt herausgelaufen, nimmt sogleich das Gespräch auf und bittet in seinen nicht kleinen Arbeitsraum, der die zahllosen Objekte und Kleinplastiken, die Tische voller Bücher aber kaum fasst. Sofort beginnt das Gespräch. Welche Beziehung hat Tony Cragg zur Medizin? Natürlich haben seine Skulpturen Bezüge, kulturelle Bezüge, persönliche Bezüge, seltener Bezüge zur Medizin. Persönliche Bezüge zur Medizin bestehen aber durchaus. „I am alive“, jene bewegte, glänzende Skulptur vor dem Opernhaus in Barmen entstand zu einer Zeit, in der

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nach einer längeren Leidensgeschichte endlich die Diagnose einer Zöliakie (Sprue) gestellt wurde und ihm durch Umstellung der Kost auf gliadinfreie Nahrung gut geholfen werden konnte. Damals rief er Freunde und Bekannte an und stellte fest, dass er immer wieder sagte: „I am alive. I am alive“. So wurde die Skulptur Sinnbild der Genesung. In seinem Arbeitsraum sah ich eine Holzkugel von ca. 30 cm Durchmesser mit zahlreichen, senkrecht eingeschraubten Ringund Rundhaken und assoziierte sofort bestimmte Viren mit ihren Kapsiden. Vergleichbar stachelig in der Oberfläche ist die Holzkomposition „Angel and other Antibodies“ (1992). Weitere Werke wie „Clear Microbe“ von 1992, „stomach“ von 1986, „Milz“ und „wooden muscle“ von 1985, „Wirbelsäule“ (1996) haben von ihrem Titel her medizinischen Bezug. Jetzt schafft Tony Cragg eine weitere Skulptur mit Bezug zur Medizin. Die Medizinisch-Naturwissenschaftliche

Gesellschaft Wuppertal hatte vorgeschlagen, an die Entdeckung von Prontosil, an die Entwicklung der Antibiotika für die Welt, die von Wuppertal ausgegangen ist, mit einem Denkmal zu erinnern. Hat Tony Cragg jemals ein Denkmal geschaffen? Das Denkmal sei vor Zeiten Symbol der Herrschaft, der Mächtigen gewesen oder Erinnerung an Menschen, die etwas Großes geschaffen haben: Friedrich der Große Unter den Linden, all die Bismarck-Skulpturen in Deutschland aber eben auch Skulpturen von großen Ärzten und Wissenschaftlern wie z. B. Robert Koch und Rudolf Virchow in der Charité. Nein, so ein Denkmal hat er bisher nicht geschaffen. Seine Skulpturen sind Denkmäler vor allem seiner eigenen Originalität, seines Eigensinns, Atelieransicht außen und innen Fotos: J.Vesper


seiner Gedanken, sind keine Kopie der Natur. Seine Skulpturen wollen etwas Unsichtbares zeigen, etwas, was hinter der Oberfläche diese formt und prägt. Bei einer Reihe von Skulpturen ermöglicht er dem Betrachter sogar den Blick hinter die Oberfläche in das Innere der Skulptur und löchert diese (27.000 mal bei „Zufuhr“ in Wuppertal). Seine Skulpturen sind Ausdruck von bronzenen, hölzernen steinernen Gedanken, sind skulpturale Gedankenübertragungen, sind nichtsprachliche Metaphern in hartem Material. Tony Cragg denkt mit Material. Aber: „Ich verwende keine Symbole“ sagt er. Einerseits Symmetrie und andererseits die Sicht aus verschiedenen Blickrichtungen sind wesentliche Elemente für den formalen Aufbau seiner teilweise sehr komplexen Skulpturen. Kein Zufall, dass schon vor Jahren eine Skulptur den Titel „points of view“ trug. Dabei hat er vor Jahrzehnten mit dem Stapeln von Holz oder Backsteinen be-

gonnen. Dann wird der Bildhauer in ihm lebendig und er zerschlägt Backsteine, deren Staub und Fragmente er auf dem Boden aufhäuft und verstreut. So entsteht aus den Backsteinen eine erdfarbige Bodenplastik (crushed rubble 1977), ein Schlüsselwerk der frühen Jahre. Und auf die blaue Flasche, von deren skulpturalen Qualitäten Tony Cragg fasziniert ist, lenkt er den Blick, indem er mit Fragmenten unterschiedlichster Art aber gleicher blauer Farbe die Form der Flasche erheblich vergrößert nachbildet („Blaue Flasche“ (1982) im Von der Heydt-Museum Wuppertal). Die blaue Originalflasche ist daneben sichtbar (derzeit aber geklaut) und macht mit Humor die andere Sichtweise der Dinge deutlich. Das Stapeln wurde weiter entwickelt: Porzellan wird gestapelt (Crockery stacks 1996), Flaschen und Gläser, sandgestrahlt oder klar (Larder 1999, Pacific 1998), Holzplatten werden zu Schichtholzskulpturen gestapelt (wooden crystal 2000)

und den early beeings sieht man nicht mehr an, was unter der metallenen Oberfläche im Inneren der Skulptur die Form gibt. Dies nur als Hinweis auf das riesige Werk Tony Craggs. Und welch eine Fülle, welch ein Gebirge von Gedanken und Ideen wird im Gespräch aufgetürmt. Viele Aspekte der Naturwissenschaft und der Kunst werden ausgebreitet. Die Naturwissenschaft sei das größte Beobachtungssystem, über das wir verfügen. Der Künstler arbeite ohne Worte, ohne Mikroskop, aber mit seinem Material am Verständnis der Welt. Der Bildhauer sei mit seinem Material im Dialog, verändere es und werde auch selbst verändert. Cragg mag die Welt nicht so wie sie ist. Sie muss verändert werden. Dieser Bildhauer ist Philosoph. Absichtslosigkeit, reflektierendes Denken und Intuition charakterisieren den Menschen, meint Cragg, und sie unterscheiden ihn von den seit vielen Millionen Jahren in der Evolution überaus erfolgrei-

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Foto: M. Richter

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chen Ameisen. Materieller Konsum und über alles herrschende Ökonomie seien unwürdige Antworten auf die menschliche Existenz. Wachstum und Gewinnoptimierung als Prinzipien führen nicht weiter, sondern zu ökologischen und ökonomischen Katastrophen. Und: „Das Zentrum der künstlerischen Arbeit ist die Neugestaltung von Rohstoffen zu Formen und Bildern, die als komplexe Zeichen neue Erfahrung, neue Einsicht und neue Freiräume erschließen“ (Tony Cragg 2002, Signs of Life S. 163). Bildhauer und naturwissenschaftlicher Arzt haben Parallelitäten; denn mit seinen Gedanken

und seiner Bildersprache ist der Bildhauer Cragg dem Naturwissenschaftler vergleichbar, der als freier Wissenschaftler im Labor mit Intuition und „Eigensinn“, mit Originalität im reflektierendem Denken seine Hypothesen aufstellt, ihrer Realität experimentell nachspürt und zu neuem Verständnis, zu neuer Erfahrung der Natur kommt. Das passierte bei BAYER in Wuppertal vor 80 Jahren, als in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts der Pathologe Gerhard Domagk, gefördert vom Chemiker und Werksleiter Höhrlein, erstmalig die Wirkung von Prontosil erkannte und damit die Entwicklung der Antibiotika

für die Welt anstieß. Das geschah in Elberfeld. Prontosil war damals das erste Medikament, mit dem die lebensbedrohlichen Streptokokken wirksam bekämpft werden konnten. Gerhard Domagk erhielt dafür den Nobelpreis. Man darf auf das Denkmal Tony Craggs gespannt sein. Bildhauerische Poesie für eine naturwissenschaftliche Großtat ? Einen Entwurf gibt es schon und inzwischen auch ein Modell. (siehe Foto). Die Skulptur zeigt kompliziert ineinander verschränkte Teilskulpturen in einer Komplexität wie sie sich im Verhältnis zwischen Forscher, Chemie und Krankheit, oder Wirkung und Molekülstruktur, oder Krankheit, Patient und Forscher usw. usw. findet. Johannes Vesper Der Text beruht auf einem Gespräch mit Tony Cragg am 19. 9. 2012 in seinem Atelier und auf Texten von ihm, publiziert in „Signs of Life“ (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Bundeskunsthalle Bonn vom 23. 5. – 5. 10. 2003, Richter Verlag) und Tony Cragg „Matrix“ Kestnergesellschaft Verlag für Moderne Kunst (zur Ausstellung in Hannover vom 14. 9. – 4. 11. 2012)

Atelierfotos: J. Vesper

Zum Thema „Tony Cragg und sein Humor“ habe ich an diesem Nachmittag viel mitbekommen. Der ist eine eigene Darstellung wert. Siehe auch www.musenblaetter.de am 10. 7. 2012 und Startseite der Medizinisch-Naturwissenschaftlichen Gesellschaft „Domagk-Cragg-Projekt“ www.mng-wuppertal.de/

Modell (links) und Entwurf (oben) der Skulptur

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Paragraphenreiter Kann ich mit Literatur Steuern sparen?

Na klar! Sogar auf höchst kreative Art, wenn ich 1. mit der Veröffentlichung des ein oder anderen literarischen Werks ordentlich Geld verdiene, 2. früher Finanzminister war und 3. nicht alle Honorare aus vorgenannter Veröffentlichung den Finanz(oder anderen) Behörden gegenüber deklariere.

Susanne Schäfer, Steuerberaterin Geschäftsführerin der Rinke Treuhand GmbH Wirtschaftsprüfungsgesellschaft/ Steuerberatungsgesellschaft

Gibt’s nicht? – Gab’s immer schon! Zum Beispiel vor rund 200 Jahren. In den Jahren 1776 bis 1786 war Johann Wolfgang Goethe als Finanzminister in Weimar tätig. Im Jahr 1820 deklarierte er gegenüber den Weimarer Steuerbehörden ein Gesamteinkommen von 28.768 Talern. Blöd war nur, dass er seine Autorenhonorare „vergaß“. Vollständig. Im Jahr 1821 deklarierte er zumindest Honorare von 4.855 Talern. Wenn man berücksichtigt, dass er in diesem Jahr allein von seinem Hauptverleger Cotta ein Honorar in Höhe von 4.900 Talern bekommen hatte, ist hier doch schon deutlich mehr Steuerehrlichkeit festzustellen. Obwohl … so ganz zutreffend waren seine Angaben immer noch nicht. Ein guter Steuerberater hätte ihm sagen können, dass 1. Lügen den Charakter verdirbt, 2. alles irgendwann rauskommt (und sei es 193 Jahre später) und 3. der erzielte Steuervorteil bei Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten auch auf moralisch einwandfreiem Weg hätte erreicht werden können.

„Am liebsten auf der Bühne, und wer weiß wo sonst noch, sind mir Sätze, die man auch tanzen könnte.“

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Hat er zum Beispiel alle ihm entstandenen Kosten für Dienstreisen geltend gemacht? Bei gut 40.000 zurückgelegten Kilometern in 60 Jahren hätte er sowohl bei Ansatz einer Kilometerpauschale als auch bei Ansatz der tatsächlichen Kosten für Rosse, Kalesche und Kutscher erhebliche Beträge erreichen können. Hat er daran gedacht, fleißig über Bewirtungskosten Buch zu führen? Vor dem Hintergrund, dass seine Weinrechnungen durchschnittlich 15 Prozent seiner Gesamtausgaben ausmachten, wären auch hier beträchtliche Betriebsausgaben zusammengekommen. Und was ist mit den sogenannten „außergewöhnlichen Belastungen“ wie Krankheitskosten? Hat er im Jahr 1831 seine zahnmedizinische Behandlung für 45 Silbergroschen und 15 Pfennig steuermindernd angesetzt? Nun könnte man natürlich einwenden, dass die Rechtslage damals eine andere war. Zieht aber nicht: schließlich war der Mann 1. Jurist, 2. Finanzminister und 3. ein Genie. Er hätte während seiner Amtszeit auch Steuergesetze verfassen können, die so gut sind wie unsere heutigen. www.rinke.eu

„Das Leben ist sportlich: Der, den du überholst, sitzt dir danach im Nacken.“

Zugelaufene Sprüche

„Mit guten Absichten überschminkt die Seele ihre Pickel“

2013 Verlag HP Nacke Wuppertal 80 Seiten, 9.00 Euro ISBN: 978-3-942043-90-8

„Das wäre ein wunderbares Leben gewesen, sagte der Neunzigjährige, wenn man vorher gewusst hätte, dass alles gut geht.“


Auf dem Vulkan Michael Zeller, 1944 in Breslau geboren, dem heutigen Wroclaw in Polen. Er studierte Literatur und Kunstgeschichte an den Universitäten Marburg und Bonn. Dort wurde er 1974 mit einer Arbeit über Thomas Mann promoviert. Mit seiner Erlangener Habilitation schloss er 1982 seine Hochschulkarriere ab und entschied sich für den Beruf des Freien Schriftstellers, der ihm seit der Kindheit vorgeschwebt hat. In den drei Jahrzehnten ist ein umfangreiches und vielgestaltiges literarisches Werk entstanden. In seinem Zentrum stehen die bisher acht Romane: so der politische Universitätsroman FOLLENS ERBE, von 1986; ein Jahr später DIE SONNE! FRÜCHTE. EIN TOD, in dem Leben und Werk der Malerin Paula Becker-Modersohn eine tragende Rolle spielen. Nach seinen „polnischen“ Romanen (CAFÉ EUROPA, 1994, und DIE REISE NACH SAMOSCH, 2003, in mehreren Auflagen und übersetzt) kam zuletzt FALSCHSPIELER heraus (2009): dem Roman liegt der authentische Fall einer literarischen Fälschung im Deutschland der Nachkriegszeit zugrunde. Daneben arbeitet Michael Zeller seit 2007 regelmäßig an Schulen, überwiegend in Wuppertal, wo er ab 1998 lebt. Dabei entstehen mit den Schülern gemeinsam erzählte Geschichten, die „Schulhausromane“, Bis heute sind fünf davon erschienen, zuletzt, 2012, DER SCHATZ AUF DEM DACH, zusammen mit Schülern der Realschule Am Hohenstein. 2009 verfasste Michael Zeller im Auftrag der Stadt Soest das Schauspiel DIE SOESTER FEHDE. In zweijährigem Turnus wird es seither unter freiem Himmel im mittelalterlichen Kern der Stadt aufgeführt. Seit Juni 2012 erscheint im Internet Zellers SEH-REISE (unter www.culturmag.de): Jede Woche eine neue Folge seines „Tagebuchs in Bildern“. Die Serie geht, bis in den Sommer 2013 hinein. Neben anderen Auszeichnungen erhielt der Autor 2008 den Von der Heydt-Kulturpreis der Stadt Wuppertal. 2011 verlieh ihm die „KünstlerGilde Esslingen“ den Andreas Gryphius-Preis. Im Frühjahr 2013 kommt ein neuer Gedichtband heraus: WIE ES ANFÄNGT : WIE ES ENDET.

Vom Verrechnen der Zukunft Vor kurzem hat ein Freund mir sein Haus für eine Weile überlassen, und dieses Haus steht auf Lanzarote, eine Insel ganz aus Lava. Das wusste ich, aber ich musste es erst sehen: das Anthrazitgrau des Bodens, und vor allem: seine Allgegenwart. Tatsächlich gibt es nichts dort als das dunkle Grau der Lava. So gut wie kein Braun von Erde dazwischen, gelber Sand, gar das Grün einer Flora. Das Auge war befremdet, der Kopf heraus-

gefordert. Eine Hügellandschaft, mäßig hoch, wohlgeformte Tafelberge, unbewachsen, ohne Schroffen – einladend zum Wandern. Beim Gehen über die Höhen (die beste Annäherung, die ich mir hier schaffen konnte), hatte ich es unter meinem Schuh, und ich schaute, so weit das Auge reichte, über ausgekotztes Erdinneres, stumpfes Schwarz. Aber ich ging auf einem Boden, auf dem die Erdgeschichte, die in Jahrmillionen

www.michael-zeller.de Foto: Rita Dubas, 2006

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rechnet, historisch geworden war, gleichsam zeitgenössisch, auf der Schnittstelle zweier Zeitrechnungen: Die Vulkane, die ich mir erwanderte, hatten vor knapp dreihundert Jahren zum letzten Mal gespuckt, zwischen 1730 und 1736. Zwanzig Jahre vor dem Erdbeben von Lissabon, an einem Allerheiligen, das die Christenheit in Europa aufgeschreckt hatte und ihr die Gottesfrage aufzwang, mit beängstigender Wucht. Die Kruste, über die ich ging, war also neu. Keine Formation hat es auf Lanzarote vor dreihundert Jahren so gegeben. Ohne Antike, ohne Mittelalter: Neuland. Nichts, was die Natur sich seither zurückgeholt hat, Pflanze, Tier und Mensch, langt über das Jahr 1736 hinaus. (Da war gerade Joseph Haydn geboren, und Johann Sebastian Bach hatte das Weihnachtsoratorium beendet). Und je länger ich ging, umso vielgestaltiger und bunter wurde der Lavaboden. Auf der erstarrten Glut hatten sich Flechten angesetzt, in Gelb und Grün, Moose, kleine Muscheln und Schnecken, die in einer überschaubaren historischen Frist den Boden bereitet hatten, mit Hilfe von Regen und Wind, dass der Mensch daraus wieder seine Nahrung ziehen konnte: Getreide, Gemüse, Wein, wenn auch auf einem äußerst kargen Niveau. Gewaltiges ist so in dieser Zeit entstanden, im Kleinen. Und wie mag das Land aussehen in noch einmal dreihundert Jahren, nach weiteren zehn menschlichen Generationen? Der homo sapiens wird rasch keck und spielt mit den Dimensionen der Zukunft, weit über die eigenen Lebenserwartungen hinaus. Werden im Jahr 2300 auf Lanzarote Weizenfelder wehen und Obstbäume verschwenderisch Frucht tragen? Doch ein Blick auf die nackten Vulkankegel, die mich umstanden, lehrte meine faustischen Visionen gleichzeitig die Vorsicht. So sicher der Fuß eines Wanderers von ihnen heute auch gehalten wird: Das Magma des Erdkerns brodelt weiter unter ihnen, in unergründlichen Tiefen. Und eines Tages, in erdgeschichtlicher Zeitrechnung ein Wimpernschlag, wird es den Kräften in sich wieder Raum geben müssen

