Fragmentariche Betrachtung einer Liebe

Page 1

Seite 1

EINE FRAGMENTARISCHE BETRACHTUNG Fragmente einer Liebe — Roland Barthes

Eine fragmentarische Betrachtung

basierend auf:

Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes



EINE FRAGMENTARISCHE BETRACHTUNG basierend auf:

Fragmente einer Liebe — Roland Barthes


Seite 4

Eine fragmentarische Betrachtung

Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes


Seite 5 Eine fragmentarische Betrachtung

UMARMUNG. Die Geste der liebenden Umarmung scheint für das Subjekt eine Zeitlang den Traum der totalen Vereinigung mit dem geliebten Wesen zu erfüllen. „Außer der eigentlichen geschlechtlichen »Paarung« (zum Teufel dann mit dem Imaginären) gibt es jene andere Art von Umarmung, die reglose (Umschlingung: wir sind verzaubert, betört: wir liegen im Schlaf, ohne zu schlafen; wir sinti in der kindlichen Wonne des Einlullens befangen: das ist der Augenblick des Geschichtenerzählens, der Augenblick der Stimme, die mich bannt, mich ent-Duparc rückt, es ist die Heimkehr zur Mutter (»im sanften Frieden deiner Arme«, sagt ein von Duparc vertontes Gedicht). In diesem verlängerten Inzest ist dann alles außer Kraft gesetzt: die Zeit, das Gesetz, das Verbot: nichts müht sich ab, nichts wird gewollt: alle Begierden sind aufgehoben, weil sie endgültig gestillt scheinen. Dennoch erwächst in und aus dieser kindlichen Umarmung unfehlbar das Geschlechtliche; es scheidet die diffuse Sinnlichkeit von der inzestuösen Umarmung; die Logik der Begierde setzt sich in Gang, das Habenwollen stellt sich wieder ein, der Erwachsene überlagert das Kind. Ich verkörpere gleichzeitig zwei Subjekte: ich will die Mütterlichkeit und die Genitalität. (Der Liebende könnte definiert werden: als Kind, das erigiert: eben das war der junge Eros.) Augenblick der Bejahung; für eine bestimmte Zeit hat es einen wirklichen Abschluß gegeben, einen Umbruch, ist etwas gelungen: ich habe Erfüllung erlebt (alle meine Begierden waren in der Erfülltheit ihrer Befriedigung aufgehoben): die Erfüllung existiert, und ich werde nicht eher ruhen, bis ich sie wiedererlebt habe: durch und auf allen Irr-und Umwegen der Liebesgeschichte bemühe ich mich hartnäckig darum, den Widerspruch -die Kontraktion -der beiden Umarmungen wiederzufinden, zu erneuern.

»schlechte Lyrik« erfaßt das liebende Subjekt in dem Sprachregister, das nur ihm zukommt: dem des Ausdrucks.

Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes

DUPARC: »Chanson triste«, nach einem Gedicht von Jean Lahor. Das soll »schlechte Lyrik« sein? Aber die


Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes

O H N E A N T W O R T STUMMHEIT Der Liebende ängstigt sich, weil das Liebesobjekt nur sparsam oder gar nicht auf die Worte (Reden oder Briefe) reagiert, die er an es richtet.

Eine fragmentarische Betrachtung

„Wenn man sich an ihn wandte und mit ihm eine Unterredung über welches Thema auch immer führte, sah X ... häufig so aus, als schaute und hörte er anderswohin, als achtete er dabei auf etwas anderes ringsrum: man hielt entmutigt inne; nach einem langen Schweigen sagte X ... : ‚Fahr nur fort, ich höre dir ja zu‘, und dann nahm man schlecht und recht den Faden einer Geschichte wieder auf, in die man schon kein Vertrauen mehr setzte“ Wie ein schlechter Konzertsaal ist auch der affektive Raum mit toten Winkeln durchsetzt, in die der Klang nicht mehr hineinreicht. — Ist der vollkommene Gesprächspartner, der Freund, also nicht der, der in Ihrem Umkreis die größtmögliche Resonanz schafft? Lässt sich Freundschaft nicht als ein Raum totaler Klangfülle beschreiben? Dieses flüchtige Zuhören, dem ich nur mit Verzögerung einige Aufmerksamkeit für mich abgewinnen kann, gibt mir einen schäbigen Gedanken ein: verzweifelt darauf bedacht, zu verführen, zu zerstreuen, glaubte ich beim Sprechen die ganzen Schätze meiner Gescheitheit auszubreiten, aber diese Schätze werden mit Gleichgültigkeit hingenommen; ich verschwende meine „Qualitäten“ für nichts und wieder nichts: eine ganze Aufwallung von Affekten, Doktrinen, Kenntnissen und Feinfühligkeit, die ganze Brillanz meines Ich verpufft, verhallt in einem schalltoten Raum, so als ob - schuldgefärbter Gedanke — meine Eigenschaften die des Liebesobjektes hinter sich ließen, so als ob ich ihm voraus wäre. Nun ist die affektive Beziehung aber eine genaugehende Maschine; die Koinzidenz, die Klangreinheit im musikalischen Sinne sind da von fundamentaler Bedeutung; was verschoben ist, nicht miteinander übereinstimmt, ist alsbald zuviel: meine Sprache ist sozusagen kein Abfallprodukt, sondern ein „Ladenhüter“: etwas, das im Moment (in der Bewegung) nicht verbraucht und eingestampft wird. Aus dem zerstreuten Zuhören erwächst eine Entscheidungsangst: soll ich fortfahren, „in der Wüste“ predigen? Das bedürfte einer Sicherheit, die gerade die Sensibilität des Liebenden nicht zulässt. Soll ich innehalten, verzichten? Das sähe dann so aus, als quälte ich mich, als stellte ich den Anderen in Frage und als lieferte ich damit den Beginn einer „Szene“. Das ist erneut die Falle. „Der Tod ist vor allem folgendes: alles, was wahrgenommen worden ist, wird umsonst wahrgenommen worden sein. Trauer um das, was wahrgenommen worden ist.“ In jenem kurzen Augenblicken, da ich umsonst spreche, ist es so, als stürbe ich. Denn das geliebte Wesen wird zur bleiernen Gestalt, zur Traumfigur, die nicht spricht, und Stummheit im Traum ist der Tod. Anders ausgedrückt: die belohnende, die gute Mutter zeigt mir selbst den Spiegel, das Bild und sagt: „Das bist du.“ Die stumme Mutter aber sagt mir nicht, was ich bin: ich spüre keinen festen Boden mehr, ich treibe ohne Existenz schmerzlich umher.

