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JUNI 2016 D6940E

Sich weniger aufregen, nicht alles persönlich nehmen, gelassen bleiben

43. JAHRGANG

HEFT 6

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Liebe Leserin, lieber Leser

W

as hat die Kollegin eben gemeint mit ihrer spitzen Bemerkung? Warum ignoriert mich der Nachbar so geflissentlich? Wie stehe ich jetzt vor den Leuten da – nachdem ich so ins Fettnäpfchen getreten bin? Manches, was wir im Alltag mit anderen erleben, geht uns buchstäblich unter die Haut. Anderes nehmen wir zwar zur Kenntnis, aber es perlt an uns ab wie das Wasser an der Ente, es lässt uns kalt. Und wieder anderes ist uns so was von gleichgültig, dass wir Karl Valentin zitieren könnten: „Das ignoriere ich nicht einmal!“ Leider gelingt uns das mit dem Nicht-mal-Ignorieren bei weitem nicht so gut, wie wir es gerne hätten; wir sind meist alles andere als gelassen, wenn wir Kränkungen erfahren oder vor Scham in den Boden versinken möchten. Es ist ein normaler Impuls, auf Kritik und Zurückweisung irritiert und betroffen zu reagieren. Denn als soziale Wesen kann es uns nicht gleichgültig lassen, wie unsere Mitmenschen uns sehen und bewerten. Unser Wohlbefinden hängt in hohem Maße von der Akzeptanz und Wertschätzung anderer ab, wir haben ein starkes Bedürfnis, uns zugehörig und eingebunden zu fühlen. Über dieses need to belong wacht ein psychologisches System, das die Sozialpsychologen Mark R. Leary und Roy Baumeister als „Soziometer“ beschrieben haben. Dieses scannt automatisch und ununterbrochen unsere soziale Umgebung, um zu prüfen, wie es um unseren Beziehungswert steht. Registriert es – zum Beispiel – kritische Blicke oder negative Kommentare, signalisiert das System: „Da stimmt was nicht!“ Unser Selbstwertgefühl verschlechtert sich, wir fühlen uns unwohl und unglücklich, grübeln über das Geschehene nach. Die Arbeit des Soziometers spüren übrigens nicht nur die Sensiblen unter uns, sondern auch Menschen, die glauben, von der Meinung anderer weitgehend unabhängig zu sein. Es lässt uns also nicht kalt, wenn andere mit uns nicht einverstanden sind (und wir deshalb nicht mit uns). Doch wir können lernen, unempfindlicher zu werden und uns ein dickeres Fell zuzulegen, das uns schützt vor unvermeidlichen Nadelstichen (Seite 18). Denn – und das ist die gute Nachricht – wir sind unserem Soziometer nicht ausgeliefert. Es ist möglich, uns und unseren ganz normalen Unzulänglich-

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keiten gleichmütiger zu begegnen und von Fall zu Fall zu entscheiden, wie wir die Einschätzung des Soziometers bewerten wollen: Wie schlimm ist die Zurückweisung? Will ich die Kritik ernst nehmen? Ist dieser Mensch wichtig für mich? Auch Hinweise, wie sie der amerikanische Satiriker und Autor Roger Rosenblatt in seinem Buch Rules for Aging (Regeln fürs Älterwerden) gibt, sind hilfreich, die Ausschläge des Soziometers in Grenzen zu halten: „Es ist nicht wichtig!“ Was immer wir denken – es ist sub specie aeternitatis nicht wirklich von Bedeutung. Ob der Boss böse guckt, ob die Freundin zickig ist, ob man einen bad hair day hat – was soll’s! Und ein zweiter Hinweis: „Niemand denkt an dich!“ Soll heißen: Wir bilden uns nur ein, dass die anderen zwei Drittel ihres Tages damit verbringen, über unsere Angelegenheiten zu räsonieren oder unsere Arbeit zu kritisieren oder unser Aussehen zu bewerten. Rosenblatt: „Niemand denkt über dich nach. Die anderen denken an sich – so wie du auch!“

u.nuber@beltz.de

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IN DIESEM HEFT

TITELTHEMA

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Nicht immer sind die anderen nett zu uns: Der Kollege stichelt mal wieder, von der Tochter hagelt es Vorwürfe, der Kunde brüllt ins Telefon. Wie oft wünschen wir uns in solchen Situationen: „Ach hätte ich doch ein dickeres Fell!“ Aber ist das überhaupt erstrebenswert? Wie können wir uns vor Kränkungen und Stress schützen, ohne unsensibel zu werden?

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62 Trainieren bis zum Umfallen Sie kennen keine Grenzen und rennen selbst mit blutigen Füßen: Für manche Menschen wird Sport zu einer Suchterkrankung

Von Thomas Müller

66 „Integration ist der beste Schutz

gegen Terrorismus“ Ein Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Andreas Bock über seine These, dass der „Krieg gegen den Terror“ den Islamismus stärkt

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Schon im Vorschulalter haben Jungen und Mädchen heute übers Internet Zugriff auf eindeutigstes pornografisches Material. Und was sie dort sehen, hat durchaus Auswirkungen auf ihr Verhalten. Wie sollen Eltern und Erzieher reagieren, wenn Kinder die Szenen nachspielen oder Sätze sagen wie „Komm, wir ficken“?

70 „Du nutzloses Stück Dreck!“ Leben im digitalen Zeitalter, Teil vier: Im Internet wird beleidigt, gehetzt, gedroht. Was steckt hinter dem Hass?

Von Jochen Metzger

RUBRIKEN

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„Nehmen Sie doch Platz auf der philosophischen Couch!“ Philosophie ist populär wie selten zuvor. Bestsellerautoren verbreiten Sinnstiftendes von Sokrates & Co für alle Lebenslagen. Manche Philosophen eröffnen sogar Praxen und preisen ihr Fach als Alternative zur Psychotherapie. Was sollen wir davon halten?

16 Therapiestunde Angst vor der Leere

Von Margarethe Schindler

32 Psychologie nach Zahlen Sieben Mythen rund um das Alter

Von Thomas Saum-Aldehoff

76 Der Psychotest Wie logisch denken Sie?

Von Jochen Metzger

78 Pehnts Alltag Lob und Wahrhaftigkeit

Von Annette Pehnt

3 Editorial 6 Themen & Trends 52 Körper & Seele 57 Schilling & Blum: Irgendwas mit Menschen 80 Buch & Kritik 91 Medien 92 Leserbriefe 93 Impressum 94 Im nächsten Heft 95 Markt 106 Noch mehr Psychologie Heute PSYCHOLOGIE HEUTE

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THEMEN&TRENDS

Mächtig kompromisslos „Nächtliche Verhandlungen enden ohne Durchbruch“, hieß es im vergangenen Sommer bei Zeit Online. Damals konnten sich die Staatschefs der EU lange nicht auf Hilfen für das bankrotte Griechenland einigen. Und in diesem Jahr fanden Angela Merkel und ihre europäischen Kollegen lange keine gemeinsame Position in der Flüchtlingskrise. Diese Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Zwar gibt es für Dissens oft inhaltliche Gründe. Doch häufig steckt mehr dahinter, meinen der Managementexperte John Angus Hildreth und der Psychologe Cameron Anderson. Mächtige sind von ihrer eigenen Macht gelähmt, sagen die Forscher von der Universität von Kalifornien in Berkeley. Wer es im Alltag als Staatschef oder Topmanager gewohnt ist, dass seine Ideen mehr zählen als die der Untergebenen, wer üblicherweise das letzte Wort hat – der tut sich schwer, in Verhandlungen auf Augenhöhe einen Kompromiss zu finden. Wichtiger als Ergebnisse ist ihm die Sicherung seiner herausgehobenen Position. Hildreth und Anderson gewannen für ihr Experiment 158 Führungskräfte eines Unternehmens. 6

Manche leiteten Abteilungen von mehr als 100 Mitarbeitern, andere kleinere Einheiten. Zu dritt oder viert verhandelten die Teilnehmer über die Einstellung eines Jobsuchenden. Dabei achteten die Forscher darauf, dass die Diskutanten auf Augenhöhe zueinander waren. Es fanden einerseits besonders Mächtige zusammen, andererseits weniger Einflussreiche. Mehr als 80 Prozent der aus Normalos zusammengesetzten Einheiten einigten sich innerhalb einer Frist von 30 Minuten. Dagegen bremsten sich die Alphatiere gegenseitig aus. Weniger als die Hälfte ihrer Teams fand einen Konsens. Was erklärt diese Unterschiede? In einem weiteren Versuch wiesen Hildreth und Anderson ganz normalen Versuchspersonen einen hohen oder niedrigen Status zu. Das Ergebnis: Auch die eigentlich Unauffälligen arbeiteten schlechter zusammen, wenn ihnen eine einflussreiche Stellung zugefallen war. Offenbar korrumpiert Macht tatsächlich.

REDAKTION: JOHANNES KÜNZEL

Donald Trump: Als Präsident der USA müsste er mit anderen Staatschefs verhandeln – wobei ihm sein Ego im Weg stehen könnte

John Angus D. Hildreth, Cameron Anderson: Failure at the top: How power undermines collaborative performance. Journal of Personality and Social Psychology, 110/2, 2016, 261–286. DOI: 10.1037/pspi0000045

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Was ist der gefährlichste Teil eines Autos? Der Mensch hinterm Steuer! Einer Auswertung von 905 Unfällen in den USA zufolge ließ sich mehr als die Hälfte der Crashs durch abgelenkte Fahrer erklären. Weitere häufige Ursachen: Müdigkeit, Alkohol- und Drogenkonsum sowie Fehleinschätzungen.

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schöne Dinge zu notieren steigert das Wohlbefinden. Ein gutes Buch, ein attraktiver Mensch, ein leckeres Essen, egal – wer Buch darüber führt, was ihm ästhetisch positiv auffällt, hebt durch den bewussten Umgang mit Schönheit seine Laune. Diese Wirkung hält bis zu einen Monat an.

DOI: 10.1073/pnas.1513271113 DOI: 10.1016/j.paid.2016.01.028

Schön glücklich? Viele Menschen gehen ins Fitnessstudio, um ihren Körper zu stählen. Manche unterziehen sich gar einer SchönheitsOP. Da liegt die Vermutung nahe: Hätten wir ein hübscheres Gesicht und einen attraktiveren Körper, dann wären wir auch glücklicher. Dem widerspricht eine neue Studie des polnischen Glücksforschers Lukasz Kaczmarek von der AdamMickiewicz-Universität in Posen. Kaczmarek teilte 97 Probanden in zwei Gruppen ein. Die eine Hälfte startete mit Fragen zum eigenen Aussehen und dachte dann über ihre Lebenszufriedenheit nach. Die anderen Teilnehmer widmeten sich den Aufgaben in umgekehrter Reihenfolge. Das Ergebnis: Je attraktiver die Probanden sich selbst einschätzten, desto glücklicher schienen sie zu sein – aber nur dann, wenn sie zuerst zu ihrem Aussehen befragt worden waren. Im umgekehrten Fall war die Verbindung zwischen Schönheit und Befinden nur sehr schwach ausgeprägt. Wie kann das sein? Kaczmarek geht davon aus, dass die Probanden einer sogenannten „Fokussierungsillusion“ unterliegen: Erst wenn sie darauf gestoßen werden, dass ihr Glück etwas mit ihrem Aussehen zu tun haben könnte, stellen sie eine zuvor irrelevante Verbindung zwischen den Aspekten her. Dazu bemerkte schon der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman: „Nichts im Leben ist so wichtig, wie man denkt, es sei denn, man denkt darPATRICK SPÄT über nach.“ Lukasz D. Kaczmarek u.a.: Would you be happier if you looked better? A focusing illusion. Journal of Happiness Studies, 17, 2016, 357–365. DOI: 10.1007/s10902-0149598-0

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Im Dunkeln essen: ein neuer Diättrick? Zumindest naschten in einem Versuch von Psychologen um Britta Renner Probanden mit verbundenen Augen weniger Spaghettieis. Vielleicht fehlte ihnen der appetitanregende Anblick von Erdbeersoße auf Vanilleeis.

Aus einer funktionierenden Beziehung lässt sich niemand herauslösen? Falsch, sagt der Psychologe Edward Paul Lemay. Er hat das bei Freundschaften zwischen Männern und Frauen untersucht. Machte der eine die Beziehung des anderen schlecht („Sie verdient dich einfach nicht“, „So gut sieht er auch nicht aus“), fühlte sich der andere weniger stark an seinen Partner gebunden. DOI: 10.1177/1948550615623843

DOI: 10.1016/j.foodqual.2016.02.010

Frag mich doch mal! Als Ratgeber gefragt zu sein, verleiht dem eigenen Leben Bedeutung. Besonders im mittleren Lebensalter steigt das Bedürfnis danach, sich für nachfolgende Generationen zu engagieren. Generativität nannte das der Psychoanalytiker Erik Erikson. Doch offenbar fehlt vielen älteren Menschen die Gelegenheit, ihr Wissen weiterzugeben. Das hat der Soziologe Markus Schafer von der Universität von Toronto herausgefunden. Schafer und seine Koautorin Laura Upenieks werteten Daten von mehr als 2500 erwachsenen Amerikanern aus. Von den 60- bis 69-Jährigen war im Jahr vor der Befragung ein Fünftel kein einziges Mal um ihren Rat gefragt worden. Bei den Älteren war die Quote noch höher. Bei den Jüngeren dagegen musste nur jeder Zehnte seine Ansichten für sich behalten. Und was ist daran schlimm? Wer seine Erfahrungen teilen kann, sieht mehr Sinn in seinem eigenen Leben. Besonders ausgeprägt ist dieser Zusammenhang für Befragte ab dem siebten Lebensjahrzehnt. Doch in dieser Zeit gehen viele Menschen in Rente, die Kinder sind längst aus dem Haus. Die Gelegenheiten, anderen zu helfen, nehmen ab. „Die Bedürfnisse der späten Lebensmitte passen nur schlecht mit der sozialen und demografischen Wirklichkeit zusammen“, sagt Schafer. Besonders tragisch: Eigentlich schätzen Jüngere die Alten als weise Gesprächspartner. Markus H. Schafer, Laura Upenieks: The age-graded nature of advice: Distributional patterns and implications for life meaning. Social Psychology Quarterly, 79/1, 2016, 22–43. DOI: 10.1177/0190272516628297

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Verloren in Träumen Positives Denken gehört zu den Standardempfehlungen zahlloser Motivationsgurus und Selbsthilfebücher. Doch womöglich kann es sich rächen, die eigene Zukunft in leuchtenden Farben zu malen. Das befürchtet jedenfalls die Psychologin Gabriele Oettingen, die aus Deutschland stammt und an der New York University lehrt. In mehreren Untersuchungen ließ sie Studierende und Schulkinder Fragebögen zu depressiven Symptomen einerseits und Zukunftsfantasien andererseits ausfüllen. Die Kinder sollten sich beispielsweise vorstellen, sie seien siegesgewiss in der Endrunde eines Rechtschreibwettbewerbs angekommen und merkten nun, dass die anderen auch sehr gut sind. Welche Fantasien würden sie in dieser Situation entwickeln? In einer anderen Untersuchung antworteten Studierende nicht auf solche fiktiven Vorgaben, sondern notierten vier Tage lang immer wieder, wie positiv oder negativ ihre tatsächlichen Stimmungen und Vorstellungen gerade waren. Das Ergebnis der insgesamt vier Untersuchungen war immer dasselbe: Wer sich positiven Zukunftsfantasien hingibt, fühlt sich kurzfristig gut. Doch einige Wochen oder Monate später ist seine Stimmung depressiver als vorher. Eine der Studien zeigt, woran das liegen könnte: Die Motivation, sich anzustrengen, schwindet – und das führt später zu Problemen. Wenn sich Studierende eine rosige Zukunft ausmalen, geben sie sich beim Lernen wenig Mühe und kassieren deshalb schlechte Noten. Die verhageln dann die Stimmung.

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Träumt er gerade von einer goldenen Zukunft?

Die Psychologin sieht Parallelen zu früheren Forschungsergebnissen. Wenn jemand einen Suizidversuch hinter sich hat, denkt er erst einmal über keinen weiteren nach, wenn er sich für die Zukunft Glück und Gesundheit ausmalt. Doch tatsächlich ist in diesem Fall die Gefahr größer, dass er in den nächsten 15 Monaten noch einmal versucht, sich umzubringen. Auch das Beiseiteschieben von Problemen führt langfristig zu depressiver Stimmung, so Gabriele Oettingen: „Positive Fantasien und Verdrängen erlauben Menschen, Problemen zu entgehen – aber nur bis die JOCHEN PAULUS Wirklichkeit zuschlägt.“ Gabriele Oettingen u.a.: Pleasure now, pain later. Positive fantasies about the future predict symptoms of depression. Psychological Science, 27/3, 2016, 345–353. DOI: 10.1177/0956797615620783 Einen ausführlichen Überblick über die Forschung Gabriele Oettingens bietet ihr Beitrag Träume machen träge in Heft 9/2015

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Auch Einstein hatte es schwer

Mehr Risiko mit Helm

Was motiviert Schüler, für den Chemie- oder Physikunterricht zu lernen – gerade diejenigen, die keinen intuitiven Zugang zum Fach finden? Wie amerikanische Bildungswissenschaftler um Xiaodong Lin-Siegler von der Columbia-Universität in New York herausgefunden haben, helfen Geschichten vom Scheitern berühmter Forscher. Die Wissenschaftler teilten 402 Neunt- und Zehntklässler aus New York in drei Gruppen ein. Ein Teil der Jugendlichen las einen Text über die persönlichen Schwierigkeiten bedeutender Köpfe, etwa die Flucht Albert Einsteins aus Nazideutschland. Eine andere Gruppe erfuhr von intellektuellen Rückschlägen, etwa fehlgeschlagenen Experimenten der Physikerin und Chemikerin Marie Curie. Dazu gehörte aber auch, wie diese Niederlagen letztlich doch zum Gelingen des Projekts beitrugen. Eine Kontrollgruppe beschäftigte sich mit den herausragenden Leistungen von Genies. Nach sechs Wochen zeigten diejenigen Schüler, die von persönlichen oder intellektuellen Schwierigkeiten Einsteins oder Curies erfahren hatten, verbesserte Leistungen. Besonders profitierten diejenigen, die zuvor besonders schlechte Noten eingefahren hatten. Xiaodong Lin-Siegler meint, vielen Schülern sei nicht klar, dass Rückschläge und Schwierigkeiten zum Lernen dazugehören. Xiaodong Lin-Siegler u.a.: Even Einstein struggled: Effects of learning about great scientists’ struggles on high school students’ motivation to learn science. Journal of Educational Psychology, 108/3, 2016, 314–328. DOI: 10.1037/ edu0000092

Der Physiker Albert Einstein als 14-jähriger Junge

Radfahrer, die einen Helm tragen, gelten als vorsichtig und umsichtig. Dass dies nicht unbedingt stimmen muss, bewiesen die britischen Psychologen Tim Gamble und Ian Walker von der Universität von Bath. Unter einem Vorwand ließen sie 80 Probanden zwischen einem Fahrradhelm und einer Schirmmütze wählen. Angeblich sollten mit einer auf der Kopfbedeckung angebrachten Kamera die Augenbewegungen aufgezeichnet werden. Tatsächlich interessierte die Wissenschaftler etwas anderes: nämlich die Risikobereitschaft der Probanden, etwa bei einem Computerspiel. Die Ergebnisse zeigen, dass die behelmten Versuchspersonen mutiger an ihre Aufgaben herangingen als die Mützenträger. Der Fahrradhelm erhöhte die Risikobereitschaft ebenso wie das Bedürfnis, nach Reizen und Nervenkitzel zu suchen. Und das, obwohl kein Zusammenhang zwischen den Gefahren im Labor – dem Scheitern bei einem Computerspiel – und der Kopfbedeckung bestand. Nach Ansicht der Forscher ist dafür das sogenannte social priming verantwortlich, wonach ein Stereotyp (Helm = Schutz) automatische Einstellungen und Verhaltensweisen aktiviert. MARION SONNENMOSER

Tim Gamble, Ian Walker: Wearing a bicycle helmet can increase risk taking and sensation seeking in adults. Psychological Science 27/2, 2016, 289–294. DOI: 10.1177/0956797615620784

Wie soll man sich in 100 Jahren an Sie erinnern? Die Psychologin Samantha Heintzelman erhielt auf diese Frage überraschende Antworten. Die meisten Befragten nämlich wünschten sich, anderen nach ihrem Tod mit ihren guten und schlechten Seiten im Gedächtnis zu bleiben. DOI: 10.1016/j.jrp.2015.12.004

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Weggefährte Eingebildet ist er nur für andere: Viele Kinder haben einen imaginären Freund, der sie teils über Jahre ihres Lebens begleitet. Fünf Erkenntnisse über fantastische Begleiter, die auch manchem Erwachsenen nicht fremd sind

Verbreitete Vorstellung

Die Quellen zu dieser Infografik finden Sie auf unserer Website: www.psychologie-heute.de/literatur Illustration: Eva Revolver / Sepia; Text: Eva-Maria Träger

Schätzungsweise 37 Prozent aller Kinder im Alter bis zu sieben Jahren haben zeitweise einen imaginären Freund. Schließt man Kuscheltiere oder andere Spielzeuge, die als lebendig behandelt werden, mit ein, sollen es sogar 65 Prozent sein. Nicht immer wissen die Eltern davon.

Vielfältige Gestalten Ein zwei Meter großer Hase, ein gemütlicher Bär, ein verständiger Stofft iger: Die Grenzen bei der Gestalt und Persönlichkeit des imaginären Freundes setzt nur die Fantasie des Kindes. Viele dieser Kameraden sind unsichtbar und verfügen über besondere Fähigkeiten, gerne auch Zauberkräfte.

Abgründige Charaktere Nicht alle imaginären Freunde sind freundlich: Viele Kinder beschreiben ihren Begleiter auch als streitsüchtig, ungehorsam und nicht zähmbar. Trotzdem ist ihnen dabei durchaus bewusst, dass es nur eine Vorstellung ist, die ihnen da auf der Nase herumtanzt.

Geteiltes Leid

Gewachsene Bindung Mädchen haben eher einen imaginären Freund als Jungen. Die Angaben des typischen Alters variieren: von drei bis sechs Jahren bis ins Jugendalter und darüber hinaus. Bei Teenagern kann ein Tagebuch die Funktion übernehmen, bei manchem Erwachsenen ein geliebter Verstorbener – und viele Schriftsteller fühlen sich beim Schreiben von einem selbst erdachten Charakter geführt.

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Imaginäre Freunde können Kindern als Beistand bei Krisen und ihrer Bewältigung dienen. Doch nicht jedes betroffene Kind hat zwangsläufig Probleme. Viele scheinen besonders sozial verständig, kreativ und fantasievoll zu sein, ohne auff ällige Defizite. Doch welchem Zweck auch immer der Fantasiefreund dient: Sobald er ihn erfüllt hat, verschwindet er auch wieder.

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IM FOKUS

„Eine Masse ist nicht zugänglich für Vernunft“ In Clausnitz belagert ein wütender Mob einen Flüchtlingsbus und skandiert „Holt sie da raus“. In Bautzen feiert eine grölende Horde den Brand einer Aufnahmeeinrichtung. Was passiert mit Menschen, wenn sie zu einer Masse werden? Ein Gespräch mit dem Systemwissenschaftler Thomas Brudermann

Herr Dr. Brudermann, Sie beschäftigen sich wissenschaftlich mit Situationen, in denen Menschen in der Gruppe ihre Individualität zu verlieren scheinen und zu einer gesichtslosen wütenden Masse, zu einem Mob werden. War das in Clausnitz und Bautzen der Fall?

Ich kann das, was dort vorgefallen ist, auch nur anhand der Medienberichte und Videos im Internet beurteilen und habe daher ein unvollständiges Bild. Doch diese Bilder und Berichte legen nahe, dass wir es hier mit einem aggressiven Mob zu tun haben, wie wir ihn in Deutschland zumindest in der jüngeren Vergangenheit nicht oft gesehen haben.

Die Rohheit und Aggressivität erinnern mich zum Beispiel an den inszenierten Volkszorn in Libyen und anderen arabischen Ländern im Jahr 2012. Ein schlecht gemachtes YouTube-Video, das man als Schmähung des Propheten Mohammed empfand, war damals der Initialzünder für Ausschreitungen, in denen unter anderem Botschaften attackiert und Fahnen verbrannt wurden. Der politische Hintergrund war ein anderer, aber die psychologischen Mechanismen sind ähnlich. Um mal ein unpolitisches Beispiel zu nehmen: Inwiefern ähnelt und unterscheidet sich der Mob in Clausnitz von einer Horde aufgebrachter Fußball-

Fallen Ihnen andere Begebenheiten ein, die dem

fans, die fäusteschwingend den Mannschaftsbus

vergleichbar sind, was da in Sachsen passiert ist?

belagern?

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Diese Emotion sorgt für eine Gleichrichtung der Masse, sie dominiert alles, alles ist ihr untergeordnet.

Auf den ersten Blick überwiegen Gemeinsamkeiten: Es gibt ein Feindbild, die Horde besteht ausschließlich oder überwiegend aus Männern, vorwiegend jungen Männern, man sieht kollektive Wut, oft auch unter dem Einfluss von Alkohol. Allerdings ist ein Mob à la Clausnitz vielschichtiger und alarmierender, denn er ist aus meiner Sicht Folge einer schleichenden Entwicklung in der Gesellschaft und Politik über die letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg. Die Psychologen Thomas Fenzel und Constantin Malik nennen diese unterschwelligen gesellschaftlichen Entwicklungen „Phänomene erster Ordnung“. Sie bereiten den Boden für die „Phänomene zweiter Ordnung“, nämlich die kurzen explosiven, sichtbaren Ausbrüche, wie wir sie in Clausnitz erlebt haben.

Sie haben die psychologische Ansteckung in einer Masse am Computer simuliert. Wie sind Sie da vorgegangen?

Man definiert wie in einem Computerspiel Regeln, die das Verhalten und das Wechselspiel der virtuellen Akteure beschreiben, und programmiert die Akteure mit diesen Verhaltensregeln. Dann startet man das Programm, lässt die Akteure agieren und interagieren und beobachtet quasi gottgleich, was passiert. Diese virtuellen Akteure entsprechen den Menschen in einer Masse?

Genau. Man versucht hier, einfache Mechanismen zu identifizieren, die Gültigkeit haben für Massenphänomene. Natürlich lassen sich diese Modelle nicht einfach auf die menschliche Realität übertragen, aber sie sind hilfreich, um diese Realität zu verstehen.

Hat sich da unterschwellig schon seit langem eine politisch gleichgesinnte, latent aggressive Masse gebildet, die viel größer ist als der sichtbare Mob?

Die Möglichkeit ist zumindest nicht von der Hand zu weisen, dass sich in Teilen der Bevölkerung eine entsprechende Stimmungslage ausgebreitet hat.

Eine Frage, die Sie auf diese Weise untersucht

Was passiert in dem Moment, in dem sich solche

Teilnehmern, damit sie sozusagen zündet und zu

Gleichgesinnten zusammenfinden? Entsteht da

einem Mob wird?

eine Eigendynamik, die sie von einer Ansamm-

In unseren Modellen konnten wir keine solche Mindestanzahl von „infizierten“ Teilnehmern identifizieren, die zur Massenbildung notwendig sind. Manchmal reichte bei bis zu 10 000 Akteuren schon ein einzelner Initialagent aus, um ein Massenphänomen zu begründen. Dieser Initiator infizierte dann einen zweiten, einen dritten und diese dann wiederum zehn und so fort. Eine „kritische Masse“, analog zu einer nuklearen Kettenreaktion, war da nicht erforderlich. Es ist ohnehin ein oft untaugliches Unterfangen, Konzepte aus der Physik auf die Sozialpsychologie zu übertragen. Isaac Newton soll, nachdem er in einer der ersten Spekulationsblasen am Finanzmarkt viel Geld verloren hatte, resignierend gesagt haben: „Ich kann zwar die Bewegung der Himmelskörper berechnen, aber nicht die Verrücktheit der Menschen.“

haben, ist: Braucht eine Menschenansammlung eine bestimmte Größe, eine „kritische Masse“ an

FOTO: K ATHARINA LEV Y / PHOTOCASE.DE

lung von Individuen zu einem Mob werden lässt?

Aus den Polizeiberichten geht meines Wissens nicht genau hervor, auf welche Weise sich diese Menschen zusammengerottet haben. Aber mir scheint plausibel, dass da zunächst Leute zusammenkamen, die eine ablehnende, negative Grundstimmung gegen die Aufnahme von Flüchtlingen einte, die noch nicht notwendigerweise Gewaltbereitschaft umfasst haben muss. Aber aus der Gruppe heraus kann es – vielleicht auch angestachelt von lauten Wortführern – zu Verhaltensweisen kommen, die die meisten Teilnehmer einzeln niemals zeigen und wagen würden. In einer psychologischen Masse herrschen ganz schlichte Verhaltensregeln: Man tut, was die anderen tun, schreit, wenn sie schreien, schaukelt sich gegenseitig auf. Das Verhalten der Einzelnen synchronisiert sich. Eine psychologische Masse kennt dann nur noch eine Meinung, ein Ziel. Da gibt es keinen Widerspruch, keine Diskussion, keine Reflexion. Das Ausmaß an Gewalttätigkeit, das aus dieser Dynamik entstehen kann, ist schwer vorauszusagen.

Auch wenn man es nicht berechnen kann: Was trägt dazu bei, dass Menschen zur Masse werden?

Welche Rolle spielen Emotionen in diesem Prozess des Hochschaukelns?

Massen sind charakterisiert durch eine einzige einfache, starke Emotion, die alle vereint. Das kann auch Euphorie sein, etwa der Investoren an der Börse, die dann zu Spekulationsblasen führt. Es kann Angst sein, etwa bei einer Massenpanik. Oder eben Wut. PSYCHOLOGIE HEUTE

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Thomas Brudermann ist Assistenzprofessor an der Universität Graz. Er schrieb das Buch Massenpsychologie (Springer 2010).

Es hängt vor allem von der Anfälligkeit des Einzelnen und der Bevölkerung insgesamt ab. Bestimmte Rahmenbedingungen machen uns empfänglicher für psychologische Ansteckung. Dabei sind zwei Faktoren entscheidend: emotionale Erregung und Unsicherheit. Die Psychologen Stanley Schachter und Jerome Singer haben schon in den 1960er Jahren in Experimenten gezeigt, dass ängstliche oder euphorische Erregung einerseits und Orientierungslosigkeit andererseits Menschen anfälliger machen für Sug13


IM FOKUS

gestion: Sie nehmen dann eher die Erklärungen von anderen an, statt selbst abzuwägen. In einer Situation wie jetzt haben wir beides: Wir haben Unsicherheit – es kommen viele Zuwanderer, Flüchtlinge aus Kriegsgebieten, und wir wissen nicht, in welcher Weise dies unser Zusammenleben verändern wird und ob diese Entwicklung bedrohlich ist. In dieser Unsicherheit schwingt schon eine ängstliche Erregung mit, und wenn dann ein Ereignis wie in der Silvesternacht in Köln hinzukommt, dann kommt eine zusätzliche heftige Emotion hinzu, nämlich Wut. Das ist der perfekte Nährboden für psychologische Ansteckung, für Suggestion, für einfache Erklärungen. Daraus entstehen Massenphänomene. Ist eine Masse erst einmal entstanden, geht von ihr eine „hypnotische Wirkung“ aus, meinte Gustave Le Bon, der Ende des 19. Jahrhunderts die Massenpsychologie begründete. Kann man sich dem Sog einer Masse dann gar nicht entziehen?

Le Bon hatte in vielem recht und hat sehr viel vorweggenommen. Allerdings sollte man relativieren: Eine Masse kann anziehen, aber auch abstoßen, je nach persönlichem Hintergrund. Ein überzeugter Befürworter der Willkommenskultur, der einen solchen Mob erlebt, wird sich sicher abgestoßen fühlen. Aber: Jeder, der schon einmal im Fußballstadion von einer kollektiven Begeisterung erfasst worden ist – oder von einer tiefen Trauer wie nach den Attentaten von Paris –, der weiß, dass von solchen Massen schon eine ganz besondere Wirkung ausgeht.