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nach außen und Feuer speien und mit glühenden Massen über die blühende Insel kommen und das in menschlicher Zeit Nachgewachsene tief unter sich begraben. Wenn dann die Lava abgekühlt ist, nach einigen Jahrzehnten, wird die Natur sich wieder regen – mit Flechten, Moosen, Muscheln und Schnecken, und Nahrung schaffen für die nächsten Insekten und Würmer, und erste Vögel werden angelockt und nisten und brüten, und nach drei Jahrhunderten wird abermals Wein hier wachsen und Getreide. Doch das ist Zeitrechnung im Großen, sie geht über das einzelne Menschenleben hinweg. Und beim Wandern in dieser Urlandschaft (bei dem ich kaum einem Zeitgenossen begegnete), verfielen meine schweifenden Gedanken auf ein anderes Zahlenspiel, in den Grenzen der eigenen Familiengeschichte. Es war in der Obertertia eines „neusprachlichen Gymnasiums“ gewesen, wie es damals hieß, zu Anfang der 1960er Jahre, als wir im Geschichtsunterricht den Versailler Vertrag nach 1918 durchnahmen, als Abschluss des Ersten Weltkriegs. Die Reparationen, die die Siegermächte dem Deutschen Reich seinerzeit abforderten, wären, so wurde uns gesagt, 1986 abgegolten gewesen. Wir Schüler haben uns darüber natürlich kaputt gelacht und unsere Witze gemacht. 1986 – da wären wir selbst ja vierzig Jahre alt – ein für Fünfzehnjährige ganz und gar unvorstellbar hohes Alter. 1918 : 1986 – diese irrwitzige Zahlenklammer, die in die Epoche unserer Großväter hineinfasste wie in eine unendlich ferne Zukunft hinauf, ist mir nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Begriffen habe ich es aber erst viel später. 1960: Da war mein eigener Vater bereits fünfzehn Jahre tot. Wie seine beiden Brüder (die gesamte Familiengeneration) hatte ihn der nächste Weltkrieg (Numero Zwo) verschlungen. Unsere Wohnund Lebensverhältnisse als Flüchtlinge waren auch 1960 immer noch karg. Dass meine Brüder und ich die Oberschule besuchen durften, war der einzige Luxus, den die Mutter uns gönnen konnte (das

hörten wir oft genug). Und ich sollte dann noch, erwachsen geworden, als Mann mit Vierzig, die Schulden abzahlen, die die Generation gar der Großväter hinterlassen hatte? Dazwischen – ja, da lag die Eruption des Zweiten Weltkriegs – nicht in den Eingeweiden der Erde zusammengebraut, sondern denen der menschlichen Gesellschaft, in ihren Ergebnissen kaum weniger verheerend. In welche Zukunft hinein kann der Mensch planen? Die elementaren Spiele der Natur haben wir als Lebewesen dieser Erde hinzunehmen. Sie werfen uns, wenn wir Pech haben, wieder auf die ersten Tage des Planeten zurück. Bei freundlichen Winden gedeiht das Leben danach erneut: Die Fortschritte, die Lanzarote in dreihundert Jahren hinter sich gebracht hat, die Natur und der Mensch in ihr, haben mich, wandernd im Angesicht von sanften Vulkankegeln, gerührt. Diese unbesiegbare Zähigkeit des Lebenstriebs! Doch die Erträge sind kümmerlich. Bis heute reichen sie nicht, die kleine Bevölkerung der Insel zu ernähren. Wie viele Jahrhunderte bräuchte es noch dazu? Allerdings nur, wenn die Natur Zeit dazu lässt. Oder wir. Michael Zeller www.michael-zeller.de


Die Magie des Lichts Temporärer Architekt und jetzt auch LED-Wegbereiter: Der Wuppertaler Nico Ueberholz leistet Pionierarbeit bei der Revolution der Leuchttechnik Die Leidenschaft für Licht – sie stand schon immer im Mittelpunkt der Arbeit von Nico Ueberholz, der international als einer der Vordenker auf dem Gebiet der temporären Architektur gilt. „Wir bauen Atmosphäre“ steht als Leitidee über seinen Projekten, die im Wuppertaler Büro entworfen werden und weltweit Beachtung finden. Und das eben nicht zuletzt, weil kaum ein anderer so kreativ Licht als Gestaltungselement bei der Entwicklung von Messeständen, Ladenbauten und Ausstellungskonzepten einsetzt wie der Nico Ueberholz. „Licht spielt eine große, ganz wichtige Rolle in der Umsetzung der Ideen, es inszeniert Design und Raum“, so sein Credo, das jetzt in ein ungewöhnliches unternehmerisches Engagement mündete: Mit dem von ihm an den Start gebrachten Start-Up „OFFON New Lighting“ ist Nico Ueberholz vom Lichtanwender zum Entwickler und Produzenten geworden. Er kämpft dabei an vorderster Front für den Umstieg von umweltschädlichen Leuchtstoffröhren auf ökologische und wirtschaftliche LED-Technik. Und wirft fast 25 Jahre Erfahrung mit gestalterischen und technischen Ideen für Licht-Inszenierungen in die Waagschale, um die neuen LEDLeuchtmittel wirkungsvoll einsetzen zu können. Mit Erfolg: Seit dem fulminanten „OFFON“-Debüt bei der Leitmesse Light & Building vor knapp einem Jahr staunen sogar die Branchenriesen über die Ideen der Innovationsschmiede.

Dabei hatten die Köpfe hinter „OFFON“ eigentlich alles andere zu tun, als ausgerechnet in die Entwicklung und Produktion von LED-Tubes einzusteigen. Ueberholz machte dafür mit Werbeprofi Sven Hillie aus Hamburg und Axel Kietz, Geschäftsführer einer Apparatebau-Firma in Radevormwald, gemeinsame Sache. Das Trio, das sich zuvor bei gemeinsamen Projekten für verschiedenste Kunden aus der Markenwelt kennen und schätzen gelernt hatte, war mit den jeweiligen Jobs eigentlich mehr als ausgelastet. Aber: Ob es um einen Messeauftritt, Corporate Design oder feste Bauten ging - die Inszenierung von Licht spielte dabei immer eine bedeutende Rolle. Erst recht, seit die hoch entwickelte LEDTechnologie den Spielraum dafür entscheidend erweitert hat und das Trio mit einer Idee infizierte: LED-Lichtsysteme mit einem hohen Designanspruch, perfekter Funktionalität und maximaler Wirtschaftlichkeit zu kreieren und herzustellen. In diese Röhre schaut man gerne Mit der „T8 Extended Quality LED Tube“ hat „OFFON“ auf den Weg dorthin einen ersten Schritt gemacht, der echte Breitenwir-

kung entfaltet: Sie bietet auch bei kritischem Hinsehen eine taugliche Alternative für die allein in Deutschland jährlich verbauten rund 60 Millionen Leuchtstoffröhren mit all ihren ökologischen und wirtschaftlichen Nachteilen. 70 Prozent weniger Energieverbrauch, maximale Sicherheit, minimierte CO2-Emissionen, 30.000 Stunden garantierte Lebensdauer und - natürlich für seine Erschaffer ein besonderes Kriterium - die besonders gute Lichtqualität sprechen für die Neuentwicklung. Von der wurden die Branchenriesen ebenso überrascht wie von der passenden Deckenschiene „Lucy (in the sky)“. Sie liefert die Antwort auf die Frage, wie Lampen aussehen können, wenn dank moderner LED-Technologie keine Platz raubenden und energiefressenden Starter mehr nötig sind. Das patentierte System kombiniert ein puristisches Erscheinungsbild mit handfesten Vorteilen bei Neuinstallation und Betrieb. „Lucy“ kommt mit deutlicher weniger Abhängungen aus als konventionelle Schienen und Sockel für Leuchtstoffröhren, ist flexibel bestückbar und kann mit einer einzigen Einspeisung theoretisch bis zu einer Kilometer Leuchtstrecke versorgen. Das bietet ungeahnte Möglichkeiten und Flexibilität bei der Gestaltung von Räumen und Hallen.

Kreativ und vielseitig: Nach 25 Jahren als temporärer Architekt engagiert sich Nico Ueberholz jetzt auch als Unternehmer für die Entwicklung umweltfreundlicher LED-Lichttechnik.

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Hoch hinaus: Im Frühjahr 2012 ging „OFFON New Lighting“ bei der „Light & Building“ in Frankfurt mit einem zehn Meter hohen „Leuchtturm“ und Produkten an den Start, die auch Branchenriesen staunen ließ. Für das Design des Messeauftritts erhielt Ueberholz übrigens einen ADAM-Award.

Design trifft Technik: Die Leuchte „Mary (go round)“ samt T8-Tube von OFFON gewann bereits den DDC-Award. Ihre Form bekam sie auf dem Zeichenblock von Nico Ueberholz.

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Hommage an die Magie des Lichts: Der Produktkatalog von „OFFON“ ist ein lesenswertes Themen-Magazin. „Die Ideen sprudeln nur so heraus“ „Da wir alle Visionäre sind, sprudeln die Ideen nur so aus uns heraus. Wenn Menschen zusammenkommen, die einen Gedanken, ein gemeinsames Ziel haben und ohne viele Worte in die Hände spucken, kommt sehr viel gute Kreativität dabei heraus“, erklärt Nico Ueberholz, wie das erst Anfang 2012 gegründete Unternehmen innerhalb weniger Monate eine kleine Produktfamilie entwickeln konnte, die bereits im März bei der „Light & Building“ in einem zehn Meter hohen Freiluftstand als zukunftsweisend für eine ganze Branche präsentiert wurde. Vorgestellt werden diese Produkte übrigens nicht in einem herkömmlichen Produktkatalog, sondern in einem Magazin, das ebenso aus dem Rahmen fällt wie die „OFFON“-Entstehungsgeschichte: Auf fast 200 Seiten erklärt es mal wissenschaftlich, mal philosophisch, mal historisch und immer voller überraschender Gestaltungs-Details die „Magie des Lichts“, aus der „OFFON“ erwachsen ist.

High-Tech aus dem Zeichenblock Entstanden ist das Design übrigens dort, wo die meisten Ideen von Nico Ueberholz Form annehmen: auf dem Zeichenblock! Für ihn immer wieder ein besonderer Moment: „Mein Beruf ist eigentlich meine Leidenschaft: entwerfen, zeichnen, träumen, Visionen zu Papier bringen Pferdefliegen lassen! Sobald ich etwas Zeit habe, greife ich zum Bleistift. Es ist einfach immer wieder ein Erlebnis und eine Herausforderung, mit einem weißen Blatt anzufangen.“ Auf so ein Blatt hat er auch die ersten Konturen von „Mary (go round)“ skizziert – eine Deckenleuchte, dessen LED-Körper sich dank eines Kugelgelenks in jede vorstellbare Position und Richtung drehen lässt. Die LED-Tube in der

mit entsprechendem Bodensockel auch als Schreibtischleuchte einsetzbaren Lampe ist dabei ebenfalls drehbar, so dass ganz einfach zwischen direkter und indirekter Beleuchtung gewechselt werden kann. Das Berühren der Tubes ist übrigens kein Problem - LEDs entwickeln bekanntlich im Gegensatz zu herkömmlichen Leuchtnmitteln kaum Wärme. Für die Eigenentwicklung ist Ueberholz im Dezember mit dem Award für Gute Gestaltung des Deutschen Designer Clubs ausgezeichnet worden. Ebenfalls in der Pipeline ist mit „Jack (of all trades)“ zudem eine Straßenleuchte mit LED-Tubes, die individuelle Lichtfelder für Fußgänger, Radund Autofahrer bescheinen kann.

Bei Branson im „Carbon War Room“ Geadelt wurden Nico Ueberholz und die „OFFON“-Idee zuletzt, als sie in den Fokus von Richard Branson und seinem Non-Profit-Unternehmen „Carbon War Room“ rückten, mit dem der britische Milliardär weltweit nach ökonomkisch attraktiven Wegen zur Reduzierung des Ausstoßes schädlicher Treibhausgase sucht. Ein Ziel, das ihn mit „OFFON“ verbindet und den LED-Pionieren eine Einladung zur ersten Deutschland-Konferenz des „Carbon War Room“ bescherte. In der Berliner Siemens-Villa informierten sich im September 2012 rund 200 Führungskräfte aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung unter dem Tagungs-Motto „Creating Climate Wealth“ über die OFFON-Philosophie und die aktuelle Produktpalette für den Umstieg von Leuchtstoffröhren auf umweltfreundliche LED-Tubes. „Hören wir auf zu reden, gehen wir es an!“ lautete der Klima-Appell des „Carbon War Room“. Nico Ueberholz hat das bereits getan...

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Komödie, Krimi, Klassik Das Wuppertaler TiC-Theater stellt seinen Spielplan 2013 vor

oben Stefan Hüfner, unten Ralf Budde, Fotos: Frank Becker

Komödie und Krimi, Klassik, Drama und Musical – das kleine, aber sehr feine TiCTheater in Wuppertal-Cronenberg hat auch im Jahr 2013 für jeden Geschmack etwas im Programm. Acht Premieren und zwei Wiederaufnahmen sorgen in den drei Spielstätten Borner Straße und im Atelier Unterkirchen für einen abwechslungsreichen Kalender. Am Freitag stellten die Geschäftsführer Ralf Budde und Stefan Hüfner den Spielplan 2013 vor. Traditionell beginnt das Jahr mit einem Krimi, diesmal sorgt Ralf Budde am 22. Februar mit seiner Inszenierung von Edgar Wallace´ „Das indische Tuch“ für Spannung und, wie er augenzwinkernd versichert, auch für Spaß. Wer erinnert sich nicht gerne an die Verfilmung (1963) mit Heinz Drache, Hans Nielsen, Eddi Arent, Ady Berber, Hans Clarin, Corny Collins, Elisabeth Flickenschildt, Siegfried Schürenberg und Klaus Kinski. „Welcome to the Sixties“ heißt es ab 21. April mit einem Song des Musicals „Hairspray“, für das Patrick Stanke gewonnen werden konnte, der 2012 mit seiner „Hair“-Inszenierung im TiC einen fulminanten Erfolg hatte. Da gibt es dann Wiederbegegnungen mit Twist und Mashed Potato, mit den Turnbalds und den von Tussles, Gene Pitney und Little Peggy March. Mit der turbulenten Farce „Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn wird ab 3. Mai unter Thomas Gimbels Regie das totale (geordnete) Chaos ins TiC einziehen. Sardinen eingeschlossen. Es gibt kaum ein komischeres Stück über Theater auf dem Theater. Zuletzt in Wuppertal 2007 an den Städtischen Bühnen aufgeführt. Der lebenslange Briefwechsel zweier Menschen, die dann doch kein Paar werden, ist Thema des berührenden Kammerspiels „Love Letters“ von A.R. Guerney. Die Besetzung steht bereits fest, wird aber noch geheimgehalten, ebenso wie der Name des Regisseurs der bewegenden Geschichte eines krebskranken Kindes „Oskar und die Dame in Rosa“ von Eric-Emmanuel Schmitt, die ab Oktober gezeigt werden soll. Zuvor aber gibt es im Juli Neil Simons Seitensprung-Komödie „Der letzte der

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feurigen Liebhaber“ als Sommerstück unter der Regie von Julia Penner - und im September das Musical „Me and my Girl“, von Noel Gay, L. Arthur Rose und Douglas Furber. 1937 in London uraufgeführt war es mit 1646 Vorstellungen einer der größten Erfolge der 30er Jahre. Für die Musik im TiC zeichnet wie bei „Hairspray“ und der Wiederaufnahme von „My Fair Lady“ im Mai dessen musikalischer Leiter Stefan Hüfner. Weil sich das Angebot eines Klassikers pro Spieljahr bewährt hat, setzt das Tic nach „Der Parasit“, „Romeo und Julia“ und „Der zerbrochne Krug“ im November 2013 Friedrich Schillers „Kabale und Liebe“ auf den Spielplan. Die Regie hat Ingeborg Wolff übernommen, die dort schon etliche Male eine sehr glückliche Hand gezeigt hat. Zum Jahresschluss wird zum fünften Mal der Dauerbrenner „Die Feuerzangenbowle“ nach Heinrich Spoerl (bisher fast 200 Vorstellungen) zubereitet. Unvergessen auch hier die Verfilmung (1944) mit Heinz Rühmann, Erich Ponto, Paul Henckels, Karin Himboldt, Hans Leibelt und Hans Richter. Ab November zu verkosten. Wie ein solches Angebot umgesetzt werden kann erklärt Ralf Budde: das ist nur möglich durch den selbstlosen Einsatz der ca. 60 Ensemble-Mitglieder, allesamt (hochbegabte) Laien, die ihre gesamte Freizeit dafür einsetzen. Eine solide Basis für die anspruchsvolle Arbeit. Weitere Informationen: www.tic-theater.de Frank Becker


Franz Kafka und die Griots von Prag „... wie wenn ich mir einen Bindfaden über die Zunge führen würde – Liebste, ich lese nämlich höllisch gerne vor“

