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ALS RADIKAL FEMINISTISCHES MANIFEST

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KUNST ALS WAFFE

KUNST ALS WAFFE

Was bietet diese georgische Neuinterpretation des antiken Stoffes, das in den früheren Versionen noch nicht zu finden war?

Es gibt kaum Figuren – in der antiken griechischen Mythologie wie im Theater – die die Popularität von Medea übertreffen könnten. Abgesehen von diesem allgemeinen Interesse gibt es in diesem Fall noch einen weiteren Aspekt, nämlich das Georgische von Medea – denn der westliche Teil des heutigen Georgiens liegt ungefähr dort, wo das Land Kolchis lag (und ein großer Teil davon wird immer noch Kolchis genannt).

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Daher ist es nicht verwunderlich, dass die Überschreibung von Paata Tsikolias für das Royal District Theatre in Tiflis sich darauf konzentriert, Medeas frühe Jahre zu erforschen – er beschreibt also den Entstehungsprozess der Medea. Mit der sechsten Folge der ersten Staffel Medea s01e06 erfindet der Autor die brutale Welt ihrer jungen Jahre und bevölkert sie mit bemerkenswerten, befremdlichen heutigen Charakteren: Die Figuren posten in sozialen Medien und gehen live, sie betreiben Sexting, fluchen, foltern, erniedrigen und töten. Ihre Welt ist voller Schrecken und menschlicher Abgründe. Die immer wieder gern erzählte Geschichte einer Frau, die sich an ihrem untreuen Ehemann, der aus einem „barbarischen“ Land nach Griechenland ausgewandert ist, auf grausame Weise rächt, wird hier aus einer ganz neuen Perspektive erzählt. Wir sehen die Wurzeln von Medea. Es ist somit die letzte Folge eines komplizierten und langjährigen Dramas. Wir alle wissen, wie es endete, aber wir wissen wenig darüber, wie Medea in der ersten Staffel ihres Lebens geprägt wurde.

EINE ZEITGENÖSSISCHE SPRACHE, DIE DIE MYTHISCHEN FIGUREN AUF DEN BODEN DER TATSACHEN ZURÜCKHOLT

Der Autor und Regisseur Paata Tsikolia gilt als einer der führenden Vertreter des zeitgenössischen georgischen Theaters und zeigt eine junge Königstochter, die den Staat Kolchis und ihre Heimat angreift, d. h. ihr Ziel ist die Zerstörung der eigenen Kultur durch den Akt des Brudermordes. So hat Medea, noch bevor sie sich auf die berüchtigte Ehe mit Jason einlässt, den Akt vollzogen, der sie von der einfachen Sterblichen zur Gottheit erhebt. Dies ist ein Novum in der Auseinandersetzung mit dem Mythos der Medea, die meist als Barbarin dargestellt wird. Medea s01e06 gelingt eine seltene Mischung aus klassischer Tragödie, in der die Melodie des Textes es erlaubt, sich das Unvorstellbare vorzustellen und einer zeitgenössischen Sprache, die die mythischen Figuren auf den Boden der Tatsachen zurückholt und sie fleischig, blutig und schlammig macht.

Diese neue Version kann als radikal-feministisches Manifest gelesen werden: Eine Frau wird in einer totalen patriarchalischen Struktur zur Mörderin, überschreitet alle Grenzen, die in dieser Welt Frauen gesetzt sind – und sie übertrifft dabei all ihre Mitmenschen an Gewalt. Sie ist folglich Anklägerin ihrer eigenen Kultur lange bevor sie Griechenland erreicht und zu dem wird, was sie für die westeuropäische Kultur ist. Medea hat eine Mission, die größer ist als sie selbst. Es ist vor allem eine politische Mission und der Ausdruck, den sie wählt, ist verstörend.

Seit seiner Gründung im Jahr 1997 hat das ROYAL DISTRICT THEATRE in Tiflis (Georgien) innovative Theaterexperimente unterstützt, neue Dramatik gefördert und die Theatersprache in Georgien erweitert. Seit 2008 wurde es unter der Leitung von Data Tavadze und Davit Gabunia zu Festivals weltweit eingeladen, darunter zur ersten Ausgabe von RADAR OST 2018. In diesem Jahr präsentieren sie mit Medea s01e06 eine neue Medea-Version, die mit Tänzerinnen, Animationen und entfesseltem Schauspiel ein völlig unerwartetes Verständnis des Mythos bietet. Sie wurde ausgezeichnet mit dem SABA-Literaturpreis in der Kategorie „Bestes Drama des Jahres“.

DAVIT GABUNIA, Co-Leiter des Royal District Theatre, ist Autor, Dramatiker und Kritiker, gilt als wichtigster Vertreter der Literatur Georgiens und wurde mehrfach ausgezeichnet mit den bedeutendsten Theaterpreisen des Landes.

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