Wenn ich Teil eines Mobs bin, löst sich das Empfinden persönlicher Verantwortung praktisch in nichts auf

Ich meine: ja. Es ändern sich ja nicht nur die politischen, sondern auch die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Wir leben nun schon seit einigen Jahren in einer Zeit problematischer Wirtschaftsentwicklung. Die Jahrzehnte des Aufschwungs sind tendenziell vorbei oder zumindest ausgesetzt. Das bewirkt eine latente Unsicherheit, und die heftigen Reaktionen auf die Flüchtlingskrise zeugen von dieser Unsicherheit. Vor 15 Jahren wäre die Reaktion vielleicht gelassener ausgefallen. Der amerikanische Finanzwissenschaftler Robert Prechter geht in seiner Socionomics-Theorie sogar davon aus, dass die social mood, die gesellschaftliche Grundstimmung, keine Folge von Ereignissen ist, sondern umgekehrt die treibende Kraft hinter diesen Ereignissen: Ängstliche Menschen führen Kriege. In Zeiten des Optimismus gründet und erweitert man die EU, in pessimistischen Zeiten, wie wir sie heute erleben, haben wir die Spaltungstendenzen. Welche Rolle spielt die Pegida-Bewegung aus massenpsychologischer Sicht?

„Reizschwellen“: Der oder die eine steckt sich

Sie ist eine Art Wegbereiter. Pegida reduziert sämtliche gesellschaftlichen Entwicklungen auf ein Thema: Bildungsrückstand, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, Wohnungsmangel – alles wird auf Einwanderung und Überfremdung zurückgeführt. Diese eindimensionale Diskussion senkt bei Einzelnen Hemmschwellen: Wer davon überzeugt ist, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen, schließt sich leichter einem Mob wie in Clausnitz an. Und das senkt seinerseits die Hemmschwelle für weitere Mobs: Der Tabubruch ist dann ja bereits etabliert.

leichter mit dem Massenvirus an, der andere ist

„Das sind keine Menschen, die so etwas tun“, ent-

resistenter. Wovon hängt das ab?

fuhr es dem sächsischen Ministerpräsidenten Sta-

Wahrscheinlich von der persönlichen Geschichte, dem Erfahrungsschatz und zum Teil von der Persönlichkeit. Manche sind zudem anfälliger, sich von euphorischen Emotionen anstecken zu lassen, andere stecken sich eher mit einer aggressiven Stimmung an. Aber entscheidend sind vor allem die Rahmenbedingungen, das gesellschaftliche Klima, denn dies ändert die Reizschwellen von sehr vielen Menschen. Wir haben in unserem Modell beobachtet, dass oft schon eine geringfügige Änderung der durchschnittlichen Reizschwelle in einer Population darüber entscheidet, ob sich ein Massenphänomen ausbreitet oder nicht.

nislaw Tillich nach Clausnitz und Bautzen. Wird

Sie vermuten unterschiedlich hohe individuelle

Flüchtlingskrise, Kriege rund um Europa, Terroranschläge, schwere Konflikte innerhalb der EU bis hin zum drohenden Zerfall: Leben wir in einer Zeit gesenkter Reizschwellen mit der Gefahr kaum kalkulierbarer Massenbewegungen?

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man tatsächlich „entmenschlicht“, wenn man zum Bestandteil einer Masse wird?

Ich denke, wir müssen uns ohnehin von dem lange vorherrschenden humanistischen Ideal eines rationalen, eigenständig denkenden Menschen verabschieden. Wir Menschen sind nicht von Vernunft und Weisheit allein angetrieben. Wir handeln in vielen Situationen intuitiv und rationalisieren unsere Handlungen erst im Nachhinein. Als soziale Wesen orientieren wir uns fast immer an dem, was andere Menschen denken, meinen und tun. Aus neurowissenschaftlichen Studien weiß man, dass wir gar nicht in der Lage sind, solche sozialen Einflüsse auszublenden. In einer psychologischen Masse multipliziert sich dieser Effekt sozialer Einflüsse natürlich enorm. Schon in Gruppen verringert sich das individuelle Verantwortungsgefühl. Wenn ich Teil eines Mobs PSYCHOLOGIE HEUTE

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bin, dann löst sich das Empfinden persönlicher Verantwortung praktisch in nichts auf. Die Verantwortung wird an die Gruppe, an den Mob abgegeben. In Clausnitz haben Leute aus dem Mob, der den Flüchtlingsbus umlagerte, auch weinende Kinder drohend angeschrien – ein Verhalten, das Außenstehende als zutiefst beschämend empfinden. Wie weit sinkt in der Masse die Hemmschwelle für aggressive Tabubrüche?

Eine Masse ist von einer basalen Emotion wie Wut bestimmt. Sie ist nicht zugänglich für Argumente und Vernunft. Auch ein einzelner Mensch ist, wenn er emotional stark erregt ist, kaum empfänglich für eine rationale Argumentation, und bisweilen reicht der Kontrollverlust bis hin zu „Totschlag im Affekt“. Erst recht sinkt die Hemmschwelle für solche Tabubrüche in einem emotionsgeladenen Mob ohne Verantwortungsgefühl und Selbstreflexion. Es ist dann auch nur noch sehr begrenzt möglich, auf einen solchen Mob einzuwirken, wenn überhaupt. In der Masse sind also Vernunft und Urteilskraft abgemeldet. Sinkt sogar die Intelligenz der Akteure?

C. G. Jung soll einmal gesagt haben: „Eine große Gesellschaft, aus lauter trefflichen Menschen zusammengesetzt, gleicht an Moralität und Intelligenz einem großen, dummen und gewalttätigen Tier.“ Tatsächlich können Intelligenzniveau und die Qualität von Entscheidungen bereits in einer Gruppe sinken – und erst recht in einer Masse.

Die Hemmschwellen sinken. Ich halte eine weitere Eskalation durchaus für möglich

Kann die kollektive Dynamik einer Masse jederzeit weiter eskalieren, zum Beispiel zur Lynchjustiz wie bei den Judenpogromen im Mittelalter oder dem Sturm auf die Bastille als Auftakt der Französischen Revolution? Wäre Ähnliches in unserer heutigen Zeit und Kultur möglich?

Es ist wahrscheinlich für uns alle sehr schwer vorstellbar, auch für mich, der ich in Friedenszeiten aufgewachsen bin. Aber ich halte weitere Eskalationen durchaus für möglich. Man sieht ja, dass die Hemmschwellen sinken und auch von bestimmten Gruppen systematisch weiter gesenkt werden. Und wir stehen noch dazu vor immensen gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen. Wir leben in einer Umbruchszeit, und die Bedingungen ändern sich schneller als irgendwann sonst in der jüngeren Geschichte. Ich habe kürzlich ein Buch von Stefan Zweig mit dem Titel Die Welt von gestern gelesen. Zweig beschreibt, wie unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg niemand in seinem Umfeld auch nur ansatzweise für möglich gehalten hat, was dann folgte. Und niemand hatte auch vor dem Nationalsozialismus dessen Grausamkeiten und Brutalitäten für möglich gehalten. In beiden Fällen wurde die Entwicklung durch ein systematisches Absenken von Reizschwellen und immer neue Tabubrüche vorangetrieben. Wenn man das Buch von Zweig liest, ist es beängstigend, wie viele Parallelen es zur heutigen Zeit gibt und wie sich die Mechanismen und Strategien ähneln. PH INTERVIEW: THOMAS SAUM-ALDEHOFF


THERAPIESTUNDE

ANGST VOR DER LEERE VON MARGARETHE SCHINDLER

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er ältere Mann mit grau melierten Haaren, gepflegt und sorgfältig gekleidet, wirkt etwas steif. Ich frage ihn nach seinem Anliegen. Er schaut auf den Boden. „Angst. Depression. Beides.“ Ich erfahre, dass er in einem Jahr pensioniert wird und ihn das schon seit langem sehr ängstigt und bedrückt. „Ich liebe meinen Beruf, und ich brauche ihn“, erklärt er. Dann berichtet er, dass er als Gymnasiallehrer arbeitet und ihm der Kontakt mit den Schülern und Schülerinnen immer sehr wichtig war und ihn erfüllt. „Wahrscheinlich weil ich keine eigenen Kinder habe“, erklärt er. „Mit den Kollegen ist es schwieriger als mit den Schülern. Die mögen mich.“ Ich sehe, dass er den Tränen nahe ist. „Und jetzt haben Sie Angst vor der Leere nach der Pensionierung“, vermute ich. Er nickt. Ich bitte ihn, mir Näheres über seine Lebenssituation zu erzählen. Unter Tränen erzählt er, dass seine Frau vor zwei Jahren gestorben ist und er seither allein lebt. Noch ein Verlust, denke ich. Abschied und Verlust sind wahr16

Er war Lehrer mit Leib und Seele. Nun steht die Pensionierung vor der Tür. Das bereitet ihm Angst. Doch in Gesprächen mit der Psychotherapeutin Margarethe Schindler erkennt der Klient, dass das Leben durchaus noch Neues bereithalten könnte

Margarethe Schindler ist Psychologische Psychotherapeutin und arbeitet als systemische Paar- und Familientherapeutin in eigener Praxis in Tübingen.

scheinlich die Themen, die ihn belasten und umtreiben. Ich vermute, dass der Beruf auch ein Halt nach dem Tod seiner Frau war. So konnte er den Schicksalsschlag leichter überwinden. Und die Aussicht, dass er bald ohne diese Struktur im Alltag sein wird, dass ein Vakuum entstehen könnte, ist natürlich ängstigend und deprimierend. Er denkt nach. „Ich brauche Aufgaben“, fährt er fort. „Ohne Aufgaben ist mein Leben sinnlos.“ Ich erfahre, dass seine Frau lange Zeit krank war und er sie gepflegt hat. „Ich war ja nachmittags zu Hause“, erklärt er. Nun möchte ich gern mehr über seine Herkunft erfahren. „Wie sind Sie aufgewachsen?“ „Bei uns zu Hause war das Geld immer knapp“, fängt er an. „Das war schlimm. Ich schämte mich vor den Klassenkameraden, weil ich zum Beispiel nur mit finanzieller Unterstützung aus der Klassenkasse ins Schullandheim mitkonnte. Aber ich war ein guter Schüler und wollte später unbedingt studieren. Ich wollte etwas werden, anders als mein Vater, der nur PSYCHOLOGIE HEUTE

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Hausmeister war. Meine Eltern haben Opfer gebracht, um mich unterstützen zu können. Das lange Studium mit Promotion wäre sonst nicht möglich gewesen.“ Leistung ist für ihn also wichtig. „Meine jüngere Schwester ist mit 16 Jahren abgehauen“, spricht er weiter. „Sie lebt jetzt in Italien, und wir haben so gut wie keinen Kontakt.“ Also ruhten die Hoffnungen der Eltern, die nun schon seit Jahren tot sind, auf ihm. Er hat sie nicht enttäuscht. Doch das, was zu seiner Lebensaufgabe geworden ist, wird bald hinfällig sein. Also viel Leere um ihn. „Was gibt es denn außer dem Beruf?“, frage ich ihn. „Womit beschäftigen Sie sich?“ Lange Pause. „Früher habe ich noch gern im Garten gearbeitet, aber das mache ich schon lange nicht mehr“, antwortet er dann. „Ich habe keine Zeit mehr dafür, weil ich viel in die Vorbereitung des Unterrichts investiere.“ Jetzt ist er in seinem Element, merke ich, denn er würde am liebsten weiter berichten, welche zeitgemäßen Unterrichtsmethoden er sich angeeignet hat. Ich bohre weiter: „Und sonst früher? Außer Garten?“ „Am Wochenende sind wir oft gewandert, meine Frau und ich“, fällt ihm nach einer Weile ein.

ILLUSTR ATION: MICHEL STREICH

In Lebensübergängen und Krisen sind Rituale hilfreich

Es ist klar, dass er eine Perspektive braucht, etwas, um sich die Zukunft ohne Beruf angstfrei vorzustellen. Was also könnte eine Art Ersatz sein für die Berufstätigkeit? Ein Ersatz für diese Struktur, für Leistung? Etwas, was er sich zur Aufgabe machen kann? Er denkt nach und erwägt schließlich die Gartenarbeit. Ich werfe ein, dass auch die Kontakte mit Menschen wahrscheinlich wichtig für ihn sind. Seine Kontaktfähigkeit – ohne sie ginge es ihm mit den Schülern ja nicht so gut – ist darüber hinaus eine wichtige Ressource. Wie könnte die genutzt werden? Nach längerem Nachdenken kommt ihm die Idee, dass er vielleicht bedürftigen Kindern ehrenamtlich Nachhilfeunterricht geben könnte. Oder Kurse in der Volkshochschule. Das würde gut zu seinem Beruf passen. Auf diese Weise ent-

steht eine Perspektive für ihn. „Damit wäre die Zukunft doch nicht so leer und grau“, meint er leise. Außerdem braucht er ein Abschiedsritual für den Übergang in den Ruhestand. Etwas, das deutlich aufzeigt, jetzt hört etwas Gewohntes auf und etwas Neues beginnt. Das Ende des Berufslebens stellt ja für jeden einen entscheidenden Einschnitt im Leben dar. Viele freuen sich darauf, andere – wie er – fürchten sich davor. Meistens ist es eine Mischung von beidem. Auf jeden Fall geht kaum jemand so entspannt in die neue Lebensphase des Ruhestands hinüber, als ob es sich um etwas Alltägliches handeln würde. Nicht nur deshalb, weil jede Veränderung zuerst Angst macht. Es geht auch um einen Abschied; etwas, was über lange Jahre zentral bedeutsam und nicht selten auch Lebensinhalt war, ist vorbei. In Lebensübergängen und Krisen können Rituale hilfreich sein. Was könnte für ihn stimmig sein? Nach einer Weile fällt ihm ein, dass er auf jeden Fall ein Fest mit seiner letzten Klasse veranstalten könnte. Ein Abschiedsfest in seinem Garten. Diese Vorstellung belebt ihn offensichtlich. Auch die Auf lösung seines Arbeitszimmers kann als Ritual gestaltet werden. Aber daran mag er jetzt noch nicht so detailliert denken. Grundsätzlich geht es darum, Platz zu schaffen für Neues. Dabei fallen ihm seine Bücher ein. Viele hat er noch nicht gelesen, aus Zeitmangel. Darauf könnte er sich freuen. Allmählich kommt Leben in sein Gesicht, und seine Züge hellen sich auf. Und dann kommt er noch auf die Idee, dass er eine Reise zu seiner Schwester nach Italien machen könnte. Er hat ihre Kinder noch nie gesehen. Solch eine Wiederaufnahme einer familiären Beziehung könnte ein sinnvolles Signal sein, ein wegweisendes Zeichen für die kommenden Jahre. Anstelle von Leistung neue Eindrücke und emotionale Wiederanbindung an die Schwester. Jetzt, wo er bald Zeit im Überfluss hat.

Ein köstliches Plädoyer für die Klugheit!

Allan Guggenbühl

Die vergessene Klugheit Wie Normen uns am Denken hindern 2016. 272 Seiten, gebunden € 24.95 AUCH ALS E-BOOK Normen regeln gesellschaftliche Abläufe. Der Zweck dieser Normen ist schnell erkannt: Sie sind eine Antwort auf Unvernunft. Sie sollen uns vor uns selber schützen. Doch Allan Guggenbühl plädiert unter anderem anhand der PISA-Studie für eigenständiges Denken: Kluges Handeln bedeutet, dass man sich über berufliche Standards hinauswagt, wenn es angezeigt ist, und neue Kombinationen oder Alternativen andenkt.

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Drüber stehen! Stress ist unvermeidbar. Ungerechtigkeiten passieren. Wir können nicht verhindern, dass andere Menschen uns verletzen. Ein dickeres Fell könnte helfen, die kleinen und großen Kränkungen des Lebens besser zu ertragen. Nur: Was tun, wenn man eher zu den Dünnhäutigen und Sensiblen gehört? VON BIRGIT SCHÖNBERGER

ILLUSTR ATIONEN: HELENA PALL ARÉS

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as Seminar Gesprächsführung geht zu Ende. Die Trainerin hat ein gutes Gefühl. Es war lebendig und intensiv, immer wieder löste sich die Spannung durch befreiendes Lachen. Bei der Abschlussrunde blickt sie in offene Gesichter. Die Rückmeldungen sind positiv, manche sogar überschwänglich. Guter Aufbau, tolle Übungen, viele Aha-Momente. Sie freut sich schon auf einen Espresso und ein Stück Kuchen in ihrem Lieblingscafé. Da platzt die Bombe. „Sie haben es sich ja verdammt leicht gemacht“, schimpft der letzte Teilnehmer mit hochrotem Kopf. „Wir mussten alles selbst machen. So, wie Sie arbeiten, möchte ich mal Urlaub machen. Das hat mir alles gar nichts gebracht. Ich werde mich beschweren.“ Die Trainerin sackt innerlich in sich zusammen, die guten Rückmeldungen sind vergessen. Selbstzweifel tauchen auf. „Was habe ich falsch gemacht? Bin ich eine schlechte Trainerin? Werde ich weitere Aufträge bekommen?“ Noch Ta-

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ge später geht sie die demütigende Szene immer wieder in Gedanken durch. Und sie wünscht sich: „Hätte ich doch nur ein dickeres Fell, an dem destruktive Kritik, gemeine Spitzen, nervende Jammertiraden, stressige Situationen und die täglichen Katastrophenmeldungen einfach abperlen wie Wassertropfen!“ „Mir fehlt ein dickes Fell.“ Dieser Satz fällt regelmäßig, nicht nur in Psychotherapien und Coachings, auch in Gesprächen mit Freunden und Kollegen. Variationen sind: „Ich möchte nicht mehr so empfindlich sein“, „Ich will nicht alles persönlich nehmen“, „Ich wünsche mir, dass Kritik an mir abperlt“, „Ich will nicht so kränkbar sein“. Häufig ist die Sehnsucht nach einem dicken Fell verbunden mit der Vorstellung, andere seien im Besitz dieser beneidenswerten Schutzschicht, nur man selbst sei vergessen worden, als die Felle verteilt wurden. Doch die Vorstellung vom dicken Fell, das in allen Lebenslagen zuverlässig vor Kränkungen, Vorwürfen, kritischen Bemerkungen und anderen unangenehmen Dingen schützt, hat 19


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Ein dickes Fell schützt das Immunsystem. Es mildert die Wucht von Kränkungen und Stresssituationen

viel mit magischem Denken und wenig mit der Realität zu tun. Das Bild des dicken Fells, so verlockend und schön es ist, kann in eine Sackgasse führen. Es suggeriert, entweder man hat es oder man hat es nicht, und wenn man in der glücklichen Lage ist, eins zu haben, braucht man es sich nur überzuziehen, und schon ist man souverän, gelassen und unverwundbar. „Am liebsten wäre uns eine Pille, die wir einwerfen können, und dann tut es nicht mehr weh. Das ist ein ganz normaler menschlicher Wunsch, nur leider oder glücklicherweise ist er nicht erfüllbar“, sagt die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki. „Es wäre doch langweilig, wenn wir von morgens bis abends total kompetent wären und jedes Problem sofort vom Tisch wischen könnten. Viele sagen, wenn ich ein dickes Fell hätte, würde es mir nichts mehr ausmachen, wenn mein Chef mich runterputzt oder mein Partner exzessiv mit anderen flirtet. Aber das ist Unsinn. Wenn ich so ein dickes Fell habe, dass mir solche Verletzungen nichts mehr ausmachen, bin ich nicht souverän, sondern ein unerträglicher Zombie. Wir können nicht unverletzbar werden.“ (Siehe Interview Seite 24). Dass andere uns Druck machen, unfair behandeln, auf die Nerven gehen, im Stich lassen, kurz: sich nicht so verhalten, wie wir es uns wünschen, können wir nicht verhindern, auch nicht mit einem dicken Fell. Ebenso wenig, dass das Leben uns immer wieder mit schwierigen Situationen, Enttäuschungen, Verlusten und Schmerz konfrontiert. Die gute Nachricht aber ist: Es ist möglich, mit Kritik, Anfeindungen, Ignoranz und Stress besser umzugehen und daran zu wachsen. Für die Kommunikationstrainerin Barbara Berckhan ist ein dickes Fell ein „Aufprallschutz, der verhindert, dass wir allzu gestresst werden. Oder dass wir uns zu sehr über etwas aufregen.“ Auf keinen Fall, so betont sie, ist das dicke Fell eine „starre Abwehrmauer, mit der wir uns rigoros abschotten. Und 20

es ist auch kein Kampfanzug, mit dem wir uns gegen die Außenwelt verteidigen.“ Vielmehr, so Berckhan, sei es so etwas wie „ein Umhang, der dafür sorgt, dass ich innerlich stabil und ruhig bleiben kann, während ich in einer stressigen Situation stecke.“ Wenn uns ein Verkehrsstau in Zeitnot bringt, ein Streit mit der Partnerin uns nachgeht, das Kind schlechte Noten nach Hause gebracht hat und ein Wasserrohrbruch im Haus für Chaos sorgt, dann kann eine gewisse seelische Immunität all das zwar nicht verhindern, aber sie kann die Wucht der Geschehnisse abmildern. „Ein dickes Fell ist nicht davon abhängig, ob Sie zufällig die richtigen Gene haben oder in einer tollen Familie aufgewachsen sind. Ihr dickes Fell hängt vor allem davon ab, mit welcher Grundhaltung Sie an die Dinge herangehen“, so Barbara Berckhan. „Sie können das, was Ihnen das Leben serviert, innerlich anders verarbeiten.“ Sie empfiehlt unter anderem, sich auf das Hilfreiche, Brauchbare, Angenehme zu konzentrieren und weniger auf das Nervige, Störende und Unangenehme und sich folgende Fragen zu stellen: Inwieweit bringt mich das, was mich nervt, ärgert oder stresst, weiter? Was kann ich daraus lernen? Was kann ich bei diesem Problem trainieren oder üben? Welche zu hohen Erwartungen kann ich endlich loslassen? Was gibt mir jetzt Kraft? Welche Gedanken beruhigen oder trösten mich? Ziel ist nicht, sich Unangenehmes schönzureden, sondern auch in schwierigen Situationen die eigene Stärke zu spüren, mitten in der Turbulenz eines Angriffs. Nur, wie geht das? Wie verändert man seine Einstellung und lernt, unempfindlicher gegen die kleinen oder größeren Nadelstiche zu werden? Es gibt Strategien, die helfen, schneller wieder ins Gleichgewicht zu kommen und die innere Mitte zu finden und von dort aus besonnen und entschlossen zu handeln: Erste Hilfe: Abstand gewinnen

„Das kann auch nur mir passieren“, „Was denken die anderen jetzt von mir?“, „Wäre ich nur selbstbewusster aufgetreten“ – wenn die Gedanken düster werden und ständig um ein belastendes Erlebnis kreisen, hilft als Erstes: Abstand gewinnen und ein paar Schritte zurücktreten. Räumlich und mental. Oft wirkt es Wunder, den Raum zu verlassen, ein paar Schritte an der frischen Luft zu gehen, sich auf der Toilette einzuschließen, ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen und dann zurückzugehen in die stressige Konferenz oder das schwierige Gespräch mit dem Partner. Wenn physischer Abstand nicht möglich ist, kann es entlastend sein, innerlich auf Distanz zu gehen, die Situation aus der Vogelperspektive zu betrachten oder PSYCHOLOGIE HEUTE

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Wer dickfelliger werden will, sollte prüfen: Stimmt das, was ich über andere denke?

sich vorzustellen, man säße an einem Flussufer und könne aus sicherer Entfernung zuschauen, wie die Turbulenzen des Alltags vorbeitreiben. Die eigene Interpretation überprüfen

Ein Mann will ein Bild aufhängen. Den Nagel hat er, nicht aber den Hammer. Der Nachbar hat einen. Also beschließt der Mann, hinüberzugehen und ihn auszuborgen. Doch da kommt ihm ein Zweifel: „Was, wenn der Nachbar mir den Hammer nicht leihen will? Gestern schon grüßte er mich nur so flüchtig. Vielleicht war er in Eile. Aber vielleicht war die Eile nur vorgeschützt, und er hat etwas gegen mich. Und was? Ich habe ihm nichts angetan; der bildet sich da etwas ein. Wenn jemand von mir ein Werkzeug borgen wollte, ich gäbe es ihm sofort. Und warum er nicht? Wie kann man einem Mitmenschen einen so PSYCHOLOGIE HEUTE

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einfachen Gefallen abschlagen? Leute wie dieser Kerl vergiften einem das Leben. Und dann bildet er sich noch ein, ich sei auf ihn angewiesen. Bloß weil er einen Hammer hat. Jetzt reicht’s mir aber wirklich.“ – Und so stürmt er hinüber, läutet, der Nachbar öffnet, doch noch bevor er „Guten Tag“ sagen kann, schreit ihn unser Mann an: „Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!“ Diese berühmte Geschichte, die auf Paul Watzlawick zurückgeht, erzählt der Würzburger Psychotherapeut Frank-M. Staemmler in seinem aktuellen Buch Kränkungen. Verständnis und Bewältigung alltäglicher Tragödien nach, um aufzuzeigen, wie sehr scheinbare Gewissheiten einen in die Irre führen können. „Die Wirkung, die das Verhalten des anderen auf mich hat, hängt weniger von dessen Verhalten, sondern mehr davon ab, wie ich sein Verhalten 21


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Super, ich bin nicht durchgedreht: Jede Kränkung, die wir überwinden, ist eine Einzahlung auf unser Selbstwertkonto

auffasse und deute“, so Staemmler. „Wenn man diese Einsicht für sich nutzen möchte, kann man daraus ableiten, dass man aus der Kränkung, die man empfindet, weniger über die Absichten des anderen erfährt als über die eigenen Interpretationen.“ Wer dickfelliger werden will, sollte den eigenen Deutungen auf die Spur kommen – zum Beispiel durch offene Fragen. Fragt sich die Trainerin im Eingangsbeispiel: „Was könnte der Teilnehmer mit seiner Kritik meinen?“, fallen ihr garantiert mehr Möglichkeiten ein, als wenn sie denkt: „Was hat er damit gemeint?“ Denn Studien zeigen, „dass Menschen auf offene Fragen sehr viel kreativer antworten als auf solche, die nur eine Antwort zulassen“, erklärt Staemmler. Eine weitere Möglichkeit, die eigenen Überzeugungen infrage zu stellen, zeigt die amerikanische Therapeutin Byron Katie auf. Sie bittet ihre Klienten, ihre Überzeugungen aufzuschreiben und sich dabei zu fragen: „Kannst du wirklich wissen, dass das so stimmt?“ Erwartungen senken

Wer gekränkt wird, wer unter schmerzhaften (kleinen oder großen) Nadelstichen anderer leidet, wird diese Aufforderung irritierend finden. Wie können wir Verhaltensweisen anderer, die uns treffen und verletzen, nicht wichtig nehmen? Sicherlich hängt es von der jeweiligen Situation ab, ob wir es schaffen, einen Schritt zurückzutreten und Abstand zwischen dem Stressor und unserem Erleben zu schaffen. Grundsätzlich aber hält Frank-M. Staemmler für sinnvoll, sich eines klarzumachen: Wir können nicht erwarten, dass andere immer auf unsere Wünsche eingehen, und wir sollten auch berücksichtigen, dass ihre Interessen anders gelagert sind als unsere. Angenommen, man hat den Wunsch, mit einem Freund einen Spaziergang zu machen, der aber hat keine Lust und lässt uns abblitzen. Dann, so Staemmler, „muss ich nicht gleich beleidigt sein, sondern kann mich vielleicht damit anfreunden, mit ihm eine Fahrradtour zu machen oder mich einfach nur mit ihm in den Garten zu setzen“. Oder ich kann jemand ande22

res suchen, der meinen Wunsch teilt. Wünsche darf man äußern, aber man kann nicht erwarten, dass sie in Erfüllung gehen. Wer das akzeptiert, ist vor Kränkungsgefühlen geschützter und dickfelliger als ein Mensch, der ein Bedürfnis äußert und erwartet, dass andere darauf positiv reagieren. „Die Wahrscheinlichkeit, sich gekränkt zu fühlen, sinkt, je weniger man an seine Wünsche die Erwartung, die Forderung oder den Anspruch koppelt, sie müssten so erfüllt werden“, so Staemmler. Ein gewisses Maß an „Bescheidenheit und Demut“ könne helfen, die seelische Immunität zu stärken, „Wer andere Werte über den des eigenen Selbst stellt, ist weniger durch Kränkungen gefährdet“, stellt Frank-M. Staemmler fest. Buddhistisch werden

Wie auch immer man zum Buddhismus steht, einige buddhistische Prinzipien der Gelassenheit können helfen, den Herausforderungen des Alltags flexibler und gelassener zu begegnen: wahrnehmen, was gerade geschieht, ohne es sofort zu bewerten; annehmen, was ist, ohne es größer oder kleiner zu machen (nicht leugnen, aber auch nicht dramatisieren); erkennen, dass nur ein Teil von mir verwundet oder hilflos ist; nicht verallgemeinern, denn nur im Moment fühlt es sich schrecklich an, aber das geht auch wieder vorbei; sehen, dass man nicht der Einzige ist, der leidet. Andere machen gerade Ähnliches durch. Und schließlich helfen Fragen wie: Was werde ich in zehn Jahren über dieses Ereignis denken? Wird es überhaupt noch eine Rolle spielen? Werde ich womöglich darüber lachen? Ein dickes Fell schützt uns nicht vor Verletzungen, aber es schützt unsere Ressourcen, unsere Energie und unsere Kraft. Wer dickfelliger wird, „besinnt sich auf seinen Wert, seine Fähigkeiten und Möglichkeiten und lebt sie unabhängig von dem, was draußen ist“, sagt Bärbel Wardetzki. „Jede Kränkung, die ich überwunden habe, ist eine Einzahlung auf mein Selbstwertkonto. Weil ich mir dann auf die Schulter klopfen und sagen kann: Super, ich bin nicht durchgedreht, ich habe mich nicht selbst beschimpft, ich habe mein Problem gelöst. Dann werde ich auch zukünftige Kränkungen anders erleben und verarbeiten.“ LITERATUR Frank-M. Staemmler: Kränkungen. Verständnis und Bewältigung alltäglicher Tragödien. Klett-Cotta, Stuttgart 2016 Barbara Berckhan: Das dicke Fell. Wie Sie sich vor Frustfallen und Nervensägen schützen. Kösel, München 2014 Bärbel Wardetzki: Nimm’s bitte nicht persönlich. Der gelassene Umgang mit Kränkungen. Kösel, München 2012

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DICKFELLIGER WERDEN Mentale Stärke hilft, cool zu bleiben VON AMY MORIN

Finden Sie sich in den folgenden Beispielen wieder? • Sie fühlen sich von Kritik oder negativem Feedback tief betroffen, egal wer sie äußert. • Ihr Selbstwertgefühl hängt davon ab, was andere über Sie denken. • Sie sind lange verärgert, wenn jemand Sie beleidigt oder verletzt hat. Wenn Sie diese Situationen kennen, geben Sie anderen Menschen Macht über Ihre Gedanken, Ihre Gefühle und Ihre Handlungen. Wenn man sich als Opfer der eigenen Lebensumstände betrachtet hat, dann fällt es oft schwer zu erkennen, dass man die Macht hat, seinen Weg selbst zu bestimmen. Wie schafft man es, seine Macht zu bewahren und mental stark zu sein?

Ein Perspektivenwechsel lohnt sich Manchmal benötigt man eine andere Sichtweise auf Dinge, um sich seine Macht zurückzuerobern. Hier einige Beispiele: • „Mein Chef macht mich so wütend.“ Vielleicht mögen Sie es nicht, wie Ihr Vorgesetzter oder Chef sich Ihnen gegenüber verhält, aber ist er wirklich in der Lage, Sie wütend zu machen? Er mag sich nicht so benehmen, wie Sie es gerne hätten, und das hat Einfluss auf Ihre Gefühle, aber er zwingt Sie nicht dazu, etwas Konkretes zu empfinden. • „Mein Freund hat mich verlassen, weil ich nicht gut genug für ihn bin.“ Sind Sie wirklich nicht gut genug, oder ist das nur die Meinung eines einzelnen Menschen? Nur weil ein Mensch so etwas denkt, heißt es nicht, dass es wahr ist. Geben Sie einem Menschen nicht die Macht, darüber zu bestimmen, wer Sie sind.