Wenn in Afrika ein Griot stirbt, verbrennt eine Bibliothek, lautet ein bekanntes Sprichwort des schwarzen Kontinents. Griots, das sind die weisen Männer Westafrikas, die in ihren – häufig auf der Cora, der afrikanischen Harfe, begleiteten – Sprechgesängen die Geschichten ihres Volkes erzählen. Sie sind lebende Enzyklopädien, die die Legenden und Mythen ihrer Heimat in ihrem Gedächtnis bewahren. Die Griots unserer Kultur sind die Literaten, die Dichter und Schriftsteller. Sie singen ihre Geschichten nicht, sie schreiben sie auf. Doch wenn ihre Bücher verbrennen, so geht mit ihnen eine ganze Welt unter, nämlich jene Welt, die sie in ihren Büchern entstehen ließen und mit diesen eine Zeit, die die Bedingung der Möglichkeit ihrer Entstehung war. Als die Nationalsozialisten 1939 Prag besetzten, ahnten die kritischen tschechischen und die aus Deutschland emigrierten Intellektuellen, was sie erwartete. Ihre Schriften würden verbrannt, sie selbst verfolgt, deportiert, ermordet. Mit der Besetzung Prags sollte eine Welt untergehen, eine Welt des Geistes – und mit ihr wesentliche Erinnerungen an die deutschsprachige Literatur der goldenen Stadt. Ist es folgerichtig, dass mit Franz Kafka vor allem ein Schriftsteller jener deutschsprachigen Prager Schriftsteller

im kollektiven literarischen Gedächtnis überleben sollte, der die Okkupation – Gott sei Dank, ist man geneigt zu sagen – nicht mehr erlebt hat? Die Freunde und literarischen Wegbegleiter Kafkas, die Protagonisten der Prager Deutschen Literatur sind weitgehend in Vergessenheit geraten – einzig Franz Werfel wird noch von einer breiteren literarischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Selbst die Romane Max Brods werden kaum noch gelesen; er bleibt vor allem als Freund und Herausgeber der Werke Franz Kafkas in Erinnerung. Die Griots von Prag werden nach dem Einmarsch der sogenannten Wehrmacht in die tschechische Republik Opfer der nationalsozialistischen Gewalt. Der Terror der Gestapo zwingt den Lyriker, Essayisten und Erzähler Johannes Urzidil, auch er ein Freund Kafkas, 1939 zu Emigration nach London. Aus dem Exil wird er nicht mehr zurückkehren; er stirbt 1970 in Rom. Ein weiterer Wegbegleiter Kafkas, der Philosoph Felix Weltsch, beschäftigte sich schon frühzeitig mit dem Zionismus und dem Talmud, ihm gelingt 1939 die Flucht nach Palästina, die beiden Geschwister Weltschs aber werden in Auschwitz ermordet. Als wolle er das Elend mit dem inneren Auge nicht mehr sehen, stirbt der früh erblindete Freund Kafkas, der

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Schriftsteller Oskar Baum, an den Folgen einer Operation, kurz bevor seine Frau durch die Nationalsozialisten in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt und dort ermordet wird. Die Lebensgefährtin Kafkas, die Journalistin Milena Jesenská, die die Werke des Schriftstellers in den 20er Jahren dieses verrückten Jahrhunderts ins Tschechische übersetzen und herausgeben will, wird zwanzig Jahre später unter Einsatz ihres Lebens im besetzten Prag bedrohte Menschen retten. Sie verhilft Juden und Tschechen zur Flucht ins Ausland und gibt eine illegale Zeitschrift heraus. Die Nazis verdächtigen sie des Kommunismus und bringen die schon von Krankheit gezeichnete Freiheitskämpferin ins Konzentrationslager Ravensbrück. Eine verspätet durchgeführte Nierenoperation führt im Mai 1944 zu ihrem Tod.

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wurde, in der vor allem aber die Bücher selbst noch gelesen wurden, über die man sprach. So war das Vorlesen ein wichtiger Teil dieser Lese-Kultur. Man las aus eigenen Werken vor – und aus denen, die einen begeisterten. Wenn wir im Folgenden an Kafka, den leidenschaftlichen Vorleser erinnern, so hoffen wir damit auch ein Mosaiksteinchen hinzu fügen zu können zur Rekonstruktion jener durch Tod und Vertreibung der Griots von Prag untergegangenen Welt. Zugleich könnte dies auch ein Beitrag sein, das oft dunkel gezeichnete Portrait jener tragisch umschatteten Lichtgestalt der Prager Deutschen Literatur ein wenig aufzuhellen. Denn gerade im Vorlesen zeigte Kafka häufig seine heitere, lebensfrohe Seite.

Dieses Prag des Franz Kafka, Max Brod, Felix Weltsch, Johannes Urzidil, Oskar Baum und der tapferen und lebensfrohen Milena Jesenská gibt es nicht mehr. Es war das Prag des Café Arco, wo sich die Schriftsteller und Intellektuellen treffen, ein Umschlagplatz für Ideen, in dem die noch druckfrischen Bücher, aber auch die Klassiker diskutiert wurden. Eine Welt, in der die Kultur des Lesens noch Raum hatte und nicht auf ein fernsehgerechtes Format von dreißig Minuten reduziert wurde. Eine Welt, in der zwar auch über Bücher gesprochen

Kafka las oft und gern vor. Tatsächlich war dies neben dem Schreiben eine seiner großen Leidenschaften. So, wie er von der Literatur erwartete, dass sie ihn aus der Erstarrung des Alltags erlösen möge – in einem Brief an seinen Freund Oskar Pollak schreibt Kafka: „Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt,... ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns“ - so stellte er auch an die Rezitation, den gelungenen Vortrag die Anforderung, dass sie die Zuhörer unmittelbar treffen und sie aus deren gewohnter Lethargie herausreißen sollte. Daher erschien ihm

Franz Kafka mit seiner Schwester Ottla

Max Brod

als Vortragsform das Anbrüllen – und dies nicht nur im metaphorischen Sinn – durchaus angemessen. So schreibt er in einem Brief an seine spätere Verlobte Felice Bauer: „Liebste, ich lese nämlich höllisch gerne vor, in vorbereitete und aufmerksame Ohren der Zuhörer zu brüllen, tut dem armen Herzen so wohl.“ Obwohl das Vorlesen eine der herausragenden Leidenschaften Kafkas war, kam es doch nur zu zwei öffentlichen Lesungen. Am 11. Dezember 1913 liest Kafka in der Prager Toynbeehalle Kleists „Michael Kohlhaas“ vor, den er besonders liebte und - wir werden noch darauf zu sprechen kommen - den er auch im Freundes- und Bekanntenkreis öfters vorlas. Mit der Wirkung seiner Lesung auf die zu junge und literarisch vielleicht nicht genügend sensibilisierte Zuhörerschaft ist Kafka nicht zufrieden. Er besitzt jedoch noch während des Vorlesens genügend Geistesgegenwart, um die Reaktionen des Publikums zu beobachten. Am Abend nach der Vorlesung erinnert sich Kafka und notiert in sein Tagebuch: In der Toynbeehalle den Anfang von „Michael Kohlhaas“ gelesen. Ganz und gar mißlungen. Schlecht ausgewählt, schlecht vorgetragen, schließlich sinnlos im Text herumgeschwommen. Musterhafte Zuhörerschaft. Ganz kleine Jungen

Milena Jesenka


in der ersten Reihe. Einer sucht seiner unschuldigen Langeweile dadurch beizukommen, dass er die Mütze vorsichtig zu Boden wirft und dann vorsichtig aufhebt und so öfters. Da er zu klein ist, um das vom Sitz auszuführen, muss er immer ein wenig vom Sessel sich abgleiten lassen. Kafkas Lust am Vorlesen ist jedoch so unbändig, dass es ihn trotz des Misserfolgs drängt, weiter vorzulesen. In derselben Tagebuchnotiz heißt es nur ein paar Zeilen weiter: „Und am Nachmittag zitterte ich schon vor Begierde, zu lesen, konnte kaum den Mund geschlossen halten.“ Kafkas zweite öffentliche Lesung fand am 10. November 1916 in der Galerie Goltz in München statt. Hier liest er neben seiner eigenen Erzählung „In der Strafkolonie“ auch Gedichte seines engen Freundes und späteren Herausgebers und Biographen Max Brod vor. Kafka, der sich für einen schlechten Gedichtvorleser hielt, hatte sich dazu bereit erklärt, weil Brod aus beruflichen Gründen verhindert war. Während der Vorlesung der Erzählung „In der Strafkolonie“ soll es im Auditorium zu drei Ohnmachtsanfällen gekommen sein. Wenn dies stimmt, so ist der Grund hierfür wohl am ehesten im Inhalt von Kafkas Erzählung zu finden, in der die Folterung eines Delinquenten mittels einer „Höllenmaschine“ beschrieben

Dora Dymant

wird, welche die vermeintliche Schuld des Angeklagten immer wieder in dessen Körper schreibt. Die Rezensionen dieses Vortragsabends fallen wenig „günstig“ aus. Auch streifen sie nur kurz Kafkas Vortragstechnik; die literarische Qualität der vorgelesenen Texte steht im Mittelpunkt des Kritikerinteresses. In den „Münchner Neueste Nachrichten“ vom 11. November 1916 heißt es lapidar: „Zunächst war Franz Kafka als Vorlesender ein recht ungenügender Übermittler.“ Auch die Kritik in der „München-Augsburger Abendzeitung“ fällt nicht gerade schmeichelhaft aus: „Freilich vermochten die freundschaftlichen Gefühle, die die beiden jungen Männer verbinden [Kafka und Max Brod], die Mängel nicht zu ersetzen, die den Rezitationen Dr. Franz Kafkas anhafteten.“ Kafka selbst kommt gut zwei Monate später in einem Brief an den Lyriker Gottfried Kölwel, den er anlässlich der Münchner Vorlesung kennengelernt hat, auf dieses Ereignis zu sprechen: Ich las die Gedichte dort unter ungewöhnlichen Umständen. Ich war hingekommen mit meiner Geschichte als Reisevehikel, in eine Stadt, die mich außer als Zusammenkunftsort und als trostlose Jugenderinnerung gar nichts anging, las dort meine schmutzige Geschichte in vollständiger

Gleichgültigkeit, kein leeres Ofenrohr kann kälter sein... Kafkas öffentlichen Lesungen war kein besonderer Erfolg beschieden. Dennoch täuscht der Eindruck, Kafka sei ein vielleicht begabter, im Grunde aber doch durchschnittlicher Vorleser gewesen. Auf fast alle, die das Glück hatten, im Freundes- und Bekanntenkreis Kafkas Vorlesungen zuhören zu können, haben dessen Rezitationen einen tiefen Eindruck hinterlassen. Zu diesem Kreise zählten neben Max Brod auch der früh erblindete Dichter und enge Freund Oskar Baum, ferner Kafkas Schwestern und dessen Verlobte Felice Bauer sowie deren Schwestern. Auch seiner letzten Lebensgefährtin Dora Dymant hat Kafka vorgelesen. Es gibt verhältnismäßig wenige Lebenserinnerungen an Kafka. Ein Grund dafür wird sicherlich in dem erschütternden Schicksal zu finden sein, welches sowohl Freunde als auch Verwandte Kafkas während der Zeit des Nationalsozialismus ereilte. Bei den Lebenserinnerungen, die uns heute vorliegen, handelt es sich zumeist um recht kurze Zeitschriftenartikel. Umso erstaunlicher ist es, dass die, die noch Gelegenheit hatten, sich an Kafka zu erinnern, häufig auf dessen Rezitationen zu sprechen kommen. So erinnert sich Oskar Baum an Kafkas Vorlesungen

Max Brod und Franz Kafka

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und stellt zugleich dessen Vorlesetechnik in Zusammenhang mit seinem literarischem Stil: Wenn er [Kafka] vorlas - das war seine besondere Leidenschaft - dann unterordnete sich der Ausdruck des einzelnen Worts bei voller Klarheit jedes Lauts, in zuweilen schwindelerregendem Zungentempo, ganz einer musikalischen Breite der Phrasierung von endlos, endlos langem Atem und gewaltig sich steigernden Crescendi der dynamischen Terassen - wie ihn ja auch seine Prosa hat, deren abgeschlossene Stücke zuweilen wie die „Die Zirkusreiterin“ im Wunderbau eines einzigen Satzes gewachsen sind. Auch Max Brod kommt in seinen Lebenserinnerungen wiederholt auf Kafka, den Vorleser zu sprechen. Er findet, um den mitreißenden und fesselnden Eindruck zu beschreiben, den Kafkas Rezitationen hinterließen, ganz ähnliche Formeln wie Oskar Baum. In seiner Autobiographie „Streitbares Leben“ schreibt Brod: „Kafkas Vorlesungen waren immer feurig, in großartigem Aufbau der Perioden, im langen Atem hinreißend.“ Es ist schwer aus den vorliegenden Zeitdokumenten, Mimik und Gestik, Stimme und Tonfall Kafkas zu rekonstruieren. Sicher aber ist, dass Kafka kein „steifer“ Vorleser war. Im Gegenteil: Es konnte ihm durchaus geschehen, dass er sich selbst im Vorlesen unterbrechen musste, etwa dann, wenn der Text, den er las, ihn zu Lachen oder Tränen rührte. Kafkas Stimme hatte einen harten, für das Tschechische typischen Akzent; jedoch gelang es ihm, die Satzteile melodiös miteinander zu verbinden und so die Sinnphrasen innerhalb eines Satzes herauszukristallisieren. Kafka las vor allem die Literatur vor, die er liebte, zu der er eine Wahlverwandtschaft empfand. Er fühlte sich vor allem zu Kleist sehr hingezogen, dessen „Michael Kohlhaas“ er besonders liebte - und den er ja auch einmal öffentlich gelesen hat. Über diese von ihm sehr geschätzte Novelle schreibt Kafka in einem Brief an seine Verlobte

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Felice: „Gestern abend habe ich Dir nicht geschrieben, weil es über Michael Kohlhaas zu spät geworden ist (kennst Du ihn? Wenn nicht, dann lies ihn nicht! Ich werde Dir ihn vorlesen), den (...) ich in einem Zug gelesen habe. Wohl schon zum zehnten Male.“ Auch Max Brod erinnert sich in „Streitbares Leben“ daran, wie gern Kafka diese Novelle vorgelesen hat: Dagegen hat er [Kafka] im privaten Kreis der Freunde oft und wundervoll aus seinen eigenen Werken, besonders gern auch Kleistens „Michael Kohlhaas“ und die „Anekdote aus dem letzten preußischen Kriege“ vorgetragen (...) Auch zu den Eltern von Felix Weltsch ging er öfters, um dem alten kunstsinnigen Ehepaar Abschnitt für Abschnitt sein Lieblingswerk „Michael Kohlhaas“ zu Gehör zu bringen, und freute sich sehr an seiner Rezitation und deren Wirkung. Zu den Lieblingswerken Kafkas gehörte neben der Kleistschen Novelle sicherlich auch Grillparzers „Armer Spielmann“. Auf dieses Werk kommt Kafka in seinen Tagebüchern und Briefen wiederholt zu sprechen. In einem Brief an die Freundin Grete Bloch vom 15.9. 1914 schreibt Kafka über diese Novelle: Der „arme Spielmann“ ist schön, nicht wahr? Ich erinnere mich, ihn einmal meiner jüngsten Schwester [Kafkas Lieblingsschwester Ottla] vorgelesen zu haben, wie ich ihn niemals vorgelesen habe. Ich war davon so ausgefüllt, dass für keinen Irrtum der Betonung ,des Atems, des Klangs des Mitgefühls, des Verständnisses in mir Platz gewesen wäre, es brach wirklich mit einer unmenschlichen Selbstverständlichkeit aus mir hervor, ich war über jedes Wort glücklich, das ich aussprach. Neben Kleist, Grillparzer und Dostojewski fand Kafka noch zu Flaubert ein ähnlich enges Verhältnis. In einem Brief an Felice Bauer bezeichnet Kafka Flaubert als seinen Blutsverwandten und in einem anderen Brief an seine Verlobte nennt Kafka sich „ein geistiges Kind dieses Schriftstellers“, dessen „Education sentimentale“ ihm „durch

viele Jahre nahegestanden ist, wie kaum zwei oder drei Menschen.“ Wie sehr Kafka dieses Buch geliebt haben muss, geht noch aus einer anderen Briefstelle hervor: Als Kind – vor ein paar Jahren war es noch – träumte ich gern davon, in einem großen mit Menschen angefüllten Saal – allerdings ausgestattet mit einer etwas größeren Herz-, Stimm- und Geisteskraft als ich sie augenblicklich hatte – die ganze „Education sentimentale“ ohne Unterbrechung so viele Tage und Nächte lang, als sich dafür notwendig ergeben würde, natürlich französisch (o du meine liebe Aussprache!) vorzulesen und die Wände sollten widerhallen. Kafka fühlte sich mit Flaubert zudem noch durch deren gemeinsame Liebe zu schönen Sätzen verbunden. In Kafkas Handbibliothek befand sich ein Bändchen von François Coppée, „Souvenirs d‘un Parisien“, welches er wohl vor allem wegen der Erinnerungen Coppées an Flaubert schätzte. Das letzte Kapitel dieses Bändchens führt den Titel „Les belles phrases de Gustave Flaubert“. In diesem Kapitel erzählt Copée, dass Flaubert, der viele schöne Prosasätze von Klassikern, aber auch von weniger bekannten Autoren auswendig wusste, diese seiner „Brüll-Methode“ unterwarf, um so die tatsächliche Qualität dieser Sätze zu überprüfen. Flauberts Theorie war nämlich, dass ein wirklich guter Satz diese Probe unbeschadet überstehen müsste. Kafka, der sich an dieser Episode ergötzen konnte, versuchte es Flaubert nachzutun. Später schenkte er seinem Freund Max Brod dieses Bändchen – eine Eigenart Kafkas, der es liebte, von ihm geliebte Bücher zu verschenken und aus ihnen vorzulesen. Max Brod erinnert sich in seiner Biographie „Über Franz Kafka“: „Ich habe es noch heute im Ohr, wie Kafka mir den letzen Teil dieser Episode vorlas. Es war, als wäre Flaubert selbst lebendig geworden. (...) Kafka lächelte und hatte Tränen in den Augen, als er mir das vorlas.“ Außer aus den hier bereits erwähnten Werken hat Kafka nachweislich aus


