Hildegard Burjan - Leseprobe

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Zur Autorin Prof. Ingeborg Schödl, geboren 1934, freie Publizistin und Autorin u. a. von „Gottes starke Töchter – 12 Frauen in der Kirche von heute“, „Im Fadenkreuz der Macht – das außergewöhnliche Leben der Margarethe Ottillinger“, „Mythos Mariazell – Eine Spurensuche“. Sie ist ehemalige Redakteurin der Wiener Kirchenzeitung und Mitglied der ORF-Hörer- und Sehervertretung. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Leopold Kunschak-Presseförderungspreis und das Goldene Verdienstzeichen der Republik Österreich. Im Wiener Dom-Verlag hat sie eine Auswahl pointierter Kurztexte mit Bildern von Renate Habinger herausgegeben: „Aus dem Leben geschöpft. Vermischte Alltagsgedanken“.


Ingeborg Schรถdl

Hildegard Burjan Frau zwischen Politik und Kirche

wiener verlag


Impressum Völlig überarbeitete und aktualisierte Neuauflage von „Zwischen Politik und Kirche – Hildegard Burjan“ (Verlag St. Gabriel 2000). Die Erstauflage erschien unter dem Titel „Männerwelten – Frauenwerke. Hildegard Burjans Vermächtnis an Politik und Kirche“ (Edition Tau 1991). Die Fotos auf den Seiten 65–79 und auf Seite 221 stammen stammen aus dem Archiv der Caritas Socialis in Wien IX. Wir danken der CS für die kostenlose Abdruckerlaubnis dieser Bilder. Das Foto auf S. 222 oben stammt aus dem Archiv der Pfarrgemeinde Neufünfhaus. Wir danken für die freundliche Abdruckgenehmigung. Fotos auf den Seiten 80 sowie 222–224 ©by kathbild.at/Rupprecht Umschlaggestaltung: neuwirth & steinborn, www.nest.at Innenlayout und Satz: neuwirth & steinborn, www.nest.at Schrift: FrutigerNext LT, Eidetic Neo Herstellung: Mag. Tina Gerstenmayer, adpl-solutions – Division Publishing, Wien Druck und Bindung: Druckerei Ferdinand Berger & Söhne, Horn © 2008 by Wiener Dom-Verlag Wiener Dom-Verlag Gesellschaft m. b. H., Wien Printed in Austria. Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-85351-204-3 www.domverlag.at


Inhalt

Das „Gewissen des Parlaments“

7

Auf der Suche nach Gott

12

Ein neuer Lebensabschnitt: Alexander

20

Über Todesnähe zur Glaubenskraft

26

Glanz und Not im Lueger-Zeitalter

32

Die „Heimarbeiterinnenmutter“ von Wien

38

Soziale Pionierarbeit während des Krieges

55

Für Frauenrechte in die Politik

85

Geistliche Wegbegleiter

109

Ein „Hilfstrupp Gottes“ wird gegründet

128

Die Caritas Socialis – ein Netz sozialer Hilfen

149

Leben in zwei Lebenswelten

173

„Nichts war Täuschung“

185

Fußspuren in die Zukunft

209

Beispielgebend und mutmachend Nachwort von Sr. Maria Judith Tappeiner CS

225


Das Leben ist ernst, das Leben ist wirklich, und das Grab ist nicht sein Endziel. „Du bist Staub und wirst zum Staub zurückkehren“, wurde nicht von der Seele gesagt. Das Leben großer Menschen erinnert uns daran, dass wir unser Leben erhaben gestalten können und dass wir, wenn wir scheiden, Fußspuren zurücklassen können – Fußspuren, die vielleicht ein schiffbrüchiger Bruder findet – Und neuen Mut daran fassen kann. Henry Longfellows: Psalm of Lifer (aus dem Englischen)