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Ruhig bleiben Wenn jemand etwas sagt, das Ihnen nicht gefällt, und Sie fangen an zu argumentieren, dann geben Sie den Worten noch mehr Gewicht. Denken Sie vorher darüber nach, wie Sie sich verhalten wollen, bevor Sie reagieren. Jedes Mal, wenn Sie die Kontrolle verlieren, geben Sie der anderen Person mehr Macht. Hier ein paar Strategien, wie man ruhig bleiben kann: • Atmen Sie tief ein. Frustration und Wut rufen körperliche Reaktionen hervor, zum Beispiel Atemnot, Herzrasen und Schwitzen. Langsam und tief ein- und ausatmen entspannt Ihre Muskeln, was sich wiederum positiv auf Ihr emotionales Reaktionsvermögen auswirkt. • Entziehen Sie sich der Situation. Je aufgewühlter man ist, desto weniger kann man rational denken. Erkennen Sie Ihre persönlichen Wut-Warnsignale, zum Beispiel Zittern oder Schwitzen, und gehen Sie einfach weg, bevor Sie die Kontrolle verlieren. Sagen Sie: „Darüber will ich jetzt nicht reden.“ • Lenken Sie sich ab. Versuchen Sie nicht, ein Problem zu lösen oder über etwas zu diskutieren, wenn Sie emotional aufgeladen sind.

Starker Umgang mit Kritik Wenn Sie Kritik oder Feedback von anderen bekommen, dann warten Sie erst einmal, bevor Sie darauf antworten. Wenn Sie verärgert sind oder emotional reagieren, dann nehmen Sie sich Zeit, um sich zu beruhigen. Stellen Sie sich folgende Fragen: • Welchen Beweis gibt es dafür, dass das Gesagte wahr ist? Zum Beispiel wenn Ihr Chef behauptet, Sie seien faul, überprüfen Sie, ob es Zeiten gab, in denen Sie vielleicht nicht so ganz bei der Sache waren.

• Welchen Beweis gibt es, dass das Gesagte nicht wahr ist? Überprüfen Sie, ob Sie viel Mühe in Ihre Arbeit investiert und hart gearbeitet haben. • Warum gibt mir dieser Mensch ein solches Feedback? Versuchen Sie herauszufinden, warum jemand Ihnen negatives Feedback gibt. Weiß derjenige genug über Sie? Wenn Ihr Chef Sie an einem Tag beobachtet hat, an dem Sie sich krank fühlten, dann denkt er womöglich, Sie seien nicht sehr produktiv. Diese Schlussfolgerung mag aber nicht richtig sein. • Möchte ich mein Verhalten verändern? Es mag Zeiten geben, in denen Sie Ihr Verhalten verändern möchten und Kritik annehmen. Wenn Ihr Chef zum Beispiel sagt, Sie seien faul, liegt es an Ihnen zu entscheiden, ob Sie tatsächlich nicht so viel Einsatz gezeigt haben, wie Sie gekonnt hätten. Vielleicht beschließen Sie, in Zukunft früher auf der Arbeit zu sein und länger zu bleiben, weil es Ihnen wichtig ist, als fleißig angesehen zu werden. Aber denken Sie immer daran, dass Ihr Chef Sie zu nichts zwingt. Sie verändern Ihre Gewohnheiten, weil Sie das so wollen, nicht weil Sie müssen. Denken Sie immer daran, dass die Meinung eines Einzelnen nicht der Wahrheit letzter Schluss ist. Man kann auch auf respektvolle Art anderer Meinung sein, ohne Zeit und Energie darauf zu verschwenden, die Meinung anderer revidieren zu wollen. Amy Morin ist Psychotherapeutin und Sozialpädagogin. Sie forscht seit vielen Jahren zum Thema mentale Stärke. Dieser Text ist ein Auszug aus ihrem Buch 13 Dinge, die mental starke Menschen nicht tun. Für alle, die sich heute besser fühlen möchten als gestern, das Ende Mai 2016 im S.-FischerVerlag erscheint.

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„Die Frage ist: Will ich mich weiter als Opfer fühlen?“ Die Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki weiß, wie tief manche Verletzungen gehen. Dennoch meint sie: Wir sollten unsere Lebenszeit nicht an Ohnmacht und Wut verschwenden

Frau Wardetzki, in Ihrem Buch Mich kränkt so schnell keiner! zeigen Sie Wege auf, mit Kränkungen besser umzugehen und nicht alles persönlich zu nehmen. Wenn wir gekränkt sind, fühlen wir uns aber im Kern getroffen und haben den Eindruck, dass andere uns übel mitspielen. Wie kommen wir da heraus?

Bevor ich mich aus dem Kränkungssumpf herausziehen kann, muss ich mir erst mal eingestehen, dass ich gekränkt bin, und anerkennen, ja, diese Kritik hat mich sehr getroffen, diese Reaktion tut mir weh, und ich bin völlig von der Rolle. Meist wehren wir jedoch unsere Scham, unseren Schmerz oder unsere Angst ab und reagieren sofort mit Schuldzuweisungen. Der andere ist gemein und böse, und ich armer Tropf muss leiden. Statt zu sagen: Ich bin gerade sehr getroffen und komme damit nicht klar. Das ist eine ganz andere Dimension. Wenn ich meine Gefühle wahrnehme, bin ich nicht mehr gekränkt, sondern ängstlich, traurig, wütend oder beschämt. Daraus erwächst die Kraft, mich zu wehren und innerlich wieder stabil zu werden. Ziehe ich mich beleidigt zurück und lecke meine Kränkungswunden, kann ich das nicht. Wenn wir gekränkt sind, wollen wir dies aber oft nicht eingestehen. Diese Blöße wollen wir uns nicht geben. Ist das nicht verständlich?

Verständlich ist es, aber nicht hilfreich. Mit dieser Abwehrstrategie schwächen wir uns und machen alles nur noch schlimmer. Wenn ich meine Verletzung gelten lassen und vielleicht sogar aussprechen kann, kommt sofort Ruhe in mein inneres System, weil ich plötzlich kongruent bin. Und von da aus kann ich schauen, ob ich in diesem unangenehmen 24

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Gefühl der Kränkung drinbleiben möchte oder mir das irgendwann zu anstrengend wird. Die häufigsten Zustände in Kränkungssituationen sind Ohnmacht, Minderwertigkeitsgefühle, Racheimpulse, Trotz, Empörung und Wut. Vielleicht kommt der Punkt, an dem ich keine Lust mehr habe, mir meine schöne Lebenszeit damit kaputtzumachen. Dann kann ich anfangen zu sortieren. Bin ich überhaupt gemeint? Muss ich mich persönlich getroffen fühlen? Oder hat das, was mich so trifft, vielleicht gar nichts mit mir zu tun?

Bin ich überhaupt gemeint? Oder hat das, was mich trifft, gar nichts mit mir zu tun?

Das ist manchmal nicht so leicht zu erkennen. Woran merken wir, dass uns etwas verletzt, was gar

Verantwortung beim anderen lasse, habe ich diese Option nicht.

nicht persönlich gemeint ist?

Oft brauchen wir dafür einen Impuls von außen. Ich hatte vor kurzem eine Situation, in der ich durch eine gesetzliche Regelung sehr benachteiligt wurde. Ich fühlte mich gekränkt und zurückgesetzt, war auf der einen Seite stinksauer und erlebte mich auf der anderen Seite hilflos ausgeliefert. So eine himmelschreiende Ungerechtigkeit passierte gerade mir. Was für eine Zumutung! Eine Freundin machte mich darauf aufmerksam, dass ich die Situation persönlich nehme. Da wurde mir erst klar, dass diese blödsinnige Regelung mit mir als Person überhaupt nichts zu tun hat und andere genauso betrifft. Was rege ich mich also auf? Ich kann mich noch weiter festbeißen, gegen Windmühlen kämpfen und so richtig mies draufkommen oder loslassen und dafür sorgen, dass es mir besser geht. Die Regelung werde ich auch weiter kritisieren, aber ich habe mich davon nicht weiter runterziehen lassen und das Beste aus der Situation gemacht. Heute kann ich darüber lachen. Sie sehen, auch als Kränkungsexpertin bin ich voll in den Schlamassel reingerasselt, aber zum Glück habe ich auch schnell wieder herausgefunden.

Sie sagen, es ist eine Frage der Entscheidung, ob wir gekränkt bleiben oder eine Kränkung überwinden. Haben wir wirklich immer die Wahl?

Die haben wir in jeder Situation, aber es ist natürlich sehr verführerisch, darüber zu jammern, wie gemein die anderen sind. Ich habe mich früher selbst gerne beklagt, statt konstruktiv etwas zu unternehmen. Die Opferrolle erscheint zunächst attraktiv, aber sie führt psychologisch in die Sackgasse, denn als Opfer kann ich nichts tun. Die Frage ist: Will ich mich weiter als Opfer fühlen oder den Racheengel spielen? Oder will ich mich wieder gut und integriert fühlen und versuchen, das Problem, das mit der Kränkung zusammenhängt, konstruktiv zu lösen? Ich finde es auch völlig in Ordnung, zu sagen, im Moment geht es mir so schlecht, und ich kann gerade nichts dagegen tun. Niemand verlangt, dass wir in jeder Kränkungssituation sofort den Durchblick haben und den Schalter umlegen können. Genau das hätten wir aber gerne. Ist die Sehnsucht nach dem dicken Fell nicht genau deshalb

Was ist entscheidend, um das Ruder herumzurei-

so groß, weil wir uns wünschen, ganz schnell wie-

ßen und nicht noch tiefer im Kränkungssumpf zu

der selbstbewusst und obenauf zu sein?

versinken?

Es reicht aber nicht, das Fell einmal anzuziehen; ich muss jeden Tag darauf achten, dass ich mich nicht zu sehr von dem beeinflussen lasse, was mir nicht guttut und nicht gefällt. Für mich ist das Fell die Haut. Die Haut ist neben der Lunge das einzige Organ, das direkt im Kontakt mit der Umwelt steht. Darf ich meine eigenen Entscheidungen treffen? Darf ich bei mir bleiben? Muss ich mich anpassen? Darf ich Aggressionen nach außen zeigen? Mit diesen Fragen müssen wir uns auseinandersetzen, wenn wir uns ein dickeres Fell zulegen und weniger kränkbar sein möchten. Das ist tägliche Arbeit. Und dieser Arbeit stellen wir uns nicht so gerne. PH

Ganz wesentlich ist, dass ich die Verantwortung wieder zu mir nehme. Wenn ich gekränkt bin, gebe ich meist automatisch anderen die Verantwortung für mein Leid: dem unsensiblen Partner, der ignoranten Chefin, der treulosen Freundin oder in meinem Fall dem ungerechten Versorgungssystem. Doch wenn ich das tue, habe ich keine Chance, etwas zu verändern. Der Umkehrschluss, um aus den Kränkungen herauszukommen, ist, zu sagen, hier geschieht etwas, was mich tief erschüttert und aus der Bahn wirft, und ich übernehme die Verantwortung für das, was in mir passiert und wie ich damit umgehe. Ich sorge dafür, dass es mir wieder besser geht. Wenn ich die PSYCHOLOGIE HEUTE

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Bärbel Wardetzki ist Psychotherapeutin und Supervisorin in München und hat mehrere erfolgreiche Sachbücher zum Thema Kränkung veröffentlicht.

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In Liebe verschränkt Wie müssen zwei Liebespartner beschaffen sein, damit ihre Beziehung gedeiht? Franz Neyer und Christine Finn haben erforscht, welche Persönlichkeitszüge zu einer glücklichen Partnerschaft beitragen und wie das Zusammenleben die beiden reifen lässt

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Wieso haben Menschen überhaupt das Bedürfnis, eine überdauernde, oft bis zum Tod währende Partnerschaft einzugehen? Man könnte sich ja auch von Affäre zu Affäre hangeln, aber das tun und wollen doch die wenigsten.

Neyer: Der Wunsch nach sozialem Anschluss, Vertrautheit und Bindung ist ein menschliches Grundbedürfnis. Menschen suchen enge Beziehungen, auch und vor allem in einer romantischen Partnerschaft. Ob diese Beziehung allerdings auf die Dauer des ganzen Lebens angelegt sein muss, ist die Frage. Zu anderen Zeiten und in anderen Kulturen war und ist das nicht so selbstverständlich. Und auch hier im Westen gibt es durchaus viele Menschen, die nach eher kurzfristigen Liebesbeziehungen suchen. Sie gehen dann eben nicht die eine Ehe, sondern mehrere aufeinanderfolgende Partnerschaften ein.

Franz J. Neyer ist Professor und Direktor des Instituts für Psychologie an der FriedrichSchiller-Universität Jena.

Was machen Menschen, die sich ihrer selbst sicher sind, ohne sich ins Grandiose zu überhöhen,

Nicht selten brechen Beziehungen aber ausein-

im Beziehungsalltag anders und besser als unsi-

ander, obwohl die beiden eigentlich für lange

chere Menschen?

oder sogar für immer zusammenbleiben wollten.

bestimmt und dominant auftreten – und den Part-

Finn: Selbstbewusste Menschen vertrauen sich dem Partner an und holen sich bei ihm emotionalen Rückhalt, zum Beispiel wenn sie auf der Arbeit Probleme haben oder bei den Kindern etwas nicht rundläuft. In der Partnerschaft selbst sind sie nicht so verletzlich und so fixiert auf Dinge, die schiefgehen könnten. Und sie sind überzeugt, eine Lösung zu finden, sobald Unstimmigkeiten aufkommen. Man traut sich, gegenüber dem Partner auch heikle Dinge an- und auszusprechen. Neyer: In einer Partnerschaft bleibt es ja nicht aus, dass man sich hin und wieder Kränkungen zufügt oder dass man dem anderen mal nicht die Aufmerksamkeit schenkt, die er sich wünscht. Eine Person mit einem gesunden Selbstwertgefühl kann damit umgehen und gerät nicht gleich aus der Fassung. Jemand mit einem schwachen Selbstwertgefühl erlebt solche Situationen jedoch gleich als bedrohlich und denkt sich zum Beispiel: „Er ignoriert mich, denn er mag mich nicht mehr. Und er hat ja auch recht – ich bin einfach nichts wert!“

ner damit nicht zur Geltung kommen lassen?

In der Forschung sprechen Sie von einem rela-

Finn: Diese extreme Art von Selbstbewusstsein ist damit nicht gemeint. Es geht um Menschen, die mit sich selbst zufrieden und im Reinen sind. Sie strahlen dies auch nach außen aus, und diese Sicherheit wirkt sich positiv auf den Partner und die Partnerschaft aus. Selbstwertgefühl ist also gut für eine Beziehung, aber eine glückliche Beziehung ist auch gut für das Selbstwertgefühl. Dieses Merkmal ist sogar eine Art Gradmesser dafür, wie sehr man sich in der Beziehung aufgehoben und vom Partner gemocht fühlt. Doch natürlich schadet es der Partnerschaft,

tionship-specific interpretation bias, einer Denk-

In Ihren Langzeitstudien haben Sie nachgewiesen, dass es auch von der Persönlichkeit der beiden Beteiligten abhängt, wie überdauernd und glücklich ihre Beziehung wird. Welche Merkmale bringt ein idealer Beziehungsmensch mit?

Finn: Den „idealen Beziehungsmenschen“ gibt es nicht. Beziehungsglück hängt von so vielen Einflüssen ab. Aber man kann festhalten: Menschen, die von ihrem Wesen her verträglich sind und nach Harmonie und Ausgleich streben, führen in der Regel eine glücklichere Beziehung. Ein wichtiger Faktor ist aber auch emotionale Stabilität. Gute Voraussetzungen haben also Menschen, die nicht zu Ängstlichkeit oder Depressivität neigen und ein hohes Selbstwertgefühl haben, also sich ihrer selbst sicher sind und sich so mögen, wie sie sind. Besteht denn nicht die Gefahr, dass Männer und Frauen mit einem hohen Selbstwertgefühl in der Beziehung die Hosen anhaben wollen, also sehr ILLUSTR ATIONEN: KL AUS MEINHARDT / dieKLEINERT.de

wenn jemand übersteigert selbstzentriert ist bis hin zum Narzissmus, denn diese Menschen sind unsensibel für die Bedürfnisse ihres Partners. Neyer: Ein gesundes Selbstwertgefühl zeichnet sich tatsächlich durch eine leichte Form der Selbstüberschätzung und Selbstüberhöhung aus: Man findet sich selbst etwas besser, als man ist. Das ist durchaus günstig und tut nicht nur dem Betreffenden, sondern auch der Beziehung gut. (Siehe auch Heft 5/2016: Ich finde mich prima!) Dies gilt aber nicht für Menschen, bei denen diese Eingenommenheit von sich selbst ins narzisstische Extrem geht. Sie sind gerade in einer Partnerschaft ausgesprochen anstrengend und reagieren wütend, wenn der Partner sie mal nicht so grandios findet wie sie sich selbst (siehe Seite 58).

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Christine Finn, wurde für ihre Doktorarbeit über die persönlichkeitstypischen Interpretationsverzerrungen in Partnerschaften mit dem Dissertationspreis der Universität Jena ausgezeichnet.

falle, die selbstunsicheren Menschen das Beziehungsleben schwermacht.

Finn: Das betrifft vor allem Menschen mit hohem „Neurotizismus“, die emotional nicht sehr stabil sind. Sie nehmen vieles im Leben eher negativ wahr und reagieren daher oft unsicher oder gekränkt. Im Zweifel interpretieren sie harmlose oder allenfalls vieldeutige Verhaltensweisen ihres Partners zu ihren Ungunsten. Wenn der Partner ihnen etwa in einer hektischen Situation sagt, es gebe da noch etwas, was er später in 27


Ruhe mit ihnen besprechen wolle, dann schrillen bei neurotischen Menschen gleich die Alarmglocken: „Mein Gott, er will sich von mir trennen!“ Während emotional stabile und selbstsichere Menschen ganz selbstverständlich davon ausgehen, gemocht und geschätzt zu werden, brauchen die Unsicheren ständig Bestätigungen, dass der Partner sie noch liebt. Ist dieser Alarmismus nicht harmlos?

Finn: Nicht unbedingt. Denn zum einen fühlen sich die Betreffenden selbst schlecht und traurig, wenn ihre Gedanken sich immer wieder in negativen Szenarien verlieren und sie befürchten, ihr Partner könnte sie verlassen. Zum anderen kann sich das auch auf den Partner auswirken, der sich nun seinerseits unverstanden und permanent verdächtigt fühlt. Die Interpretationsverzerrung eines neurotischen Menschen hat also negative Folgen für beide Partner. Neyer: Das bedeutet nun aber nicht, dass unsichere, „neurotische“ Menschen dazu verdammt sind, in allen ihren Beziehungen zu scheitern. Denn zum einen kommt es ja nicht nur auf ein einzelnes ungünstiges Merkmal an, sondern auf das Gesamtbild der Persönlichkeit: Man kann Selbstunsicherheit kompensieren mit einnehmenden Eigenschaften wie Zugewandtheit, Umgänglichkeit, Zuverlässigkeit. Zum anderen kommt es natürlich auch immer auf den Partner und dessen Persönlichkeit an, etwa wie geduldig er oder sie reagiert, wie viel Wertschätzung er zeigt oder auch wie viel Humor er mitbringt. Und außerdem kann das Lebensumfeld eine Partnerschaft stabilisieren, zum Beispiel die Tatsache, dass Kinder da sind. Auch eine Paartherapie kann hilfreich sein.

Menschen, die ohne einen Gefährten bleiben, stagnieren oft in ihrem Selbstwertgefühl

schrieben als „ein Spiel, bei dem man nur gewinnen kann“.

Neyer: Ja, wir haben diese Persönlichkeitsreifung in mehreren Langzeitstudien gefunden und auch mit Daten aus den USA bestätigt. Wir beobachten bei jungen Leuten Anfang zwanzig ja generell eine Reifung der Persönlichkeit, und dieser Prozess wird durch die erste Partnerschaft noch beschleunigt und verstärkt. Interessanterweise wird dieser Reifungsschritt nicht rückgängig gemacht, wenn dann später die Partnerschaft endet, so schmerzhaft das auch ist. Der Gewinn für die Persönlichkeit bleibt bestehen. Was genau lässt junge Menschen in einer Partnerschaft so unumkehrbar reifen?

Neyer: Es wird in unserer Kultur als eine wichtige Entwicklungsaufgabe angesehen, eine Beziehung einzugehen und womöglich eine Familie zu gründen. Allein schon die Tatsache, dass man diese Aufgabe gemeistert hat, stärkt in diesem Alter das Selbstwertgefühl. Darüber hinaus trägt die Erfahrung der Sicherheit in einer Beziehung zu dieser Reifung bei. Aber das ist für die meisten doch keine ganz neue Erfahrung, denn sicher und aufgehoben fühlt man sich auch schon im Elternhaus.

Neyer: Die Eltern-Kind-Beziehung ist stark ungleichgewichtig. Kinder sind abhängig von ihren Eltern und erhalten von diesen viel mehr, als sie zurückgeben. Dagegen begegnen sich romantische Partner auf einer Ebene. Man bekommt vom Partner Sicherheit geschenkt, gibt sie ihm aber auch. Dies zu erproben und zu lernen, darin besteht der Reifungsschritt. Was ist mit den Frauen und Männern, die in ihren

Die Persönlichkeit der beiden Beteiligten beein-

jungen Erwachsenenjahren keinen Partner finden

flusst also, wie gut ihre Partnerschaft funktio-

oder es mit keinem lange aushalten? Entwickeln

niert. Wird denn auch umgekehrt ein Schuh

sie sich anders als die Gebundenen?

draus? Also: Verändert eine Partner-

Neyer: Dies betrifft relativ wenige, zwischen sieben und neun Prozent. Tatsächlich zeigte sich in unseren Studien, dass diese Menschen diesen Reifungsschritt nicht mitmachen. Zum Beispiel stagnierte ihr Selbstwertgefühl, und bei den Männern ging es in einer amerikanischen Studie sogar deutlich zurück. Möglicherweise identifizieren sich Männer besonders stark über ihren Wert auf dem Partnermarkt und empfinden ihren Singlestatus als persönliche Niederlage. Tatsächlich kann es ein Zeichen von psychischen Schwierigkeiten sein, wenn jemand überdauernd keinen Partner findet. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die hoch anschlussmotiviert sind und in einer Partnerschaft viel zu

schaft die Persönlichkeit?

Finn: Eine Partnerschaft prägt ganz eindeutig die Persönlichkeit. Das gilt besonders für die ersten überdauernden Beziehungen, die jemand im jungen Erwachsenenalter eingeht. Sie führen zu einer insgesamt reiferen Persönlichkeit. Die beiden Partner werden verträglicher und emotional stabiler, das Selbstwertgefühl steigt. Sie, Herr Professor Neyer, haben das Eingehen einer Partnerschaft in diesem Alter einmal be-

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längst in den Hintergrund und die Kinder

Mann attraktiv. Vielleicht schützt die Illusion der Verschmelzung – „Wir beide sind füreinander geschaffen!“ – Sie in solch einer Situation davor, dies überhaupt wahrzunehmen. Die Eifersucht wäre ja wahrscheinlich auch ganz überflüssig.

oder der Beruf stärker in den Vorder-

Ist es denn durchweg eine Illusion,

grund getreten sind: Prägt die

wenn man immer mehr Ähnlichkeiten

Partnerschaft während dieser

zwischen dem Partner und sich fest-

langen Lebensmitte noch immer

stellt? Zum Beispiel dass man über

bieten hätten – aber einfach zu schüchtern sind. Die brauchen einfach länger, aber irgendwann kommen sie auch zum Ziel. Was ist mit Paaren, die sich schon über Jahrzehnte in ihrer Beziehung eingerichtet haben, bei denen die anfängliche Verliebtheit

die Persönlichkeit der beiden?

Neyer: Dafür gibt es durchaus Anhaltspunkte. Wir haben bei jungen Erwachsenen gesehen, dass auch in langjährigen Beziehungen deren Einfluss auf die Persönlichkeit noch immer sehr stark ist. Warum sollte das in späteren Jahren anders sein? Wir vermuten, dass dann die Beziehung selbst immer stärker Teil der Persönlichkeit wird und sozusagen in der Persönlichkeit aufgeht. Allerdings bleibt man, so lange die Beziehung auch währen mag, immer die Person, die man ist. Auch wenn man sich verändert: Die individuelle Besonderheit bleibt bestehen, niemand dreht sich in seiner Persönlichkeit um 180 Grad. Man neigt in langjährigen Beziehungen dazu, sich selbst und den anderen als Einheit zu sehen. Die Grenzen überlappen sich. Der Partner wird zum „erweiterten Selbst“. Was halten Sie von dieser Theorie?

Neyer: Diese self-expansion theory, die auf den Psychologen Arthur Aron zurückgeht, ist weniger esoterisch, als sie vielleicht klingt. Man muss sich das nicht so vorstellen wie bei Tristan und Isolde, wo die beiden in ihrer Liebe so miteinander verschmelzen, dass sie Ich und Du nicht mehr unterscheiden können. Man erlebt eben über die Jahre sehr viele Dinge gemeinsam, die man teilt. Das kann dazu führen, dass man sogar Gemeinsamkeiten zwischen sich feststellt, die gar nicht existieren. Man glaubt, der andere sei so ähnlich wie man selbst, und unterstellt ihm automatisch, dass er eine bestimmte Alltagssituation genauso empfindet und bewertet. Man projiziert also das eigene Erleben auf den anderen. Das hat den „Vorteil“, dass man sich mit dem abweichenden Standpunkt des anderen gar nicht erst auseinandersetzen muss, sich nicht streiten muss. Laut einigen Studien scheint diese positive Illusion der Beziehungszufriedenheit tatsächlich eher zuträglich als abträglich zu sein. Hätten Sie ein Beispiel?

Neyer: Nehmen wir an, Ihre Partnerin findet auf einer gemeinsam besuchten Party einen anderen PSYCHOLOGIE HEUTE

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dieselben Witze lacht.

Die Verliebtheit legt sich, Kinder rücken in den Fokus – doch die Beziehung bleibt prägend

Finn: Auf der Ebene von Interessen kann das durchaus so sein: Man schaut sich im Fernsehen dieselben Filme an, geht in dieselben Ausstellungen. Man bezieht also ähnliche Informationen aus seiner Umwelt. Das führt laut Studien offenbar dazu, dass sich sogar die Intelligenz der beiden Partner über die Jahrzehnte ein wenig anzugleichen scheint. Dafür, dass die Partner auch emotional und in ihrer Persönlichkeit immer ähnlicher werden, gibt es hingegen wenige Anhaltspunkte. Ältere Paare scheinen sich nicht ähnlicher zu sein als jüngere. Vielleicht ist es eher so, dass sich die beiden aufeinander einschwingen: Man weiß, wie der Partner in einer bestimmten Situation reagiert, man entwickelt Rituale. Neyer: Die wahrgenommene Ähnlichkeit ist immer sehr viel stärker als die tatsächliche Ähnlichkeit – das gilt übrigens nicht nur für Liebesbeziehungen. Menschen suchen eben nach Vertrautheit, und im Zweifel konstruieren sie sich diese Verbundenheit. Vor einem halben Jahrhundert beschrieb der Psychologe David Bakan zwei widerstreitende Grundbedürfnisse des Menschen. (Siehe den Kasten auf Seite 30.) Wir wollen einerseits eigenständig und frei sein, uns aber andererseits mit anderen verbunden fühlen. Müssen diese beiden Bedürfnisse in einer Partnerschaft gegeneinander ausbalanciert werden?

Finn: Ich denke schon. Einerseits möchte man in einer Beziehung Nähe erfahren – das ist schließlich der entscheidende Grund, überhaupt eine Beziehung einzugehen. Andererseits ist es wichtig, auch etwas Distanz zu halten, um als Person bestehen zu bleiben – also sich Freiräume zu schaffen, den eigenen Interessen nachzugehen, mit Freunden etwas zu unternehmen, eventuell auch mal allein in Urlaub zu fahren – und gleichzeitig zu wissen, dass der Partner eine sichere Basis bildet. Wie diese Balance dann konkret hergestellt wird, ist aber in Beziehungen ganz unterschiedlich und hängt auch von der Persönlichkeit der beiden ab. 29


Neyer: Manche Menschen brauchen viel Unabhängigkeit, andere eine starke Nähe zum Partner. Dieses Mischungsverhältnis muss immer ausgehandelt werden, sowohl innerhalb einer Person als auch zwischen den Partnern. Forming separations and relations, so hat David Bakan dieses gleichzeitige Herstellen von Nähe und Distanz in einer Partnerschaft genannt. Das ist entfernt vergleichbar mit den Erfahrungen, die ein sicher an seine Eltern gebundenes Kind macht: Von dieser Basis aus kann es die Welt explorieren, aber immer in den sicheren Hafen zurückkehren, wenn die Trennung zu bedrohlich wird. Wie wichtig ist Sexualität für die Verbundenheit der beiden Partner?

Finn: Das ist noch nicht wirklich geklärt. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass unsicher gebundene Partner die Sexualität dazu nutzen, um Nähe herzustellen. Auch scheinen Männer Sexualität eher als Gradmesser für Intimität anzusehen als Frauen. Aber all das ist empirisch nicht sehr gut belegt. Neyer: Relativ sicher ist hingegen, dass Bindung und Sexualität zwei unabhängige Verhaltenssysteme sind. Es gibt also durchaus Sexualität ohne Bindung und Bindung ohne Sexualität. Ansonsten gilt, was die Forschung zu Partnerschaft und Sexualität angeht,

WENN NÄHE UNZUFRIEDEN MACHT Menschen mit einem hohen Bedürfnis nach Autonomie brauchen Distanz zum Partner In einer Partnerschaft gilt es, zwei widerstreitende Bedürfnisse unter einen Hut zu bekommen: jenes nach Nähe und Verbundenheit (communion) und jenes nach Distanz und Unabhängigkeit (agency). Honigsüße Harmonie ohne agency ist kein erstrebenswerter Zustand. Doch auch wenn der Unabhängigkeitsdrang eines der Partner stark ist, kann darunter die Beziehung leiden – es sei denn, man entschließt sich von vornherein, eine Beziehung auf (räumliche) Distanz zu führen. Das ist die Quintessenz einer Studie von Birk Hagemeyer von der Uni-

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PAIRFAM Persönlichkeit in der Partnerschaft ist eines der Themenfelder, die in der großen Paar- und Familienstudie „pairfam“ beleuchtet werden. Noch bis 2022 werden rund 12 000 Frauen und Männer immer wieder zu ihrem Familien-, Liebes- und Beziehungsleben befragt: www.pairfam.de

leider noch immer: „ein dunkler Kontinent“, wie Freud zu sagen pflegte. Sie beide studieren in Ihren Langzeitstudien – zum Beispiel in der großen Familienstudie „pairfam“ – viele Tausende von Paaren und das Auf und Ab ihrer Beziehungen. Finden Sie darin auch Fingerzeige für Ihren eigenen Beziehungsalltag?

Finn: Diese Forschungsergebnisse sind keineswegs so abstrakt, dass man sie in der Praxis nicht verwerten kann. Wenn man etwa weiß, auf welche Weise man bestimmte Situationen im Beziehungsalltag verzerrt interpretiert und wie das mit der eigenen Persönlichkeit zusammenhängen könnte, ist das durchaus nützlich. Auf der anderen Seite: Wenn man aus seiner Forschung weiß, wie und wann eine Partnerschaft gut und richtig läuft, hält einen das nicht unbedingt davon ab, im Alltag Fehler zu machen. Neyer: Man ist ein Mensch aus Fleisch und Blut und reagiert im sozialen Kontext eben häufig doch spontan und unreflektiert, nicht wie ein Wissenschaftler. Man kann dann höchstens im Nachhinein – vielleicht, aber nicht unbedingt besser als andere! – verstehen, was da passiert ist. Aber dann steht schon die nächste Situation vor der Tür. PH

versität Jena und seinen Mitforschern aus München und Berlin. Befragt wurden 332 zusammenlebende Paare sowie 216 Paare, die mit Absicht und ohne beruflichen Zwang in getrennten, aber nahe beieinanderliegenden Wohnungen lebten. Ein Teil der Paare führte außerdem zwei Wochen lang ein Beziehungstagebuch für die Forschung. Wie zu erwarten, war bei den auf Distanz lebenden Paaren das Grundmotiv nach Eigenständigkeit stärker ausgeprägt als bei den zusammenlebenden. Ein starkes agency-Bedürfnis ging bei diesen Paaren aber nicht zulasten der Beziehungszufriedenheit, denn sie hatten ja die Distanz, die sie brauchten. Bei den zusammenlebenden Paaren hingegen häuften sich Konflikte und Missstimmungen, sobald einer der beiden Partner einen starken Freiheitsdrang innerhalb der Beziehung hatte. Vielleicht frustet

INTERVIEW: THOMAS SAUM-ALDEHOFF

das beide Partner, vermuten die Autoren: den einen, weil er sich eingeengt fühlt; den anderen, weil der Partner so wenig Nähe zulässt. Dieses Missverhältnis spiegelte sich auch in den Tagebüchern: Normalerweise waren die Partner umso zufriedener mit ihrer Beziehung, je mehr Zeit sie an dem betreffenden Tag zusammen verbrachten. Das galt übrigens auch für die getrennt lebenden Paare. Nur jene Probanden, die a) ein hohes Autonomiebedürfnis hatten und b) mit dem Partner zusammenlebten, machte jede zusätzliche zweisam verbrachte Stunde tendenziell eher unzufriedener als glücklicher. Diese Paare wären also vermutlich gut beraten, mehr Abstand zu TSA halten. Birk Hagemeyer u. a.: When “together” means “too close”: Agency motives and relationship functioning in coresident and living-apart-together couples. Journal of Personality and Social Psychology, 109/5, 2015, DOI: 10.1037/ pspi0000031

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PSYCHOLOGIE NACH ZAHLEN

„JA, WAS HAT ER DENN?“ Zu betagten Menschen spricht man am besten wie zu Kindern — und 6 weitere Mythen rund um das Alter VON THOMAS SAUM-ALDEHOFF

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ZU ALTEN SPRICHT MAN AM BESTEN LAUT, LANGSAM UND BETONT

Ja, es ist wahr: Vor allem sehr alte Menschen haben oft Probleme mit dem Gehör. Wenn dem so ist, spricht man automatisch lauter mit der oder dem Betreffenden. Doch ab einem bestimmten Punkt verzerrt das Geschrei die Sprache. Der alte 32

Mensch kann dann zwar hören, aber nicht verstehen, was man gesagt hat. Ein bemutternder Tonfall – langsam, schlicht, überbetont, mit hoher Stimme und „kindgerechten“ Kosewörtern – ist nicht nur bevormundend, sondern zum Teil wirkungslos. Langsam sprechen fördert zwar das Verstehen, aber nur bis zu dem Punkt, an dem die natürliche Sprachmelodie verlorengeht. Überbetonung bringt gar nichts. Wohl aber Blickkontakt.