Werken von Tolstoi, Nietzsche, Plato und Mörike vorgelesen. Jedoch waren es nicht nur die Werke der schöngeistigen Literatur, die es Kafka reizte vorzutragen. Er lehnte eine von der Literaturgeschichte und -kritik vorgegebene Scheidung in eine sogenannte gute und in eine lediglich unterhaltende ab und wollte zu einem selbständigen Urteil gelangen. So konnte ihn eine hübsche feuilletonistische Wendung entzücken. Und er scheute sich keineswegs, eine Stelle aus dem Roman eines Autors vorzulesen, den man zu seiner Zeit als Kitschautor zu verwerfen pflegte. Sein einziges Kriterium war der Enthusiasmus, den ein Satz in ihm auslösen konnte. Kafka, dem es wenig lag, abstrakte Gespräche über Literatur zu führen, konnte seiner Begeisterung für ein Buch am besten Ausdruck verleihen, indem er längere Passagen daraus seinen Freunden vorlas. So erinnert sich Max Brod in seinem Roman „Zauberreich der Liebe“, welcher in der Gestalt des Richard Garta ein Portrait Franz Kafkas enthält: Garta [Franz Kafka] überredet nicht, das ist nicht seine Art, auch entwickelt er kein System, das Systematische liegt ihm überhaupt nur wenig. Er liest nur immer wieder diese und jene Stelle seines Lieblingsautors vor... Kurz er wirbt nicht für seinen Erwählten, er sieht immer klar, Klarheit ist auch in seiner schrankenlosen Bewunderung, niemals versucht er Christof [Max Brod] zu überrennen; indes ist es bald soweit, dass Christof für die Schriften brennt. So hat Kafka seinen Freund Max Brod mit Stefan George und chinesischer Lyrik bekannt gemacht. Und mit Robert Walser, dessen kleine Erzählung „Gebirgshallen“ Kafka Max Brod unter teils unterdrücktem, teils laut herausbrechendem Lachen vorgelesen hat. Für Kafka war das Vorlesen vor allem deshalb so wichtig, weil er darin eine Möglichkeit suchte und fand, eine intensive Nähe zur Literatur zu ge-

Christiaan Tonnis, Franz Kafka, 1985 winnen. Kafka, für den die Literatur lebensnotwendig war wie Atmen, fand oft häufig archaisierende, fast mythisch anmutende Metaphern, um diese Nähe zur Literatur auszudrücken wie etwa: „Strindberg, der mich nährt“. Dementsprechend versuchte er im Vorlesen, sich den anderen Autor gleichsam einzuverleiben, mit ihm zu verschmelzen, eins zu werden. So schreibt Kafka in einer Tagebuchnotiz: Nicht dass ich überzeugt wäre, dass ich im Vorlesen etwas Bedeutendes erreichen würde, vielmehr beherrscht mich die Sucht, mich an die guten Arbeiten, die ich lese, so sehr heranzudrängen, dass ich mit ihnen in eins verfließe. Es spricht für Kafkas selbstkritisches Wesen, dass er dieses „falsche Gefühl der Einheit mit dem Vorgelesenen“, wie er in seinem Tagebuch notiert, als eine Form der Eitelkeit entlarvt. Psychologisch interessant ist, dass Kafka eine Art „Medium“ braucht, um im Vorlesen in jene ersehnte Nähe zum

vorgetragenen Text zu gelangen. Als ein für ihn geeignetes Medium erweisen sich seine Schwestern: „Nicht durch mein[en] Verdienst“, so notiert er in seinem Tagebuch, „sondern nur in der durch das Vorgelesene aufgeregten und für das Unwesentliche getrübten Aufmerksamkeit meiner Schwestern“ gelingt ihm jene ersehnte Einheit. Und in diesem Zustand liest er nach eigenem Urteil denn auch „tatsächlich bewundernswert“ und „erfüll[t] manche Betonung mit einer meinem Gefühl nach äußersten Genauigkeit“. Liest er aber seinen Freunden vor, etwa Oskar Baum oder Max Brod, die wahrscheinlich kritischere Zuhörer waren als seine Schwestern, so gelingt es ihm nicht, in jene gleichsam mythische Nähe zum Vorgetragenen zu gelangen. Er braucht das Gefühl, dass die Zuhörer ihm abnehmen, dass er mit dem Text verschmilzt. Muss er erkennen, dass „der Zuhörer die Sonderung zwischen mir und dem Vorgelesenem aufrecht erhält“, wie er es einmal in seinem Tagebuch beschreibt, so wird sein Vortrag

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lustlos und er versucht nicht wirklich in den Text einzudringen. Dann wird das Vorlesen zu einem schalen Erlebnis: „... ohne Eitelkeit ruhig und entfernt zu lesen und leidenschaftlich nur zu werden, wenn meine Leidenschaft es verlangt, das kann ich nicht leisten.“

Peter Krämer, Dr. Jörg Steckhan RINKE TREUHAND GmbH – www.rinke.eu

DIE KENNTNISSE UND FÄHIGKEITEN DER NÄCHSTEN GENERATION ENTSCHEIDEN ÜBER DEN ERFOLG IN DER ZUKUNFT.

NACHHALTIG GUT BERATEN.

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Dass für Kafka das Vorlesen ein ungewöhnlich intensives Erlebnis war, dass das Vorlesen ihm gleichsam zum Paradigma eines Lebens in der Literatur geriet, das kann den nicht wundern, der weiß, wie stark, mit welch körperlicher Intensität Kafka Sprache empfunden hat. Um das Gefühl wiederzugeben, das ein schlecht formulierter, ein mangelhaft vorgetragener Satz in ihm erzeugen konnte, benutzte er einmal folgenden Vergleich: „Ein Satz reibt sich an dem anderen, wie die Zunge an einem schlechten oder falschen Zahn.“ Auch sein eigenes Vorlesen erlebt er mit solcher Sensitivität. In einer Tagebuchnotiz vom 31. Oktober 1911 etwa heißt es: „Die Novellen von Wilhelm Schäfer lese ich besonders beim lauten Vorlesen mit ebenso aufmerksamen Genuss, wie wenn ich mir einen Bindfaden über die Zunge führen würde.“ Wilhelm Schäfer (1868-1952) ist ein heute fast vergessener Schriftsteller. Mit Kafka teilte er die Liebe zu J.P. Hebel und Kleist. Das Vorlesen dürfte für Kafka auch eine wichtige soziale Rolle gespielt haben. Dies galt natürlich in besonderer Weise für den Freundes- und Bekanntenkreis Kafkas, dem neben den bereits Erwähnten auch Otto Pick und Ernst Weiß angehörten. Sie alle hatten auf die eine oder andere Weise mit Literatur zu tun. Prag hatte zu Kafkas Zeiten etwa drei Millionen Einwohner, von denen nur knapp dreißigtausend deutschsprachig waren. Die gemeinsame deutsche Sprache ließ diese Prager näher aneinanderrücken und wurde – vielleicht mehr als sonst – zum Träger kultureller Identifikation. Für Kafka, den „heimatlosen Westjuden“, der neben dem Tschechischen auch Hebräisch lernte, um seine von ihm empfundene Isolation zu überwinden, war das Identifikationsproblem besonders groß - und es erscheint

durchaus sinnvoll anzunehmen, dass für Kafka die Literatur und die zu ihr im Vorlesen gesuchte Nähe eine Möglichkeit darstellte, diese Identifikationsprobleme zu mildern. Kafka hat im Vorlesen nicht nur die Nähe zur Literatur gesucht, sondern auch zu den Menschen, denen er vorlas. Es ist nicht uninteressant, sich vor Augen zu führen, dass Kafka ja nicht nur im Freundes- und Literatenkreis vorgelesen hat, sondern auch und vor allem den ihm nahestehenden Frauen. Der bekannte Kafka-Forscher Hartmut Binder hat darauf hingewiesen, dass das Vorlesen eine der Grundlagen der besonders engen Beziehung zwischen Kafka und seiner Lieblingsschwester Ottla war. Und so wie Kafka seiner letzten Lebensgefährtin Dora Dymant vorgelesen hat, so hat auch schon der siebzehnjährige Gymnasiast Franz seiner ersten Jugendfreundin Selma Kohn vorgelesen. An dieses Erlebnis erinnert sich Selma Kohn in einem Brief an Max Brod. Und mit dieser schönen Erinnerung an Kafka den Vorleser wollen wir diese Reise in eine Zeit und einen Ort ausklingen lassen, der „nur“ ein Jahrhundert zurück liegt und doch nach dem Tod der Griots von Prag Lichtjahre entfernt scheint: Wer bin ich? Die Tochter des Oberpostmeisters Kohn aus Roztok bei Prag. Kennen Sie Roztok, den Wald? Erinnern Sie sich an den steilen Weg dahin und wie man plötzlich auf der herrlichsten Waldlichtung steht, das hohe Grab voll Himmelschüssel, Marientränen, Glockenblumen und mitten darin eine sehr alte Eiche! Unter dieser Eiche sind wir Kinder, Franz und ich, oft gesessen und er hat mir Nietzsche vorgelesen, was und ob ich verstand, Dr. Brod, es liegen 55 Jahre dazwischen, wir haben uns angeschwärmt, wie man damals war... Heiner Bontrup


ROCK’N’ROLL Dietrich Rauschtenberger geb. 1939 in Schwelm Trommelt seit den fünfziger Jahren, zuerst Tanzmusik und traditionellen Jazz, später Modern Jazz und Bebop. Anfang der sechziger Jahre Free Jazz mit Peter Kowald und Peter Brötzmann. Seitdem Auftritte im In- und Ausland. Seit einigen Jahren spielt er auch Saxofon. Er veröffentlichte Musik und Prosa, präsentierte eigene Texte mit Musik und war Darsteller bei Theaterstücken. In seinem Theater-Solo Die Kunst ein Schlagzeug aufzubauen erzählt er aus seinem Leben als Musiker. 2006 veröffentlichte er das Hörspiel Wie wir den Freejazz erfunden haben. Er ist einer der Autoren des Wuppertaler Jazzbuchs Sounds like Whoopataal. 2009 veröffentlichte er im Verlag „Das Fünfte Tier“ den Erzählband Jazz und Ikebana.

Foto: Dieter E. Fränzel

Als der Rock’n’Roll über ihn hereinbrach, hatte Paul Trombeck gerade den Möhreneintopf zum Aufwärmen auf den Herd gestellt. Am Küchentisch saß Dölfi Kampschulte, der gekommen war, um mit Paul über neue Engagements für ihre Kapelle zu sprechen, die Cocktail Combo, mit der sie in Wuppertal und Umgebung zum Tanz aufspielten. Jeden Freitag und Samstag, fünf Stunden am Abend, pro Stunde zehn Mark. Wenn man Geld verdienen wollte, musste man vom Heideröslein singen, davon waren sie überzeugt, aber tief im Herzen waren sie echte Jazzer. Dölfi hätte am liebsten nur Bebop gespielt. Bebop, so hieß der neue Jazzstil aus New York. Nun schwadronierte er über die Band, der er aufmachen wollte. Das Repertoire sollte überwiegend aus Stücken von Charlie Parker bestehen, dem besten Saxofonisten des Bebop. Dass Bird, wie Parker von seinen Fans genannt wurde, 1955 am Rauschgift gestorben war, interessierte Dölfi nicht weiter. Parker war sein Gott. Er spielte Altsaxofon wie Parker, er hatte alle Platten, die man 1961 in Deutschland von ihm bekam und er konnte

viele seiner Improvisationen auswendig nachspielen. Wenn es sein musste, kopierte er sogar die Kratzer auf den Platten. Die Idee mit der Bebop-Combo war nicht neu, aber Dölfi war wieder mal durchdrungen von ihr und brauchte jemanden, der ihm zuhörte, und wer war da besser geeignet als sein Freund, der „Tricktrommler“ Paul Trombeck. Auf dem Küchenschrank plärrte das Radio vor sich hin, mit dem Paul vor ein paar Jahren in der Wohnküche seiner Eltern Voice of America gehört und sich dabei mit dem Jazz-Virus infiziert hatte. Dölfi schimpfte jetzt auf den Posaunisten Hans Notenbast, den er hasste, weil er mit allen Regeln des Jazz gebrochen hatte: „Der soll erst mal lernen, Blues zu spiel …“ Ihm blieb mitten im Wort die Spucke weg. Paul fiel die Maggiflasche in die Möhren. „Mach mal lauter!“ Das Radio spielte einen Song, der anders klang, als alles, was sie bis dahin gehört hatten. Sie lauschten mit offenen Ohren und Nasen, bis das Radio sagte: „Das waren die Beatles mit A Hard Day’s Night.“ Inzwischen war der Möhreneintopf

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angebrannt. So lernte Paul, dass Möhreneintopf angebrannt noch besser schmeckt. Das sollte nicht die einzige Wirkung der Beatles bleiben, denn der Rock’n’Roll-Virus war hochgradig ansteckend. Auch Dölfi war nicht immun – trotz Charlie Parker. Kein Musiker war immun – keiner außer Notenbast. Aber dem Posaunisten gefiel sowieso nur das freie Zeug, das er selbst spielte. Pauls Dilemma war, ob er mit seinem alten Kumpel Dölfi Kampschulte Bebop spielen sollte, was er nicht wirklich konnte, oder mit Notenbast Freejazz, den nur ein paar verrückte Kunststudenten für Musik hielten. Paul haute je eine Kelle Eintopf auf die Teller, klatschte eine Portion Senf auf den Rand und schnitt das Würstchen in zwei Hälften, aber Dölfi kriegte vor Aufregung nichts runter. Vor zehn Minuten hatte er noch von Charlie Parker geschwärmt, jetzt wollte er wissen, woher er die Noten von A Hard Day’s Night kriegen könnte. „Den Song müssen wir unbedingt mit der Cocktail Combo spielen.“ Dass soeben das Ende ihrer Tanzkapelle eingeläutet worden war, konnte er nicht wissen und auch nicht, dass kein Stein auf dem anderen bleiben würde, weder kulturell noch politisch. Der Rock’n’Roll hatte einen neuen, aufregenden Rhythmus, durch den Paul zuerst nicht durchblickte. Die Art und Weise, wie man Schlagzeug spielte, änderte sich. Bis dahin war es wichtig gewesen, dass ein Schlagzeuger den eleganten Jazz-Rhythmus spielen konnte, der auf dem Becken weich und organisch dahineilte: tschicke-dingtschicke-ding-tschicke-ding-tschicke-ding. Paul konnte das ziemlich gut. Leider war das nicht mehr gefragt. Über Nacht waren maschinenartig ratternde Rhythmen angesagt. Das Publikum wollte Let’s Twist again like we did last summer. Paul schaffte es sich drauf, schnelle Sechzehntel zu klopfen: tá-ta-ta-ta tá-ta-ta-ta tá-ta-ta-ta tá-ta-ta-ta und so weiter, bis ihm der Arm abfiel. Er spielte den Twist auf der Beckenmaschine, die überraschend ihren Namen geändert hatte. Früher hieß sie Charleston-Maschine nach einem längst ausgestorbenen Tanz, jetzt nannte man sie Hihat und keiner wusste, wie das geschrieben wurde. Bis dahin hatte er sie vornehmlich mit dem Fuß gespielt, um den Off-Beat auf zwei und vier zu markieren oder das Thema zu begleiten - plötzlich wurde sie zum wichtigsten