Seite 6

Francois Wahl, „Chute“, 43. Freud, „Das Motiv der Kästchenwahl“, G.W. x, 28.


Seite 7

Eine fragmentarische Betrachtung

Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes


Seite 8

Eine fragmentarische Betrachtung

Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes


Seite 9

Eine fragmentarische Betrachtung

Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes


Seite 10

Eine fragmentarische Betrachtung

Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes


Seite 11

WARUM. Zur gleichen Zeit, da das liebende Subjekt sich zwanghaft fragt, warum es nicht geliebt wird, lebt es in dem Glauben, daß das geliebte Objekt es wirklich liebt, es ihm aber nicht sagt.

Bald (oder zugleich) lautet die Frage nicht mehr: »Warum liebst du mich nicht?«, sondern: »Warum liebst du mich nur ein wenig ?« Wie stellst du es an, nur ein wenig zu lieben? Was soll das besagen, dieses »ein wenig« lieben? Ich lebe im Zeichen des zu sehr oder des nicht genug; auf Koinzidenz erpicht, erscheint mir alles, was nicht total ist, zu dürftig; was ich erstrebe, ist, einen Platz einzunehmen, von dem aus die Quantitäten nicht mehr wahrnehmbar ./ sind und wo die Buchführung verpönt ist. Anders ausgedrückt — denn ich bin Nominalist: warum sagst du mir nicht, daß du mich liebst?

Eine fragmentarische Betrachtung

Es existiert für mich ein »oberster Wert«: meine Nietzsehe Liebe. Ich sage mir niemals: »Wozu?« Ich bin kein Nihilist. Ich stelle mir nicht die Frage nach dem Ziel. In meinem monotonen Diskurs taucht kein »warum« auf, es sei denn das eine, immergleiche: aber warum liebst du mich denn nicht? Wie kann man nur dieses ich nicht lieben, das die Liebe (die soviel gibt, beglückt usw.) doch so vollkommen macht? Eine Frage, deren Hartnäckigkeit das Liebesabenteuer überlebt: »Warum hast du mich Heine nicht geliebt?«; oder anders: »O sprich, mein herzallerliebstes Lieb./ Warum verließest du mich?«

Die Wahrheit ist -unerhörtes Paradoxon -, daß ich nicht aufhöre zu glauben, daß ich geliebt werde. Freud Ich halluziniere, was ich begehre. Jede Wunde rührt weniger von einem Zweifel her als von einem Verrat: denn verraten kann nur, wer liebt, eifersüchtig sein nur, wer geliebt zu werden glaubt: der Andere wird gelegentlich seinem Wesen untreu, das darin besteht, mich zu lieben, und eben da liegt der Ursprung meiner Leiden. Ein Wahn existiert jedoch nur, wenn man daraus erwacht (es gibt lediglich retrospektive Wahngebilde): eines Tages verstehe ich, was mir zugestoßen ist: ich glaubte darunter zu leiden, nicht geliebt zu werden, und dabei litt ich, weil ich glaubte, es doch zu werden; ich lebte in dem komplizierten Widerspruch, mich geliebt und zugleich verlassen zu wähnen. Wer immer meine Intimsprache verstanden hätte, hätte nur, wie bei einem schwierigen Kind, rufen können: aber was will er denn nun eigentlich? Ich liebe dich wird zu Du liebst mich. Eines Tages hat X ... anonyme Orchideen erhalten: sofort hat er den Spender halluziniert: sie konnten nur von dem stammen, der ihn liebte; und der ihn liebte, konnte nur der sein, den er liebte. Erst nach einer langen Phase von Selbstkontrolle gelang es ihm, die beiden Folgerungen zu trennen: der ihn liebte, war nicht zwangsläufig auch der, den er liebte.

Antwort auf das >Wozu?«< (Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre> Bd. 1II, 557). HEINE, Lyrisches Intermezzo, 40. FREUO: .Machen wir uns klar, d.ß die halluzinatorische Wunschpsychose [...] zwei keineswegs ineinallderfallende Leistungen vollzieht. Sie bringt nicht nur verborgene oder verdrängte Wünsche zum Bewußtsein, sondern stellt sie auch unter vollem Glauben als erfüllt dar. (»Metapsychologische Ergänzung zur Traumlehre« , G.W. x> 411).

Fragmenten einer Liebe — Roland Barthes

NIETZSCHE: »Was bedeutet Nihilismus? -Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die



Turn static files into dynamic content formats.

Create a flipbook
Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.