2

IM ALTER WIRD MAN ERST VERGESSLICH UND DANN DEMENT

Der Begriff „senile Demenz“ suggeriert, dass Alzheimer & Co fest mit dem Alter verkettet sind. Doch erstens kommen Demenzerkrankungen auch in jüngeren Jahren vor, und zweitens sind die meisten daheim lebenden alten Menschen nicht dement. Betroffen sind bis zu 10 Prozent im Alter über 65 und bis zu 30 Prozent im

Alter über 85. Das Vergessen von Namen und selten genutzten Fakten ist eine normale Alterserscheinung, ebenso das Gefühl, dass einem etwas auf der Zunge liegt und nicht einfallen will. Alarmzeichen sind, wenn man etwa die Regeln eines geliebten Spiels nicht mehr kennt oder den Heimweg nicht findet.

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MIT DER RENTE WERDEN WIR ALLE ZU HYPOCHONDERN

Bisweilen ist das Wartezimmer beim Arzt voll mit alten Leuten. Wird man im Alter wehleidiger, neigt man dazu, sich Krankheiten einzubilden? Studien kamen zu dem Ergebnis, dass Hypochondrie im Alter nicht häufiger auftritt als in anderen Lebensphasen. Mit den Jahren tut einfach mehr weh. Manchmal ist es etwas Ernstes. Häufige Arztbesuche sind dann eine Strategie, sich zu vergewissern, dass die Symptome nichts Schlimmes bedeuten. PSYCHOLOGIE HEUTE

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ILLUSTR ATION: STEFAN BACHMANN

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er Ausdruck „Anti-Aging“ sagt alles: Alter wird heute fast wie eine Krankheit behandelt, gegen die es beizeiten Mittel zu ergreifen gilt. Das liegt wohl auch daran, dass so falsche Annahmen über den letzten Abschnitt des Lebens in Umlauf sind. Joan Erber und Lenore Szuchman, die als emeritierte Psychologieprofessorinnen in der Forschung wie im Leben einschlägige Erfahrungen gesammelt haben, entkräften in ihrem Buch 37 Mythen über das Alter. Hier sieben der gängigsten:


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ALTWERDEN IST DEPRIMIEREND

In einer großen Umfrage in 26 Ländern schätzten die Teilnehmer, dass alte Menschen depressiver sind als jede andere Altersgruppe. Die Vorstellung von den „depressiven Alten“ ist in der Tat weitverbreitet. Und sie scheint ja auch plausibel: Am Ende des Lebens häufen sich die Gebrechen, liebe Freunde sterben weg, der Lebensradius verengt sich. Umso überraschter waren die Forscher, als eine amerikanische Bevölkerungsstudie 2010 zu dem Ergebnis kam, dass Depressionen im Alter seltener auftraten. 4,1 Prozent der Gesamtbevölkerung, aber nur 2,1 Prozent der Menschen ab 65 litten an einer schweren Depression. Am stärksten gefährdet war die Altersgruppe zwischen 45 und 64 Jahren. In Pflegeheimen ist die Situation allerdings anders: Von 76 735 untersuchten Bewohnern in Ohio hatten 48 Prozent die Diagnose Depression.

5

MIT DEM ALTER KOMMT DIE WEISHEIT

Das ist eines der wenigen positiven Stereotype über das Alter, aber leider scheint auch das nicht zuzutreffen. Wissenschaftler definieren Weisheit als ein tiefes Wissen um das Leben und seine Wechselfälle und Begrenzungen. Ein weiser Mensch betrachtet ein Problem aus verschiedenen Perspektiven, wägt ab, zieht keine voreiligen Schlüsse. Dazu braucht man viel Lebenserfahrung – sollte man meinen. In einem klassischen Experiment bat die Berliner Forschungsgruppe des verstorbenen Psychologen Paul Baltes Probanden unterschiedlichen Alters, einem fiktiven Menschen bei einem beschriebenen Lebensproblem einen guten Rat zu geben. Das Ergebnis: Nur fünf Prozent der Antworten erfüllten die Kriterien von Weisheit – und die waren gleichmäßig über die Altersgruppen verteilt. Ältere Menschen gaben also nicht weisere (aber auch nicht weniger weise) Antworten als junge. Eine erstrebenswerte Eigenschaft ist Weisheit im Alter aber allemal. Alte Menschen, die als weise beurteilt werden, sind oft zufriedener mit ihrem Leben.

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AM ENDE WIRD DIE ZUKUNFT BEDEUTUNGSLOS

Je älter man wird, desto mehr verkürzt sich die persönliche Zeitperspektive: Die Lebensspanne, die noch vor einem liegt, ist auch bei optimistischster Prognose begrenzt. Man könnte also meinen, dass alte Menschen nur noch in der Vergangenheit leben und sich nicht mehr um die Zukunft scheren. Das trifft überhaupt nicht zu. In einer deutschen Studie analysierten Jacqui Smith und Alexandra Freund über vier Jahre hinweg die Aussagen von Frauen und Männern im Alter von 70 bis 103 Jahren, die nach ihren Hoffnungen und Befürchtungen für die Zukunft befragt wurden. Wie sich herausstellte, hatten sie konkrete und lebhafte Vorstellungen davon, was sie erwarteten – und diese Erwartungen waren keineswegs starr, sondern im Wandel. Viele der Hoffnungen kreisen im Alter darum, gesund und geistig fit zu bleiben – und dieses Leitbild ist motivierend, Körper und Geist bestmöglich in Schuss zu halten.

7

JE NÄHER DER TOD RÜCKT, DESTO MEHR FÜRCHTET MAN IHN

Trotz allem Zukunftsoptimismus sind sich alte Menschen natürlich bewusst, dass der Tod näherkommt. Blicken sie ihm mit zunehmender Angst entgegen? Richtig ist: Wenn der Tod tatsächlich naherückt, sinkt oft das Wohlbefinden (siehe Heft 4/2016). Doch generell nimmt die Todesfurcht mit dem Alter eher ab. Am stärksten ist sie in der Lebensmitte. Für die meisten alten Menschen hat der Tod an sich wenig Schrecken. Sie machen sich eher Sorgen um den zurückbleibenden Lebenspartner, und es beunruhigt sie die Vorstellung, dass sie starke Schmerzen haben könnten. „Sie wünschen sich, den Sterbeprozess halbwegs unter Kontrolle zu haben“, schreiben Joan Erber und Lenore Szuchman, „und in Würde zu sterben.“

Die neue Studie zu Jugend, Vorsorge und Finanzen

Wer heute in das Berufsleben eintritt, soll sich vom ersten Tag an um seine Alterssicherung kümmern. Wer das nicht tut, ist später von Altersarmut bedroht. Wohl noch nie stand eine junge Generation so stark im Spannungsfeld von eigener Verantwortung und staatlicher Regulierung. Die Studie gibt Aufschluss darüber, welche Einstellungen Jugendliche und junge Erwachsene zu Vorsorge und Finanzthemen haben. Ergänzt wird sie durch Beiträge europäischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Sie analysieren die Lösungsansätze in verschiedenen Ländern und machen eindringlich klar: Nicht nur in Deutschland ist die nachhaltige Alterssicherung in Gefahr. 2016, 224 Seiten, broschiert, € 12,95 ISBN 978-3-7799-3369-4 Auch als E-Book erhältlich

LITERATUR Joan T. Erber, Lenore T. Szuchman: Great myths of aging. Wiley Blackwell, Chichester 2015

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33 JJUVENTA UVENTA


Doktorspiele 2.0 Kindliche Sexualität ist ein Tabuthema. Mütter und Väter blenden es am liebsten aus. Zugleich haben Jungen und Mädchen heute schon im Vorschulalter Zugriff aufs Internet – und können an eindeutiges Material gelangen VON SYLVIA MEISE

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ILLUSTR ATIONEN: MAGDA WEL

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ita geschlossen. Krisenstab. Fristlose Kündigung der Mitarbeiter. Die Gründe für diese drastischen Maßnahmen schienen triftig. Über Wochen hinweg sollte es in der Mainzer Kindertagesstätte „Maria Königin“ zu aggressivem und sexuell übergriffigem Verhalten gekommen sein. Und zwar unter den Kindern, und ohne dass Erwachsene eingeschritten wären. Als besorgte Eltern diese Vorwürfe im vergangenen Jahr öffentlich machten, war die mediale Aufmerksamkeit groß, die Fassungslosigkeit überregional. Doch einige Monate später eröffneten die Ermittler: Belastbare Indizien fehlen. Die Eltern hätten überreagiert, heißt es in den nun weniger zahlreichen Berichten. Kein Skandal, keine Story. So ungreifbar diese Geschichte ist: Sie verdeutlicht das Spannungsfeld, in dem sich kindliche Entwicklungs- und erwachsene Erziehungsaufgaben heute befinden. Einerseits sollen Mädchen und Jungen einen entspannten und selbstbewussten Umgang mit ihrem Körper lernen. Andererseits denken ihre Eltern bei kindlicher Sexualität schnell an Missbrauch. Das hat die Kölner Psychologin Elisabeth Raffauf registriert. Sie berichtet, Mütter und Väter würden bei diesem Thema zuerst auf das böse Ende schauen, auf mögliche Gefahren. Dabei sei kindliche Sexualität „neugieriges Forschen und Entdecken – also etwas Schönes!“. Jungen und Mädchen erkunden ihren Körper genauso wie einen neuen Raum oder ein neues Spielzeug. Erwachsene müssten verstehen, dass dieses neugierige Explorieren zur gesunden Entwicklung eines Kindes gehört, meint Raffauf. Im Nachhinein hat sich die Schließung der Mainzer Kita als überzogen herausgestellt. Ob Eltern und Betreiber mit mehr Hintergrundwissen umsichtiger gehandelt hätten? Um die Grenzen zwischen normaler Entwicklung und Missbrauch deutlich zu machen, hält die Psychologin Raffauf ein sexualpädagogisches Konzept für sinnvoll: „Nur damit gibt es Klarheit. Dann kann das Team jederzeit erklären, dass und warum es Kuschelecken gibt oder wie mit Nacktheit umgegangen wird.“ In der Realität fehlen solche Leitlinien jedoch meist, mehr noch: Mütter, Väter, Erzieher und Erzieherinnen klammern das tabubesetzte Thema lieber aus. Raffauf jedoch meint, es sei enorm wichtig, dass die Erziehungspartnerschaft zwischen Kindertagesbetreuung und Eltern auch das Thema Sexualität umfasst. Ein transparenter Umgang mit dem sensiblen Gegenstand sollte eigentlich selbstverständlich sein. Schließlich gehört Sexualerziehung gemäß den Bildungs- und Erziehungsplänen für Grundschulen und

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Kindergärten sowie den Lehrplänen der weiterführenden Schulen zum institutionell verankerten Bildungsauftrag. Doch in der Praxis ist das oft schwierig. Nicht immer liegt die Schuld dafür bei der Einrichtung. Manchmal verweigern sich auch die Eltern dem Dialog, etwa wegen strenger religiöser Vorschriften. Im Kindergarten treffen daher zum Bereich Sexualität die unterschiedlichsten Einstellungen von entspannt über verklemmt bis überfordert oder nachlässig aufeinander. „Komm, wir ficken“

Am Beispiel der evangelischen Kita Rosengarten, die in einem sozialen Brennpunkt in Frankfurt-Nied liegt, lässt sich ablesen, welche Herausforderungen aus diesem Mix erwachsen. Zu den immer wiederkehrenden Aufgaben gehört hier der Umgang mit sexuell aufgeladenen Spielen und Vokabular. Es sei nicht ungewöhnlich, dass Vorschulkinder den Geschlechtsakt nachspielen, berichtet Leiterin Ulrika Ludwig: „Da sehen wir einen Jungen und ein Mädchen unter dem Tisch. Die sind natürlich angezogen, ziehen sich aber dennoch eine Decke über, und der Junge führt entsprechende Bewegungen durch.“ Letztlich spielten sie altersgemäße Rollenspiele – aber in einer eben nicht altersgemäßen Variante. Explizit sexuelles Vokabular wird in der Kita Rosengarten nicht geduldet. Trotzdem musste das Team lernen zu verstehen: „Die Kinder spielen nach, was sie beschäftigt, und geben wieder, was sie gehört haben. Also auch Sätze wie ‚Komm, wir ficken‘“, sagt die Leiterin. Der Umgang mit Sexualität habe sich auch gegenüber Kindern stark verändert, hat die 61-Jährige beobachtet: „Wörter auszusprechen wie ‚ficken‘ war für meine Generation noch undenkbar. Bis vor ein paar Jahren konnte man davon ausgehen, dass Kindergartenkinder solche Vokabeln nur nachplappern, ohne zu wissen, was sie bedeuten.“ Heute dagegen verstehen Kinder den Inhalt ebenso – und sie merken, dass sie bei Erwachsenen damit unterschiedliche Reaktionen auslösen können. Doch woher kennen Jungen und Mädchen solche Begriffe? Ulrika Ludwig vermutet, dass die Vorlagen von älteren Geschwistern stammen, aus den Medien oder „durch einen Umgang der Eltern mit diesem Thema, den ich als lax bezeichnen würde“. Darauf angesprochen reagierten manche Mütter und Väter erschrocken, andere wischten das Thema zur Seite. Es gebe sogar Eltern, die anböten, mal einen Porno auszuleihen. Zwar bringt Ulrika Ludwig nach 30 Jahren Berufserfahrung so schnell nichts aus der 35


Fassung. Doch sie macht deutlich: „Vorschulkinder mit Pornografie zu konfrontieren ist eine Form von sexuellem Missbrauch, also Kindeswohlgefährdung.“ Eltern wie diese sind sicher nicht die Regel. Zwar gibt es nur wenige Daten zu Art und Umfang der Mediennutzung bei Kindergartenkindern, doch dürfte es die Ausnahme sein, dass sie an Pornografie geraten. Leider ist es aber auch eine Ausnahme, dass Eltern sich darum kümmern, welche digitalen Inhalte Kinder in ihren eigenen Zimmern, bei Freunden oder bei den Geschwistern konsumieren. Dabei ist die Erziehung zu Medienkompetenz heute eine unerlässliche Grundlage, um sexualisierte, betrügerische und unaufrichtige Inhalte in sozialen Netzwerken oder andernorts im Internet zu erkennen. Oder um Heranwachsenden klarzumachen, dass das InsNetz-Stellen von intimen Handybildern und -videos – Sexting Pics genannt – tabu sein sollte. Doch sowohl Eltern als auch Pädagogen sträuben sich vor dieser Aufgabe. 2014 wurden für eine Allensbach-Erhebung im Auftrag der Telekom-Stiftung 1500 Eltern von Klein- und Grundschulkindern sowie Kitapersonal und Grundschullehrkräfte zur Medienpädagogik befragt. Dabei stieß die Medienfrüherziehung auf viel Ablehnung. Vor allem wollte sich niemand darum kümmern. Erzieherinnen sahen die Mütter und Väter in der Pflicht; diese wiederum sagten, Medienfrüherziehung müsse nicht unbedingt sein. Zwar nutzen der Umfrage zufolge Kindergartenkinder kaum digitale Medien, sondern am liebsten Bücher, Kassetten und Filme. Das jedenfalls antworteten die Eltern. Gleichzeitig zeigen Erhebungen durch die Landesmedienanstalten, dass Kinderzimmer flächendeckend mit Fernsehern ausgestattet sind und dass Grundschüler und teilweise auch schon Kindergartenkinder über Handys und Tablets verfügen.

JUGEND ONLINE Nach den aktuellen Statistiken des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest (2015) zur Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen nutzen 63 Prozent der Sechs- bis 13-Jährigen zumindest selten das Internet. Ab zehn Jahren verfügen fast alle Kinder über ein Handy, ab 14 gehört die Internetnutzung bereits zum Alltag. Das Medium Internet birgt nicht nur die Möglichkeit, sich zu vernetzen, oder das Risiko, auf pornografische Inhalte zu stoßen, sondern auch die Gefahr, Ziel von unerwünschten Annäherungsversuchen seitens Erwachsener zu werden. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, www.mpfs.de

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Im Internet stoßen Kinder ohne größeren Aufwand auf sexualisierte Inhalte. Zugleich fristet die frühe Sexual- und Medienerziehung ein Schattendasein. Wo finden Jungen und Mädchen eigentlich Antworten auf die Fragen, die sie zu Hause nicht zu stellen wagen? Paradoxerweise oft auch: im Internet. Der Verband pro familia etwa unterhält die Onlineinformationsportale sexundso.de – für Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren – sowie sextra.de für ältere Jugendliche. Ein weiteres Angebot für diese Altersgruppe verantwortet die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter loveline.de. Doch auch jüngere Kinder haben Fragen. Das zeigt jede Woche die WDR-Kinderradiosendung Herzfunk, die mittlerweile seit fast 15 Jahren läuft und von der Psychologin Elisabeth Raffauf zusammen mit den Journalistinnen Katrin Sanders und Monika Frederking geleitet wird. Das Besondere daran: Kinder beantworten als Experten die Fragen anderer Kinder. Die Fragen, die dem Herzfunk-Team bisher gestellt wurden, sind erstaunlich konkret. Die Kinder wollen etwa wissen, „was in den Hoden drin ist“, wie man sich verliebt oder ob Sex wehtut. Sogar Fragen zum Thema Missbrauch werden gestellt – und in der vorgegebenen Länge von drei Minuten beantwortet. Sind Kinder heute frühreif? Raffauf, die auch Autorin von Entwicklungs- und Erziehungsratgebern ist, verneint: „Nicht, was die Fragen zum Thema Sexualität betrifft.“ Da habe sich in den vergangenen Jahren wenig geändert. Allerdings seien Kinder heute früher geschlechtsreif. Auf der Ebene der körperlichen Entwicklung und Reifung hat sich der Zeitplan verschoben, das zeigen Daten des Robert-Koch-Instituts. Die typischen Anzeichen der Pubertät – Mädchen werden rundlicher und haben ihre erste Regelblutung, Jungen bekommen mehr Muskeln und haben ihren ersten Samenerguss – stellen sich mittlerweile schon ab 11 Jahren ein. „Dass die Seele da mithält“, bezweifelt die Psychologin. „Unsere Aufgabe als Erwachsene ist, Kindern dabei zu helfen, ihre Gefühle einzuordnen.“ Und diese Hilfestellungen scheinen prinzipiell zu funktionieren. Die Statistiken der BZgA dokumentieren bei Jugendlichen seit Jahren ein zunehmendes Verantwortungsbewusstsein im Umgang mit Sexualität. Auch Teenagerschwangerschaften gehen stetig zurück. Möglicherweise zeigt die Sexualerziehung in Schulen und Kindergärten langfristig Wirkung. Allerdings hat diese Auslagerung der Aufklärung auch unerwünschte Begleiterscheinungen mit sich gebracht. Offenbar haben sich die Eltern vom Thema entfremdet. Ein Beispiel: 2014 wandten sich aufgebrachte Baden-Württemberger mit einer Petition gePSYCHOLOGIE HEUTE

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gen die Neufassung des schulischen Sexualkundeunterrichts für Jugendliche. Mit 200 000 Stimmen sprachen sich die unterzeichnenden Mütter und Väter dagegen aus, dass Homosexualität in Schulen thematisiert wird. Im selben Jahr traf die Soziologin Elisabeth Tuider, Professorin an der Universität Kassel, ein Shitstorm. Sie hatte in einem Interview gesagt, dass sexualpädagogisch Tätige oftmals die ersten Personen seien, „mit denen sich Jugendliche trauen, ihre Fragen und Irritationen zu besprechen“. Im Zweifelsfall eben auch über Analverkehr, Homosexualität und Sexspielzeuge. Kinder und Jugendliche scheinen also im Großen und Ganzen gar nicht so schlecht zurechtzukommen. Doch wie die Aufregung um die Mainzer Kita im vergangenen Jahr gezeigt hat, sind da ja noch die besorgten Erwachsenen. Aber wie berechtigt sind deren Ängste überhaupt, gerade was Kindergartenkinder angeht? Gefährliche Gleichaltrige

Marc Allroggen, Oberarzt am Ulmer Universitätsklinikum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, sagt, tatsächlich gebe es sexuell problematisches Verhalten auch bei Kindergartenkindern. Die Ursachen seien individuell verschieden: „Diskutiert wird ein Zusammenhang mit eigenen Missbrauchserfahrungen. Wir wissen jedoch, dass solche Verhaltensweisen auch bei Kindern auftreten können, die emotional nicht gut versorgt sind.“ Allroggen schränkt allerdings ein, ihm seien nur Einzelfälle bekannt. Wie viele Kinder in Deutschland insgesamt betroffen sind, lasse sich nicht sagen. Als potenzielle Täter sexuellen Missbrauchs werden meist klischeehaft „fremde Männer“ vermutet. Womöglich geht die Gefahr jedoch viel häufiger von Gleichaltrigen als von Erwachsenen aus. Zu diesem Schluss kommen Forscher um Marc Allroggen und Jörg Fegert in einer aktuellen empirischen Untersuchung. Im Fokus standen dabei jedoch nicht Kindergartenkinder, sondern Jugendliche in Einrichtungen der Jugendhilfe und Internaten. Allroggen und Fegert halten fest, dass sexuell übergriffiges Verhalten „eine der häufigsten Formen aggressiven Verhaltens ist, dem Schüler ausgesetzt sind“. Beunruhigend an diesen Ergebnissen ist, dass mildere Formen von sexuell belästigendem Verhalten von einem Großteil der Mädchen und Jungen als normal empfunden werden. Absichtlich wurde der Begriff „sexueller Übergriff“ weit ausgelegt. Ob ungewolltes Geküsstwerden, Nötigung oder gar Vergewaltigung – keine Form sexueller Belästigung sollte als „jugendtypisch bagaPSYCHOLOGIE HEUTE

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tellisiert“ werden. Je nach individueller Sensibilität könne auch weniger schwerwiegendes sexuell übergriffiges Verhalten zu erheblichen Schwierigkeiten wie Leistungsabfall, Schulschwänzen sowie „internalisierenden und externalisierenden Problemen“ führen. Was meint der Experte – könnte hier eine früh ansetzende Sexualerziehung helfen? Allroggen bremst: „Offensichtlich zeigt die Mehrheit der Kinder kein problematisches sexualisiertes Verhalten. Also funktioniert die Erziehung in diesem Bereich überwiegend gut. Was wir brauchen, ist eine Bestandsaufnahme: Wie viele Kinder betrifft es?“ Die nächste Frage müsse sein: welche Kinder? Allroggen: „Danach erst kann man überlegen: Was können wir tun?“ Ein besonnener Fahrplan. Besonnenheit könnte auch dazu taugen, Gerüchte zu entlarven. Das wirklich Bedrückende an der Mainzer Geschichte ist, dass sich Eltern und Journalisten gegenseitig in ihrer Aufregung befeuert haben. Die Leitung der Kindertagesstätte „Maria Königin“ wurde wegen unterlassener Aufsichtspflicht angeklagt und der Pfarrer vor Ort wegen Missbrauch. Nichts davon war wahr. Grundsätzlich unterscheidet sich Sexualität in Zeiten des Internets ja nicht von der in Zeiten analogen Aufwachsens. Wichtig ist auch heute, dass Kinder, aber ebenso Eltern Antworten auf ihre Fragen erhalten. Dafür braucht es Ruhe, Vertrauen und BePH sonnenheit.

Auch jüngere Kinder haben Fragen zur Sexualität: „Was ist in den Hoden drin?“ zum Beispiel

LITERATUR Anja Henningsen, Elisabeth Tuider, Stefan Timmermanns (Hg.): Sexualpädagogik kontrovers. Beltz Juventa, Weinheim 2016 Silke Hubrig: Sexualerziehung in Kitas. Beltz, Weinheim 2014 Elisabeth Raffauf: So schützen Sie Kinder vor sexuellem Missbrauch. Prävention von Anfang an. Patmos, Ostfildern 2012

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„Wir sind abgeschnitten vom Rest der Menschheit“ Sechs Menschen, zwölf Monate, eine Mission: Das amerikanische Forschungsprogramm HI-SEAS simuliert das Zusammenleben in einer Marsstation. Unter den Teilnehmern des aktuellen Projekts ist auch die Deutsche Christiane Heinicke. Ein Gespräch über den Einsatz als Versuchsperson, das eigene Leben als Experiment – und ungeahnte Sehnsüchte

Das kuppelförmige Habitat am Hang des Mauna Loa dürfen die „Astronauten“ nur in Raumanzügen verlassen

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Frau Dr. Heinicke, Sie leben seit August 2015 in einer besonderen Wohngemeinschaft: Zusammen mit fünf anderen Wissenschaftlern bevölkern Sie für ein Jahr eine simulierte Marsstation auf Big Island, der größten hawaiianischen Insel. Wie außerirdisch fühlt sich Ihr Leben derzeit an?

Nun, es fühlt sich nicht an, als wären wir auf einem anderen Planeten, denn wie in Deutschland gibt es hier Wolken, Wind und blauen Himmel, die wir auch aus unserem einzigen Fenster sehen können. Dafür wirkt die vegetationslose Vulkanlandschaft von Hawaii umso fremdartiger. Dazu kommt die geografische und soziale Isolation: Wir sind definitiv weit weg von allem Geschehen daheim. Da macht es keinen Unterschied, ob 50 Millionen oder nur 50 Kilometer dazwischen liegen – wir sind abgeschnitten vom Rest der Menschheit.

Christiane Heinicke, 30, ist promovierte Physikerin. Die Bitterfelderin studierte in Ilmenau und Uppsala. Bevor sie sich für die Teilnahme bewarb, arbeitete sie an der Aalto University in Helsinki. Über ihr Leben im Habitat schreibt sie auf www.scilogs.de/ leben-auf-dem-mars

der Zeit ändert. Dazwischen haben wir im Prinzip Freizeit, die wir unter unseren eigenen wissenschaftlichen Projekten, Sport und Hobbys aufteilen. Das Abendessen ist eines der wichtigsten Ereignisse, da kommen wir alle zusammen und reden über unseren Tag. Anschließend unternehmen wir oft etwas gemeinsam; mittwochs ist Spiele-, freitags Filmabend. Jeder hat einen Tag Küchendienst, samstags ist Resteessen, und am Sonntag putzen wir. An etwa zwei Tagen in der Woche haben wir Außeneinsätze, sogenannte EVAs. Wie weit dürfen Sie sich bei diesen Ausflügen vom Habitat entfernen?

chen Bedingungen leben, wie es Astronauten auf

Etwa zwei Kilometer. Das klingt wenig, aber auf dem Lavagestein und im Anzug kommt man nur langsam vorwärts, sodass wir für diese Distanz etwa eine Stunde brauchen. In der Regel dauern unsere Außeneinsätze zwei bis drei Stunden, und das schließt die Arbeit selbst ein, den Weg dorthin und fünf Minuten in der Luftschleuse beim Ein- und Ausstieg.

Marsmission tun würden. Was bedeutet das?

Sie sind sonst seit mehreren Monaten umgeben

Wir wohnen in einem kuppelförmigen Habitat, das wir nur in Raumanzügen verlassen können. Das Habitat steht am Hang des Vulkans Mauna Loa inmitten ausgedehnter, praktisch vegetationsloser Lavafelder, fernab der Zivilisation. Jeglicher Kontakt mit der Außenwelt ist auf E-Mails beschränkt, die wegen des großen Abstands zwischen Mars und Erde 20 Minuten lang zu uns unterwegs sind. Die letzte Person, die wir von uns einmal abgesehen in natura gesehen und gehört haben, ist die Studienleiterin, die im August die Tür hinter uns geschlossen hat.

von immer denselben Menschen, denselben Din-

Sie und Ihre fünf Mitbewohner sollen über die Dauer Ihres Aufenthalts unter möglichst ähnli-

Wie sieht Ihr Alltag derzeit aus?

Es gibt sieben Fragebögen, die wir jeden Tag ausfüllen, dazu kommen weitere wöchentliche und monatliche. An ausgewählten Tagen führen wir Gruppenexperimente durch, die unter anderem untersuchen sollen, wie sich der Zusammenhalt im Team im Lauf

gen, auf begrenztem Raum. Wie erleben Sie das?

Wir suchen uns abwechslungsreiche Beschäftigungen. Ich zum Beispiel lerne Französisch und Mundharmonika. Einige von uns arbeiten an wissenschaftlichen Projekten. Wenn das Neue nicht mehr zu uns kommen kann, erschaffen wir eben Neues. Wie hat sich die Beziehung zu Ihren Mitbewohnern seit dem Einzug verändert?

Im Großen und Ganzen haben sich Tendenzen, die sich am Anfang schon abgezeichnet haben, verstärkt. Diejenigen Crewmitglieder, mit denen ich beim Einzug auf gutem Fuß stand, sind heute enge Freunde, während ich die, mit denen es gleich Reibereien gab, bestenfalls als Kollegen oder Mitbewohner bezeichnen würde. Wie gehen Sie mit dem Thema Sex um? Ist Sex „erlaubt“, sind Beziehungen gar erwünscht?

FOTOS: CYPRIEN VERSEUX

WAS IST HI-SEAS? Das Programm Hawai‘i Space Exploration Analog and Simulation (HI-SEAS) ist ein Projekt der Universität von Hawaii. Mit Unterstützung der US-Raumfahrtbehörde NASA erforschen Wissenschaftler seit 2012, wie sich das isolierte Zusammenleben auf eine Gruppe auswirkt. Dafür werden je sechs freiwillige „Astronauten“ ausgewählt, die gemeinsam mehrere Monate in einer simulierten Marsstation zubringen. Die Forscher erhoffen sich unter anderem Erkenntnisse über die ideale Zusammensetzung künftiger Astronautenteams. Die aktuelle vierte Mission ist die erste mit einer Länge von einem Jahr. www.hi-seas.org PSYCHOLOGIE HEUTE

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Vonseiten der Studienleitung ist Sex weder verboten, noch wird er gefördert. Wir wurden nur darauf hingewiesen, dass Beziehungen problematisch werden können, wenn sie zerbrechen – man kann dem oder der Ex hier schließlich nicht aus dem Weg gehen. Crewintern waren wir uns alle von Beginn an einig, dass Beziehungen akzeptabel sind, solange sie die Mission nicht beeinträchtigen. Zu den Situationen, die wir uns vorgenommen haben zu vermeiden, zählen lautstarke Konflikte, Eifersüchteleien, aber auch das Gegenteil: allzu öffentliches Herumgeknutsche. Klappt das?

Bisher ja – zumindest habe ich noch keine der eben 39


genannten Verhaltensweisen hier beobachtet. In anderen Isolationsstudien kam es zu teils erheblichen Spannungen in der Gruppe.

Bei uns läuft bisher alles friedlich ab. Klar hatten wir Auseinandersetzungen, und zwei- oder dreimal haben sich einzelne Crewmitglieder für den Rest des Tages in ihre Zimmer zurückgezogen. Aber jedesmal haben wir spätestens am nächsten Morgen wieder miteinander gesprochen und zusammen gearbeitet. Was haben Sie im Verlauf des Aufenthalts lernen müssen – über sich und andere?