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Instrument neben großer und kleiner Trommel, die neuerdings Bass Drum und Snare Drum hießen. Pauls ganzer Stolz, ein Becken von der Firma Paiste, hieß jetzt Ride Cymbal und hatte statt fünfzig Zentimetern Durchmesser auf einmal achtzehn englische Zoll, was dasselbe war und nichts an dem unbefriedigend dünnen Klang änderte. Paul kniff ein Stück von der Kette der häuslichen Klospülung ab und hängte es über das Becken, um seinen Sound mit dem stetigen Zischeln von Metall auf Metall zu füllen. Sein Vater wunderte sich, wieso er den Porzellangriff nicht mehr erreichte, wenn er auf dem Topf saß. „Vielleicht bist du geschrumpft“, sagte Paul, worauf der Alte ihm Ohrfeigen androhte. Leo Fender hatte gerade die elektrische Gitarre erfunden und Les Paul machte sie populär - allerdings auf einer Gibson. Mit seiner Partnerin Mary Ford hatte er zwei Hits: How High the Moon und The World Is Waiting for the Sunrise. Damit Egon Staal, der Gitarrist der Cocktail Combo, diese Stücke spielen konnte, schraubte Hotdog Haller, Klavierspieler und Elektro-Bastler, einen Tonabnehmer an Egons Gitarre. Als Verstärker benutzten sie das Radio von Egons Eltern (Marke Saba, Modell Schwarzwald), das Hotdog umgelötet hatte. Das klang wie Mülltonne ganz unten. Hotdog elektrifizierte auch sein asthmatisches Akkordeon. Ein dicker Kabelstrang quoll daraus hervor, der zu einem schwarz lackierten Holzkoffer führte. Darin befand sich ein Elektronik-Bausatz, der aus der Quetschkommode eine Orgel machte. Früher hatte Pauls Mutter alle paar Wochen gesagt: „Du siehst ja verboten aus“, hatte ihm fünfundsechzig Pfennig in die Hand gezählt und ihn zu Meister Eberhard geschickt, dessen vernickeltes Seifenbecken über der Ladentür quietschend im Wind schaukelte. Neuerdings war es eine ernst zu nehmende Beschäftigung, sich die Haare wachsen zu lassen, wo doch ein Jazzer, der was auf sich hielt, die Haare kurz geschoren trug wie ein amerikanischer Soldat. Es schien eine englische Haarkrankheit zu sein, die epidemisch um sich griff. Nicht nur die Frisuren änderten sich. Bob Dylan sang: The times they are a-changin’. Manches wurde besser, vieles lustiger, das meiste nur bunter. Die musikalische Gleichschaltung hatte begonnen. Was war die Nazi-Propaganda schon gegen das, was jetzt abging – und

zwar weltweit. In den Tonstudios wurde der Herzschlag der Generation mit einem elektronischen Schrittmacher versehen. Es dauerte nicht lange, bis die Musikindustrie nicht nur Instrumente produzierte, sondern auch die Musiker, die sie spielten. Die Cocktail Combo war eine beliebte Showband, die sich um Engagements keine Sorgen zu machen brauchte. Bis dahin hatte es keinen Grund gegeben, am Konzept der Cocktail Combo etwas zu ändern, sie machten da weiter, wo Tanz- und Unterhaltungskapellen vor dem zweiten Weltkrieg angefangen hatten. Eben hatten sie noch den Saal der Concordia mit Ice Cream zum Toben gebracht – plötzlich fragten die Leute nach Stücken wie Roll over Beethoven und Satisfaction. Es war noch gar nicht so lange her, da hatte Paul in der Lichtburg, dem ehrwürdigen Kino, Gary Cooper in Zwölf Uhr mittags gesehen, jetzt standen dort junge Männer auf der Bühne und schwangen elektrische Gitarren wie Penis-Attrappen. Hinter ihnen türmten sich drohend schwarze Lautsprecherboxen, die mit unbarmherziger Grausamkeit die Botschaft des elektronischen Zeitalters verkündeten: All you need is love. Dagegen war Egon mit seiner umgefickten Klampfe und dem erbärmlichen Radio als Verstärker eine Lachnummer. In der westlichen Welt probten Studenten die Weltrevolution, passend dazu war die aufblasbare Musik erfunden worden und Pauls Haare wucherten endgültig über die Ohren. Boxer Nelken, der Bassist der Cocktail Combo, lieh sich den Opel Rekord von seinem Vater und Dölfi, Egon, Hotdog und Paul quetschten sich hinein. Paul nahm Boxers Schwester Astrid auf den Schoß, die scharf auf ihn war und eine Karriere als Sängerin anstrebte. So fuhren sie auf Rockkonzerte, wo Paul fasziniert zuschaute, wie schwitzende Trommelknaben mit nackten Oberkörpern und langen Haaren unter bunten Scheinwerfern einen auf wild machten und mit flinken Füßen auf zwei Basstrommeln vertrackte Akzente spielten. Bei der Anzahl der Trommeln und Becken schien es nach oben keine Grenze zu geben. Zu Hause betrachtete Paul missmutig sein Schlagzeug der Marke Tromsa mit drei Trommeln, dessen einziger Vorteil war, dass er es mit seinem Moped transportieren konnte. Dölfi zerbrach sich den Kopf, ob Saxofon noch das richtige Instrument wäre, um das


neue Lebensgefühl auszudrücken, das die Jugend der sechziger Jahre durchdrang bis in die Socken. Und ob sie die Cocktail Combo in The Cocks umbenennen sollten. An die Charlie-Parker-Gedächtnis-Combo dachte er nicht mehr. So war Pauls einzige musikalische Alternative zur Tanzmusik ein Trio mit dem Posaunisten Hans Notenbast und Boxer Nelken am Bass. Sie spielten Freejazz in zugigen Fabrikhallen bei Ausstellungseröffnungen von Fluxus-Künstlern, die gebrauchte Kondome und rostige Gabeln in ihre Werke einarbeiteten. Erstaunlicherweise gab es ein Publikum von Gegeninteressierten, das auf Freejazz stand. Leider verdienten sie damit nicht das Ketchup auf den Nudeln. Und die altmodische Tanzmusik der Cocktail Combo war auch nicht mehr angesagt. Operetten, deutsche Schlager, Tango, Dixieland und die Keuschheit vor der Ehe waren verkeimt wie Kartoffeln aus dem Vorjahr. Innerhalb von ein oder zwei Jahren war es mit den Tanzlokalen vorbei. Die Landgaststätten, wo sie gut verdient hatten, schlossen eine nach der anderen. Getanzt wurde nun in Diskotheken, die Pferdestall, Route 66 oder Starclub hießen, und die Musik kam von Schallplatten. Tanzen war zu einer Übung mutiert, bei der Frauen und Männer einander gegenüberstanden und gymnastische Bewegungen machten, die aussahen wie eine Nummer im Stehen. Als Paul im Frühjahr fünfundsechzig finanziell das Wasser bis zum Hals stand, arbeitete er als Fahrer für eine Großküche. Das war der untere Totpunkt. Er war zweiundzwanzig, musikalisch völlig daneben, aber von Noten wollte er immer noch nichts wissen. Eines späten Abends saßen Paul, Dölfi und Notenbast in der Küche und tranken Rotwein. Dölfi verkündete gerade seinen neuesten Plan, Rock’n’Roll und Jazz in einer Band zu vereinigen, als es klopfte. Herein kamen Boxer und seine Schwester Astrid. Boxer tat sehr geheimnisvoll. Paul musste die Tür abschließen und Kerzen anzünden. Volunteered Slavery von Roland Kirk wurde aufgelegt, dann holte Boxer aus seiner Teppichtasche ein Päckchen Tabak, Blättchen und einen braunen Klumpen, der aussah wie ein MaggiWürfel. „Ist das Rauschgift?“, fragte Paul ehrfürchtig. Boxer nickte knapp, klebte drei Blättchen zusammen, schichtete Tabak darauf und bröselte etwas von dem braunen Zeug darüber. Dann formte er eine tütenförmige Zigarette mit einem Mundstück aus einem Pappröllchen. „Das ist ein Joint“, sagte er

und zeigte ihnen, wie man ihn rauchte. In den nächsten Wochen probierten es alle mal aus. Paul fand, es regte seine Fantasie an. Notenbast machte sich nichts draus, er blieb bei Alkohol. Dölfi merkte erst nichts und als er dann doch was merkte, bekam er schreckliche Angst und versuchte es nie wieder. Astrid zog gelegentlich an einem Joint, ihr bedeutete es nicht viel. Boxer war derjenige, dessen Entwicklung vom Haschisch am nachhaltigsten beeinflusst wurde. Ob er sein Jurastudium beendet und die Anwaltskanzlei seines Vaters fortgeführt hätte, wenn er nicht von dem Zeug abhängig geworden wäre – wer weiß das schon? Er hatte Phasen, da wollte er clean werden und versuchte es mit Meditation. Als das nicht funktionierte, ging er auf den Jesus-Trip, mit meditativem Gebet und so weiter. Eine Woche hielt er durch, dann fing er wieder an zu kiffen. Das war der erweiterte Jesus-Trip. „Besser ’n bekiffter Bassist als ’n besoffener Verteidiger“, sagte er. Wem das nicht passte, dem erklärte er: „Ohne Drogen

gäbe es keinen Jazz und Rock’n’Roll schon gar nicht, ich denk mal, es gäbe überhaupt keine Musik.“ Es konnte nicht ausbleiben, dass sich Widerstand gegen den Rock’n’Roll regte. Vertreter verschiedener Glaubensrichtungen nannten ihn eine Musik des Teufels. Bekanntlich hat der Teufel eine Vorliebe für heiße Musik, insofern lagen die Moralapostel nicht völlig daneben. Ob es nun mit dem Teufel zuging oder nicht - die Cocktail Combo hatte keine Jobs mehr. Von heute auf morgen waren die Musiker der Cocktail Combo arbeitslos. „Wir müssen aufpassen, dass es uns nicht so geht wie den Sauriern und wir aussterben“, sagte Dölfi. Aber da war es schon zu spät. Dietrich Rauschtenberger www.rauschtenberger.com

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Das Verhängnis begann in Wuppertal Das Verhängnis begann an der damaligen Adolf-Hitler-Allee: Vor der Wuppertaler Gestapo gab die mit einem „Arier“ verheiratete Jüdin Helene Krebs bei Verhören am 7. und 15. September 1942 zu, ihrer Cousine Edith Meyer für einige Tage Unterschlupf gewährt zu haben. Helene und Paul Krebs waren von einer Nachbarin denunziert worden, die wohl auf diese Weise hoffte, günstig an die Aussteuer Edith Meyers zu gelangen. Als sich Ende September 1942 herausstellt, dass die Solingerin Helene Krebs im dritten oder vierten Monat schwanger ist, gibt die Außenstelle Wuppertal der Geheimen Staatspolizei zu bedenken, dass die „vorgesehene Inschutznahme Ein unglaubliches Buch, das der österreichische Jurist Alfons Dür geschrieben hat. Vor allen Dingen eine Geschichte, die ohne sein beharrliches und sich über Jahre erstreckendes Wühlen in Archiven sowie ohne hartnäckiges Korrespondieren mit Behörden, Überlebenden des Naziterrors und anderen Historikern nie zustande gekommen wäre.

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und Überweisung in ein Konzentrationslager“ aus diesem Grund „nicht erfolgen“ könne. Vergeblich: Die vorgesetzte Leitstelle in Düsseldorf wendet sich schriftlich an das „Judenreferat“ im Berliner Reichssicherheitshauptamt, das entscheidet, dass Helene Krebs in das „KL Auschwitz, Frauenabteilung“ zu überführen sei. Dort findet sie Anfang Januar 1943 den Tod. Die Geschichte um das Ehepaar Krebs und um die Hauptpersonen Edith Meyer und Heinrich Heinen hat der Vorarlberger Ex-Landesgerichtspräsident Alfons Dür in seiner Dienstzeit und, mehr noch, nach seiner Pensionierung ans Tageslicht gebracht. Vor einigen Tagen hat er


sein Buch in der Begegnungsstätte Alte Synagoge vorgestellt. Es trägt den Titel „Unerhörter Mut – Eine Liebe in der Zeit des Rassenwahns“. Eine unglaubliche Story: Der 20-jährige Kölner Heinrich Heinen lernt 1940 die gleichaltrige Edith Meyer kennen und lieben. Er schafft zu Ostern 1942 das schier Unmögliche und befreit seine mittlerweile deportierte Freundin unter wohl für ewig ungeklärten Umständen aus dem Ghetto von Riga. Anschließend reisen die beiden rund 3.000 Kilometer unentdeckt – illegal – durch Deutschland bis nach Feldkirch, um von diesem bis zum „Anschluss“ 1938 österreichischen Ort in die Schweiz zu fliehen. Die Flucht scheitert. Aus dem Gefängnis von Feldkirch bricht Heinen mit Mithäftlingen aus und versucht noch, dabei seine große Liebe zu befreien, die jedoch kurz zuvor den Gang ins Konzentrationslager Auschwitz angetreten hat, wo sie auch umkommt. Auch Heinen wird gefasst und „auf der Flucht erschossen“. Das Buch ist im Haymon-Verlag (Innsbruck/Wien) erschienen und im hiesigen Buchhandel für 19,90 Euro zu erwerben. Von einer „außergewöhnlichen Veröffentlichung“ sprach bei der Lesung in der Begegnungsstätte deren Leiterin, Dr. Ulrike Schrader: „Die Geschichte über das Liebespaar Heinrich Heinen und

Edith Meyer, aber auch über den Kampf von Paul Krebs um seine schwangere, im Wuppertaler Polizeipräsidium einsitzende Frau Helene ist unendlich traurig. Aber zugleich zeigt sie Menschen, die in dem aussichtlosen Kampf um ihre Liebe nicht aufgeben wollen und dafür bis zum Letzten gehen.“ Das sei „ein packender, tragischer Filmstoff, und dazu das Drehbuch zu schreiben, vielleicht mit einer Wuppertaler Schulklasse, wäre eine sinnvolle Herausforderung“. Herausgefordert fühlte sich auch Dür, als ihn 1997 eine erste Anfrage des Landenfelder Historikers Günter Schmitz erreichte, ob es am Landesgericht Feldkirch Unterlagen über die versuchte Flucht von Edith Meyer und Heinrich Heinen gebe. Wenig später meldete sich ein weiterer Geschichtsforscher, Holger Berschel, mit einem ähnlichen Anliegen. Im Jahre 2005 stieß Dür dann bei Recherchen für eine Jubiläumsschrift des Landesgerichts auf erste Unterlagen, drei Jahre später auf weitere Dokumente. Mit dem Buch versucht er nach eigenem Bekunden aufzuzeigen, „welch großes Leid die nationalsozialistische Rassenpolitik über Tausende von Menschen brachte, und wie schwierig es in jener verhängnisvollen Zeit war, dem Herrschaftsapparat des Nationalsozialismus zu entfliehen“. Das „vorrangigste Ziel“ der Veröffentlichung bestehe darin, „die bedrückende

und berührende Geschichte von Heinrich Hansen und Edith Meyer in das Gedächtnis der Gegenwart zurückzuholen und das Schicksal dieses Liebespaares vor dem Vergessen zu bewahren“. Zahlreiche Fotos und Dokumente hat Dür in sein Buch hineingenommen. An geeigneter Stelle nimmt er Bezug auf die weitverzweigte NS-Forschung und auf Zeitzeugenberichte wie diejenigen von Victor Klemperer. Und: Der Autor schreibt auf eine sehr anschauliche Art. Dem Buch ist die größtmögliche Verbreitung nicht zuletzt im Bergischen Land zu wünschen.

Matthias Dohmen Foto: Dohmen www.zeit.de/2012/10/Oe-Duer

The art of tool making

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Geschichtsbücher, Buchgeschichten Vorgestellt von Matthias Dohmen

Bilder der Beatles, der Rolling Stones und von Twiggy leiten das Buch „Swinging London“ von Rainer Metzger ein. Sowohl der Frau ohne Busen als auch den Rollenden Steinen und den Pilzköpfen begegnen wir in dem mit 342 Abbildungen versehenen Werk noch öfter, aber auch dem Musical „Hair“, den Bond-Filmen, dem Streifen „Blow-Up“, Jimy Hendrix, dem Minirock, für den demonstriert wurde, dem EMFußballfinale 1966 und Christine Keeler, die zu kennen einen britischen Verteidigungsminister sein Amt kostete. Auch die großen Aktionen der Friedensbewegung fi nden in Text und Bild ihren Niederschlag. Ein grandioses Werk, das Personen und Vorgänge wieder lebendig werden lässt, die einem gut, weniger gut oder auch schon gar nicht mehr in Erinnerung waren. Verdienstvoll: ein Personenregister und auf zehn Seiten rund 160 Kurzbiographien etwa von Ursula Andress und Michelangelo Antonioni, Samuel Beckett und Petula Clark, Sean Connery und Aldous Huxley, Stanley Kubrick und Doris Lessing, Yoko Ono und John Osborne, Vanessa Redgrave und Peter Sellars oder der Musikgruppen The Kinks, Pink Floyd, The Shadows und The Who sowie der Comedy-Truppe Monty Python. Christian Brandstätter, Swinging London. Kunst & Kultur in der Weltstadt der 60er Jahre, München: Deutscher Taschenbuchverlag 2011 (= dtv, Bd. 34714). 368 S., 29,90 Euro

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Im Osten „westlich sozialisiert zu werden“, „jedoch ohne die sich im Westen etablierende Vorstellungen von der Integration in die noch zu schaffende Demokratie kritiklos zu akzeptieren, so etwas ging damals wohl nur in und um Berlin“. Das schreibt die prominente Historikerin Helga Grebing in ihren sehr persönlich gehaltenen Erinnerungen, die unter dem Titel „Freiheit, die ich meinte“ erschienen sind, über die unmittelbare Nachkriegszeit. Das Arbeiterkind kokettiert mit der CDU, verehrt zeitweise den streng marxistischen Geschichtswissenschaftler Alfred Meusel, überwirft sich aber mit der SED und geht mit einem sozialdemokratischen Parteibuch von der östlichen Humboldt- an die westliche Freie Universität.Sie hat in allen Phasen ihres Lebens ihren eigenen Kopf bewahrt. Grebing hat sie noch alle kennengelernt und bei ihnen gehört: Fritz Rörig, Fritz Hartung, Ernst Niekisch und Hans Rosenberg. Im Schmelztiegel der alten gedrittelten und später geviertelten Reichshauptstadt trifft sie auch auf Gerhard A. Ritter. Für weitere Auflagen, die Prof. Dr. Grebing und dem Verlag unbedingt zu gönnen sind, wünscht sich der Rezensent ein Personenregister. Helga Grebing, Freiheit, die ich meinte. Erinnerungen an Berlin, Berlin: vbb 2012, 176 S., 19,95 Euro

Pars pro toto: Was im Regierungsbezirk Münster den Verfolgten des Naziregimes nach der Befreiung angetan wurde (ein 2001 in zweiter Auflage erschienenes Buch spricht im Untertitel vom „Kleinkrieg gegen die Opfer“), geschah sehr vielen Antifaschisten. „Bürokratische Bewältigung“ heißt denn auch zutreffend die Studie von Julia Volmer-Neumann. Sozialdemokraten, Kommunisten, CDU-Leute, Katholiken und Juden umfassten die ersten Zusammenschlüsse etwa im Rahmen des Landesvorstands der nordrheinwestfälischen VVN (S. 106 f.), bevor es im Kalten Krieg zu Konkurrenzgründungen und letztlich zu einer „Fragmentierung der Interessenvertretung der Verfolgten“ (S. 111) kam. Diagramme und zahlreiche Abbildungen führen zu großer Anschaulichkeit, etwa bei der Wiedergabe einer Karikatur unter der Überschrift „Mensch, ärgere dich nicht über die Wiedergutmachung“. Fazit der Autorin: Die NRW– wie die bundesdeutsche Entschädigung war „angesichts des quantitativen und qualitativen Ausmaßes der nationalsozialistischen Verfolgungstaten unzureichend und unangemessen“(S. 477). Julia Volmer-Naumann, Bürokratische Bewältigung. Entschädigung für nationalsozialistisch Verfolgte im Regierungsbezirk Münster, Essen: Klartext 2012 (= Villa ten Hompel, Bd. 10), 507 S., 42,00 Euro


Neue Kunstbücher Zur Sprache der Architektur vorgestellt von Thomas Hirsch Mit der Architektur ist es so eine Sache. Einerseits ist sie funktional bestimmt, andererseits folgt sie der ästhetischen Handschrift zwischen Pragmatismus und Vision: Die Disziplin Architektur nimmt einen leicht ungeklärten Status innerhalb der Künste ein, zu denen sie zweifelsohne gehört. Bereits Giorgio Vasari hat sie in seine Beschreibungen aufgenommen. Die Zuordnung zur Kunst bestätigen Doppelbegabungen wie Brunelleschi oder Richard Buckminster Fuller. Eine weitere Dimension der Wertschätzung ist in der jüngsten Zeit hinzugekommen, mit der Definition als Stararchitekt. Aber was ist das: Ein Architekt, der in Zeiten, in denen die Umrundung der Erde ein Katzensprung ist, global Zeichen setzt? Der mit seinen Entwürfen das innerstädtische Bild prägt und zu dessen Attraktivität beiträgt? Gut für den Tourismus sind Gebäude von Gaudí und Friedensreich Hundertwasser und Frank Gehry. Dabei partizipieren Baumeister an Kunststilen und prägen ihrerseits diese mit. Einzelne Architekten entwerfen aber auch Gebäude, die sich nicht (auf Dauer) realisieren lassen, also ein hohes Maß künstlerischer Konzeption tragen.