Das „Gewissen des Parlaments“

Der 12. März 1919 war für die Jahreszeit ein ungewöhnlich schöner, warmer Tag. Ein strahlend blauer Himmel wölbte sich über Wien – Kaiserwetter, wie man hier zu sagen pflegt. Nur – Kaiser gab es in diesem Land keinen mehr. Kaiser Franz Joseph I., der 68 Jahre lang das Vielvölkerreich der k. u. k. Monarchie Österreich-Ungarn zusammengehalten hatte, weniger mit staatsmännischem Geschick als durch den in Folge seiner langen Regierungszeit entstandenen Mythos um seine Person, war tot. Mit ihm war am 21. November 1916 zugleich auch die Donaumonarchie zu Grabe getragen worden. Sein ihm nachfolgender Großneffe, der als Kaiser Karl I. zwei Jahre lang noch versucht hatte zu retten, was nicht mehr zu retten war, befand sich auf dem Weg ins Exil. Der Krieg, der nicht nur das Haus Habsburg zum Einsturz gebracht, sondern auch das Gesicht ganz Europas verändert hatte, war nach vier Jahren zu einem bitteren Ende gekommen. Die Wiener genossen diese warmen Sonnenstrahlen. Die Wohnungen waren kalt, die Mägen leer – die Menschen konnten die Wärme gebrauchen. Der Winter 1918/19 hatte nicht nur Hunger und Kälte gebracht – daran hatte man sich ja schon in den vergangenen Kriegswintern gewöhnt –, zu aller Not hatten sich nun noch seuchenartige Krankheiten gesellt. Mehr als 15 000 Menschen waren in den vergangenen Monaten an der grassierenden „Spanischen Grippe“, an der Ruhr oder an Tuberkulose gestorben. Die Menschen hat7


ten keine Widerstandskraft mehr. Sie waren nicht nur unterernährt, sondern es fehlte ihnen auch an Lebenswillen. Worauf sollten sie auch hoffen? Die Lage spitzte sich seit dem Kriegsende am 3. November 1918 immer mehr zu. Der Zustrom aus den ehemaligen Kronländern in die einstige Residenzstadt riss nicht ab: Soldaten, die nicht mehr wussten, wo ihre Heimat war, deutschsprachige Bürger auf der Flucht, aber auch Menschen, die das Chaos politisch ausnützen wollten, kamen täglich nach Wien. Die Lebensmittelversorgung verschlechterte sich rapid. Rationiert waren die Grundnahrungsmittel schon im Krieg gewesen – 16,5 dag Brot, 3,5 dag Mehl und 0,5 dag Fett täglich. Aber jetzt im Frieden war oft nicht einmal das zu bekommen. Die wirtschaftliche Zulieferung aus den verschiedensten Teilen der Monarchie setzte mit einem Schlage aus. Die sich neu etablierenden Staaten brauchten ihre Lebensmittel selbst. Stundenlang standen die Frauen oft vor den Geschäften, um dann erst recht mit leeren Taschen heimzukommen, wenn das Wenige nicht für alle gereicht hatte. Rezepte für die unterschiedliche Zubereitung von Rüben, die oft das einzige Hauptnahrungsmittel waren, brachten die Tageszeitungen. Aber auch Kartoffelschalen ließen sich angeblich noch verwenden. Nicht alle Ratschläge stießen auf die Zustimmung der Leserschaft. Mit Empörung reagierten die Frauen auf so aufmunternde Worte, wie sie in einem Frauenblatt zu lesen waren: „Frauen, heraus, zeigt, was Wahres und Echtes an Euch ist. Ist das Mahl spärlich, so würzt es doch durch Freundlichkeit und Anmut Eures Gespräches. Mangelt es an Brennmaterial, so spielt mit den Kindern ein Laufspiel, damit ihr die Kälte nicht so empfindet.“ Es war niemandem zu verübeln, dass Anfang des Jahres 1919 die Zukunftshoffnungen bei vielen den Nullpunkt erreichten. Woran sollten die Menschen auch glauben? An die am 12. November 1918 ausgerufene Republik Deutschöster8


reich? An einen Staat, über dessen weiteres Schicksal in wenigen Monaten erst die Siegermächte bestimmen würden? An ein Land, von dem der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau verächtlich sagen wird: „L’Autriche, c’est le reste“ (Österreich, das ist der Rest)? Die Vielvölkerfamilie der Monarchie wurde mit einem Schlag ihrer Wurzeln beraubt. Die meisten nunmehrigen „Restösterreicher“ verbanden persönliche Beziehungen mit den verschiedensten Gebieten der Monarchie. Man hatte seine Kindheit da, die Jugend dort verbracht. Die Berufslaufbahn war oft zu einem geografischen Hüpfen bis in die entlegensten Winkel der Monarchie geworden. Die Menschen waren geprägt von der Verschiedenartigkeit der Kulturen und Traditionen der Kronländer, was auch das Spezifische des Österreichers ausmachte. Und nun war alles zu Ende. Familiäre, freundschaftliche und geistig-kulturelle Bindungen wurden mit Gewalt zerrissen – man stand einander plötzlich als Feind gegenüber. Ein Volk hatte seine Identität verloren. Der in diesem Frühjahr 1919 noch vorhandene Rest an Hoffnungen wurde wenige Monate später, nach dem Friedensdiktat der Siegermächte in Saint-Germain-en-Laye, auch noch begraben. Doch man schrieb erst den 12. März 1919, und die „Konstituierende Nationalversammlung der Republik Deutschösterreich“ trat an diesem Tag zu ihrer vierten Sitzung zusammen. Heute sollten die bei der Wahl am 16. Februar 1919 gewählten Volksvertreter angelobt werden. Nach der Proklamierung der Republik war man sich bewusst gewesen, dass nur durch möglichst rasche Wahlen der neue Staat auf eine tragfähige Basis gestellt werden konnte. So hatte die Provisorische Nationalversammlung am 21. Oktober 1918 eine neue Wahlordnung beschlossen. Nicht nur den männlichen, sondern auch den weiblichen Staatsbürgern, die das 20. Lebensjahr vollendet hatten, war das aktive und passive Wahlrecht verliehen worden. Bedenkt man, dass überhaupt erst elf Jahre vorher, am 26. Jänner 1907, das all9