Ich habe mich immer für eine schlechte Köchin gehalten. Doch tatsächlich gibt es an meinen Küchendiensttagen die wenigsten Reste, egal wie voll der Topf vorher war. Dass ich zum Beispiel viel toleranter geworden bin, glaube ich aber nicht. Ich habe schon immer dazu geneigt, kleine Fehler oder Unachtsamkeiten durchgehen zu lassen. Erst wenn sie sich häufen, bringe ich sie zur Sprache. Ich denke, wer ständig auf Kleinigkeiten herumreitet, macht sich selbst das Leben schwerer. Wie ist es um Ihre Privatsphäre bestellt? Gibt es so etwas für Sie derzeit überhaupt?

Jeder hat sein eigenes Zimmer, das zwar winzig ist, aber mit allem Notwendigen ausgestattet. Wer seine Ruhe haben möchte, kann sich also zurückziehen. Überhaupt: Wir haben zwar Kameras im Habitat, die sind aber nur auf den Essbereich gerichtet. Labor, Bad, Lagerraum, Gemeinschaftsraum, unsere Zimmer – all diese Bereiche sind nicht überwacht.

Die anderen behaupten, dass ich 30 Stunden am Tag schlafe. Tatsächlich ist es aber in etwa so viel wie vor Missionsbeginn. Ich achte darauf, regelmäßig auszuschlafen, damit ich mich besser konzentrieren kann. Schwieriger ist für mich der Bewegungsmangel. Einige von uns treiben täglich mehrere Stunden Sport, wir haben hier ein Laufband, ein Generatorfahrrad und Yogamatten. Das ist mir zu eintönig: Nach einer halben Stunde auf dem Fahrrad hatte ich genug für den Rest der Mission. Im Moment nutze ich das Laufband regelmäßig – und lese dabei. Die Stimmung von Teilnehmern ähnlicher Isolationsexperimente soll sich laut Studien nach einer gewissen Zeit verschlechtern. Bemerken Sie so etwas bei sich oder Ihren Mitbewohnern?

Das würde man vor allem ungefähr zur Halbzeit erwarten, zu Beginn des sogenannten dritten Viertels, wenn der Alltag längst eingetreten, das Ende der Mission aber noch lange nicht in Sicht ist. Mir selbst ist um die Zeit herum keine Verschlechterung aufgefallen. Das muss aber nichts heißen – wir wären nicht die Ersten, denen diese schleichende Veränderung entgangen ist. Genau deshalb führen wir ja regelmäßig Experimente durch, die unsere Kooperationsbereitschaft und Produktivität objektiv bewerten sollen. Was stört Sie in Ihrem Alltag am meisten?

Wie geht es Ihnen körperlich? Bemerken Sie Ein-

Wir können nicht spontan nach draußen gehen, wenn das schöne Wetter lockt. Dazu kommt, dass wir immer einen Anzug tragen müssen, egal wie warm es ist. Daher ist es kein Zufall, dass meine Duschtage mit unseren EVA-Tagen zusammenfallen.

schränkungen, was Bewegung, Schlaf, Konzent-

Dürfen Sie nur begrenzt duschen?

ration angeht?

Nein, aber intern wetteifern wir darum, wer am kür-

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zesten duscht und somit am wenigsten Wasser verbraucht. Unsere männlichen Teamkollegen liegen häufig unter einer Minute, ich schaffe es selten unter zwei. Darüber hinaus haben wir uns angewöhnt, einbis zweimal in der Woche zu duschen, bevorzugt nach schweißtreibenden Aktivitäten. Dazwischen waschen wir uns; es stinkt niemand.

Das hängt vom Tag ab. Ich liebe unsere Außeneinsätze, besonders wenn wir uns dabei weiter vom Habitat entfernen. Ich lerne wie gesagt Französisch und gelegentlich Morsecode. Theoretisch übe ich auch, Mundharmonika zu spielen, aber dazu bin ich schon seit einigen Wochen nicht mehr gekommen. Sie werden teils von Kameras beobachtet, Puls,

Was fehlt Ihnen besonders?

Schlaf, Bewegungen werden aufgezeichnet. Wis-

Frische Tomaten! Wir arbeiten daran, aber es ist nicht einfach, hier Pflanzen zu ziehen.

senschaftler aus aller Welt erhoffen sich daraus

Was ist daran so schwierig?

sammenleben in isolierten Gruppen entwickelt.

Unsere Pflanzen leiden unter Lichtmangel und einer Fliegenplage. Hier auf 2500 Meter Höhe verirrt sich selten ein Lebewesen. Aber irgendwoher haben sich Fliegen in unseren Kompostiertoiletten eingenistet, und deren Larven mögen auch junge Pflänzchen.

Wie viel bekommen Sie davon mit?

Erkenntnisse zum Beispiel dazu, wie sich das Zu-

Unser „normales“ Essen besteht aus Gefriergetrocknetem, dazu Nudeln und Reis. Wir haben Gemüse, Obst, Fleisch, Milch – alles, was man in der Küche so braucht. Nur eben in dehydrierter Form. Der Vorteil: Alles ist schon in mundgerechte Stücke vorgeschnitten, man braucht es nur noch in eine Schüssel mit Wasser werfen und warten.

Die Kameras sind ja nur auf den Essbereich ausgerichtet und zeichnen keinen Ton auf. Wir tragen Fitness-Tracker am Handgelenk, die spürt man kaum. Andere Sensoren, die wir unter anderem um den Hals legen müssen, sind störender, aber die tragen wir nur zu bestimmten Zeiten. Neben dieser passiven Überwachung führen wir regelmäßig die verschiedenen Sozialexperimente durch. Die wohl meiste Zeit verbringen wir aber mit dem Ausfüllen der Fragebögen. Darin geht es zum Beispiel um unsere Stimmung während des Tages, mit wem wir wie erfolgreich interagiert haben oder wie wir in der Nacht geschlafen haben.

Was ist für Sie die größte Herausforderung bei

Inwieweit beeinträchtigt Sie die Rolle als Ver-

dieser Mission?

suchsperson?

Das klingt vielleicht banal, aber ich vermisse, ungehindert geradeaus laufen zu können. Wir sind bis auf fünf bis sechs Stunden in der Woche ständig drinnen. Der Durchmesser unseres Habitats beträgt etwa zwölf Meter, das ist die längste Strecke, die wir zurücklegen können, ohne umkehren zu müssen.

Beeinträchtigen ist das falsche Wort. Klar würde ich die Stunden am Tag, die für die Untersuchungen draufgehen, lieber für meine eigene Forschung nutzen. Aber ich gehöre auch zu dem Teil der Gruppe, der sofort noch mehr Versuche auf sich nehmen würde, um aus dieser einmaligen Gelegenheit wissenschaftlich so viel wie möglich herauszuholen.

Was essen Sie sonst?

FOTO: CHRISTIANE HEINICKE

Zuhause für ein Jahr: Der Durchmesser des zweistöckigen Zeltbaus beträgt nur zwölf Meter

Was tun Sie, um bei Laune zu bleiben? PSYCHOLOGIE HEUTE

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sind; ich habe schon vor Beginn der Mission für längere Zeiten im Ausland gelebt.

Wie geht es Ihnen mit dem Mangel an Natur?

Sie haben sich vorgenommen, während der HI-SEAS-Zeit „mindestens eine Sprache zu lernen und ein Instrument“ – und ab und zu Kuchen zu backen. Wie sind Sie damit vorangekommen?

Die Französisch-Grundlagen sitzen, und demnächst werde ich anfangen, mit unserem französischen Teammitglied zu üben. Zum Mundharmonikaspielen komme ich nur sporadisch, das kann man leider nicht nebenher auf dem Laufband machen. Kuchen backe ich gelegentlich, aber die anderen backen auch sehr gern, sodass wir uns mit dem Aufessen regelrecht beeilen müssen. Und Ihre Forschung? Sie haben mit dem Aufenthalt ja auch wissenschaftliche Ziele verknüpft.

Mails erreichen Sie erst mit 20 Minuten Verspä-

Eines meiner Projekte ist die Gewinnung von Wasser aus dem Boden. Das Lavagestein hier ist vergleichbar mit dem Mars, sowohl was den Wassergehalt angeht als auch die chemische Zusammensetzung. In einer Woche gewinne ich durch reine Verdunstung etwa zwei Liter Wasser aus einem Quadratmeter Boden. Die anderen Projekte beschäftigen sich unter anderem mit unserem Wasserverbrauch, unserem Schlafverhalten und Problemen, die mit Pflanzenwachstum auf Marsboden zusammenhängen.

tung. Die Möglichkeiten, Kontakt mit der Außen-

Worin besteht für Sie der größte Reiz an dem HI-

welt zu halten, sind entsprechend gering. Wie hat

SEAS-Experiment?

sich Ihre Art zu kommunizieren verändert?

Für mich waren zwei Gründe für die Teilnahme ausschlaggebend: die persönliche Herausforderung und die Möglichkeit, aktiv zur Weltraumforschung beizutragen. Ein angenehmer Nebeneffekt ist, dass ich einen recht tiefen Einblick in die Spezialgebiete meiner Teamkollegen erhalte.

Jedes Crewmitglied hat nur begrenzten, um 40 Minuten verzögerten Zugang zum Internet. E-

Ich war nie der große Telefonierer, die Beschränkung auf E-Mails fällt mir daher meist gar nicht auf. Erst bei Problemen, die sich per Mail einfach nicht effizient lösen lassen, vermisse ich die Möglichkeit, einfach zum Hörer zu greifen. Ich bin gezwungen, auch komplizierte Sachverhalte schriftlich darzulegen. Durch den Zeitverzug kann der Empfänger nicht mal eben nachfragen, wenn etwas unklar geblieben ist. Dadurch erstrecken sich fast alle „Gespräche“ über längere Zeiträume. Was außerhalb der Station eine Stunde dauert, kann sich hier über mehrere Tage hinziehen. Inwieweit beeinflusst Ihr Aufenthalt die Beziehung zu Freunden und Familie?

Ich tausche mit ihnen gelegentlich Videonachrichten aus, wobei ich es immer noch eigenartig finde, mit einer Kamera zu sprechen. Ich denke, unser Kontakt hat sich vom Umfang her wenig geändert, nur das Medium ist jetzt ein anderes. Vermutlich hilft es, dass meine Freunde und Familie an die Trennung gewöhnt 42

Zwei bis drei Stunden dauern die Außeneinsätze, bei denen sich die Teilnehmer maximal zwei Kilometer weit entfernen dürfen

Was interessiert Sie da besonders?

Cyprien Verseux ist unser Astrobiologe, der hier unter anderem an Cyanobakterien forscht. Das Faszinierende an diesen Bakterien ist, dass sie im Labor unscheinbar wirken, sie sehen fast wie ein Schluck Waldmeisterbrause aus. Tatsächlich steckt in ihnen großes Potenzial: Sie können das Leben auf dem Mars ermöglichen und als Nahrungsquelle, Sauerstofflieferant oder sogar Dünger für Pflanzen dienen. Wie hoch ist eigentlich die Vergütung dafür, ein Jahr die Kontrolle über sein Leben abzugeben?

Wir erhalten eine Aufwandsentschädigung, freies Essen und freie Unterkunft. Im Gesamtwert entspricht das dem, was ich in Deutschland als wissenschaftliche Mitarbeiterin erhalten habe. PSYCHOLOGIE HEUTE

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FOTOS: CYPRIEN VERSEUX

Ich finde das Vulkangestein um uns herum nicht so trostlos, wie es sich für andere vielleicht anhört. Die Landschaft ist fremdartig und spannend für mich: Man sieht die unmöglichsten Formen, in denen das Gestein mitten im Fluss erstarrt ist. Nach fünf Monaten haben wir unseren Bewegungsradius allerdings so gut wie ausgeschöpft, es wird zunehmend schwerer, noch Neues zu entdecken. Dazu engt uns der Anzug ein, und es kann ziemlich lästig sein, eine interessante Gesteinsformation durch den Helm betrachten zu müssen und nicht mit den Fingern berühren zu können. Manchmal schaue ich mir sehnsüchtig Fotos von alten Ausflügen an. Mal wieder nach einer schweißtreibenden Wanderung in einem Waldsee zu baden wäre schon schön. Aber unser Leben hier ist so andersartig, dass ich wohl mehr irritiert als glücklich wäre, hier einen Baum oder einen See zu finden. Und die Abgeschiedenheit hat durchaus auch Vorteile: Selbst durch unser Fenster hindurch können wir problemlos die Milchstraße erkennen.


Wie bereiten Sie sich auf die Rückkehr in die Zivilisation vor?

Den ersten Tag nach dem Ende der Simulation stelle ich mir schwierig vor – plötzlich wieder von so vielen Menschen umgeben zu sein. Deshalb werde ich im ersten Monat nach meiner Rückkehr „auf die Erde“ erst einmal ausgiebig zelten gehen. Was nehmen Sie als wichtigste Erfahrung mit?

Weil wir nicht mal eben im nächsten Supermarkt unsere Essensvorräte auffüllen können, müssen wir einen Überblick darüber behalten, was wir verbrauchen. Unser Strom wird von Solarpaneelen erzeugt und in Akkus gespeichert, die wir nachts entladen. Da diverse Systeme über Nacht laufen müssen, bedeutet das, dass wir zum Beispiel nach Sonnenuntergang nicht mehr kochen können. Noch stärker ist der Einschnitt beim Wasser: Wir sparen, wo wir können. Die gesamte sechsköpfige Crew verbraucht pro Tag knapp 100 Liter Wasser. Das ist weniger, als ein einzelner deutscher Durchschnittsbürger täglich verwendet, und der hat kein gefriergetrocknetes Essen, das mit Wasser versetzt werden muss. Das zeigt mir, dass wir alle deutlich ressourcenschonender leben

könnten. Meine Hoffnung ist, dass die Entwicklungen, die nötig sind, um das Überleben von Menschen auf dem Mars zu sichern, auch den „Daheimgebliebenen“ auf der Erde von Nutzen sein werden. Worauf freuen Sie sich am meisten?

Frisches Obst, frisches Gemüse, frisches Fleisch, frische Milch, frisches – alles. Und mal wieder weiter weg als eine Handvoll Kilometer von meinem Arbeitsplatz zu sein. Würden Sie wieder teilnehmen, wieder ein Jahr in Isolation leben?

Ja – wenn die richtigen Menschen dabei sind. Was ist Ihnen da besonders wichtig?

Wer dauerhaft auf so engem Raum zusammenleben will, muss ein Teamplayer sein, nett, kooperativ, und grundsätzlich Respekt vor anderen haben. Das ist schwerer, als es klingt. Jeder kann für ein paar Stunden oder Tage nett sein, aber eine Fassade kann man nicht über Monate aufrechterhalten. Da ist man, wie man ist. PH INTERVIEW: EVA-MARIA TRÄGER Das Interview wurde per E-Mail geführt

4. Internationaler Coachingkongress «Coaching meets Research ... » Wirkung, Qualität und Evaluation im Coaching 14./15. Juni 2016, Olten/Schweiz … für Personen, die für ein anspruchsvolles und qualitativ hochwertiges Coachingverständnis stehen und sich am State of the Art der Coaching-Praxis und Coaching-Forschung orientieren.

www.coaching-meets-research.ch

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Was Sokrates zu Ihren Sorgen sagt Philosophie ist populär wie selten zuvor. Aristoteles und Kollegen liefern Antworten für jede Lebenslage. Klassische Texte werden zur Fundgrube für Wohlfühltipps. Manche Philosophen preisen ihr Fach sogar als Alternative zur Psychotherapie. Was sollen wir davon halten? VON BORIS HÄNSSLER

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ILLUSTR ATION: CHRISTIAN BARTHOLD

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er bin ich – und wenn ja, wie viele? Werde ich gelassener, wenn ich älter werde? Warum ist die Liebe so schwierig, und wie gelingt sie dennoch? Das sind einige der Fragen, mit denen sich die deutschen Philosophen Richard David Precht und Wilhelm Schmid in ihren Sachbüchern beschäftigen. Offenbar sprechen sie damit ein großes Publikum an: Allein Prechts Buch Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? hat sich bis heute mehr als zwei Millionen Mal im deutschsprachigen Raum verkauft. Nicht nur philosophische Bücher sind gefragt: Viele Menschen haben auch das Bedürfnis, über Philosophie zu reden. In den vergangenen Jahren haben sich verschiedene Angebote etabliert, die unter den Begriff „philosophische Praxis“ fallen, sei es in Form von Einzelgesprächen oder Gruppendiskussionen. Die deutschsprachige Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis zählt etwa 150 Mitglieder, der amerikanische Verband National Philosophical Counseling Association hat etwa 400 Mitglieder – doppelt so viele wie noch vor zwei Jahren. Es gibt in Deutschland philosophische Cafés, Philosophieren für Kinder, philosophische Reisen und philosophische Publikumszeitschriften wie das Philosophie Magazin und Hohe Luft. Wie kommt es, dass sich so viele Menschen für Philosophie interessieren, ein Fach, das lange Zeit als zu abstrakt, als zu fern von den alltäglichen Sorgen galt? Hilft Philosophie denen, die sich innerlich leer fühlen? Hat die Psychologie keine Antworten auf ihre Fragen? Sind Philosophen dafür ausgebildet, sich um solche Menschen zu kümmern? Oder versprechen sie mit der Popularisierung der Philosophie etwas, was das Fach nicht zu leisten vermag? Richard David Precht jedenfalls sagt, dass das Interesse der breiten Bevölkerung an philosophischen Fragestellungen kein wirklich neues Phänomen sei. Precht hat kürzlich den ersten Band seiner dreiteiligen Geschichte der Philosophie veröffentlicht und vergleicht darin unsere Gegenwart mit jener Zeit, in der griechische Denker wie PSYCHOLOGIE HEUTE

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Epikur und die sogenannten Stoiker tätig waren – die ersten Philosophen, die ihr Sujet explizit als Lebenshilfe begriffen. Precht nennt sie die Gründer der Selbstmanagement- und der Ratgeberliteratur. „Epikur war eine Art spiritueller Guru, der eine Kommune aufbaute und in ihr das richtige, gute Leben vorleben wollte“, sagt Precht. „Dafür wurde er von den akademischen Philosophen angefeindet. Aber die Sinnsuche war eine logische Reaktion auf die eher optimistische, politische Philosophie von Platon und Aristoteles, die noch große Utopien des menschlichen Zusammenlebens entwarfen. Ihnen folgte eine Phase der Ernüchterung, da die Gesellschaftsentwürfe nicht griffen, und in einer solchen Phase befinden wir uns erneut.“ Sie begann nach Prechts Einschätzung in den 1970er Jahren, als viele Menschen erkannten, dass die Proteste der 1960er dem Kapitalismus langfristig nichts anhaben konnten. Die Hoffnung auf eine bessere und gerechtere Welt war verflogen,

„Philosophie ist die Kunst, über das Leben reflektiert nachzudenken – also über das Leben, nicht mein Leben“ R I C H A R D DAV I D P R E C H T

die ehemaligen Aktivisten waren ernüchtert. Sie wandten sich ab von gesellschaftlichen Problemen und begannen, sich mit ihrem eigenen Glück zu beschäftigen. „Zunächst wandten sich viele Leute den Philosophien des Fernen Ostens oder der Esoterik zu“, sagt Precht. „Die klassische abendländische Philosophie galt als zu schwierig für die Allgemeinheit aufzubereiten, aber das ändert sich allmählich, und seither steigt das Interesse an ihr.“ Ein Grund dafür sei auch der Bedeutungsverlust der Kirchen und Religionen. Wilhelm Schmid sieht es ähnlich: „Die Menschen haben keine Normen mehr, die bislang von der Religion erlassen, von der Tradition überliefert oder durch die Konvention vorgegeben wurden. Also müssen sie sich selbst orientieren.“ Ratgeber, die ihren Lesern das Denken abnehmen, befriedigen viele Menschen nicht. Schmid sagt, seine Bücher seien für Menschen, die selbst denken können und wollen. Während der Glauben für große Bevölkerungsschichten an Relevanz verloren hat, lässt sich zugleich ein zunehmender religiöser Fundamentalismus beobachten. Der Philosoph Michael Hampe, der an der ETH Zürich lehrt, sieht auch darin einen Grund für das neue Interesse an westlicher Philosophie. Man wende sich bewusst den Wurzeln und Idealen der abendländischen Aufklärung zu. Manche Philosophen gehen so weit, dass sie die Philosophie als Alternative zur Psychologie – genauer: zur Psychotherapie – bewerben. Der kanadische Autor Lou Marinoff, der Bücher wie Plato, Not Prozac! (auf Deutsch: Bei Sokrates auf der Couch) geschrieben hat, geht davon aus, dass viele Probleme unserer Seele ihre Ursachen darin hätten, dass wir am Sinn des Lebens zweifeln. Psychologen und Psychiater schlössen zu schnell auf eine psychische Störung und verordneten Therapien oder Medikamente. Dabei seien die meisten mentalen Probleme weder emotional noch biochemisch zu lösen, sondern philosophisch. Alain de Botton veröffentlichte 1998 ein Buch, in dem er die Philosophie, Literatur und Kunst mit den gängigen For45


meln eher psychologisch orientierter Ratgeberliteratur verknüpft: Wie Proust Ihr Leben verändern kann. Eine Anleitung. Zehn Jahre später gründete de Botton in London die School of Life, die mithilfe von Kultur unsere „emotionale Intelligenz“ stärken soll. Die Schule gibt Kurse wie „Wie man ruhig bleibt“, „Wie man eine gute Führungskraft ist“ oder „Wie man besser in der Liebe kommuniziert“. Im hauseigenen Shop kann man Bücher mit ähnlichen Titeln kaufen – neben Schlüsselanhängern mit philosophischen Sprüchen oder Honig aus Griechenland. Unter dem Überbegriff „Therapie“ bietet die School of Life zudem sowohl klassische Psychotherapien als auch philosophische Lebensberatungen zur Persönlichkeitsentwicklung an. Kierkegaard als Hausaufgabe

Der amerikanische Psychologe Samuel Knapp hat das weltweite Angebot an philosophischen Beratungen analysiert und zwei Richtungen ausgemacht: narrow scope- und broad scope-Beratungen, zu Deutsch etwa „eng gefasst“ und „weit gefasst“. Die narrow scope-Philosophen beschäftigen sich mit Problemen, die in der Psychotherapie nicht behandelt werden, etwa ethischen, metaphysischen, politischen oder rein logischen Fragestellungen. Klienten kommen in die Beratung, weil sie in ihrem Beruf vor einem ethischen Dilemma stehen, weil sie ihre Weltsicht hinterfragen oder wissen möchten, was ein würdevolles, freies Leben ausmacht. Die broad scope-Philosophen bieten ihre Dienste offensiv als Alternative zur Psychotherapie an. Sie behandeln Lebenskrisen, Ängste und Depressionen. Tatsächlich haben sich alle philosophischen Berater Techniken aus der Psychotherapie angeeignet, etwa den Rahmen für die Gespräche. Sie dauern ungefähr eine Stunde und finden wöchentlich oder 14-tägig in professionellen Praxisräumen statt. Die Berater hören zu und reden – ihr Ziel ist, die irrationalen Annahmen ihrer Klienten zu identifizieren. Mitunter geben sie den Klienten philosophische Werke zur Lektüre als Hausaufgabe mit. 46

„Die Philosophie hilft, die Grundlagen eines Problems zu verstehen und Lösungen zu erörtern. Aber wir sagen nicht, welche zu welchem Menschen passen.“ WILHELM SCHMID

„Ich gebe regelmäßig Textabschnitte heraus, die zu den Problemen der Klienten passen“, sagt Oliver Florig, der als philosophischer Berater, Logotherapeut und Heilpraktiker Psychotherapie in Heidelberg und Kempten arbeitet. „Zum Beispiel hatte ich einen Klienten, der Ende 30 war. Er hatte studiert, aber er wusste nicht genau, wie er sein Leben gestalten sollte. Soll er seine Freundin heiraten? Wie geht es beruflich weiter? Er wollte das Optimum und nichts falsch machen. Ich gab ihm einen Text über die ‚Krankheit der Möglichkeiten‘ von Søren Kierkegaard.“ Darin geht es um die Notwendigkeit von Einschränkungen und die Möglichkeit, Fehler zu machen, sobald man im Leben konkret wird. „Darüber konnten wir sprechen und so einen Zugang zu den Problemen finden“, meint Florig. Der Philosoph sucht nach Widersprüchen im Denken seiner Klienten. Florig fragt: „Welche Argumente gibt es für die Einstellung, die jemand hat? Ist sie auch auf den zweiten Blick angemessen, wahr

und gut?“ Der Klient denke dann über die Einstellung nach und lockere sie. „Im zweiten Schritt geht es darum, was angemessen und hilfreich ist. Menschen können an der Suche nach dem Sinn im Leben krank werden, falls sie ihn nicht finden, und daraus ergeben sich mitunter psychische Störungen. Aber die Grundfrage, vor der sie stehen, ist zunächst philosophisch.“ Die Philosophie hinterfragt Werte, Konventionen und Traditionen. Thomas Polednitschek aus Münster ist in erster Linie Psychologischer Psychotherapeut, aber Ende der 1980er und 1990er Jahre wandte er sich zunehmend der Philosophie zu, als er merkte, dass sich das Belastungsbild seiner Patienten änderte. „Ich erkannte eine Art Subjektmüdigkeit. Tradition und Religion verloren bei den Menschen ihre Bindewirkung. An ihre Stelle trat die Leere, und darauf hat die Psychopathologie keine Antworten. Unsere Freiheit ist heute nicht nur durch Unterdrückung, sondern durch Banalität bedroht.“ Auch Oliver Florig glaubt, dass sich die Gesellschaft zunehmend wegen einer um sich greifenden mentalen Leere der Philosophie zuwendet. „Ich war an mehreren Orten tätig und merkte, je traditioneller das Milieu ist, desto weniger tauchten Sinnfragen auf. In München waren sie in der Beratung das Hauptthema. Die Menschen sind heute oft familiär und religiös ungebunden, und wenn sie keine Erfüllung in einer sinnvollen Arbeit finden, spüren sie eine gewisse Leere. Sie merken auch, dass es ihnen auf die Dauer nicht reicht, sich am Wochenende auf einen Latte macchiato zu treffen.“ Albert Camus nannte das 20. Jahrhundert noch das Jahrhundert der Angst – er ging davon aus, dass Angst nicht ein Problem der Psyche des Einzelnen ist, sondern umgekehrt die Psyche ein Produkt der modernistischen Ängste. So interpretiert Steven Segal von der Maquarie University in Sydney Camus’ Schriften. Eine mentale Krankheit sei ein Rückzug vom modernen Leben oder eine Abgrenzung. Die Philosophie beschäftige sich nicht mit der Störung der Persönlichkeit wie die Psychologie, sondern mit dem ZusammenPSYCHOLOGIE HEUTE

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Viele Menschen fühlen sich mental leer. Es reicht nicht, sich am Wochenende auf einen Latte macchiato zu treffen

bruch der Konventionen, die den Alltag strukturieren. Segal schreibt: „Von diesem Standpunkt aus ist das Ziel der philosophischen Beratung nicht, das Selbst zu heilen, sondern die Störung der Konventionen zu erkunden und einen alternativen Rahmen zu schaffen, damit sich im Alltagsleben wieder ein Sinn findet.“ So weit die Theorie. In der Praxis ist es nicht immer leicht, so eindeutig zwischen psychologischen und philosophischen Fragestellungen zu unterscheiden. Daher diskutieren die philosophischen Praktiker seit Jahren, wie nahe die Philosophie sich an die Psychotherapie herantrauen dürfe. Der kanadische Praktiker Peter Raabe vertritt die Auffassung, dass philosophische Praxis selbst für Menschen geeignet sei, die laut den Kriterien in der psychiatrischen Diagnostik an einer psychologischen Störung leiden, sei es manische Depression, posttraumatische Belastungsstörung oder Schizophrenie. Die philosophische Beratung müsse therapeutische Ziele haben, da sie das Leid des Menschen zu verstehen und zu mildern versuche. Da ein Philosoph sich zum Beispiel mit Solipsismus auskenne – der Idee, dass nur der eigene Verstand sicher existiert und außerhalb des Verstandes alles unsicher ist –, sei der Philosoph nach Paul J. Gibbs sogar besonders geeignet, die Weltsicht eines an Schizophrenie Leidenden zu verstehen und ihm zu helfen. Ihm müsse Skepsis beigebracht werden, damit er die Rationalität des Solipsismus akzeptiere. Die Psychologin und Philosophin Emmy van Deurzen stellt sich auf den Standpunkt, dass Klienten, die zu einer existenziellen Therapie kommen, wissen, worum es dabei geht – um die grundsätzlichen Erfahrungen des Lebens. Demnach PSYCHOLOGIE HEUTE

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sei es die Verantwortung der Klienten, auszuwählen, ob sie einen philosophischen oder psychologischen Ansatz für ihre Probleme bräuchten. Die Philosophen, die ihre Beratung als Alternative zur Psychotherapie sehen, kritisieren an heutigen Psychotherapeuten, dass sie alle Abweichungen von der Norm als Symptom einer biologischen Störung betrachteten. Auch der Bonner Philosoph Markus Gabriel schlägt in seinem Buch Ich ist nicht Gehirn in diese Kerbe, wenn er schreibt, dass wir Neurowissenschaftlern zufolge zu Agenten der „Neuronengewitter unter unserer Schädeldecke“ degradiert werden. Der Philosoph Sam

„In der Philosophie geht es um die Suche nach der Wahrheit – es geht nicht um etwas Bequemes und Beruhigendes“ TO M S T E R N

Brown weist freilich darauf hin, dass Philosophen umgekehrt mit ihrer Expertise im kritischen Denken und ihrer Weltsicht alle mentalen Beschwerden als Folgen von Irrtümern im philosophischen Denken interpretieren könnten. Hinzu kommt, dass Philosophie eigentlich keine Wohlfühl-Veranstaltung ist – sie soll nicht unbedingt die Seele stabilisieren. Der Philosoph Tom Stern vom University College London sagt, er habe Philosophie studiert, weil sich das Fach mit jenen komplexen Fragen beschäftige, die er sich selbst stelle: Gibt es einen Gott? Wie kann ich es wissen? Und wie sicher ist das Wissen, wenn man bedenkt, dass der Kenntnisstand in 100 Jahren womöglich ein ganz anderer sein könnte? „In der Philosophie geht es um die Suche nach der Wahrheit – es geht nicht um etwas Bequemes, Beruhigendes“, sagt Stern. „Sobald Philosophie gut ist, ist sie schwierig und herausfordernd. Wenn ich eine Kritik zum Beispiel an der School of Life habe, dann diese: Ihre Behandlung philosophischer Fragen erscheint mir zu einfach. Wenn man schon die großen Denker mobilisiert, um zum Beispiel Trost zu suchen, dann muss die Möglichkeit bestehen, dass einem diese Denker die Augen öffnen und man zu dem Schluss kommt, dass es keinen Trost geben könnte.“ Professionelle Philosophen präsentierten sich nie als weise Menschen, an die sich Leute ratsuchend wenden könnten, wenn es um ihr Leben geht. „Warum sollten wir das auch? Das ist nicht das, wofür wir ausgebildet sind.“ Richard David Precht, der sich selbst als psychotherapieskeptisch beschreibt, sagt: „Philosophie sollte nicht die gleiche Rolle wie die Psychologie spielen; es ist die Kunst, zu lernen, über das Leben reflektiert nachzudenken – also über das 47


Leben, nicht mein Leben. Das ist etwas anderes, als wenn man massive persönliche Probleme hat. Das reflektierte Nachdenken führt nicht zwingend dazu, dass Menschen ihre Sorgen verlieren. Es kann Depressionen mitunter verschlimmern.“ „Sucht man einen Reflexionspartner für Fragen zur Endlichkeit des Daseins, zu Themen wie Sterben, zu moralischen Entscheidungen – dann sind Philosophen geeignet“, sagt die Psychologin Antonia Barke, die auch promovierte Philosophin ist. „Mit meiner Ausbildung als Philosophin hätte ich aber nie eine Therapie anbieten können. In der Psychotherapie gibt es einen klaren Auftrag, nämlich eine psychische Störung zu behandeln. Das Ziel ist, das Leiden und die Einschränkungen, die durch diese Störung verursacht werden, so gut wie möglich zu beseitigen oder zu lindern. Dazu unternimmt man gezielte, aufeinander aufbauende Schritte, die zu einer Veränderung beim Patienten führen.“ Alternative zur Therapie – oder Selbstüberschätzung?