Standardwerken erweist sich dabei ein neu erschienenes Buch im dtv-Verlag als hilfreich. Architektur. Das Bildwörterbuch des britischen Architekturhistorikers Owen Hopkins ist knapp, verständlich und anschaulich. Anhand von Risszeichnungen und beschrifteten Detailaufnahmen von Bauelementen werden die Begriffe der Verständigung geklärt und im Glossar ein wenig vertieft. Gut sind die Bildbeispiele, die von der Antike bis in unsere Gegenwart reichen, wobei es sich aber lediglich um westliche Sakral-, Repräsentations- und Profanbauten handelt. Und man darf nicht zu viel an Hintergrundinformationen erwarten – es geht ums Grundsätzliche, da leistet das Buch von Hopkins ganze Arbeit.

dell (ähnlich der Architekturfotografie) lange nicht besonders beachtet wurde: Es besaß temporäre dienende Relevanz. Das Buch, das sich auf die letzten hundert Jahre konzentriert, trägt den verschiedenen Ausformulierungen Rechnung, es differenziert sehr fein, thematisiert das utopische Potenzial und spricht das Verhältnis von Entwurf und Umsetzung an, indem es Ansichten der fertigen Gebäude integriert. Wahrscheinlich wurde keines der wichtigen zeitgenössischen Architekturbüros vergessen. Das Verdienst dieses monumentalen Buches ist zugleich sein Fluch: Es ist eine Pioniertat, aber im strengen Auflisten ist es des Guten zu viel. Und auch wenn Scheidegger & Spiess zu den besten Verlagen für Kunst gehört, hier bleibt der sinnliche Reiz auf der Strecke. Vielleicht aber ist das bei dieser Art Lexikon zu viel verlangt. Eine wieder andere Annäherung an Architektur demonstriert das Buch The Watermill Center, erschienen im ambitionierten DACO Verlag. Es widmet sich nur einem Gebäude und vor allem seinem Innenleben. Anlässlich des 70. Geburtstags von Robert Wilson und des 20. Gründungstages des Watermill Centers – das der weltberühmte Bühnenregisseur, der über Jerome Robbins hierher kam, auf Long Island realisiert hat – ist diese Dokumentation mit einer Menge an Texten und Fotos zugleich als eine

Folglich ist die Kenntnis von Architektur Teil des Grundwissens zur aktuellen Kunst. Neben den kunsthistorischen Deutsches Architekturmuseum (Hg.), dt./engl. Das Architekturmodell – Werkzeug, Fetisch, Kleine Utopie, 360 S., durchgehend bebildert, Hardcover mit Schutzumschlag, 30,5 x 23 cm, Scheidegger & Spiess, 65,- Euro

Owen Hopkins, Architektur. Das Bildwörterbuch, 175 S., durchgehend bebildert, Klappenbroschur, 27 x 21 cm, DVA, 29,99 Euro

Ein weiteres Überblicks-Buch auf dem Feld der Architektur ist mit seinem Erscheinen bereits ein Standardwerk. Das Architekturmodell, herausgegeben zu einer Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt/M., widmet sich dieser kleindimensionierten plastischen Darstellung zwischen beiläufiger Skizze und differenzierter Ausformulierung, sei es als Klärung für das eigene Büro oder als attraktive Veranschaulichung im Wettbewerb und für den Bauherren. Zur Notwendigkeit dieses Buches muss man wissen, dass das Architekturmo-

J. E. Macián u.a. , The Watermill Center – Robert Wilson‘s Legacy, engl., 360 S. mit ca. 470 üwg. farb. Abb., Leinen mit Schutzumschlag, 28,5 x 24,5 cm, DACO, 78,- Euro

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Art Festschrift für Wilson erschienen. Dabei ist das Buch wie das Watermill Center wohl sein wird: Es ist monumental, von einer pulsierenden Unruhe, eine komplexe Sache mit verschiedenen Abteilungen. The Watermill Center ist nicht der verwunschene Rückzugsort für Künstler oder eingeschworene Compagnien, sondern mehr eine geradlinige Elite-Uni heutigen Zuschnitts. Und alle waren schon da, die Pop-Musiker, die Künstler, all das wird hier gezeigt, auch die Kunstsammlung, die in den cleanen Funktionshallen leicht deplatziert wirkt. Das also soll die Zukunft und das Erbe von Robert Wilson sein, diesem großen Bühnen-Magier und Grenzgänger zwischen Bildender Kunst und Oper? Am solide gemachten Buch liegt es nicht. Aber je öfter Wilson selbst abgebildet ist, desto unpräziser wird seine Kontur. Die Architektur wird dabei zur funktionstüchtigen Hülle. Eines erkennen wir am Ende: Die Kunst von Robert Wilson findet woanders statt. Doch zurück zur Architektur als Architektur. Zu den aktuell wichtigen Baumeistern aus der weiten Welt gehört der Portugiese Eduardo Souto de Moura, der bei Álvaro Siza und Aldo Rossi gelernt und selbst 2011 den Pritzker-Preis erhalten hat, das ist eine Art Nobelpreis für Architekten. Souto de Moura lässt die Fassaden kippen und verwirklicht dies bei unterschiedlichen Funktionstypen, dies reicht von Fabrikanlagen bis zu Fußballstadien. Ein angenehm handliches Buch stellt nun Souto de Mouras Baukunst auf relativ indirekte Weise vor. Es zeigt sein Archiv- und Bildermaterial, das an die Wand gepinnt ist, seien es Postkarten, Zeitungsschnipsel mit Bewegungsstudien, Fotos von Kunstwerken oder die eigenen Skizzen: Das ist der Kosmos, aus dem heraus er seine Architektur gewinnt. Leider sind die profunden, das Buch noch strukturierenden Texte lediglich in Englisch, aber Lars Müller Publishers versteht sich als internationaler Verlag mit einem theoriebestimmten Schwerpunkt auf Architektur. Und wenn man sich in das Buch zu Souto de Moura eindenkt, kommt man sehr auf seine Kosten. Immer wieder sind seine Bauten selbst zu sehen. Zugleich entstehen aus den

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Floating Images – Eduardo Souto de Moura‘s Wall Atlas, engl., 160 S. mit 202 üwg. farb. Abb., Hardcover, 21,5 x 15 cm, Lars Müller Publishers, 38,- Euro Gegenüberstellungen aus unterschiedlichen visuellen Bereichen Typologien, die Grundsätzliches zu Fragen des Bauens mitteilen. Was wir hier sehen, ist ein Kompendium möglicher Bauformen im Kontext eines Architekten: ein intellektuelles Vergnügen. Ähnlich komplex ist das Buch Imagining the House des chinesischen Architekten Wang Shu. Auch er ist ein hochdeko-

Wang Shu – Imagining the House, engl. 168 S. mit 83 s/w Abb., Softcover mit japanischer Bindung, 29,5 x 24 cm, Lars Müller Publishers, 50,- Euro

rierter Baumeister, auch er wurde mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet. Seine Sache sind einfache Bauten mit teils wiederverwendeten Materialien. Die fadengebundene Publikation setzt aber davor an; sie zeigt, wie Denken in der Architektur abläuft. Die erste Feststellung beim Blättern: Weiße Seiten. Diese müssen geöffnet werden. Dann sieht man handschriftliche Zeichnungen in unterschiedlichen Baustadien und Perspektiven, eingeleitet jeweils durch eine knappe Werkbeschreibung und einige Fotografien. Vorgestellt werden sechs Bauprojekte (die noch nicht alle realisiert sind), und deutlich wird, wie Wang Shu vorgeht, wie wichtig ihm der Ort selbst ist und wie er von diesem und seiner Umgebung ausgehend zu seinen Bauten findet. Und hat man sich in die Zeichnungen eingesehen, dann werden auch die Gebäude selbst vorstellbar. Das Verdienst dieses Buches ist die direkte Sinnlichkeit in der Enthaltsamkeit. Architektur hat immer auch mit Partizipation zu tun.


Terra incognita – Bosnien „Mert, ein Deutschtürke im Abseits“. Von Safeta Obhodjas. 1992 verließ Safeta Obhodjas ihre Heimat Bosnien, weil sie dort als Autorin nicht erwünscht war. In Wuppertal, ihrem neuen Zuhause, hat sie in den letzten Jahren ein neues Thema gefunden: die Probleme der Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Nach einer Reihe von Büchern, die sich mit den Erfahrungen islamischer Frauen auseinander setzten, mit dem Leben in Bosnien vor und nach dem Krieg, gibt es im Leben von Safeta Obhodjas einen neuen Schwerpunkt: die Arbeit mit Jugendlichen. Sie geht an die Schulen, um aus ihren Werken zu lesen, sie bietet Workshops an, in denen gezielt Themen diskutiert werden, die den Jugendlichen unterschiedlichster Herkunft an die Nieren gehen: Integration, Mobbing oder auch der Druck der Tradition, der auf Kindern aus Einwandererfamilien lastet. Voll Stolz erzählt sie: „Letzten Sommer entstand in einem Workshop aus einer meiner Geschichten das Theaterstück ,Die Wahrheit hat kurze Beine‘. Es handelt von zwei Familien, die nach Deutschland gekommen sind. Während aber die eine Familie gut integriert ist – die Frau hat eine Arbeit als Apothekerin, und ihr Mann hat auch einen guten Job – hat die andere Familie, die der Schwester der Apothekerin, diesen Schritt nicht getan und ist in ihrem traditionellen Ghetto hängen geblieben“ Das Stück wurde beim Jungen Theaterfestival Wuppertal gezeigt und ist sehr gut angekommen. Deutschtürken im Abseits Auch die Grundlagen zu ihrem jüngsten Roman „Mert, ein Deutschtürke im Abseits“ entstammen der Arbeit mit Jugendlichen, wobei Sport, Fairness im Sport und die Rolle des Sports in der Integration ein wichtiges Thema sind. „Einmal“, so erzählt sie im Interview, „hatte ich in Duisburg eine Lesung. Per Zufall fielen mir zwei Tickets zu einem Fußballturnier in die Hand. Veranstalter war ein deutschtürkischer Verein. Ich konnte gar nicht glauben, was ich da lesen musste. Auf dem gelben Zettel stand Frauen, Behinderte, Kinder und ich glaube auch Jugendliche 6 Euro, auf dem anderen Ticket stand nur ,Erwachsene‘. Ich habe mich furchtbar aufgeregt, aber keiner hat den Grund verstanden. Und dann hab ich überlegt, was

passiert, wenn eine Frau gegen so ein Ticket protestiert und sagt, das geht nicht so. Das war der Grundanstoß, ,Mert‘ zu schreiben.“ Noch eine andere Überlegung war für sie ausschlaggebend: „Es gibt so viele Bücher zum Thema Betroffenheit der Frauen in Familie und Tradition. Aber niemand spricht von Jungs, was die erleben, wenn sie unter Druck gesetzt werden, wenn sie eine Frau heiraten sollen, die sie gar nicht kennen, oder wenn man sie zwingt, die Schule zu verlassen. Damit ist die Entscheidung gefallen: Ich schreibe ein Buch über die Probleme eines Jungen, aus der Sicht des Jungen.“ Erfolg bei Jugendlichen Der Junge heißt Mert Seyder. Er ist 16, sieht gut aus, hat etwas im Köpfchen und ist ein sehr guter Fußballspieler. Die Mädchen bewundern ihn, jede will mit ihm gehen. Nur sie nicht, Enisa, obwohl Mert seinen ganzen Charme spielen lässt. Und dann taucht auch noch Onkel Riza auf, der Bruder seines verstorbenen Vaters, der seine ganz eigenen Pläne für Mert hat: eine traditionelle Hochzeit, Hand in Hand mit einer hohen Position im Familienclan. Das Schreiben war kein Problem. „Die Sätze, die Probleme, die Reaktionen kannte ich doch aus meinen Kontakten mit den jungen Leuten. Das Buch kam bei ihnen auch sehr gut an. Aber einen Verlag zu finden, das war ein wirkliches Problem!“, erzählt Safeta Obhodjas. „Erst ein kleiner Münsteraner Verlag hat sich von meinen Argumenten überzeugen lassen, dass nicht nur ich etwas Gedrucktes in der Hand haben will, wenn ich in die Schulen gehe und lese, sondern dass auch die Lehrer froh und dankbar sind, wenn sie mit ihren Schülern einen Stoff beackern können, der aus dem Erlebnisbereich der jungen Leute stammt. Und die Erlebnisse bei solchen Schulauftritten geben mir durchaus recht: Die jungen Leute melden sich zu Wort, diskutieren mit mir, haben Ideen, wie die Geschichte anders weiter gehen könnte. Sie haben eine profunde Meinung zu den dargestellten Problemen.“ Sport integriert nicht Dass Sport nicht der einzige Weg zu einer erfolgreichen Integration sein kann, haben die Jugendlichen sehr schnell erkannt – einerseits, weil Mädchen als aktive Partner selten oder überhaupt nicht vorkommen,

andrerseits, weil der Sport – „also im wesentlichen Fußball“ – die latente Gewalt nicht kanalisiert, sondern sie im Gegenteil eskalieren lässt. „Wie oft habe gehört, wie die eine Mannschaft den Gegnern zurief: ,Wir killen euch‘, oder ,Wir bringen euch um‘. Das zeigt doch, dass Sport alleine, ohne die Einbeziehung des Wortes bzw. des Denkens in die falsche Richtung weist. Wenn das Wort nicht beachtet wird, die Integration durch das Erlernen der Sprache, dann entstehen Ghettos, in denen die Menschen zwar für sich und ohne Störungen leben können, aber ihre Kinder haben, wenn sie erwachsen sind, in der deutschen Gesellschaft keine Chance!“ Safeta Obhodjas arbeitet ganz bewusst diesem Trend entgegen. „Ich muss mich als verantwortungsbewusste Autorin vor allem mit den Problemen der jungen Menschen mit Migrationshintergrund widmen und ihnen Material in die Hand geben, in dem sie ihre eigene Geschichte wieder finden können. In diesem Sinne habe ich auch eine Erzählung zum Thema Mobbing geschrieben.“ Erfreulich, dass der Verkauf ihres ersten Jugendbuches vor allem übers Internet funktioniert, was sie als Reaktion eines jungen interessierten Publikums deutet. Friederike Raderer www.safetaobhodjas.de

Safeta Obhodjas

Mert, ein Deutschtürke im Abseits Ate

Safeta Obhodjas „Mert, ein Deutschtürke im Abseits“ AT-Verlag Münster 2012, 167 Seiten ISBN 3-89781-209-3

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Kulturnotizen Von der Heydt-Kunsthalle Barmen Tatjana Valsang – Archipel 3. März – 26. Mai 2013 Abstrakte Malerei inszeniert auf meist großformatigen Leinwänden ein komplexes Zusammenspiel von Farbe, Form und Bildraum. In den neuen Arbeiten sind es häufig von klar umrissenen Formen überlagerte Wellenformationen, die den Bildraum organisieren, ihm Tiefe, Bewegung und Dynamik verleihen. Die in Wuppertal lebende Künstlerin Tatjana Valsang (*1963) studierte an der Düsseldorfer Kunstakademie als Meisterschülerin bei Dieter Krieg. Wir zeigen ihre großformatigen Bilder aus den Jahren 2009-2012.

Museum Kunstpalast Düsseldorf Wolfgang Tillmans: Düsseldorf Raum 2001-2007 (Sammlung Stadtsparkasse Düsseldorf) bis zum 5. Mai 2013

Der 1968 in Remscheid geborene, international renommierte Künstler hat im Jahr 2008 eigens für das Museum Kunstpalast eine 12-teilige Installation mit dem Titel „Düsseldorf Raum 20012007“ entwickelt. Die Installation besteht aus unterschiedlich großen Fotos, die Tillmans in seinem direkten Lebens- und Arbeitsumfeld aufgenommen hat und die er in einer fragilen Rauminszenierung präsentiert. Die Bilder und ihre Beziehungen untereinander weisen auf eine mögliche Auflösung von Gegenständlichkeit hin. Sie zeigen Stillleben, alltägliche Szenen und Bilder im Bild, denen Abstraktion und eine überraschende Räumlichkeit innewohnen.