gemeine und geheime Wahlrecht allen männlichen Bürgern zugebilligt worden war, kann man annehmen, dass sich in dieser Zeitspanne, in der zugleich eine jahrhundertealte Staatsform langsam zerbröckelt war, noch kein besonderes Demokratieverständnis entwickeln hatte können. So ist es auch zu verstehen, dass die Verantwortlichen in diesem Staat den Wahlen mit großer Besorgnis entgegensahen. Der große christlichsoziale Arbeiterführer Leopold Kunschak schrieb darüber später in seinen Erinnerungen: „… die österreichische Bevölkerung ist in die Demokratie nicht hineingewachsen, sie wurde in die Demokratie hineingeworfen. Heute ist offenkundig, dass diese Tatsache genügte, der jungen Demokratie zum Verhängnis zu werden …“ (In Bezug auf die Jahre 1934 und 1938; Anm. d. Verf.) Diese Wahlen waren somit der erste Prüfstein der jungen Republik Deutschösterreich. Der Wahl stellten sich die Sozialdemokraten, die Christlichsozialen und verschiedene andere, auch nationale Gruppen. Die wichtigsten Themen im Wahlkampf waren die künftige Regierungsform und der Anschluss an Deutschland. Letzterer war in der am 12. November einstimmig beschlossenen Resolution der Provisorischen Nationalversammlung festgehalten worden, worin es hieß: „Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik“ (Artikel 2). Man erhoffte sich dadurch vor allem wirtschaftliche Überlebenschancen. Wochen später herrschte darüber nur mehr unter den Sozialdemokraten Einigkeit. Die Christlichsozialen waren in dieser Frage unterschiedlicher Meinung. Viele Ressentiments brachen in diesem Wahlkampf plötzlich unter den politischen Kontrahenten auf und endeten in gegenseitigen heftigen Beschuldigungen. Die Angst vor den vor allem von der Räterepublik des Béla Kun von Ungarn aus geschürten marxistischen Putschversuchen brachte aber doch einen Sieg der Vernunft zustande. Das Wahlergebnis war: 40 Prozent für die Sozialdemokraten, 36 Prozent für die Christlichsozialen und 19 Prozent für die deutschnationalen 10


Gruppen. Bei der am 12. März 1919 im ehemaligen Reichsratsgebäude an der Wiener Ringstraße einberufenen Sitzung der „Konstituierenden Nationalversammlung“ mischten sich unter das feierliche Schwarz der Herren erstmals auch hellere Farbtöne. Von den Mandataren der Sozialdemokraten waren sieben Frauen, unter den 69 Christlichsozialen befand sich nur eine Frau – Hildegard Burjan. Der Erzbischof von Wien, Kardinal Friedrich Gustav Piffl, wird sie „das Gewissen des Parlaments“ nennen. Und der spätere Bundeskanzler Dr. Ignaz Seipel, mit dem sie eine lebenslange Freundschaft, die in einem geistigen Sich-Messen, Kämpfen und Klären bestand, verbunden hat, sagte nach ihrem zu frühen Ausscheiden aus dem politischen Leben, dass er „keinen Mann mit ausgeprägterer politischer Begabung, mit feinerem Fingerspitzengefühl als diese Frau gesehen habe“.

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Hildegard Burjan (stehend, rechts) richtet während des 1. Weltkriegs „Arbeitsausgabestellen“ für Heimarbeiterinnen ein – wie hier im 12. Wiener Gemeindebezirk



Als erste – und einzige – Abgeordnete der Christlichsozialen Partei in der deutsch-österreichischen Nationalversammlung 1919–1920: Hildegard Burjan (li. im Bild, re. von ihr Prälat Seipel)



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