In der kognitiven Verhaltenstherapie stützten sich die angewandten Methoden auf empirische Evidenz, sagt Barke. „Psychologische Psychotherapeuten haben eine lange Ausbildung hinter sich. Man kann nicht einfach in Gesprächen etwas ausprobieren, selbst wenn man sehr klug ist. Es ist wichtig, vorab eine fundierte Diagnostik durchzuführen. Patienten können suizidal sein, sie leiden oft unter erheblichen Problemen in ihrem Befinden, bei der Arbeit oder in ihren Beziehungen – sie benötigen fachkundige Behandlung.“ Barke sagt auch: „Ich glaube, dass es nach wie vor eine gewisse Geringschätzung gegenüber der Psychotherapie gibt. Denn ich würde ja nicht auf die Idee kommen, mich von einem Menschen operieren zu lassen, der kein Chirurg ist, nur weil er eine andere gute Ausbildung hat. Außerdem sind auch psychische Erkrankungen stigmatisiert, und ich sehe die Gefahr, dass Menschen mit ihren Problemen sich lieber der Philosophie oder der philosophischen Beratung zuwenden, um diesem 48

Stigma zu entgehen. Falls Philosophen meinen, eine Alternative zur Therapie und nicht nur Reflexion anbieten zu können, ist das meiner Ansicht nach eine Selbstüberschätzung oder ein Mangel an Wissen, was Therapie bedeutet.“ Außerdem fehlten für die philosophische Beratung gesetzliche Rahmenbedingungen und Qualitätskontrollen, die die Menschen schützen. Es gebe nicht einmal eine Schweigepflicht. Viele in Deutschland praktizierende Philosophen sind sich dieser Grenzen bewusst und sagen, sie würden Menschen mit psychischen Störungen nicht beraten. Aber das bedeutet nicht, dass sie psychische Störungen immer erkennen. Nicht alle Berater haben einen psychologischen Hintergrund wie Thomas Polednitschek oder Oliver Florig. Die Symptome für psychische Störungen seien bestenfalls schwammig, und nur eine psychologisch ausgebildete Person habe ein Auge dafür, ob der Klient die Realität wahrnehme wie die meisten anderen Menschen auch oder sich seine Realität konstruiere, schreibt die Psychologin und Philosophin Beatrice A. Popescu von der Universität Budapest. Grundsätzlich sind Menschen schlecht in einer philosophischen Beratung aufgehoben, wenn sie mentale Probleme jeglicher Art beschäftigen: wenn sie traurig sind, depressiv, ängstlich, aggressiv, hoffnungslos, wenn sie sich wertlos fühlen, unter Phobien oder Panikattacken leiden oder Zwangsstörungen haben. Philosophische Fragen sind etwa, wie man mit dem Älterwerden umgeht, wie man über Geld denkt, über Familienplanung – oder wie man es mit Moral, Werten und Politik hält. Der Psychologe Samuel Knapp beschreibt einige Beispiele, die zeigen, wie schwierig diese Abgrenzung manchmal ist: Klienten mit subtilen autistischen Störungen können aufmerksam und intelligent erscheinen, haben aber kognitive weiße Flecken, die erst durch professionelle psychologische Untersuchungen aufgedeckt werden. Konfrontiert man sie mit ihren logischen Anomalien, kann sie das in Bedrängnis bringen und seelisch verletzen, ohne dass dabei ihre kognitive Leis-

tung profitiert. Auch neurotische Klienten mit unverhältnismäßigen emotionalen Empfindungen neigen dazu, allerlei Abwehrmechanismen aufzubieten, sobald ihre Überzeugungen infrage gestellt werden. Überhaupt können Konfrontationen mit unbequemen Wahrheiten, wie sie die Philosophie ja gerade fordert, immer gefährliche Reaktionen hervorrufen. Philosophen sind Knapp zufolge aufgrund ihrer Ausbildung nicht in der Lage, dies frühzeitig zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Knapp wirft beratenden Philosophen vor, dass ihre Annahme, ihr Ansatz sei eine legitime Alternative zu traditionellen Psychotherapien, auf rein theoretischen Überlegungen beruhe. Philosophen hätten die ethische Verpflichtung, nachzuweisen, dass ihre Angebote dem Wohle der Gesellschaft dienen. Sie müssten empirisch nachweisen, dass philosophische Ursachen tatsächlich hinter einigen menschlichen Problemen steckten und dass sich diese Probleme effizient mit philosophischen Mitteln mindern ließen. Philosophen wie Schmid und Precht sehen es ähnlich. Schmid sagt: „Wir Philosophen verstehen nichts vom Unbewussten, von Verstrickungen des Gefühlslebens, von Traumata. Die Philosophie hilft, die Grundlagen eines Problems zu verstehen und Lösungen zu erörtern. Aber wir sagen nicht, welche zu welchem Menschen passen; der einzelne Mensch muss das mit seiner Intelligenz allein herausfinden.“ Das setze allerdings eine psychiPH sche Stabilität bereits voraus.

LITERATUR Richard David Precht: Erkenne die Welt. Eine Geschichte der Philosophie, Band 1. Goldmann, München 2015 Wilhelm Schmid: Gelassenheit. Was wir gewinnen, wenn wir älter werden. Insel, Berlin 2014 Lou Marinoff: Bei Sokrates auf der Couch. Philosophie als Medizin für die Seele. Dtv, München 2002 Markus Gabriel: Ich ist nicht Gehirn. Philosophie des Geistes für das 21. Jahrhundert. Ullstein, Berlin 2015 Alain de Botton: Wie Proust Ihr Leben verändern kann. Eine Anleitung. Fischer, Frankfurt 2000

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Bloß kein Stress mit dem Stress! „Lass dich nicht stressen“, gibt man einander vor einem anstrengenden Tag auf den Weg. Will heißen: Auch wenn es turbulent zugeht, lass die Hektik von dir abperlen (siehe auch unser Titelthema, S. 18). Das ist natürlich leichter dahergesagt als umgesetzt. Dennoch: Der Rat hat was für sich, wie jetzt eine amerikanische Studie bekräftigt. Nancy Sin und ihrem Team von der Pennsylvania State und der Columbia University diente dabei die „Herzfrequenzvariabilität“ als einfach zu erfassendes Maß dafür, inwieweit ein Mensch „sich stressen lässt“. Ein niedriger Wert weist darauf hin, dass das autonome Nervensystem nicht mehr flexibel je nach Situation zwischen Aufregung und Ruhe hin und her schalten kann. Es ist dann unentwegt in Habachtstellung, was sich psychisch in chronischer unterschwelliger Anspannung niederschlägt. Langfristig hat sich dies als Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen herausgestellt. 52

Sin und ihre Kollegen befragten nun 909 Teilnehmerinnen und Teilnehmer über gut eine Woche hinweg täglich per Telefon, ob und wie viele stressige Begebenheiten sie an diesem Tag durchlebt und wie sie sich dabei gefühlt hatten. Wütend? Traurig? Nervös? Und wenn ja: Wie intensiv war die Emotion? Es stellte sich heraus: Diejenigen Probanden, die über eine Menge stressiger Vorfälle berichteten, waren nicht notwendigerweise diejenigen mit der geringsten Herzfrequenzvariabilität – wohl aber diejenigen, die solche Vorkommnisse als sehr belastend empfanden, begleitet von starken aversiven Emotionen. „Die Ergebnisse sagen uns, dass die Wahrnehmung und emotionale Reaktion eines Menschen wichtiger sind als das stressige Geschehen selbst“, kommentiert Nancy Sin.

Manche Menschen haben die beneidenswerte Angewohnheit, sich vom Stress nicht mitreißen zu lassen

DOI: 10.1097/PSY.0000000000000306

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Bei Fitnesstrainings per Spielkonsole ist es vorteilhaft, sich auf dem Monitor als durchtrainierten Adonis darstellen zu lassen. In einer kalifornischen Studie erlebten sich die Absolventen eines virtuellen Tennisspiels mal in Gestalt eines normalgewichtigen, mal eines fülligen Avatars mit einem stattlichen Body-Mass-Index von 32,1. Ergebnis: Als schlanke Figur legten sie sich stärker ins Zeug.

ALSO SPRACH ÄSKULAP

DOI: 10.1111/jcc4.12151

„Fast alle meine Kindheitserinnerungen gelten Augenblicken am frühen Morgen oder späten Abend, und alle haben einen Geruch. Am stärksten werden diese Erinnerungen durch die Luft, die ich einatme, durch physische Attribute. Es geht mir noch heute so, dass eine Erinnerung spontan und schockierend intensiv auftaucht, wenn ich unerwartet eine Luft einatme, die so riecht wie die in dieser Erinnerung, dann bin ich wieder da, wo ich damals war, binnen einer Sekunde ist alles wieder da.“ Der Norweger Torbjørn Ekelund beobachtet in seinem neuen Buch Im Wald. Kleine Fluchten für das ganze Jahr (Malik 2016) sein Seelenleben in der Natur.

Tief drinnen duftet der Hotdog Warum packt einen manchmal solch ein Heißhunger auf eine ganz bestimmte Speise? Am knurrenden leeren Magen kann es nicht immer liegen, denn manchmal hat man ja starken Appetit, obwohl man eigentlich satt ist. Nach einem Modell des australischen Gesundheitspsychologen David Kavanagh spielen bei solchen unbändigen, kaum kontrollierbaren Gelüsten sinnliche Vorstellungen eine Schlüsselrolle: Irgendetwas bringt uns auf den Gedanken an ein Objekt unseres Verlangens, zum Beispiel an einen Hotdog, und plötzlich ist und bleibt der Hotdog im Kopf, mit allen Sinneszutaten, die einem das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen. Im Fall von Speisen sind es vor allem olfaktorische Vorstellungen, also ihr lebhaft imaginierter Duft, die unser Verlangen wecken. Das brachte Forscherinnen der Yale School of Medicine nun auf PSYCHOLOGIE HEUTE

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die Idee, dass stark übergewichtige Menschen ihren Appetit vielleicht auch deshalb nicht unter Kontrolle haben, weil sie mit der Gabe geschlagen sind, sich den Geruch ihrer Leibgerichte besonders gut vorstellen zu können. Sie gingen dieser Vermutung in einer Doppelstudie mit 82 Probanden nach, deren BodyMass-Index von 17,7 (leicht untergewichtig) bis 38,7 (adipös) reichte. Diese erhielten die Aufgabe, sich verschiedene Speisen, aber auch Alltagsgegenstände visuell und geruchlich vorzustellen. Tatsächlich bestätigte sich: Je mehr Speck die Teilnehmer auf den Rippen hatten, desto besser waren sie darin, sich den Duft von Speisen, aber auch etwa eines Rosenstrauches deutlich ins Bewusstsein zu rufen. DOI: 10.1016/j.appet.2015.04.005

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„Ich bin krank! Kommt mir nicht zu nahe!“ Dumme Frage: Warum fühlen wir uns eigentlich krank, wenn wir krank sind? Natürlich weil die Krankheit unseren Körper schwächt, möchte man meinen. Doch ganz so einfach ist das wohl nicht. So rühren das Fieber, die Kopf- und Gliederschmerzen bei einer Grippe weniger von den Grippeviren selbst her, sondern die Symptome sind eher eine Folge davon, wie unser Körper auf die Infektion reagiert: Das Immun-, das Hormonund das Nervensystem versetzen uns in einen Leidenszustand. Nach herkömmlicher Lesart dient diese fiebrige Erschöpfung dazu, die eingedrungenen Erreger effektiver zu bekämpfen und den Körper durch erzwungene Passivität zu schonen. Doch der Immunologe Guy Shakhar und die Psychologin Keren Shakhar vom Weizmann Institute of Science in Israel drehen nun den Spieß um: Nach ihrer evolutionären Erklärung zielt das „Krankheitsverhalten“ mit Wehleidigkeit und Rückzug nicht darauf ab, den Kranken selbst, sondern vielmehr dessen Umgebung zu schützen – nämlich vor Ansteckung. Schwäche und Müdigkeit schränkten den Aktionsradius des Erkrankten ein und minderten damit den Kreis der Gefährdeten. Appetitlosigkeit verhindere, dass die gemeinsamen Nahrungsvorräte mit Krankheitskeimen kontaminiert werden. Die Körpersprache und das gesamte Erscheinungsbild des Erkrankten signalisierten den anderen: „Ich bin krank! Kommt mir nicht zu nahe!“ Leider werde dieser natürliche Instinkt heute oft ignoriert, klagt Guy Shakhar: „Die Leute nehmen eine Pille und gehen zur Arbeit, wo sie mit großer Wahrscheinlichkeit Kollegen infizieren.“ Millionen Jahre von Evolution sprächen dafür, sich besser krank zu melden und daheim zu bleiben. DOI: 10.1371/journal.pbio.1002276

Alte Menschen haben Schwierigkeiten, dicht aufeinanderfolgende Ereignisse zeitlich zu ordnen. In einem kanadischen Experiment konnten ältere Probanden zwar ebenso gut wie jüngere erkennen, dass ein Licht- und ein Lautsignal gleichzeitig auftraten. Doch wurden die beiden Reize leicht versetzt präsentiert, waren sich die Älteren oft nicht sicher, ob der Ton dem Licht folgte oder umgekehrt. DOI: 10.1007/s00221-015-4466-7

Wenn Patienten Dr. Google befragen, so heißt es, entdecken sie bei sich Krankheiten, wo keine sind. Tatsächlich ist es oft umgekehrt, wie Tübinger Forscher des LeibnizInstituts ermittelt haben: Wenn Patienten eine ärztliche Diagnose als bedrohlich erleben, dann suchen sie im Internet nach entlastenden Informationen – bis hin zu einer problematischen Verharmlosung ihres Leidens. DOI: 10.2196/jmir.5140

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Fast jeder dritte Fall von Alzheimer in Deutschland wäre durch einen gesünderen Lebensstil abwendbar

Kurz mal Bludenz

Alzheimerdemenz ist in den Augen vieler eine ebenso gefürchtete wie schicksalhafte Erkrankung. Doch Letzteres ist nur zum Teil richtig: Fast jeder dritte der eine Million Fälle in Deutschland ist die Folge eines ungesunden Lebens. Das zeigt eine Berechnung von Tobias Luck und Steffi Riedel-Heller, die beide am Institut für Sozialmedizin der Universität Leipzig arbeiten. Denn Alzheimer entsteht auch durch unkluge Gewohnheiten. So vergrößert Rauchen die Gefahr, von der Demenzerkrankung heimgesucht zu werden, um 60 Prozent. Mangelnde Bewegung steigert das Risiko sogar um 80 Prozent. Es gibt noch weitere Risikofaktoren: niedrige Bildung, Depression, Diabetes, erhöhter Blutdruck (über 140/90) und Übergewicht (beispielsweise mehr als 97 Kilo bei einer Körpergröße von 1,80 Metern). Weil sich jeder dritte Deutsche zu wenig bewegt, gehen allein 217 000 Fälle auf Trägheit zurück. Die 15 Prozent Raucher hierzulande verursachen weitere 149 000 Fälle. Sämtliche Raucher vom Glimmstängel zu entwöhnen dürfte auf absehbare Zeit kaum zu schaffen sein. Doch selbst wenn sich die RauPSYCHOLOGIE HEUTE

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cherquote lediglich auf elf Prozent wie in den USA drücken ließe, würde dies mehreren Zehntausend Menschen die Altersdemenz ersparen. Gelänge es, jeden zweiten Couchhocker zu aktivieren, blieben weitere 95 000 Menschen verschont. Gegen diese Berechnungen lässt sich einwenden, dass die Menschen durch einen gesünderen Lebensstil älter werden würden und dadurch wieder mehr Leute an Alzheimer erkranken könnten. Doch es würden auch Menschen älter, die nie von der Krankheit ereilt werden, sodass der Anteil der Patienten unter den Senioren nicht unbedingt steigen würde. Einige der Risikofaktoren gehen bereits jetzt zurück. Die Deutschen rauchen weniger und treiben mehr Sport als früher, ihr Bildungsniveau steigt. Allerdings werden sie auch dicker und entwickeln häufiger Diabetes. Unter dem Strich ist der Trend jedoch günstig. Wie europäische Studien zeigen, erkranken heute Lebende seltener an Alzheimer als frühere Generationen im gleichen Alter. JOCHEN PAULUS

Foto: Alpenregion/C. Eugster

Der Demenz davonrennen

Sie haben ein verlängertes Wochenende frei? Wie wäre es mit einer Kurzreise nach Österreich? Wir empfehlen 72 Stunden mit Wanderungen und großer Liebe auf 1.400 Metern Höhe. Die Alpenregion Bludenz lädt mit „Shakespeare am Berg“ zu einem ganz besonderen Theatererlebnis: In der Bergarena am Muttersberg können Sie „Romeo und Julia“ vor spektakulärer Bergkulisse und mit technisch raffinierten Licht- und Soundeffekten erleben. Magisch!

Tagsüber lässt sich hier bei einer Wanderung die abwechslungsreiche Natur in Brandnertal, Klostertal und Großem Walsertal erkunden. Oder bummeln Sie in der Altstadt von Bludenz entlang der prächtigen Fassaden und mediterran anmutenden Laubengänge. Unser Tipp: Das „Alpen Culinary Street Food Festival“ mit Kochshows und Live-Musik am 11. August 2016. SHAKESPEARE AM BERG 2 ÜN im 3-Sterne-Hotel inkl. Frühstück, Ticket für „Romeo und Julia“ und geführtem Stadtrundgang. Ab € 119,– p. P. im DZ; buchbar: 15.7. – 7.8.2016. Tel. +43 5552 30 227 www.bludenz.travel

DOI: 10.1007/s00115-015-0045-1

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der Deutschen können sich vorstellen, sich im Ausland medizinisch behandeln zu lassen. Als Hauptgrund nannte gut die Hälfte die günstigeren Kosten und gut ein Viertel die verkürzte Wartezeit, so eine repräsentative Umfrage. Andere wollten Verfahren nutzen, die hierzulande nicht zugelassen sind, und 31 Prozent stellten es sich als reizvoll vor, die Behandlung mit einem Urlaub zu verbinden. www.iubh-dualesstudium.de/medizintourismus-immer-beliebter/

Heilende Marke Patienten schätzen Arzneimittel ohne Markennamen wenig. Wer will schon Acetylsalicylsäure schlucken statt Aspirin? Dass der Glaube an Arzneimittelmarken sogar bei der Genesung hilft, demonstrierten nun Kate Faasse und ihr Team von der University of Auckland mit 87 kopfschmerzgeplagten Studierenden. Die erhielten entweder Packungen, die ein schnödes „generisches Ibuprofen“ androhten oder den Markenschmerzbekämpfer Nurofen versprachen. Was die Probanden nicht wussten: Die Hälfte der Tabletten waren Placebos – unabhängig von der Beschriftung. Wenn sie vermeintlich das Generikum erhielten, merkten die Teilnehmer den Unterschied: Das Placebo half ihnen nicht so gut und hatte auch noch mehr Nebenwirkungen. Wenn jedoch der Markenname auf der Packung prangte, spielte der Inhalt keine große Rolle: Das Placebo linderte die Schmerzen fast genauso gut wie der Wirkstoff – und hatte auch genauso viele Nebenwirkungen. Bei anderen Präparaten wie etwa Antidepressiva oder Blutdrucksenkern, bei denen subjektiv kein rascher Effekt wahrzunehmen ist, macht der Glaube an die Marke womöglich noch einen größeren Anteil an der Wirkung aus. Wird ein „Markenpatient“ auf ein Generikum umgestellt, könnte sich sein Zustand daher verschlechtern, JOCHEN PAULUS fürchten die Forscher.

Was früher Perversion hieß, nennt sich heute im Diagnostikatlas „Paraphilien“. Doch wie sich herausstellt, sind die dort aufgeführten sexuellen Abweichungen gar nicht so abweichend, jedenfalls in der kanadischen Provinz Quebec. 45,6 Prozent gelüstete es dort laut einer Umfrage nach mindestens einer der Praktiken. Vor allem Voyeurismus, Fetischismus, Frotteurismus und Masochismus standen hoch im Kurs. DOI: 10.1080/00224499.2016.1139034

DOI: 10.1037/hea0000282

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ladimir Putin sitzt mit nackter, stolzgeschwellter Brust auf einem Pferd, beugt sich über einen erlegten Tiger oder blickt entschlossen aus dem Cockpit eines Kampfjets. Der Milliardär Donald Trump, der gern US-Präsident werden würde, bezeichnet sich selbst als „wahrhaft großartigen Führer“ und beleidigt weibliche Kritiker gern mal als hässlich. Von Silvio Berlusconi, Nicolas Sarkozy und Gerhard Schröder bleiben vor allem die Posen zur Schau gestellter Großartigkeit in Erinnerung. In der Politik ist es seit jeher üblich, machtvolle Männlichkeit zu inszenieren: Narzissmus regiert die Welt. Nirgendwo zeigt sich so deutlich wie in der Politik, wohin ein aufgeblähtes Ego führen kann: an die Spitze und in die Katastrophe. Höhenflug oder Absturz – diese Ambivalenz begleitet Narzissten im Beruf ebenso wie im Privaten. 58

DIE DUNKLE SEITE DES NARZISSMUS

Ich XXL Jeder Mensch braucht Narzissmus, doch eine Überdosis davon kann zum Problem werden. Können Menschen mit einem übergroßen Ich lernen, dass weniger mehr sein kann VON MICHAEL KRASKE

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„Ob sich narzisstische Eigenschaften als Vorteil erweisen oder in die Sackgasse führen, kommt sehr auf die Umstände an“, sagt Stefan Röpke, Leiter des Bereichs Persönlichkeitsstörungen am Centrum für Psychiatrie der Berliner Charité. „In Extremsituationen kann der unbedingte Führungsanspruch eines Narzissten erwünscht sein, während die gleiche Rücksichtslosigkeit in ruhigeren Zeiten möglicherweise im Gefängnis endet.“ Narzissmus werde heute als Persönlichkeitsmerkmal verstanden, das bei jedem Menschen angelegt, allerdings unterschiedlich stark ausgeprägt sei. Problematisch werde Narzissmus allein durch die Dosis. Fantasien von Macht und Erfolg

ILLUSTR ATIONEN: DANIEL BALZER

„Kern des Narzissmus ist ein Selbstwertproblem“, meint Röpke. „Dieses geringe Selbstwertgefühl versucht der Narzisst zu stabilisieren, indem er zum Beispiel sich aufwertet und andere abwertet.“ Seit 1982 wird die narzisstische Persönlichkeitsstörung im Diagnosemanual DSM als eigenständiges Störungsbild erfasst. Im DSM-5 von 2013 werden diverse Merkmale aufgelistet – vom übertriebenen Selbstwertgefühl über andauernde Fantasien von Macht und Erfolg bis hin zu Neid und arrogantem Verhalten. Um den Grad einer Störung zu erreichen, müssen Kognition, Affektivität, Impulskontrolle und Beziehungen dauerhaft von der Norm abweichen. Doch „entscheidend dafür, ob eine narzisstische Persönlichkeitsstörung vorliegt, ist der Leidensdruck des Betroffenen“, sagt Röpke. Demnach kann man sich also permanent für den Größten und Besten halten und sich suchtartig nach Bewunderung verzehren, ohne dass sich daraus per se dringender therapeutischer Behandlungsbedarf ergibt. In einigen Milieus und Berufen ist der Egotrip geradezu ein Erfolgsrezept und kann dabei helfen, in die Chefetagen aufzusteigen. Überall, wo Durchsetzungsvermögen und Entscheidungsstärke gefragt sind, kann der Narzisst glänzen und die Bewunderung aufsaugen, die er so sehnlich begehrt. Etwa beim Militär, in Behörden oder Konzernen mit einer autoritätsfixierten Unternehmenskultur. „Das narzisstische Bedürfnis nach sozialer Anerkennung deckt sich mit gesellschaftlichen Werten wie Ehrgeiz, Leistungsstreben und Erfolg“, sagt Sabine C. Herpertz, Direktorin für Allgemeine Psychiatrie am Universitätsklinikum Heidelberg. „Wo es deutliche Hierarchien gibt und Führung erwartet wird, kann ein narzisstischer Persönlichkeitsstil erfolgreich sein. Wenn kooperatives Verhalten gefragt ist, bereitet dieser Stil allerdings Probleme.“ Denn PSYCHOLOGIE HEUTE

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der Narzisst ist ein miserabler Teamspieler. Er neigt dazu, soziale Kontakte danach auszuwählen, ob sie ihm nützen. Gern buckelt er nach oben und tritt nach unten. Auf Kritik reagiert er hochempfindlich. Vergleichsweise harmlose Auslöser könnten Wut, Hass, ja sogar Gewalt bewirken, so Stefan Röpke. Narzissten sind denkbar schlecht dafür ausgestattet, dauerhaft tiefe und erfüllende Beziehungen zu führen. „Zwischenmenschlich ist nämlich nicht Durchsetzungsfähigkeit gefragt, sondern Kompromissfähigkeit“, sagt Herpertz. „Um mit einem Partner gleichberechtigt zusammenzuleben, müsste der Narzisst einen deutlich anderen Stil pflegen als im Beruf.“ Dieses Defizit, emotionale Gleichberechtigung herzustellen, hält auch Röpke für gravierend. Solche Partnerschaften litten daher langfristig an einem Mangel an Empathie und Wärme. In der ersten Beziehungsphase wird der narzisstische Partner noch als reizvoll und aufregend erlebt. Studien belegen eine Art Blendereffekt. In ersten Begegnungen kann der Narzisst seine Gesprächspartner mit Charme, Witz, Intelligenz und attraktivem Selbstbewusstsein betören. Seine Selbstbezogenheit wird erst nach mehreren Treffen als störend empfunden. In Liebesbeziehungen womöglich noch später, weil der Partner anfangs idealisiert und negative Facetten eher ignoriert werden. „Erst wenn die rosarote Brille einer realistischen Sichtweise weicht, erkennt man die narzisstischen Eigenschaften“, sagt Röpke. „Dann ist man aber möglicherweise schon eine tiefe Beziehung eingegangen, hat geheiratet oder ein gemeinsames Kind. Dem Angehörigen bleibt als letzte Möglichkeit nur, mit der Konsequenz zu drohen: Wenn wir uns keine Hilfe suchen, bin ich weg.“ Psychiaterin Herpertz rät Angehörigen, sich nicht zu unterwerfen oder unterzuordnen. Darauf reagiere der Narzisst nur mit Abwertung. Stattdessen sollten eigene Interessen und Autonomie nicht aufgegeben werden. Viele, die in einer Partnerschaft dauerhaft nicht wahrgenommen werden oder etwa durch narzisstisch motivierte Seitensprünge tief verletzt werden, leiden heftig an der Seite eines Menschen, der sich selbst mehr als alle anderen liebt. „Therapie? Ich bin perfekt!“

Doch auch wenn daheim Konflikte und Streit zum Dauerzustand werden – von sich aus wird ein Narzisst keine Hilfe suchen. Nicht mal, wenn sein Verhalten offenkundig dazu beiträgt, die Familie zu zerrütten oder Partnerschaften regelmäßig in die Brüche gehen. Das liegt an der Ich-Syntonie seiner Persönlichkeit: Er selbst empfindet sich ja nicht als 59


gestört, sondern als großartig. Schuld haben immer die anderen. Darin liegt das narzisstische Dilemma. Wer sich selbst für perfekt hält, sieht keinen Grund für eine Therapie. Niemand geht wegen seines Narzissmus zum Arzt oder Therapeuten. Meist gibt es einen Auslöser, der den Narzissten abrupt aus der Bahn wirft und seine bislang verdeckte verletzliche Seite bloßlegt: Die Frau verlässt ihn. Ihm wird gekündigt. Obwohl er doch so ein großartiger Liebhaber ist, ein ganz und gar unverzichtbarer Leistungsträger. Solche Kränkungen hält er nicht aus. Dann bricht alles zusammen. „Narzisstische Patienten sehen wir im klinischen Alltag am häufigsten mit einer schweren Depression. Daneben kommen auch Suchterkrankungen vor, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Stresssymptomen und Erschöpfung“, erläutert Herpertz. „Dann bietet sich die therapeutische Chance, auch die Persönlichkeitsstörung zu behandeln. Erst durch eine schwere Krankheit sind viele bereit, darüber nachzudenken, ob die Krise eine Folge des eigenen interpersonellen Stils sein könnte.“ Die psychologischen Schulen haben zwar eine Vielzahl verschiedener Therapien zur Behandlung narzisstischer Störungen entwickelt, doch liegen keine zuverlässigen Studien vor, ob und wie sie wirken. Da bei Narzissten offenbar frühe Lebens- und Lernerfahrungen in starre Muster geführt haben, hält es Röpke für notwendig, diese tiefsitzenden persönlichen Strukturmuster therapeutisch zu korrigieren. Gleichwohl erachtet Kollegin Herpertz aufgrund ihrer klinischen Erfahrung eine langjährige Therapie bei einer narzisstischen Störung meist nicht für angemessen, weil es ja nicht darum gehe, die Persönlichkeit vollständig zu verändern. Vielmehr werde eine Flexibilisierung des Verhaltens angestrebt, eine Erweiterung des individuellen Repertoires. Viele Patienten profitierten schon von 25 Stunden Kurzzeittherapie, so Herpertz. Bei schweren Fällen mit wenig Einsicht brauche es mitunter 40 Sitzungen. Der wichtigste therapeutische Schritt besteht zunächst darin, gemeinsam zu erarbeiten, dass überhaupt eine Störung vorliegt. Der Therapiebeginn ist eine sensible Phase. Narzisstische Persönlichkeiten neigen dazu, die Behandlung früh abzubrechen, was allein schon deshalb problematisch ist, weil ihre Suizidrate hoch ist. „Daher ist es anfangs entscheidend, ein vertrauensvolles Verhältnis zu dem Patienten aufzubauen. Da Narzissten hochsensibel auf Kritik reagieren, muss der Therapeut anfangs alles vermeiden, was als Kränkung verstanden werden kann“, berichtet Herpertz. Erst wenn sie sicher sind, nicht 60

moralisch abgewertet zu werden, steige für narzisstische Patienten die Motivation, mitzuarbeiten. Aha-Effekte in der Therapie

In der Klinik für Allgemeine Psychiatrie der Universität Heidelberg behandelt Herpertz narzisstische Patienten auf Grundlage der kognitiven Verhaltenstherapie. Zu Beginn jeder Therapie werden gemeinsam Ziele vereinbart. Droht gerade eine Partnerschaft in die Brüche zu gehen, kann ein Ziel sein, weniger Konflikte auszutragen und die Qualität der Beziehung zu verbessern. Eine wichtige Technik, um die Wahrnehmung eigener Muster zu schulen und zu korrigieren, sind Rollenspiele, die mit einer Videokamera aufgezeichnet und anschließend gemeinsam ausgewertet werden. Im Rollenspiel nehmen die Patienten die Rolle von ihren Familienangehörigen oder Ehepartnern ein und erleben, wie es sich anfühlt, auf ein Riesen-Ego zu treffen.