Eine weitere Tillmans-Ausstellung Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen Wolfgang Tillmans 2. März - 7. Juli.2013 – K21 Ständehaus Die Kunstsammlung NordrheinWestfalen zeigt eine Überblicksausstellung des international gefeierten Fotografen Wolfgang Tillmans (geb. 1968). Zur Bandbreite seiner künstlerischen Arbeit gehören neben Porträts, Interieurs, Landschaften und Stillleben seine in der Dunkelkammer entstandenen abstrakten Bilder, Videoarbeiten, Tischinstallationen und die zuletzt auf Reisen aufgenommenen Neue Welt-Bilder. Dabei verbindet Wolfgang Tillmans mit seinen Arbeiten neben einem ästhetischen immer auch ein grundsätzliches Interesse an gesellschaftspolitischen Themen. Mit seinen Arbeiten hat Wolfgang Tillmans nicht nur eine neue Bildsprache der Fotografie entwickelt, sondern auch eine eigene Präsentationsform geschaffen. Wolfgang Tillmans wird mit seiner Ausstellung in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen einen Überblick über sein zwanzigjähriges Schaffen bieten und mit einer präzise entwickelten Gesamtkomposition auf den spezifischen Ausstellungsort des ehemaligen Ständehauses genauso reagieren wie auf die herausragende Sammlung.

Tatjana Valsang, Karte, 2012 Von der Heydt-Kunsthalle Geschw.-Scholl-Platz, 42275 Wuppertal www.von-der-heydt-kunsthalle.de Von der Heydt-Museum Wir zeigen „Highlights“ aus dem 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart sowie „Alte Meister - von Dürer bis Goya“ mit Werken ab dem 16. Jahrhundert. Die aktuelle Auswahl zeigt neue Zusammenhänge und Parallelen auf, lässt bekannte Gemälde in neuem Licht erscheinen und setzt Schwerpunkte: Unter den Highlights sind Spitzwegs biedermeierliche Idyllen, die im Vergleich zu den Stillleben- und Porträtstudien der Münchner Feinmaler Wilhelm Leibl und Otto Scholderer zu sehen sind. Von der Heydt-Museum Turmhof 8, 42103 Wuppertal www.von-der-heydt-museum.de

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Wolfgang Tillmans, after party, © 2002, courtesy Galerie Buchholz, Köln/Berlin

Stiftung Museum Kunstpalast Ehrenhof 4-5, 40479 Düsseldorf www.smkp.de

Wolfgang Tillmans, 2009, © courtesy Galerie Buchholz, Köln/Berlin K21 STÄNDEHAUS Ständehausstraße 1, 40217 Düsseldorf www.kunstsammlung.de


Museum Kurhaus / Kleve Mein Rasierspiegel fehlt Sammlung – Von Holthuys bis Beuys noch bis zum 7. April 2013 Seit dem 9. September 2012 öffnet das erweiterte Museum Kurhaus Kleve – Ewald Mataré-Sammlung wieder seine Türen für das Publikum. Erstmals zu erleben ist dann nicht nur ein neuer Museumsteil, das restaurierte sog. „FriedrichWilhelm-Bad“ mit dem Atelier von Joseph Beuys, sondern auch die Sammlung des Museum Kurhaus Kleve in allen ihren Facetten. Die Eröffnungsausstellung trägt den Titel „Mein Rasierspiegel“ und umfasst Meisterwerke vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Ein großer Teil der Ausstellung ist Joseph Beuys gewidmet, der von 1957 bis 1964 in dem leerstehenden Gebäude sein Atelier hatte. In dieser Zeit entstand auch das „Büdericher Ehrenmal“ (1958-59). www.museumkurhaus.de

Joseph Beuys, Ohne Titel (Mein Kölner Dom), 1980, Foto: © VG Bild-Kunst, Bonn 2012, für Joseph Beuys

Man Ray: les mannequins, / ‘resurrection Des Mannequins', ‘Mannequins présentés á l'Exposition Surréaliste de 1938', Verlag Jean Petithory, Paris 1966, Ex. H.C., © Man Ray Trust, Paris / VG Bild-Kunst, Bonn 2012 Museum Ludwig Köln Man Ray Fritz Gruber Archiv. Das besondere Archiv einer außergewöhnlichen Freundschaft Bis zum 5. Mai 2013 Im September 2012 konnte das Museum Ludwig dank der Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Kunststiftung NRW das Man Ray-Archiv von Renate und L. Fritz Gruber erwerben, die auf eine jahrzehntelange Freundschaft zwischen Man Ray und dem Ehepaar Gruber zurückgeht und aus einer Sammlung von Arbeiten, Archivalien, Korrespondenzen, Objekten und signierten Ausstellungspublikationen besteht. Eine Besonderheit bildet ein Konvolut von 50 Repro-Kontaktabzügen mit Porträts von Lee Miller, Jean Cocteau, Max Ernst, Pablo Picasso, Dora Maar und vielen anderen der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts; denn diese hat Man Ray eigenhändig mit „Evaluationszahlen“ seiner persönlichen Wertschätzung bedacht. Außerdem erhält die Sammlung eine Reihe von 37 Kontaktabzügen von Rayographien Man Rays, die für die Man Ray-Forschung von größter Bedeutung sind. Diese persönliche, außergewöhnliche Sammlung eines der größten Fotokünstler des 20. Jahrhunderts wird in Kombination mit Porträtfotografien Man Rays aus der Sammlung des Museum Ludwig im Grafischen Kabinett präsentiert. www.museum-ludwig.de

Leopold-Hoesch-Museum Düren „ZERO auf Papier“ bis zum 17. Februar 2013 Die Ausstellung „ZERO auf Papier“ im Leopold-Hoesch-Museum & Papiermuseum Düren dokumentiert die Aktivitäten und den Werdegang der internationalen Kunstbewegung ZERO um die drei Künstler Otto Piene, Heinz Mack und Günther Uecker in den 1950er und 60er Jahren. Neben Kunstwerken der beteiligten Künstler illustrieren Ausstellungsplakate, Einladungskarten, Fotos, persönliche Briefe und ein Film die vielfältigen Aktionen der ZERO-Künstler, die eine konsequente Erneuerung der Kunst forderten. Die von Heinz Mack und Otto Piene im Jahr 1958 herausgegebenen ersten beiden Ausgaben der Zeitschrift ZERO wurden für die internationale Kunstbewegung zum Manifest einer künstlerischen Neuausrichtung der Neo-Avantgarde. Durch die zahlreichen positiven Rückmeldungen von Künstlern und Kunstkritikern entschieden sich Mack und Piene, eine umfassende dritte Ausgabe der Zeitschrift zu konzipieren, die in der Düsseldorfer Galerie Schmela im Jahr 1961 präsentiert wurde. Die drei seit Jahrzehnten vergriffenen Zeitschriften wurden von der ZERO foundation Düsseldorf jetzt neu herausgegeben und im Rahmen der Ausstellungseröffnung erstmalig präsentiert. Die limitierte Sonderedition der faksimilierten ZERO-Zeitschriften (1958-1961) erscheint mit signierten und nummerierten Editionen von Heinz Mack und Otto Piene und wird in einem von den Künstlern gestalteten Schuber offeriert. Der Nachdruck der Ausgaben wird von einem Buch begleitet, in dem die Ergebnisse eines wissenschaftlichen Forschungsprojekts zu den ZERO-Zeitschriften veröffentlicht werden. www.leopoldhoeschmuseum.de

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Kulturnotizen Tokio:

Chicago Tentett am Ende Vor wenigen Wochen gab Peter Brötzmann mit seinem Chicago Tentett in Berlin einen Tag nach Ende des 2012er Jazzfestes, noch ein gefeiertes Konzert. Doch als Pressemitteilung von Brötzmann aus Tokio kam nun die Nachricht, dass Schluss sein soll. 14 Jahre seien genug, schreibt der Free-Jazz-Saxofonist und -Klarinettist, die Band habe ihr kreatives Hoch erreicht und könne nun nur noch schlechter werden. Die Routine drohe, was vielleicht durch eine Neubesetzung aufgefangen werden könnte.

Peter Brötzmann macht Schluss mit seinem Chicago Tentett (Foto: Ziga Koritnik) Viel schlimmer sei jedoch, dass weder die deutsche noch die amerikanische Regierung bereit seien, diese hochkarätige transatlantische Band zu unterstützen. Besonders die Vorjahreskonzerte in London und Wuppertal seien unerreicht, schreibt der Wuppertaler Saxofonist, der mit der ungewöhnlichen Maßnahme die Mittelmäßigkeit unbedingt vermeiden möchte. Er brauche nun Zeit, um über die notwendigen Veränderungen nachzudenken, die finanzielle Situation sei wichtig und manchmal sei die Musik sogar von ihr bestimmt: „Wer es sich heute noch leisten kann, etwa mit einem Quintett auf Tour zu sein, der weiß, was ich meine.“ Man brauche jetzt: „,A kick in the ass' – oder wie wir auf Deutsch sagen: Verunsicherung.“

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Bernarda Albas Haus Theaterproduktion der Akademie Remscheid, Premiere: 3. 2. 2013, 19:30 Uhr Die Akademie Remscheid lädt die Bürgerinnen und Bürger des Bergischen Landes herzlich ein, Zeugen eines innovativen Theaterprojekts zu werden: Elf angehende Theaterpädagogen/-innen werden das Stück „Bernarda Albas Haus“ von Federico Garcia Lorca auf die Bühne der Akademie Remscheid bringen.

Unter der Regie von Kordula Lobeck de Fabris, Wuppertal, bekannt durch ihr Frauentheaternetzwerk „Unter Wasser fliegen“ und zahlreiche multiethnische Jugendtheaterprojekte, entsteht eine moderne Fassung der Vorlage von Garcia Lorca: Bei ihm gibt es keine Männerrollen, in der aktuellen Inszenierung aber spielen zwei Männer mit. Die Schauspieler/-innen stehen im Mittelpunkt dieser Theaterarbeit. Sie spielen – anders als im traditionellen Sprechtheater – alle Rollen, wechseln in rasanten Tempi die Kostüme, tanzen und singen. Und ziehen die Zuschauer in einen Bann aus Bewegung, Bildern, Gesang und Stille. Zum Inhalt des Stücks: Was machen fünf junge Frauen, deren Vater gestorben ist und die acht Jahre lang das Haus nicht verlassen, keinen Mann zu Gesicht bekommen dürfen? Eine stren-

ge Mutter und die alles kontrollierende Dorfgemeinschaft wachen über Anstand und Moral. Federico Garcia Lorca, der von Faschisten ermordete spanische Autor, schrieb das Stück über eine Witwe und ihre fünf heiratsfähigen Töchter vor mehr als 80 Jahren. Es gibt eine Vielzahl von inszenatorischen Interpretationen. Der Autor selbst beschreibt das Stück als andalusisches poetisches Drama ohne Verse, als fotografische Dokumentation einer Familie, als den Versuch, in einem universellen Theaterstück den Konflikt des Individuums mit der Gesellschaft auszudrücken.

Zum pädagogischen Hintergrund: In zweimal zehn Tagen entsteht in diesem Theaterprojekt ein neues Stück zur Vorlage, dessen Inszenierungsweg auch auf die Bedingungen theaterpädagogischer Praxis übertragbar ist. Die Schauspieler/-innen werden deshalb im April diese Arbeit in einer theaterpädagogischen Vor- und Nachbereitung für interessierte Schulklassen vorstellen. Sie gehen in die Schulen, die Klassen kommen zur Aufführung in die Akademie Remscheid und tauschen sich im Anschluss auch mit dem Regieteam aus. Großer Saal der Akademie Remscheid. Eintritt frei. www.akademieremscheid.de Kreativ50plus an der Akademie Remscheid Raum zur Beschäftigung mit Ihren Ideen und Interessen. Bis Ostern können Sie sich ein Seminar wünschen. Das Seminarprogramm kreativ50plus an der Akademie Remscheid bietet allen Interessierten die Möglichkeit, sich ein Seminarthema zu wünschen. Bei www.kreativ50plus.de unter „Aktuelles“ können Sie mitteilen, welches Seminar Sie gerne im Programm sehen würden. Einer der Wünsche wird im Zeitraum vom


14.-18. 10. 2013 umgesetzt. Der Ideengeber sowie zwei weitere Teilnehmer gewinnen Freiplätze für das Seminar. Vorher können Sie in den Räumen der Akademie Remscheid die antike Maltechnik Enkaustik kennen lernen. Am Samstag, den 23. 2. lernen Einsteiger, wie man mit flüssigem, farbigem Bienenwachs arbeiten kann. Am darauffolgenden Sonntag bietet sich die Möglichkeit, die Kenntnisse zu erweitern. Am Dienstag, den 26. Februar können sich Teilnehmer einen Tag lang im „Erzählen mit dem roten Faden“ üben. Mithilfe von spielerischen Übungen entwickeln sie ihre eigene Erzählung. Im März sind noch Plätze frei für die Einführung in die abstrakte Acrylmalerei (Termin:11.-15.03.2013) und für das Tango Café. Dort sollten Sie sich zu zweit anmelden, um Grundlagen des Tango Argentino erproben zu können (Termin: 2. 3. 2013.). Weitere Informationen unter: www.kreativ50plus.de oder telefonisch unter 02191-794 212. Kontakt: kreativ50plus, Akademie Remscheid für kulturelle Bildung e.V. Imke Nagel, Programmleitung Anke Rauch, Organisation Küppelstein 34, 42857 Remscheid Telefon: 02191 794 212 (Anke Rauch) 02191 794 200 (Imke Nagel) kreativ50plus@akademieremscheid. Müllers Maronetten-Theater Peterchens Mondfahrt nach Gerdt von Bassewitz, von Günther Weißenborn

Aufführungstermine: 3., 9., 16., 17. und 24. Februar 2013 jeweils um 16.00 Uhr und am 27. Februar um 11 Uhr Kleine Ente Plumps von Günther Weißenborn Jacob lebt bei seinem Opa, der Tubist im Orchester ist. Eines Tages bringt Jakob ein Ei nach Hause und nicht einmal der Opa weiss, ob das ein Hühnerei ist. Also ruft Jakob den Zoodirektor an, der leiht ihnen einen Brutapparat und nach kurzer Zeit sind Jakob und sein Großvater Papa und Uropa einer kleinen Ente, die es sich sogleich in Opas Tuba gemütlich einrichtet. Auch ein Räuber interessiert sich für die Ente, allerdings ist er so dumm, dass er sie für einen asiatischen Königsflamingo hält. Da gerät er bei Jacob an den Richtigen!

Aufführungstermine: 2., 3., 9., 10., 16. und 17. März 2013 jeweils um 16.00 Uhr und am 13. März um 11 Uhr Eine kleine Hexe Theatermärchen von Günther Weißenborn

kleinen Drachen Rüdiger, der schon richtig Feuer spucken kann und der sich auch einmal so richtig schlecht benehmen möchte. Aufführungstermine: 24. und 29. März und am 1., 6., 13. und 14. April 2013 jeweils um 16.00 Uhr. GEDOK Wuppertal Veranstaltungen Sonntag, 24. Februar 2013, 17:00 Uhr CityKirche Elberfeld, Kirchplatz Englische Komponist/Innen des 20. Jahrhunderts Sigrun Lefringhausen, Blockflöte und Nina Julia Hildebrand, Klavier machen uns mit Werken von Ethel Smyth, Elisabeth Lutyens Stefanie Champion, Rebecca King, Peggy, Glanville-Hicks, Lennox Berkeley u. a. bekannt. Eintritt 8,00 / erm. 5,00 Euro

Foto: www.kuenstleragentur-kade.de Vorankündigung Juni 2013 Miriam Sabba Sopran sang die Rolle der „DIANA“ Anfang Oktober 2012 als Gast beim Tanztheater Wuppertal in „Iphigenie auf Tauris“.

Der Maikäfer Herr Sumsemann erobert gemeinsam mit den Kindern Anneliese und Peter den Mond. Inszeniert mit den bezaubernden Marionetten von Ursula Müller-Weißenborn.