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Im Rollenspiel sah er sich wie in einem Spiegel: Diese eiskalte Art war kaum auszuhalten

Günter Bender (Name geändert) war seit seiner Schulzeit ein Erfolgsmensch. Als Geschäftsführer eines mittelständischen Unternehmens gab er stets den starken Mann, was ihm großen Respekt einbrachte. Doch als dann eines Tages das Erwerbsleben endete, war auch die Ära der Bewunderung vorbei. Bender fiel in ein tiefes Loch. Als der Rentner eine Psychotherapie begann, klagte er über depressive Symptome. Das Leben erschien ihm sinnlos. Immer habe er sich über Erfolg definiert. Anerkennung von seinen Eltern bekam er nur, wenn er etwas leistete. Gefühle zu zeigen, lernte er nicht, aus Angst, als Schwächling dazustehen. Im Ruhestand gab es nun immer häufiger Streit mit seiner Frau. Früher sei er fremdgegangen, wenn es daheim Ärger gab. Nunmehr wolle er das Verhältnis zu seiner Frau verbessern, auch weil er auf sie angewiesen sei. In der Psychotherapie lernte Bender zunächst Stärken und Schwächen seiner Persönlichkeit kennen. Dass die Fixierung auf Erfolg und Bewunderung ein inadäquater Versuch war, sein Selbstwertgefühl zu stabilisieren. Als Hauptziele der Therapie vereinbarten Therapeutin und Patient, sein grandioses Selbstbild und die Überempfindlichkeit gegenüber Kritik abzubauen und vor allem nachempfinden zu lernen, was seine Frau fühlte, wenn er sie von oben herab behandelte und abkanzelte. In der Gruppentherapie nahm eine Patientin im Rollenspiel die Position seiner Frau ein. Sofort stritten sie heftig. Sie warf ihm vor, er sei egoistisch und kränke sie mit seiner Mischung aus Arroganz und Distanz. Bis hierhin reagierte Bender auf das Rollenspiel wie so oft: amüsiert, mit Spott. Als er dann selbst in die Rolle seiner Frau schlüpfte und spielerisch zur Zielscheibe seiner eigenen Gehässigkeiten wurde, brach er den Dialog abrupt ab und wurde nachdenklich. Dieser eiskalte Umgang sei für ihn kaum auszuhalten, sagte Bender. In der EinzelthePSYCHOLOGIE HEUTE

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rapie wiederholte er später das Rollenspiel und probierte aus, sich seiner Frau gegenüber anders zu verhalten. Zuhören, ausreden lassen, auf Abwertungen verzichten – Selbstverständlichkeiten, die in seinem Repertoire nicht vorgekommen waren. Viele Patienten sind wie Günter Bender davon überrascht, wie sie auf andere wirken. Ein Aha-Effekt. Konfrontiert mit ihren eigenen Ich-Inszenierungen, müssen die dünnhäutig Selbstverliebten über sich selbst grinsen. Selbstironie ist oft der erste Schritt in Richtung Reflexion. „Rollenspiele bieten die Möglichkeit, einen alternativen Interaktionsstil auszuprobieren“, sagt Herpertz. „Die Patienten stellen dann fest, dass ihre Gesprächspartner vollkommen anders auf sie reagieren, als sie es gewohnt sind. Dadurch machen sie die wichtige Lernerfahrung, dass sie es selbst in der Hand haben, ob sie anecken und Konflikte provozieren.“ Es muss nicht immer Wettkampf sein

Wichtige Therapieziele lassen sich erreichen, indem kognitive Grundannahmen, die den Patienten ein Leben lang starr und unflexibel gemacht haben, infrage gestellt werden. Er lernt: Ich muss nicht immer und überall der Beste sein. Mal im Strom mitzuschwimmen bedeutet nicht zu verlieren, sondern kann im Gegenteil sehr erholsam sein. Flexibilität, wie sie die kognitive Verhaltenstherapie vermittelt, bedeutet, Prioritäten setzen zu lernen, die dem Persönlichkeitsstil entsprechen, und zugleich dessen negative Effekte zu entschärfen. Wer im Job unbedingt an der Spitze stehen will, könnte zum Ausgleich den Ehrgeiz beim Sport reduzieren. Wettkampfsportarten wie Tennis lassen sich durch solche ersetzen, bei denen der Spaß an der Bewegung im Vordergrund steht, wie etwa beim Inlineskaten. Wer sich auf eine Therapie einlässt, wird für die Erweiterung seines Handlungsrepertoires mit einem schöneren Familienleben belohnt, mit intensiveren Beziehungen und der Fähigkeit, genießen und entspannen zu können. Für viele sind das erste Male. „Narzisstische Patienten, die eine Therapie durchhalten, geben uns als Rückmeldung, dass sie ein großes Stück Lebensqualität gewonnen haben“, sagt Sabine C. Herpertz. Die Chance auf Glück mit der Familie und in der Liebe – dafür lohnt es sich, das Ich PH eine Nummer kleiner auszuprobieren. LESETIPP Narzissmus ist nicht immer nur negativ. In Heft 5/2016 berichteten wir unter dem Titel Ich finde mich prima! über die gesunden Seiten dieser Eigenschaft.

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Trainieren bis zum Umfallen Sie steigern ständig ihr Training und leiden unter Entzug, wenn sie es absetzen. Für gar nicht so wenige Menschen wird Sport zur Sucht. Mit der Zeit ruinieren sie damit nicht nur ihren Körper VON THOMAS MÜLLER

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ie junge Frau konnte es nicht fassen: Die Blasen an den Füßen wollten einfach nicht verschwinden, dabei rannte sie kaum noch, ja machte fast gar keinen Sport mehr, nur noch etwas Radfahren. Aber das belaste den Fuß doch kaum, sagte sie ihrem Arzt. Der fragte, wie viel sie mit dem Rad täglich unterwegs sei. „Nicht viel, nur drei bis vier Stunden am Tag. Und wenn es nicht regnet, auch in der Mittagspause.“ Mit diesem Beispiel macht der Psychiater Karl-Jürgen Bär auf ein Phänomen aufmerksam, das immer noch unterschätzt wird: Sport als Suchtmittel.

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„Ein Problem für die Suchtentwicklung ist die hohe gesellschaftliche Akzeptanz von Sport“, erläutert Bär, stellvertretender Direktor der Uniklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Jena. Wer viel Sport treibt und es schafft, regelmäßig seinen inneren Schweinehund zu überwinden, der wird häufig bewundert, erhält ein positives Feedback. Noch in den 1970er Jahren wurde die Sportsucht glorifiziert. Der US-Psychiater William Glasser sprach von einer positive addiction – einer positiven Abhängigkeit. Er sah darin einen „wichtigen und neuen Weg für Sportler, mental noch stärker zu werden“. Kein Wunder, dass sich so mancher Ausdauersportler damit brüsPSYCHOLOGIE HEUTE

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tet, den Sport zu brauchen, sich nicht wohlzufühlen, wenn er nicht trainiert, ja süchtig danach zu sein. Was Psychologen und Psychiater unter Sportsucht verstehen, geht jedoch noch viel weiter: Für sie beginnt die Abhängigkeit, wenn das Training zum Zwang wird, wenn es jedes Maß sprengt, wenn Schmerzen und Verletzungen ignoriert werden und keine Zeit mehr für Freunde und Familie bleibt. Dann, so Bär, lassen sich oft auch Merkmale beobachten, wie sie für andere Suchterkrankungen typisch sind: Entzugserscheinungen mit Reizbarkeit, Ängsten und Depressivität sowie eine steigende Toleranz, die immer weitere Strecken erforderlich macht, damit sich eine positive Stimmung einstellt. Schließlich fühlen sich die Athleten zunehmend fremdbestimmt und verlieren die Kontrolle über ihr Verhalten. Sie haben dann zwar den Wunsch, ihr Pensum zu reduzieren, solche Versuche scheitern aber regelmäßig. Andere Aktivitäten geraten zunehmend in den Hintergrund, auch Freizeit und Urlaub stehen nur noch im Zeichen des Trainings. Oft geht das so lange gut, bis schwere Verletzungen auftreten. Manche laufen auch, bis sie buchstäblich tot umfallen.

ILLUSTR ATIONEN: RÜDIGER TREBELS

Auf Bewegung fixiert

Wie sehr eine Sportsucht das Leben dominieren kann, erläuterte Bär vor kurzem auf dem Psychiatriekongress in Berlin am Beispiel einer Profischwimmerin. Die Frau erinnert sich daran, schon als Jugendliche „auf Bewegung fixiert“ gewesen zu sein. Sie spielte Basketball, nahm an Crossläufen teil, wobei sie das Trainingspensum mit der Zeit immer mehr steigerte. Irgendwann stand sie bereits morgens um vier Uhr auf, damit sie das viele Laufen, Schwimmen und Fitnesstraining überhaupt noch in ihren Tagesablauf integrieren konnte. „Ich bin auf vier bis fünf Stunden Training gekommen, und zwar sieben Tage die Woche. Einmal habe ich 91 Tage ohne Pause durchtrainiert.“ Die harte Arbeit zahlte sich aus: Sie wurde gut im Schwimmen und nahm an Weltcups teil, belegte dabei vordere Plätze. Genießen konnte sie es aber nicht. „Es war eine Art Hassliebe, ich war ständig gehetzt und getrieben, der Sport hat mich völlig absorbiert.“ Für eine vernünftige Ernährung war da keine Zeit mehr. Abends verschlang sie drei Nutellabrote im Stehen. Sie ignorierte Schmerzen, trainierte trotz Sehnenscheidenentzündung weiter, brach einmal nach dem Training zusammen. Ihre Stimmungsschwankungen nahmen drastisch zu. Irgendwann sagten ihre Freunde: „Du bist sportsüchtig.“ PSYCHOLOGIE HEUTE

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Letztlich half aber keine Einsicht, sondern ein medizinischer Befund, der ihre Karriere beendete: Sie bekam Herzrhythmusstörungen und war dadurch für lange Zeit zur Bewegungslosigkeit verurteilt. Inzwischen darf sie wieder schwimmen, aber mit hartem Training ist nun Schluss. Nicht immer kriegen die Betroffenen noch die Kurve. Bär kann auch von Sportsüchtigen berichten, die nach einem Unfall Suizid begingen – weil sie nicht mehr trainieren konnten. Wie viele Menschen betroffen sind, lässt sich nur schwer feststellen. Jedenfalls wird seit den 1990er Jahren von einer steigenden Zahl Sportsüchtiger berichtet. Psychologen um Simone Breuer und Jens Kleinert von der Deutschen Sporthochschule in Köln vermuten, dass etwa jeder Hundertste Sportler Auffälligkeiten zeigt, jeder Tausendste ernsthafte Symptome hat und einer von Zehntausend behandelt werden muss. Eine Untersuchung von Sportwissenschaftlern um Heiko Ziemainz von der Universität Erlangen-Nürnberg kommt zu einem deutlich höheren Anteil. Die Forscher hatten über 1000 Teilnehmer von Ausdauersportveranstaltungen mithilfe eines speziellen Fragebogens interviewt. Bei rund fünf Prozent stellten sie ein erhebliches Risiko für ein Suchtverhalten fest. Jüngere Sportler waren öfter betroffen als ältere, Frauen ebenso häufig wie Männer. Allerdings sagt das Trainingspensum allein wenig über die Suchtgefahr aus. „Wer als Leistungssportler zehnmal die Woche trainiert, ist nicht unbedingt süchtig, der hat zunächst einmal eine starke Bindung an den Sport“, erläutert Thomas Schack von der Universität Bielefeld. Mit einer Sportsucht hingegen ruinierten Betroffene schnell ihren Körper, so der Vizepräsident der Internationalen Gesellschaft für Sportpsychologie. Daran kann ein Leistungssportler kein Interesse haben. Auch Breuer und Kleinert gehen davon aus, dass eher Freizeitsportler gefährdet sind, die Kontrolle über das Training zu verlieren. Körpereigenes Drogenlabor unter Verdacht

Doch wie kommt es, dass manche sich nach einem Knochenbruch den Gips selbst abnehmen, um wieder laufen zu können, trotz Herzklappenfehler an Ultramarathons teilnehmen oder lieber ihre Ehe riskieren, als ihr Kilometerpensum einzuschränken? Lange Zeit verdächtigten Forscher das körpereigene Drogenlabor. So werden unter starker Belastung Substanzen ausgeschüttet, die mit Opium- und Cannabiswirkstoffen verwandt sind. Zunächst galt β-Endorphin als Favorit. Die Substanz wurde verdächtigt, rauschartige Zustände wie das Runner’s 63


High herbeizuführen. Typisch dafür ist ein Gefühl der Schwerelosigkeit und des Glücks – häufig verglichen mit der Euphorie nach einer Heroininjektion. Untersuchungen zur Endorphinhypothese seien jedoch eher ernüchternd verlaufen, sagt Schack. So habe man bei Teilnehmern von Ultramarathons oft keine erhöhte Endorphinausschüttung im Blut festgestellt, zudem könnten die körpereigenen Opiate die Blut-Hirn-Schranke kaum überwinden. Was im Blut gemessen wird, sagt also wenig darüber aus, was gerade im Gehirn passiert. Etwas überzeugender sind die Indizien für körpereigene Cannabinoide, also Substanzen, die dem Wirkstoff von Haschisch und Marihuana ähneln. Sie gelangen leichter ins Gehirn. Auch konnten Wissenschaftler in Tierexperimenten zeigen, dass sich Zustände ähnlich dem Runner’s High verhindern lassen, wenn sie die Andockstellen für Cannabinoid im Gehirn blockieren. Die israelischen Psychologen Aviv und Yitzhak Weinstein vermuten zudem eine Beteiligung der hormonellen Stressachse. Sie wird nach ihrem Modell bei exzessivem Sport überaktiv, in den Sportpausen machen sich dann Müdigkeit, Traurigkeit, Unruhe und ein Krankheitsgefühl bemerkbar, was sich nur durch mehr Training beseitigen lässt – so entsteht ein suchttypischer Teufelskreis. Für den Sportpsychologen Schack greifen solche Modelle jedoch zu kurz. Zwar könnten körperliche Prozesse in kritischen Phasen durchaus relevant sein und die Entwicklung einer Sportsucht forcieren. Entscheidend sind für ihn jedoch die psychologische und die soziale Ebene: Manche wollen mit ihrer Leistung vielleicht Freunden imponieren oder lernen bei ihren Exzessen neue Freunde kennen. Andere machen Sport, um abzunehmen, wieder andere um sich zu entspannen oder mehr Kontrolle über ihr Leben zu

BIN ICH SPORTSÜCHTIG? Stimmen Sie diesen Aussagen zu, ist eine Sportsucht wahrscheinlich: • Sie erzählen ihrem Umfeld nicht, dass Sie so viel Sport treiben. • Sie ignorieren Warnzeichen des Körpers wie Schmerzen, Erschöpfung, Fieber und Stressfrakturen. • Sie zählen manche Sportarten, etwa Radfahren, gar nicht als Sport.

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gewinnen. Solche Motive könnten ebenfalls ein exzessives Training begünstigen. Schack schlägt daher ein „biopsychosoziales Phasenmodell“ der Sportsucht vor. In der ersten Phase wird zunächst eine durchaus positive Bindung zum Sport aufgebaut: Das Trainingspensum ist moderat, die selbstgesetzten Ziele und Erwartungen werden erreicht, das Selbstwertgefühl steigt, und – für Schack entscheidend – die mentale Selbstkontrolle nimmt zu: Die Sportler lassen sich weniger ablenken, entwickeln neue Willenskräfte und lernen, ihre körperlichen und psychischen Ressourcen zu mobilisieren. Der griechische Ultramarathon- und Weltrekordläufer Yiannis Kouros bringt dies auf den Punkt: „Wenn andere Menschen müde werden, geben sie auf. Ich übernehme mit meinem Geist die Kontrolle über meinen Körper. Ich sag ihm, er ist nicht müde, und er gehorcht.“ Der Sport übernimmt die Kontrolle über den Sportler

Kommt es nun im Beruf oder in Beziehungen zu Konflikten und Stress, die den Selbstwert bedrohen oder zu einem Kontrollverlust führen, dann ist die Gefahr groß, dies über den Sport zu kompensieren. „So etwas kann sich weiter aufschaukeln, indem man versucht, mehr Sport zu treiben“, erläutert Schack. Das höhere Pensum muss zunächst nicht problematisch sein. „Vielleicht pegeln sich die Probleme mit der Zeit wieder ein. Aber wenn das nicht so ist, wenn ich die Schwierigkeiten an anderer Stelle nicht löse oder wenn ein starker sozialer Druck anhält, dann kann aus dieser Übergangsphase heraus eine Sucht entstehen.“ Kritisch wird es vor allem dann, wenn die Athleten ausschließlich Sport zur psychischen Stabilisierung nutzen.

• Sie halten 100 km laufen oder 400 km Rad fahren pro Woche für normal und steigerungswürdig. • Sie melden sich in mehreren Fitnessstudios an, um jederzeit trainieren zu können. • Keinen oder wenig Sport treiben zu können empfinden Sie als Strafe, Sie bekommen dann Entzugserscheinungen. • Sie stehen extra früh auf, um vor der Arbeit noch Sport treiben zu können.

• Sie vernachlässigen soziale Kontakte. • Wenn Sie Ihre Hauptsportart wegen Schmerzen oder Verletzungen nicht betreiben können, weichen Sie auf eine andere aus, um ihr Pensum zu erfüllen. • Sie treiben Sport, um eine positive Stimmung aufrechtzuerhalten. Quelle: Professor Karl-Jürgen Bär, DGPPNKongress

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Sportbindung statt Sportsucht

Sportsüchtige haben Probleme mit ihrer Identität: Das Training wird zum Lebensinhalt

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Mit der Zeit finden auch hormonelle Veränderungen statt, ein Gewöhnungseffekt setzt ein. Die Sportler müssen dann noch mehr trainieren, um Stress abzubauen und das Selbstwertgefühl zu steigern – schließlich auch, um Entzugserscheinungen in den Griff zu bekommen. Irgendwann verursacht selbst die Aussicht, nicht genug trainieren zu können, enormen Stress. An diesem Punkt verlieren die Athleten die Kontrolle über ihr Handeln. Sport macht nicht mehr Spaß, sondern wird zum Zwang. Das Training kontrolliert jetzt den Sportler und nicht mehr umgekehrt. Schack vermutet, dass besonders solche Personen gefährdet sind, die sich in sensiblen Lebensphasen befinden, in denen sie Probleme mit ihrer Identität haben. Studien hätten zudem ergeben, dass es Sportsüchtigen schwerfällt, alternative Strategien zu entwickeln, um mit negativen Emotionen oder Problemen umzugehen. Im Training sehen sie oft den einzigen Ausweg: „Irgendwann wird das Sporttreiben zur zentralen Dimension in ihrem Leben.“ Um den Übergang in eine Sucht zu vermeiden, rät der Psychologe, Warnzeichen ernst zu nehmen. Kritisch werde es, wenn sich Familie und Freunde vernachlässigt fühlen, wenn jemand daran denkt, trotz Knieproblemen weiterzulaufen, oder sich schlecht fühlt, falls er mal keinen Sport machen kann. Wer mit einem Training beginnt, sollte feste Zeiten und Pläne einhalten. Auch Sport in einer Gruppe oder mit konstanten Partnern kann vor einer ausufernden Belastung schützen. 06/2016

Bei der Therapie Sportsüchtiger plädiert Bär dafür, die Gesundheitsschädlichkeit deutlich anzusprechen. In der Öffentlichkeit würden meist nur die positiven Seiten des Sports hervorgehoben, vielen sei gar nicht klar, dass sie mit ihrem übermäßigen Training ihren Körper ruinierten. Bär hält es auch für wichtig, Alternativvorstellungen im Sport zu entwickeln und sich nicht nur auf die Leistungssteigerung zu fixieren. Eine vollständige Abstinenz sei in der Regel jedoch unnötig. Vielmehr gehe es darum, die Kontrolle über das Training zurückzuerlangen. Dazu gehörten ein strukturierter Übungsplan mit ausreichenden Pausen und vielseitigen Übungen. Ähnlich geht auch Schack vor. Er versucht, Sportsüchtige von ihren zwanghaften Handlungen zu lösen, damit sie nicht gleich „loslaufen, wenn sie einen Turnschuh sehen“. Mithilfe von Selbstinstruktionen lernen sie, sich auf den Atem oder aktuelle Aufgaben zu konzentrieren und das Training gezielt auf bestimmte Zeiten zu begrenzen. Über vier bis sechs Wochen soll dann die Sportmenge erkennbar reduziert werden. Ziel sei ein Pensum wie damals in der „Bindungsphase“, also in der Zeit vor der Sucht, als der Sport noch Spaß machte. „Gleichzeitig schauen wir: Wie steht es mit der Gesundheit, wie gut lässt sich das Training sozial einbinden?“ Oft kann eine Therapie bei einem erfahrenen Psychologen den Weg aus der Sucht weisen. Besteht der Verdacht, dass noch andere psychische Probleme vorliegen, etwa eine Magersucht oder eine Körperschemastörung, sind auch Psychiater gefragt. Einige Experten gehen davon aus, dass eine Kombination mit solchen Störungen noch häufiger vorkommt als eine reine primäre Sportsucht. In extremen Fällen von Sportsucht ist ebenfalls eine ärztliche Behandlung nötig, etwa bei dem zwanzigjährigen Mann, der die Schule abgebrochen hatte, damit ihm mehr Zeit zum Laufen blieb. Während der Untersuchung, so Schack, weigerte er sich zunächst, die Schuhe auszuziehen. Schließlich gab er nach und präsentierte einen blut- und eiterdurchtränkten Lappen, den er sich um den Fuß gewickelt hatte. Der Fuß war bis auf den Knochen durchgelaufen. Psychiater und Therapeuten konnten ihn schließlich so weit stabilisieren, dass er ein normales Trainingspensum akzeptierte – und das Abitur nachholPH te.

Eine Literaturliste zu diesem Beitrag finden Sie auf unserer Website: www.psychologie-heute.de/literatur

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„Integration ist der beste Schutz gegen Terrorismus“ Nach den Anschlägen von Paris und Brüssel signalisierten Politiker mit dem Satz „Wir sind im Krieg“ Kampfbereitschaft. Doch der islamistische Terror ist durch militärische Aktionen nicht zu schwächen, wie der Politikwissenschaftler Dr. Andreas Bock belegt. Was aber können wir dann tun, damit Terrorangst nicht unsere Seelen auffrisst?

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annahmen und Vorurteilen über die soziale Welt und ihrer Akteure, die durch eigene Erfahrungen, aber auch kollektive Erinnerungen oder mediale Berichterstattung geprägt werden und die uns helfen, die Informationsflut einer überkomplexen sozialen Realität zu bewältigen. Damit erfüllen Mindmaps eine kognitiv entlastende Funktion, sie führen aber auch zu einer Wahrnehmungsbeeinflussung oder, wie es der Politikwissenschaftler Robert Jervis formuliert hat: „People perceive what they expect to be present“, also: „Menschen nehmen wahr, was sie erwarten.“ Entsprechend schätzen wir das Bedrohungspotenzial von radikalislamischen oder islamistischen Organisationen wie dem Daesh heute so hoch ein, weil sie scheinbar breite Unterstützung, auch in den westlichen Gesellschaften, genießen. Der Verfassungsschutz rechnet aktuell etwa 1000 Menschen zum „islamistisch-terroristischen“ Spektrum. Darunter sind etwa 420 sogenannte Gefährder, denen die Polizei Terroranschläge oder andere schwere politisch motivierte Gewalttaten grundsätzlich zutraut.

Paris: 130 Tote, 350 zum Teil Schwerverletzte. Brüssel: 31 Tote, über 300 Verletzte. Der islamistische Terrorismus versetzt Europa in Angst und Schrecken. Wie schätzen Sie als Terrorismusforscher die Gefahr ein?

Zunächst einmal ist die öffentliche Fokussierung auf den sogenannten Islamischen Staat – oder Daesh*, wie man besser sagen sollte – ganz im Sinne der Terroristen. Denn das Ziel terroristischer Gewalt ist, unser Denken zu besetzen, die Terroristen stärker und gefährlicher erscheinen zu lassen, als sie eigentlich sind. Heißt das, die Bedrohung, die wir angesichts der Bilder von Brüssel und Paris empfinden, ist unbegründet?

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Nein. Die Bedrohung durch Terrorismus ist natürlich real, sie war es auch in den Jahren vor 9/11 oder vor den Anschlägen von Paris und Brüssel. Die Global Terrorism Database (GTD) der Universität von Maryland zählt allein für 2014 mehr als 16 800 terroristische Anschläge weltweit; seit 1970 kommt die GTD sogar auf mehr als 140 000 Anschläge. Was sich mit den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon 2001 verändert hat, ist unsere Wahrnehmung. Terrorismus, genauer: der islamistische Terrorismus erscheint uns heute als unmittelbare und existenzielle Bedrohung. Eine Tendenz, die die Anschläge von Paris und Brüssel nur noch verstärkt haben. Dass das Risiko, in Europa Opfer eines Terroranschlags zu werden – darauf hat der Risikoforscher Ortwin Renn hingewiesen –, geringer sei, „als die Gefahr, an einer Pilzvergiftung zu sterben“, spielt dabei keine Rolle. Unsere Bedrohungswahrnehmung hängt wesentlich von der medialen Repräsentation der terroristischen Bedrohung und der staatlichen Reaktion auf den Terrorismus ab: Gerade weil man dem islamistischen Terrorismus solche Aufmerksamkeit schenkt und massiv, etwa durch militärische Gewalt, auf ihn reagiert, erscheint er so gefährlich. Das ist Teil des terroristischen Kalküls.

Da dem so ist – haben dann die Mindmaps nicht auch eine schützende Funktion? Sie erhöhen die Wachsamkeit und können unter Umständen vielleicht sogar Anschläge vereiteln?

Wollen Sie sagen: Würden die Medien und die Politik den terroristischen Anschlägen weniger Aufmerksamkeit schenken, wäre die Bedrohung geringer?

Die Bedrohungswahrnehmung sicherlich. Denn das Bedrohungspotenzial – also die Gefährlichkeit, die wir mit einem sozialen Akteur verbinden – ist eine psychologische Kategorie, die mit der öffentlichen Wahrnehmung terroristischer Gewalt korreliert und von der sozialen Konstruktion sogenannter Mindmaps terroristischer Organisationen und ihrer Unterstützer profitiert. Mindmaps sind Sätze von VorPSYCHOLOGIE HEUTE

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Dr. Andreas M. Bock ist Professor für Politikwissenschaft, internationale Notund Katastrophenhilfe an der AkkonHochschule für Humanwissenschaften in Berlin und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Friedens- und Konfliktforschung der Universität Augsburg.

Nicht unbedingt. Wie Mindmaps eine terroristische Bedrohung konstruieren, zeigt das Beispiel jenes Mannes, der am 22. Januar 2016 in einem Kölner Baumarkt Chemikalien gekauft hat, „aus denen man mit entsprechenden Kenntnissen ein explosionsfähiges Gemisch herstellen kann“, wie es die Kölner Polizei formulierte. Offensichtlich aber war nicht nur die Menge gekaufter Chemikalien für die Alarmierung der Polizei verantwortlich, sondern das Aussehen des Mannes als „aus dem Nahen Osten stammend“. Das Problem an solchen Mindmaps ist, dass sie praktisch nicht falsifizierbar sind: Jede Information kann so interpretiert werden, dass sie mit den Vorannahmen zusammenpasst. Darum muss die Tatsache, dass es in Deutschland seit 1945 einen einzigen Anschlag mit islamistischem Hintergrund gab – im März 2011 tötete ein 21-jähriger muslimischer Kosovo-Albaner am Frankfurter Flughafen zwei USSoldaten und verletzte zwei weitere schwer –, nicht zu einer Korrektur der Bedrohungswahrnehmung führen. Ebenso gut kann man das Ausbleiben islamistischer Anschläge als Indiz für die Effektivität des staatlichen Sicherheitsapparates werten – und an der Grundannahme eines bedrohlichen Islams festhalten. Eine analoge Bedrohungswahrnehmung durch einen rechtsextremen Terrorismus ist – trotz 67


der Zunahme rechter Gewalttaten im vergangenen Jahr um mehr als 30 Prozent auf 13 846 Delikte – dagegen nicht festzustellen. Auch wenn wir die Bedrohung überschätzen – die Anschläge sind real und die angegriffenen Staa-

Militärische Angriffe treffen immer auch unschuldige Zivilisten. Das stärkt die Überzeugung, die Terrorgruppen kämpften für eine gerechte Sache

anti-islamische Rhetorik des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump nutzt, um neue Rekruten für den bewaffneten Kampf zu werben. Ihr Fazit lautet also: Mit militärischen Mitteln ist der islamistische Terror nicht zu schwächen?

Warum aber war der Krieg gegen den Terrorismus

Ja, richtig. Eine Ausweitung der Kampfzone wird weder das Bedrohungspotenzial des Daesh noch die Bedrohungswahrnehmung in den westlichen Gesellschaften reduzieren. Zwar klingen die aktuellen Zahlen, die das Weiße Haus über den Kampf gegen den „Islamischen Staat“ in Syrien und Irak veröffentlicht hat, vielversprechend: In beiden Ländern habe diese Terrororganisation seit 2014 rund ein Fünftel ihrer Kämpfer verloren. Heute gehen die USA von nur noch 19 000 bis 25 000 Kämpfern aus. Doch der Fokus auf diese Zahlen ignoriert das eigentliche Funktionsprinzip von Terrorismus – die Beeinflussung der Wahrnehmung. Um den Krieg gegen den Terrorismus zu gewinnen, muss der Daesh militärisch nicht gewinnen, er muss ihn nur spektakulär verlieren, in einem Kampf, der hässliche Bilder getöteter Menschen produziert, die – tatsächlich oder nur vorgeblich – auf das Konto der Anti-IS-Allianz gehen. Die Herkunft der Attentäter von Paris, London und Brüssel könnte uns hier eine mahnende Erinnerung sein, dass der IS es bereits heute schafft, Anhänger und potenzielle Kämpfer in den westlichen Gesellschaften zu rekrutieren. Diese Unterstützung für den IS wird, dafür spricht die historische Erfahrung, vom Kampf gegen eine multinationale Militärallianz, von der Gewalt und den Bildern des Krieges profitieren. Und dazu wird die Terrororganisation selbst durch die multimediale Inszenierung der Opfer sicher noch beitragen.

in den genannten Fällen so wenig erfolgreich?

Wenn nicht militärisch, wie kann man auf den is-

Weil militärische Angriffe eben nicht nur die Organisationen, ihre Stellungen und Waffenlager, nicht nur die Kämpfer von al-Qaida oder Daesh, sondern immer auch unschuldige Zivilisten treffen. Was, wie die Erfahrung in Gaza, im Libanon, aber auch Nordirland lehrt, die Unterstützung für diese Gruppen nur verstärkt – wie auch die Überzeugung, die Organisationen kämpften für eine richtige, für eine gerechte Sache. Die Frage, wer im Einzelfall tatsächlich im Recht ist – die Staaten, die gegen den Terror kämpfen –, ist für die Frage der Wahrnehmung und Bewertung der jeweiligen Maßnahmen von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, welche Seite die Emotionen besser nutzen und vermarkten kann, die durch die Gewalt erzeugt werden. Das jüngste Beispiel dürfte wohl die islamistische Al-Schabaab-Miliz sein, die in einem fast einstündigen Propaganda-Video die

lamistischen Terrorismus reagieren? Sie schrei-

ten und deren Verbündete können nicht tatenlos zuschauen. Gerade nach den Anschlägen von Paris und Brüssel reden immer mehr Politiker von „Krieg“. Das bedeutet: militärische Aktionen?

Die Vermutung liegt nahe, dass gerade der Daesh militärisch zu bekämpfen sei, verfügt er doch – anders als andere terroristische Organisationen – tatsächlich über ein Territorium, auf dem er angegriffen und, einen entsprechenden Einsatz militärischer Machtmittel vorausgesetzt, auch geschlagen werden kann. Seit Januar beteiligen sich Tornado-Kampfflugzeuge aus Deutschland an der internationalen Anti-IS-Allianz, und mit Hans-Lothar Domröse hat sich einer dereinst ranghöchsten deutschen Generale der US-Forderung nach einem NATO-Einsatz in Syrien angeschlossen. Auch die USA haben nach den Anschlägen von 9/11 zwei Kriege begonnen – gegen die Taliban in Afghanistan und das Regime von Saddam Hussein im Irak. Zwei Kriege, die beide in wenigen Wochen gewonnen waren; doch der eigentliche Krieg, der gegen den Terrorismus, schien ebenso schnell verlorengegangen zu sein: In Afghanistan sind die Taliban weiterhin ein bedeutender Machtfaktor, und der Irak ist heute das, was die Regierung Bush vor Beginn der Offensive 2003 behauptet hatte: Ein Spielfeld des nationalen und transnationalen Terrorismus.

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ben in Ihrem Buch Terrorismus, man müsse einen „Krieg um die Herzen der Menschen führen“. Wie soll das funktionieren?

Es wird sicherlich nicht funktionieren, indem wir Muslime pauschal verurteilen und stigmatisieren. Wenn wir uns klarmachen, dass die Stärke eines jeden Terrorismus die freiwillige Unterstützung ist, die er gewinnen kann, dann spielen Politiker wie Donald Trump, der ein Einreiseverbot für alle Muslime fordert, oder der CSU-Europaabgeordnete Albert Deß, der in einem Twitter-Beitrag nach den Anschlägen von Brüssel erklärt hat, dass alle Terroristen Muslime seien, nur den Terroristen in die Hände. So wie übrigens auch die etablierten Parteien, wenn sie sich die rechtspopulistischen Parolen von AfD oder Pegida zu eigen machen und eine Differenz zwischen Deutschland und Islam, zwischen Deutschen und PSYCHOLOGIE HEUTE

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Muslimen konstruieren – eine Differenz, die so gerade nicht existiert. Der vielgescholtene frühere Bundespräsident Christian Wulff hat mit seiner Feststellung, dass der Islam zu Deutschland gehört, nicht nur recht – er hat damit die Forderung, dass man die Herzen der Menschen gewinnen müsse, auf eine begrifflich-inhaltliche Formel gebracht: Muslime sind integraler Bestandteil unserer Gesellschaft. Und als solche sind sie Verbündete im Kampf gegen den Terrorismus. Wenn wir aber bei der Integration versagen, wenn wir zulassen, dass eine Differenz konstruiert wird zwischen „uns“ und „den anderen“, dann wächst bei diesen „anderen“ auch tendenziell die Bereitschaft, sich von dem Staat und der Gesellschaft abzuwenden, zu denen sie ja nicht gehören sollen. Kurz: Integration ist der beste Schutz gegen Terrorismus.