Eigentlich ist sie eine liebe kleine Hexe und genau das ist ihr Fehler! Böse soll sie sein, so böse, wie Hexen nun mal sind. Und das ist ganz schön schwer für die kleine Hexe Lilienkraut. Aber sie hat ja Hilfe, den

Wir konnten Miriam Sabba für einen französischen Liederabend im Juni 2013 in der CityKirche Elberfeld gewinnen und freuen uns sehr auf ein Wiedersehen und -hören. Am Flügel wird sie von Michael Hänschke begleitet. www.gedok-wuppertal.de

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Kulturnotizen

Sonntag, 24. Februar, 18 Uhr, Pavillon differing movements Mit Werken von Gabriel Prokofiev, Joe Cutler, Tan Dun, Detlev Glanert, Arvo Pärt, John Adams Es kommt Bewegung in den Pavillon – zeitgenössische Musik und Tanz finden zueinander. Mozart und Haydn haben Menuette geschrieben. Im 21. Jahrhundert heißen die Werke bei den Komponisten Gabriel Prokofiev und Tan Dun hingegen Bogle Move und Black Dance. Und Folk Music des britischen Komponisten Joe Cutler ist eine zeitgemäße Umsetzung dessen, was der Titel vorgibt – lassen Sie sich überraschen. In Detlev Glanerts 2. Streichquartett verbergen sich vier Themen: Gesang, Schrei, Tanz und Flucht - zwei Äußerungsformen und zwei Bewegungsformen. Pas de Quatre ist ein fesselndes und spannungsreiches Werk mit einer klaren Sprache. Man kann den vier Themen folgen und wird gleichzeitig mit Musik konfrontiert, die einen im Innersten trifft. John Adams nannte seine Tänze für Streichquartett „alleged“ – vermeintlich, weil er meinte, dass die passenden Schrit te dazu noch ersonnen werden müssten. Die Tänzerin Szu-Wei Wu und der Tänzer Eddie Martinez (Mitglied Tanztheater Wuppertal Pina Bausch) werden den Pavillon

Eddie Martinez (links) undSzu-Wei Wu

in eine Bühne verwandeln und Ihre eigenen „Schritte“ und „movements“ zur Musik von John Adams und Arvo Pärt zeigen. 7 Filme zur Kunst Zum zweiten Mal veranstaltet der Skulpturenpark Waldfrieden im Frühjahr 2013 eine Filmreihe, deren Titel allerdings gegenüber dem vergangenen Jahr leicht

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verändert wurde: Aus „7 Dokumentarfilme zur Kunst“ wurde schlicht „7 Filme zur Kunst“. Mit dieser Namensänderung verbindet sich die Absicht, das formale Spektrum des Programms zu erweitern. Außer Titeln, die einen inhaltlichen Bezug zur Bildenden Kunst haben, sollen auch solche Werke der Filmkunst präsentiert werden, die nicht ohne weiteres in das Genre der Dokumentation einzuordnen sind. Wie gewohnt finden die Projektionen im Café Podest im Skulpturenpark statt.

der visionären Ästhetik der flämischen Meister befasst. Der Skulpturenpark Waldfrieden zeigt die Werkreihe „Chalcosoma – small bronzes 2006-20012“, die 22 Exponate umfasst und in ihrem Abwechslungsreichtum das Gesamtwerk Jan Fabres verkörpert. Ihre Ungleichheit zeigt die unterschiedlichen Themen, die für Jan Fabre durch ein Netz von komplizierten FormVereinigungen und Symbolen von Bedeutung sind und erstreckt sich insbesondere auf die Wahl des Materials Bronze, die

Foto aus: One Way Boogie Woogie - 27 years later

Freitag » 1. Februar 2013 » 20 Uhr Die Mühle und das Kreuz Freitag » 8. Februar 2013 » 20 Uhr Carvaggio Freitag » 15. Februar 2013 » 20 Uhr One Way Boogie Woogie - 27 years later Freitag » 22. Februar 2013 » 20 Uhr Jean Tinguely Freitag » 1. März 2013 » 20 Uhr Tom Freitag » 8. März 2013 » 20 Uhr W + B Hein - Materialfilme Freitag » 15. März 2013 » 20 Uhr Marina Abramovic: The Artist is present Weitere Informationen unter: www.skulpturenpark-waldfrieden.de

Ausstellung im Skulpturenpark Jan Fabre Chalcosoma – Small bronzes 2006-2012 22. März bis 2. Juni 2013 Jan Fabre ist ein Multitalent – als solches hat er sich in der Welt der bildenden Kunst, der Performance, des Theaters und der Literatur einen Namen gemacht. Mit der Erforschung des eigenen Körpers und seiner Umwelt hinterfragt sich der Künstler beständig selber, die intensive Suche nach Antworten führt ihn durch unterschiedlichste Disziplinen und Ausdrucksformen. In seinem Werk erschafft er ereine eigene mythische Welt, in der er sich zudem mit

Jan Fabre, Skull Compass, Bronze, 2011, 14 x 18 x 20 cm er für diese Skulpturen verwendet. Sie verschafft ihnen Beständigkeit und Würde. Sie nehmen den Anspruch von Kunstgegenständen, Büsten oder Standbildern auf, die von fortdauerndem Wert zu sein scheinen. Seine Bronzeskulpturen sind Collagen, Verbindungen von tierischen und menschlichen Elementen, der Natur und der Kultur, von Vergangenheit und Gegenwart. Jan Fabre wurde 1958 in Antwerpen geboren, wo er auch heute lebt und arbeitet. Er studierte am Municipal Fine Arts Institute of Decoractive Arts und an der Academy of Fine Arts in Antwerpen. Fabre wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Preis der flämischen Gesellschaft der Bildenden Künste und überdies zum Großoffizier des belgischen Kronenordens ernannt. Sein Werk ist in international führenden Mussen vertreten.

Jazz-Konzerte im Alten Pfandhaus Freitag, 15. Februar 2013 | 19:00 Zildjian Sound Lab Sessions February 2013 with Dennis Chambers »Konzert«


Dienstag, 12. März 2013 | 20:00 Gloria Cooper German Quintett »The Transatlantic Jazz Connection« Gloria Cooper - piano, vocal | Heiner Wiberny - sax | Klaus Osterloh -trp | Jochen Schaal - b | Marcel Wasserfuhr - Drums Donnerstag, 14. März 2013 | 20:00 Richard Bargel & The Erwin Helfer Trio »Mississippi Beat - Part 5« Erwin Helfer - piano | Katherine Davis - vocals | John Brumbach - sax | Richard Bargel - slide guit. & Moderation

neuem Besteck groß, und zugleich bot sich die Chance, das Thema Besteck „neu zu denken“. Obwohl sich traditionelle Formen und Dekore zum Teil bis heute hartnäckig halten, so gab und gibt es doch eine starke Bewegung zum Besteck der „neuen Zeit“: Die Proportionen änderten sich deutlich (kurze Messerklinge und kurze Gabelzinken, runde Laffen, lange Griffe), das Material musste bezahlbar und tauglich für die Herstellung in großen Mengen sein

17.02.2013 | 11:00 Uhr 18.02.2013 | 20:00 Uhr Stadthalle, Großer Saal 6. Sinfoniekonzert Wünsch dir was! 10.03.2013 | 11:00 Uhr Stadthalle, Großer Saal 3. Familienkonzert Happy Birthday Sinfonieorchester Wuppertal 11.03.2013 | 20:00 Uhr Stadthalle, Mendelssohn Saal 4. Kammerkonzert 17.03.2013 | 11:00 Uhr Stadthalle, Großer Saal 7. Sinfoniekonzert 18.03.2013 | 20:00 Uhr Stadthalle, Großer Saal 7. Sinfoniekonzert 29.03.2013 | 18:00 Uhr Stadthalle, Großer Saal 3. Chorkonzert

Entwurf von Heinrich Maxen, Solingen, um 1965, Hersteller Picard & Wielpütz, Solingen.

Sonntag, 17. März 2013 | 19:00 Jazz-BigBand Graz - JBBG »Urban Folktales« www.altes-pfandhaus.de/veranstaltungen Deutsches Klingenmuseum Ausstellung 50 Jahre Besteckdesign in Deutschland 1950 bis 2000 20. Januar– 30. Juni 2013

Der Weltkrieg hinterließ nach 1945 in vielfacher Hinsicht ein riesiges Vakuum, auch in Bezug auf die Ausstattung der Haushalte. So war auch der Bedarf an

(Edelstahl), die aufwendige Differenzierung in Tafel- und Dessertbesteck wurde zugunsten einer mittleren Größe (das sog. Mittelbesteck) aufgegeben. Die dicht bestückte Studienausstellung im Klingenmuseum präsentiert eine exemplarische Auswahl von rund 320 Besteckmustern aus deutscher Produktion; die gesamte Produktion betrug in dieser Zeit rund 2.000 Muster. Selbstverständlich steht der gute, wegweisende Entwurf im Vordergrund, aber auch eher traditionelle Stilmittel wie Dekore oder Besteckgriffe und -hefte aus unterschiedlichem Material werden als zeittypische Erscheinungen gezeigt. Die ausgestellten Bestecke stammen aus der Sammlung Heinrich Averwerser, Burgdorf.

Sinfonieorchester Wuppertal Konzerte Februar/März 2013 07.02.2013 | 10:00 | 12:00 Uhr Stadthalle, Mendelssohn Saal 2. Schulkonzert Karneval der Tiere

So 24. Februar 2013 //// Opernhaus 18:00 Uhr //// PREMIERE Ein Maskenball Oper von Giuseppe Verdi in ital. Sprache mit dt. Übertiteln. Mit öffentlicher Premierenfeier. Gustavo ist ein guter Herrscher, und doch ist eine Verschwörung gegen ihn im Gange. Als sein Vertrauter Renato ihn darauf aufmerksam macht, winkt er ab: Amelia, in die er verliebt ist, ist sein einziger Gedanke. Doch sie ist verheiratet – mit Renato. Politik wird zum Werkzeug seiner Rache, als der verzweifelte Renato den Verschwörern sich als Verbündeter anbietet. Fr 8. März 2013 //// Schauspielhaus 20:00 Uhr //// PREMIERE Wie es Euch gefällt nach William Shakespeare Eine Produktion des Jugendclub I der Wuppertaler Bühnen. Mit öffentlicher Premierenfeier.

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Kulturnotizen Der Ardenner Wald, ein lauschiges Plätzchen in dem sich eine Anzahl Menschen einfindet, die es aus unterschiedlichsten Gründen hierher verschlagen hat. Sie alle sind Suchende und alle finden auch etwas, sie finden nicht weniger als die Liebe: die ganz große Liebe, die Liebe, die man schon gefunden glaubt und jetzt nur noch erringen will, die Liebe, die einen wie ein Schlag trifft, die Liebe, die langsam wächst und auch die Liebe, die man nicht bekommen kann. Rosalinde (verkleidet als Mann), gibt sich Orlando nicht gleich zu erkennen. Der aber ritzt Liebesschwüre in jeden Baum auf der Suche nach ebendieser Frau. Die Schäferin Phoebe verliebt sich Hals über Kopf in Ganymed (der ist aber die verkleidete Rosalinde) und will von Silvius, der sich nach ihr verzehrt, nichts wissen. Käthchen und Probstein scheinen sich gesucht und gefunden und was ist mit Celia und Jaques? Im Wald, fernab von Zivilisation und Konventionen kann allerhand passieren. Vieles ist unwirklich, nicht real und es sind Kräfte am Werk, die nicht ganz von dieser Welt sind... Do 7. März 2013 //// Opernhaus 19:30 Uhr Kontakthof Mit der Kompanie Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Weitere Aufführungen: 8., 9. und 10. März Fr 22. März 2013 //// Schauspielhaus 20:00 Uhr //// PREMIERE Aus euren Blicken bau ich mir ein Haus Schauspiel von Thomas Melle. Mit öffentlicher Premierenfeier. Birger und Kevin sind dem Nerven aufreibenden Großstadtleben entflohen und haben sich in einem Neubaugebiet am urbanen Speckgürtel niedergelassen. Dort möchten sie ein beschauliches, zurückgezogenes Leben führen. Offensichtlich aber steckt die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft in der Krise; Hauptbeschäftigung ist das missmutige Beobachten neuer Zuzügler. Zu den Beargwöhnten gehört zunächst auch Dorte, eine psychische Grenzgängerin, die sich nebenan ein Haus bauen will. Doch schon bald kommen sich Kevin und Dorte näher; so nah, dass Dorte von dem gemeinsamen Kinderwunsch des Paares erfährt …

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Raum-Maschine Theater in Köln Szene und Architektur bis 10. März 2013

Die Ausstellung legt ihren Focus auf die architektonischen Grundlagen für das Entstehen von Kunstwelten im Bereic des Theaters. Raum-Maschine Theater – „Szene und Architektur“ ist eine Ausstellung des Museums für Angewandte Kunst in Köln in Kooperation mit der Theaterwissenschaftlichen Sammlung der Universität zu Köln. An der Rechtschule, 50667 Köln, Tel. 0221.221 267 35, geöffnet Di – So 11.00 – 18.00 Uhr. www.museenkoeln.de. Museum Haus Lange, Krefeld Anne Chu – Animula Vagula Blandula Bilder und Skulpturen bis 7. April 2013 In ihren Bildern und Skulpturen beschäftigt sich Anne Chu (*1959) vorwiegend mit historischen Themen, wobei sie westliche und asiatische Kulturkreise in Dialog setzt. Sie bedient sich der Geschichte wie eines Steinbruchs und aktualisiert diese im Hinblick auf eine zeitgenössische Rezeption. Ausgangspunkte ihrer Werke sind u. a. auch Architekturmodelle von Antonio Gaudí.

Museum Haus Esters, Krefeld Vibrierende Bilder, lärmende Skulpturen 1958 - 1963 Eine Hommage an Paul Wember bis 7. April 2013 Um 1960 entsteht an den Kunstmuseen Krefeld ein Sammlungsbereich, der in seiner Vielfalt und Qualität außergewöhnlich ist, die Sammlung kinetischer Kunst. Die Ausstellung Vibrierende Bilder Lärmende Skulpturen präsentiert eine breite Auswahl der ungewöhnlichen Objekte, die noch heute, 50 Jahre später, durch Einfallsreichtum und Experimentierfreude überraschen. Die Gattungsgrenzen der bildenden Kunst erscheinen endgültig aufgelöst. Bewegung, Licht und Klang werden nicht mehr nur malerisch-plastisch simuliert, sondern als reale physikalische Gestaltungselemente eingebracht. Zu sehen sind Vibrationsbilder, Lichtreliefs, rotierende Objekte, Klangskulpturen, interaktive Arbeiten und andere kinetische Objekte, geschaffen von jungen, damals noch unbekannten Künstlern in Paris, Düsseldorf oder Mailand: Unter ihnen Jean Tinguely, Jesus Raphael Soto, Victor Vasarely, Bruno Munari, Yaakov Agam, Heinz Mack, Günther Uecker und Dieter Roth.

Ausstellungsansicht Museum Haus Esters, Krefeld 2012. Foto: V. Döhne

Anne Chu, kleiner römischer Junge, 2012 Stuckmarmor, Marmor, 30,5 x 24 x 23 cm, © Anne Chu, Foto: V. Döhne Museen Haus Lange und Haus Esters, Wilhelmshofallee 91-97, 47800 Krefeld, Telefon 02151 97 55 80. Öffnungszeiten: Di. Mi, Fr – So 11 – 17, Do 11 – 20 Uhr www.kunstmuseenkrefeld.de

Die Ausstellung ist Paul Wember gewidmet, der als engagierter Kämpfer für die aktuelle Kunst über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt wurde. Als Direktor der Kunstmuseen Krefeld (1947 – 1975) zeigte er bereits in den 1950er und frühen 1960er Jahren gegen erhebliche Widerstände avantgardistische Künstler. Die Präsentation wird ergänzt durch eine Fotodokumentation der spannenden 28jährigen Ausstellungsarbeit von Paul Wember in Krefeld. Museum Haus Esters, Wilhelmshofallee 97, Tel. 02151 975 58-0, geöffnet Di – So 11 – 17 Uhr. www.kunstmuseenkrefeld.de


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Tagesnotiz Gestern bin ich mit dem Zug zur VerlagsVollversammlung nach Frankfurt – hin und zurück – gefahren. Im Zug saß mir gegenüber ein Mann, der aussah wie ein höherer Beamter, aber wir fuhren ja zweiter Klasse. Ich glaube, ich redete ihn ziemlich unbefangen an. Vielleicht war das der Grund, dass er mir in Köln zum Abschied die Hand reichte. Ich erinnere mich vom Ende her: Ich war abends zur Abfahrt zu früh dort, wollte es, um ein bisschen allein zu sein, saß in dem riesigen Frankfurter Bahnhof auf einer Bank auf Bahnsteig 6. Um mich eine wimmelnde Menschenmenge. Die Frankfurter, dachte ich, sind ein eigener Typus. Ich meine, sie sehen aus wie Einzelkämpfer, die sich durchsetzen. Dagegen sehen die Bonner aus wie Studienräte und Ministerialbeamte (die es dort ja auch gibt), und wir Wuppertaler wie Bandwirker. Dazwischen dachte ich an die Fahrt am Rhein entlang zurück, die steilen Ufer, alte Häuser, schön zum Niederknien, die

Burgen, die erinnerten Wanderungen mit Alfred, dort über die Höhen, der ein staubtrockener, unendlich treuer Freund war. Auch hier hatte mich soeben ein treuer Freund zum Bahnhof gebracht. Beim Hinweg zum Verlag heute Vormittag ging ich immer am Main entlang. Auf dem Rasen lagen Schläfer (verstreut wie im Afrikakrieg die Gefallenen in der Wüste); eine junge Frau schob einen modernen Bollerwagen (Gummireifen) an der Deichsel vor sich her, sie eilte im Geschwindschritt, mühelos, obwohl sauber aufgereiht sechs kleine Kinder in blauen Warnwesten darinsassen - ein putziger Anblick. Am erhöhten Ufer Häuser und Mietskasernen, viele mit Balkonen, die aussahen wie Drahtkörbe, hässlich. Ein Balkon, der nicht ins Mauerwerk integriert ist, wirkt fast immer wie eine Geschwulst. Zurück zum Bahnsteig. Ermüdet, ist es mir möglich, umzuschalten auf die Ebene, auf der uns keine kritische Betrachtung erreicht.

In diesem Augenblick weiß ich alles. Wenn ich irgendwo hinblicke, kann ich alles sehen, was ich will. Dieses Alles spricht in Bildern eine gewaltige, eindringliche Sprache, deren Bilder jedes Gemälde übertreffen: Eine Stelle am Waldrand, Abendlicht leuchtet zwischen den Bäumen; oder der Morgen, das Spatzenkonzernt, das eifrige Hin- und Herfliegen der Vögel; das Morgenlicht berührt den Fenstersims am Weißen Haus, der Präsident erscheint, ein Mensch mit Armen und Beinen – man sieht hier, ich weiß alles. Die Buddhisten sagen: „Es gibt keine Lösungen, weil es keine Probleme gibt.“ Als ich zurückschalte, fallen mir viele Andere ein, den es schlecht ergeht, und mir fällt all das Abscheuliche ein, das geschehen ist und immer noch geschieht. Darauf weiß ich eigentlich nur die Antwort, dass es diese Welt besser nie gegeben hätte. Karl Otto Mühl

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