Übergriffe auf Flüchtlinge sagen nichts über „die Deutschen“ aus. Die Anschläge von Paris und Brüssel nichts über „die Muslime“

Sie sprechen von den Mindmaps, die unsere Wahrnehmung verzerren. Angesichts der Terrorbilder wird es so manchem schwerfallen, seine Bedrohungsgefühle unter „Wahrnehmungsverzerrung“ abzubuchen. Müssen wir nicht das Gefühl von Handlungsfähigkeit behalten, um uns nicht hilflos und ohnmächtig zu fühlen?

Das stimmt. Und doch sind wir als politisch mündige Bürger genau dazu aufgefordert: uns zu fragen, inwieweit unsere subjektive Bedrohungswahrnehmung, unser Bedrohungsempfinden mit der empirisch überprüfbaren Realität zusammenpasst. Was ja gerade nicht heißt, Handlungsfähigkeit zu verlieren. Im Gegenteil. Wenn wir uns klarwerden, von wem oder durch was wir tatsächlich bedroht sind, können wir auf diese Bedrohung auch reagieren und

verantwortungsvoll handeln. In Deutschland leben mehr als vier Millionen Muslime. Und so wenig wie die Brandanschläge auf Asylunterkünfte oder die Übergriffe auf Flüchtende etwas über „die Deutschen“ aussagen, sagen die Anschläge von Paris oder Brüssel etwas über „die Muslime“ aus. Wenn wir es schaffen, diese perzeptive Verkürzung zu reflektieren, reduzieren wir unsere Bedrohungswahrnehmung und gewinnen Handlungsfreiheit zurück. Umgekehrt sind wir, wenn wir uns von den Schreckensbildern aus Paris und Brüssel unsere Reaktion diktieren lassen, nicht frei, sondern getrieben. Besteht auch in Deutschland die Gefahr eines islamistischen Anschlags?

Natürlich. Es gibt keinen absoluten Schutz vor gewaltbereiter Radikalisierung. Und doch ist das Risiko, in Deutschland Opfer eines terroristischen Anschlags zu werden, nicht sonderlich hoch. Die aktuell größere Gefahr besteht meines Erachtens darin, dass wir durch die pauschale Stigmatisierung des Islam als gefährliche Religion beziehungsweise von Muslimen als Terroristen, die in der Politik wie im gesellschaftlichen Diskurs zunehmend zu beobachten ist, eine tiefe Spaltung der Gesellschaft riskieren. Das wird die Gewaltbereitschaft an den extremen PH Rändern tendenziell nur weiter erhöhen. INTERVIEW: URSULA NUBER

*Daesh ist ein Akronym für den arabischen Ausdruck „Islamischer Staat im Irak und der Levante“. Die Verwendung dieses Begriffs ist ein politisches Signal: Der Anspruch des „IS“ wird damit zurückgewiesen, ein Staatsgebilde mit weltweitem Herrschaftsanspruch zu sein. Zum anderen aber erinnert Daesh an andere arabische Begriff, die für „Zwietracht säen“ oder „zertreten“ stehen, und wird vermutlich allein schon darum vom „IS“ selbst strikt abgelehnt.

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SERIE: LEBEN IM DIGITALEN ZEITALTER (4)

„Du nutzloses Stück Dreck!“ Im Internet wird beleidigt, gehetzt, gedroht. Sogenannte Trolle attackieren Politiker und Journalistinnen, aber auch den Nachbarn, dessen Meinung ihnen nicht passt. Was steckt hinter dem Hass im Internet? Und was kann man dagegen tun? Fünf Thesen und der Versuch einer Antwort

ILLUSTR ATIONEN: MICHEL STREICH

VON JOCHEN METZGER

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o eine hohle Frucht! Gleich in das Mähwerk von einem Mähdrescher werfen!“ „Ich schlage keine Frauen, aber bei dir würde ich eine Ausnahme machen.“ „Du fette, dämliche Ratte.“ „Du ekelhaftes, fettes Schwein.“ Das sind Beiträge, die auf Facebook geschrieben wurden. Sie landeten alle auf der Seite von Katrin Göring-Eckardt; die Grünen-Politikern zitiert sie in einem YouTube-Video, mit dem sie dokumentieren will, welcher Ton gerade herrscht in einigen Teilen des Internets. Was die Thüringerin zur Zielscheibe der Hassbeiträge werden ließ, war im Grunde eine Bagatelle: Sie hatte sich im Bundestag einen selbstironischen Scherz über Flüchtlinge und Ostdeutsche erlaubt. Noch schlimmer liest sich der Fall von Caroline Criado-Perez. Der britischen Publizistin war aufgefallen, dass auf den heimischen Geldscheinen außer der Queen bald nur Männer zu sehen sein würden. Also startete sie eine Kampagne, die vor allem zwei Dinge bewirkte: Erstens, dass ab 2017 ein Porträt der Dichterin Jane Austen die Rückseite der neuen ZehnPfund-Note zieren wird. Und zweitens, dass CriadoPerez’ Twitter-Account zur Zielscheibe heftigsten Hasses wurde. Innerhalb weniger Wochen erhielt sie mehrere Zehntausend Posts – im Durchschnitt dauerte es stets nur drei Sekunden bis zur nächsten Nachricht. Mehrere Hundert davon gingen weit über den Tatbestand der Beleidigung hinaus („Stirb, du nutzloses Stück Dreck!“ „Ich werde dich finden!“ „Ich schätze, manche Frauen brauchen von Zeit zu Zeit einfach ’ne tüchtige Vergewaltigung“). Zwei der Drohbriefschreiber wurden später von einem britischen Gericht zu Haftstrafen verurteilt.

Was passiert da im Internet? Woher kommt der Hass? Fünf Thesen und der Versuch einer Antwort. Schuld an allem ist die Anonymität

Das ist zum Teil richtig. Es gibt zu diesem Punkt mehrere Studien, die sich methodisch alle ähneln. Man nimmt eine Reihe von Kommentaren, die unter Klarnamen ins Netz gestellt wurden. Dann vergleicht man deren Inhalt und Sprache mit anonymen Kommentaren. Die Statistik offenbart, was jeder vermuten würde: Die anonymen Posts enthalten mehr Provokationen, mehr Beleidigungen, mehr unzivilisiertes Verhalten. Warum ist das so? Die meisten Psychologen sehen einen Prozess am Werk, den man „Deindividuation“ nennt. In der Welt außerhalb des Internets ereignet er sich dort, wo Menschen aufhören, selbstverantwortliche Personen zu sein: in der Fankurve während eines Fußballspiels; in Gruppen, die Uniformen tragen – oder wenn man am 14. Juli 1789 in Paris gerade dabei ist, die Bastille zu stürmen und dadurch die Französische Revolution loszutreten. In all diesen Situationen tun wir Dinge, die wir als Einzelmensch niemals tun würden – wir werden Teil eines wütenden Mobs. Einige der inspirierendsten Stücke psychologischer Literatur wurden über dieses Phänomen geschrieben: Gustave Le Bons Psychologie der Massen oder Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse (siehe auch Seite 12). Doch wird tatsächlich alles gut, wenn man die Anonymität im Netz beseitigt? Genau das dachten Politiker in Südkorea und erließen ein entsprechendes Gesetz. Anlass dafür war ein tagespolitisches Ereignis: Eine bekannte Schauspielerin hatte sich nach Wochen perfider (und anonymer) Internethetze erhängt. Doch drei Jahre später erklärten Koreas Verfassungsrichter den Erlass für nichtig. Ihr Hauptargument: Die Anonymität im Netz sei ein wesentlicher Beitrag zur Meinungsfreiheit. Man kritisiert Missstände einfach offener, wenn man keine persönlichen Konsequenzen befürchten muss. Mit anderen Worten: Eine umfassende Klarnamenpflicht schwächt die Demokratie eines Landes. Doch es gab noch ein zweites Argument: Eine Studie hatte nämlich gezeigt, dass die Anzahl der Pöbeleien unter dem neuen Gesetz praktisch nicht zurückgegangen war. Wer Hassbotschaften versendet, ist ein schlechter Mensch

Da könnte etwas dran sein. Zumindest dort, wo es sich bei den Pöbeleien um sogenanntes Trolling handelt. Trolling geschieht nicht aus einem Impuls der Wut heraus oder aus der Hitze einer heftigen DisPSYCHOLOGIE HEUTE

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kussion. Einem Troll geht es nur um den Spaß daran, andere zu provozieren. Die Analogie zu seinen Beleidigungen ist die geworfene Stinkbombe in der schulischen Aula. Kanadische Forscher fanden in einer Studie eine signifikante Verbindung zwischen Trollverhalten und einem Charakterzug, den Persönlichkeitspsychologen als „dunkle Tetrade“ bezeichnen: einen Mix aus übertriebener Selbstbezogenheit (Narzissmus), manipulativem Verhalten (Machiavellismus), Rücksichtslosigkeit (Psychopathie) und der Lust daran, andere zu quälen (Sadismus). „Cybertrolling erscheint als Internetmanifestation eines alltäglichen Sadismus“, schreiben die Autoren. Diese kanadische Studie wird recht häufig zitiert – und das ist kein Wunder: Sie bestätigt genau das, was man irgendwie immer schon geahnt hat. Wer so schlimme Dinge schreibt, kann kein guter Mensch sein. Ist die Sache damit erledigt? Natürlich nicht. Denn die kanadische Studie leidet an zumindest zwei Schönheitsfehlern: Sie bezieht ihre Daten ausschließlich aus Fragebögen – wie sich die Probanden tatsächlich im Netz verhielten, wurde nie direkt untersucht. Zum anderen rekrutierten die Forscher ihre Versuchspersonen über einen ungewöhnlichen Kanal, nämlich über Amazon. Dort kann man für wenige Cents sogenannte „Klick-Arbeiter“ (mechanical turks) für einfache Onlineaufgaben mieten. Für die Forscher ist das praktisch, weil sie auf diesem Weg sehr schnell und preiswert an eine relativ hohe Zahl von Studienteilnehmern kommen. Wirklich repräsentativ werden die Ergebnisse dadurch aber nicht. Das Internet lässt sich nicht kontrollieren

Stimmt nur zum Teil. Soziale Medien haben seit vielen Jahren Regeln für das, was auf ihren Seiten erlaubt ist und was nicht. Facebook verbietet zum Beispiel Bilder von nackten Frauenbrüsten oder Filme von Enthauptungen. Das geschieht nicht aus Moralgefühl, sondern aus wirtschaftlichen Überlegungen: Wenn Oma und Opa auf Facebook sind, um mit ihren Enkeln in Kontakt zu bleiben, dann will man diese älteren Kunden natürlich bei der Stange halten. Alles soll draußen bleiben, was sie schockieren und für immer vergraulen könnte. 72

Doch wie kontrolliert man ein soziales Netzwerk, das von einer Milliarde Menschen täglich genutzt wird? Man denkt: mit Computerprogrammen. Doch tatsächlich sind es in vielen Fällen echte Menschen, die sich dieser Aufgabe annehmen. Content moderation nennt sich ihr Beruf. Wie das geschieht, kann man in einer aufrüttelnden Reportage des US-Magazins Wired nachlesen. Viele der firmeneigenen Onlinepolizisten arbeiten unter enormem Zeitdruck für eine Handvoll Dollar auf den Philippinen, bezahlen aber zugleich einen hohen Preis für ihre Arbeit: Die Burnoutraten sind enorm, nur wenige halten länger durch als ein paar Monate; eine Therapeutin bezeichnet die Symptome der Betroffenen als eine Art posttraumatische Belastungsstörung – ausgebrannte content moderators sind psychisch so kaputt wie Kriegsveteranen, die gerade aus dem Afghanistaneinsatz zurückkehren. Deshalb (und natürlich, um Kosten zu sparen) arbeiten Experten an computergestützten Lösungen. Wäre es zum Beispiel nicht großartig, wenn eine Software frühzeitig erkennen könnte, dass ein Teilnehmer gar nicht wirklich diskutieren will – sondern nur dabei ist, um andere zu beleidigen und zu provozieren? Der Informatiker Justin Cheng von der Stanford University hat ein solches Programm geschrieben. Die Software benötigt nach Chengs Angaben nur zehn Blogeinträge, um mit 80-prozentiger Sicherheit vorhersagen zu können, ob ein Teilnehmer später von den Moderatoren gesperrt werden wird. Interessant: Chengs Programm interessiert sich gar nicht für die Inhalte der einzelnen Einträge – sondern nur dafür, wie die Community auf die Beiträge reagiert. Mit anderen Worten: Das Diskussionsverhalten einer Gruppe verändert sich sichtbar durch einen Störenfried. Und genau diese Tatsache werden Internetunternehmen in Zukunft vermutlich nutzen, um Trolle automatisch und frühzeitig erkennen zu können. Die Technologiefirmen drücken sich vor ihrer Verantwortung

Das ist eher nicht richtig. Die großen Unternehmen leisten sich eigene Forschungsteams, die untersuchen, wie Hassbeiträge entstehen, welche Auswirkungen sie auf das Netzwerk haben und was man dagegen tun kann. Es mag verrückt klingen, aber die erPSYCHOLOGIE HEUTE

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WIE KANN MAN SICH GEGEN HASS-ATTACKEN WEHREN? Wer sich mit einer Meinung an die Öffentlichkeit wagt – und genau das ist das Internet: ein Ort der Öffentlichkeit –, der sieht sich gelegentlich heftigen Reaktionen ausgesetzt. Es gibt eine ganze Reihe von Gegenstrategien. Sie alle können helfen. Zumindest manchmal.

nehmerin („Hör auf, uns zu provozieren“). Danach lässt man den Konflikt eskalieren („Du bist wohl länger nicht mehr richtig gevögelt worden“). Ein solcher Schlagabtausch bleibt in den sozialen Medien selten unkommentiert – und der Troll bekommt genau den Zoff, den er will.

Die Hasskommentare in eine größere Öffentlichkeit bringen. Der Vorteil dieser Strategie: Man verharrt nicht in der Rolle des wehrlosen Opfers, sondern wird aktiv und holt sich dadurch Hilfe und Unterstützung. Dafür gibt es viele Möglichkeiten. Man kann – wie Katrin Göring-Eckardt – ein Video drehen und die schlimmsten Kommentare vorlesen. Eine brasilianische Kampagne namens „Criola“ geht einen anderen Weg: Sie spürt rassistische Kommentare im Netz auf, ermittelt den Ort, von dem aus sie geschrieben wurden – und stellt den Hetzspruch im entsprechenden Dorf oder Stadtviertel als riesiges Plakat an den Straßenrand.

Naming and Shaming. Man macht den Urheber von Hassbotschaften zuerst ausfindig und anschließend lächerlich. Die australische Journalistin Alanah Pearce bekam per Facebook wiederholt Vergewaltigungsdrohungen. Also begann sie, die Identität des Schreibers zu recherchieren. Es war, wie sich herausstellte, ein Junge, der noch bei seinen Eltern wohnte. Pearce rächte sich mit dem Schlimmsten, was man einem Jugendlichen antun kann: Sie verpetzte ihn bei seiner Mutter. Deren Reaktion sorgte im Netz für eine Menge Spott: „Oh, der kleine Scheißer! Danke für den Tipp. Ich werd’ mal ein paar Takte mit ihm reden.“

Hasskommentare ignorieren. Das ist eine der ältesten Netzweisheiten überhaupt: „Don’t feed the trolls“ („Füttere die Trolle nicht“). Wer auf die Störer nicht reagiert, nimmt ihnen den Spaß an der Sache. Sie werden sich früher oder später ein neues Ziel suchen. Leider hilft diese Methode nicht immer. Trolle – also jene, die andere nur aus Freude am Krawall beleidigen – haben wirksame Gegentechniken gegen das Nicht-gefüttert-Werden entwickelt. Eine davon ist der Trick mit der sogenannten Sockenpuppe, einem zusätzlichen Benutzerkonto. Wie ein Bauchredner schlüpft man dabei in zwei Rollen gleichzeitig. Rolle Nummer eins spielt den Störenfried („Hey, ihr Feministinnen, zurück in die Küche mit euch!“), Rolle Nummer zwei übernimmt den Part der angeblich beleidigten Diskussionsteil-

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Beiträge löschen. Klar: Gelöschte Beiträge sind nicht mehr sichtbar, man putzt den Vogelmist von der Fensterbank – die Fensterbank wird sauber. Das klingt vielversprechend. Leider funktioniert es nur selten. Im Zweifel folgen einer gelöschten Nachricht 20, 30 oder gar 100 neue. Mit ein wenig Programmierkenntnis kann man sie von einem Computerprogramm erstellen und verschicken lassen. Löschen muss man sie dagegen von Hand – und sitzt damit praktisch immer auf der Verliererseite des Spiels. Einfach nicht mehr ins Internet gehen. Manchmal erscheint das tatsächlich als letzte Möglichkeit, dem Hass zu entgehen. „Das Internet ist dann für eine Weile kaputt“, schreibt die

US-Publizistin Sarah Jeong in ihrem klugen Aufsatz The Internet of Garbage. Darin entwickelt sie eine erhellende Metapher: Trolling, Belästigung und Hass sind in ihren Augen eine Art Müll, der sich im Netz ansammelt und soziale Medien für manche Teilnehmer zeitweilig unbrauchbar macht. Die Frage laute deshalb nicht, warum Leute „so etwas Schlimmes tun“, sondern schlicht: „Wer bringt den Müll raus?“ Der einzelne User, so Jeong, sei damit immer überfordert. Der Job liege bei den Technologiefirmen, die einfach mehr Geld in die Hand nehmen müssten, um, na ja, eben den Müll nach draußen zu bringen. JOCHEN METZGER

LITERATUR Catarina Katzer: Cyberpsychologie. Leben im Netz: Wie das Internet uns ver@ndert. Dtv, München 2016 Justin Cheng, Cristian Danescu-Niculescu-Mizil, Jure Leskovec: Antisocial behavior in online discussion communities. Vortrag auf der International Conference on Weblogs and Social Media in Oxford 2015 Erin E. Buckels, Paul D. Trapnell, Delroy L. Paulhus: Trolls just want to have fun. Personality and Individual Differences 67, 2014, 97–102

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Offensive language ist schlecht fürs Geschäft. Deshalb wollen die Hersteller großer Computerspiele die Nutzer zu mehr Fairness zu erziehen

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staunlichsten Ergebnisse liefern dabei ausgerechnet die Hersteller großer Computerspiele. Bestes Beispiel ist League of Legends, das mit 27 Millionen aktiven Usern pro Tag beliebteste Onlinespiel der Welt. Warum ist rüpelhaftes Verhalten ausgerechnet in der notorisch ruppigen Gamer-Szene ein Problem? Weil die Statistiken zeigen, dass einige Teilnehmer das Spiel meiden, wenn sie wiederholt während eines Matches beleidigt werden. Offensive language ist schlecht fürs Geschäft. Jeffrey Lin, ein amerikanischer Verhaltensforscher, der beim Spieleentwickler Riot Games das player behavior team leitet, hat in mehreren Vorträgen die Maßnahmen verraten, mit denen man die Spieler von League of Legends zu mehr Fairness erzieht: – Die Meinung der anderen Spieler zählt. Nach jedem Match werden die Spieler gebeten, ihre Gegner und Mannschaftskameraden zu bewerten, sie für faires Verhalten zu loben – oder für rüpelhaftes Benehmen zu „reporten“. Anders als bei Facebook oder Twitter holt der Betreiber also aktiv Bewertungen über seine Kunden ein. Die Daten zeigen etwas Überraschendes. Zwar wird – ähnlich wie beim Fußball – in praktisch jedem Spiel zwischendurch geflucht, provoziert und gemeckert. Die allermeisten Teilnehmer erweisen sich jedoch als ausgesprochen fair. Auch sie werden gelegentlich „reported“, aber das geschieht eher selten. Regelmäßig aus dem Rahmen fällt nur ein Prozent der Spieler. – Schnelle Strafen und Verwarnungen. Schwere Fälle von beleidigender Sprache kommen vor ein Schiedsgericht („Tribunal“) und werden relativ schnell geahndet. Wer schreibt: „Ich hoffe, deine Mutter stirbt an Krebs“, erhält vor seinem nächsten Spiel eine schriftliche Verwarnung per E-Mail. Wer sagt: „Bring dich um, los, tu es!“, wird für einige Tage vom Spielbetrieb ausgeschlossen – zusammen mit einem speziellen Feedback. Man zeigt den Spielern die Passage im Chatverlauf, für die man sie bestraft. – Die Aufmerksamkeit der Spieler lenken. Wer viel redet, redet auch viel Unsinn. Dieser Gedanke brachte die Verhaltensdesigner von Riot Games auf eine Idee: Wer andere beleidigt und dafür „verurteilt“ wird, darf in

den folgenden Spielen nur noch eine Handvoll Botschaften an seine Mitspieler verschicken. Die Folge: Die Spieler achten viel bewusster darauf, was sie den anderen mitteilen und was sie besser für sich behalten. „71 Prozent aller Spieler werden nur ein einziges Mal bestraft – und danach nie wieder auffällig“, erklärt Lin. – Unbewusste Beeinflussung. Jeffrey Lin und ein Team experimentierten auch mit einem sogenannten priming: Kurz vor Spielbeginn schickten sie kurze Botschaften, die für einige Sekunden auf dem Bildschirm aufleuchteten. Einige dieser Botschaften zeitigten im Versuch eine erstaunliche Wirkung. Der Satz „Deine Teamkameraden spielen schlechter, wenn du sie nach einem Fehler beleidigst“ reduzierte die Zahl der Beleidigungen um mehr als zehn Prozent. Die Wut im Netz ist nur Ausdruck einer stillen Wut in der Gesellschaft

Es gibt einige theoretische Überlegungen, die für diese Behauptung sprechen. Sehr viele Menschen nutzen Facebook und Twitter inzwischen als wichtigste Nachrichtenquelle. Dort sieht man vor allem das, was die eigenen Freunde gut finden. Wer zum Beispiel meint, Deutschland solle keine Flüchtlinge aufnehmen, dessen Freunde denken darüber vermutlich ähnlich. So liefert einem Facebook Tag für Tag eine Menge Bestätigung für die eigene Haltung und erzeugt dadurch das, was Fachleute eine „Filterblase“ nennen: viel Bestätigung, wenig Gegenmeinung. Sobald man sich jedoch aus dieser Meinungsblase entfernt und zum Beispiel die Tagesthemen sieht oder die Süddeutsche Zeitung liest, reibt man sich die Augen und fragt sich, ob die Journalisten in Deutschland noch alle Tassen im Schrank haben. Auf Facebook waren sich doch noch alle einig – jetzt liest und sieht man auf einmal etwas völlig anderes. Man denkt: „Lügenpresse!“ An dieser Stelle kommt eine zweite Theorie ins Spiel, die aus den 1970er Jahren stammt: Wer den Eindruck hat, mit seiner Meinung deutlich in der Minderheit zu sein, behält sie für sich. Die Kommunikationswissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann prägte dafür den Begriff der „Schweigespirale“. Heute bekommt die schweigende Minderheit über die sozialen Medien das Gefühl, gar nicht allein zu sein. Die Filterblase kann sprechen. Sie sagt: „Was du denkst, stimmt ganz genau!“ Man äußert sich, wird zur Gruppe – und trifft außerhalb der Blase nur noch auf Verrückte, Lügner und Dummbeutel. Die oft extreme Sprache im Netz entsteht schlicht PH aus der Überzeugung, im Recht zu sein.

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DER PSYCHO TEST

Wie logisch

Folge 5

VON JOCHEN METZGER

Psychologen arbeiten gerne mit Tests. Einige davon zeigen, wie wir Menschen denken. Besonders interessant sind sie dort, wo wir Fehler machen. Das folgende Minirätsel stammt aus den 1960er Jahren. Es gehört zu den einflussreichsten Tests in der Denkpsychologie und funktioniert ganz einfach

Die Aufgabe Sehen Sie sich die folgenden vier Karten an. Jede von ihnen ist beidseitig bedruckt. Auf der einen Seite steht ein Buchstabe, auf der anderen steht eine Zahl. Nun wird Ihnen gesagt: „Jede Karte mit einem D auf der Vorderseite hat eine 3 auf der Rückseite.“ Um herauszufinden, ob das stimmt, dürfen sie zwei der vier Karten umdrehen. Welche Karten sind das? Machen Sie einfach ein Kreuz unter die entsprechenden Karten.

Das war leicht? Gut. Dann machen wir jetzt noch einen zweiten Test. Er funktioniert ganz ähnlich. Diesmal stehen die vier Karten stellvertretend für vier Personen in einer Bar. Auf der einen Seite der Karte steht das Alter der jeweiligen Person, auf der anderen Seite steht das Getränk, das die jeweilige Person gerade konsumiert. Sie haben den Job des Barkeepers. Das Telefon klingelt, Ihr Chef ist in der Leitung. Er möchte, dass Sie das Alter der Gäste überprüfen, denn schließlich dürfen Jugendliche unter 16 Jahren keinen Alkohol trinken. Wie bewältigen Sie diese Aufgabe, wenn Sie nur zwei Karten umdrehen dürfen?

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denken Sie? Die Auflösung

Was verrät dieser Test über unser Denken?

Eine kleine Warnung vorweg: Als der britische Psychologe Peter Wason seinen Kartentest 1966 zum ersten Mal in einem Laborexperiment untersuchte, fanden nicht einmal zehn Prozent der Probanden die richtige Lösung. Aber der Reihe nach: Vermutlich haben Sie die Karte mit dem D umgedreht. Das ist richtig, das machen praktisch alle. Man überprüft, ob auf der Rückseite eine 3 zu finden ist. Vermutlich haben Sie die Finger von der Karte mit dem K gelassen. Sie spielt für unseren Test schließlich keine Rolle. Auch das erkennen die allermeisten. Nun aber zur Falle in diesem Test: Fast alle Versuchsteilnehmer drehen die Karte um, auf der die 3 steht. Man will überprüfen, ob auf der anderen Seite ein D zu sehen ist. Doch wenn man genauer darüber nachdenkt, bemerkt man: Auf der anderen Seite könnte jeder Buchstabe stehen. Das bedeutet: Die Karte mit der 3 ist für unser Rätsel ebenso unwichtig wie die Karte mit dem K. Viel wichtiger jedoch ist die Karte mit der 7. Denn stünde auf der anderen Seite ein D, hätten wir die These „Jede Karte mit einem D auf der Vorderseite hat eine 3 auf der Rückseite“ widerlegt! Nun zur zweiten Aufgabe, dem Barkeepertest. Hier ist die Lösung offenkundig. Natürlich dreht man die Karte mit dem Bier um – und die Karte „15 Jahre“. Die Cola darf schließlich jeder trinken. Und mit 24 ist man alt genug, um Alkohol zu bestellen.

Warum sind diese beiden Tests aus psychologischer Sicht so aufregend? Nun, von der Form her handelt es sich jeweils um genau dieselbe Aufgabe. Nur einmal mit Zahlen und Buchstaben, das andere Mal mit Getränken und Altersangaben. Die erste Form machen fast alle Menschen falsch. Die zweite Form machen praktisch alle richtig. Was verrät das über unser Denken? Psychologen haben auf diese Frage eine Reihe unterschiedlicher Antworten geliefert. Die wichtigste lautet so: Menschen neigen dazu, einen sogenannten „Bestätigungsfehler“ zu begehen (confirmation bias). Das heißt, man möchte gerne das bestätigt haben, was man ohnehin schon glaubt. Zum Beispiel: „Jede Karte mit einem D auf der Vorderseite hat eine 3 auf der Rückseite.“ Beispiele für den „Bestätigungsfehler“ im Alltag gibt es genug: Wir schlucken ein Hustenmittel aus der Apotheke. Drei Tage später ist die Erkältung weg. Also preisen wir den Hustensaft als Zauberelixier – und übersehen dabei, dass die Halsschmerzen auch ganz von selbst verschwunden wären. Wer einer linksliberalen Gesinnung nachhängt, liest gerne Zeitungskommentare, die diese Haltung bestätigen – und meidet zum Beispiel die Kommentare rechtspopulistischer Blätter. Und wenn wir doch einmal eine Agenturmeldung lesen, die unserer Meinung widerspricht? Dann sehen wir vermutlich die „Lügenpresse“ am Werk. Manchmal halten wir auch dann an einer falschen These fest, wenn wir sehen, dass unsere Alltagserfahrung ihr widerspricht. Woran liegt

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das? Der US-Psychologe Joshua Klayman meint: Weil es so kompliziert und schwierig ist, sich etwas Neues auszudenken. Genau deshalb entstehen Erfindungen ja auch meist zufällig. Klayman erzählt als Beispiel gerne die Geschichte des „Lutefisk“, einer berüchtigten norwegischen Fischspezialität. Angeblich entstand das Rezept folgendermaßen: Die Wikinger waren einmal wieder dabei, Irland zu überfallen. Die irischen Fischer sahen die nahenden Drachenboote und dachten sich: Wenn wir schon unseren Fisch nicht in Ruhe essen können, dann sollen ihn auch die Norweger nicht haben! Also kippten sie eine Brühe aus Birkenasche über ihren Dorsch und verdrückten sich ins Hinterland. Die Wikinger fanden den übel zugerichteten Fisch, hielten ihn für einen irischen Geheimtipp und kosteten davon. Sie bemerkten dabei zweierlei: Erstens, dass man von dem Fisch nicht sofort krank wurde oder gar daran starb. Und zweitens, dass der Geschmack nur etwas für sehr mutige Kerle war. Stolz und begeistert trugen sie das neue Rezept zurück in die heimischen Fjorde, wo es noch heute traditionell an Weihnachten gereicht wird. Dazu gibt es sehr viel Alkohol – aber hoffentlich nur für Wikinger, die bereits über 16 sind.

ZUM WEITERLESEN 89 Tests und ihre Auflösungen – ein unterhaltsamer Reiseführer durch das Reich der modernen Psychologie. Ben Ambridge: Das PsychoTest-Buch. Knaur, 19,99 Euro

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PEHNTS ALLTAG

LOB UND WAHRHAFTIGKEIT Neulich habe ich meine alte Lehrerin getroffen. Alle paar Jahre lädt sie mich zum Tee ein, und immer finde ich eine Ausrede. Aber diesmal hatte ich plötzlich die Befürchtung, es könnte das letzte Mal sein. Wenn ihre Todesanzeige im Briefkasten läge, wäre es nicht wieder gutzumachen. Also riss ich mich zusammen und ging hin, mit englischem Buttergebäck, weil sie das besonders gemocht hatte, damals, als sie laut, dick und klug war und uns alle um sich scharte, uns Schülerinnen. Sie lud uns zu sich nach Hause ein. Zuerst sagte sie uns ohne Umschweife, wie wir aussahen: übernächtigt, zerstreut oder verschlafen. Dann stellte sie uns unlösbare Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach unseren Vorstellungen von Zusammenleben und Gerechtigkeit, heizte uns noch ein wenig ein, und dann lehnte sie sich zurück, aß Unmengen von Gebäck und genoss das Gefecht. Oft fuhr sie auch dazwischen, und manchmal nahm sie uns einfach dran, obwohl wir doch auf ihrer Terrasse saßen und nicht in der Schulklasse. Wenn wir nicht mehr weiterwussten, schüttelte sie unwirsch den Kopf 78

Die Schriftstellerin Annette Pehnt (u. a. Briefe an Charly, Piper 2015) schreibt jeden Monat in PSYCHOLOGIE HEUTE über ihre Alltagsbeobachtungen www.annette-pehnt.de

und tadelte uns. Weil sie eine imposante Gestalt war, die Haare hoch aufgetürmt zu einer goldenen Tolle, die Blusenärmel etwas hochgekrempelt, mit breiten Schultern und stämmigen Waden, sanken wir dann immer ein wenig in uns zusammen, obwohl wir ja schon fast erwachsen waren und uns freiwillig unter ihrer Knute versammelt hatten. Sie lobte uns nie; wenn ihr etwas gefiel, nickte sie kurz. Wir waren es nicht anders gewöhnt. Lob gab es selten, und immer musste es verdient werden. Erst viel später kam die große Inflation, und alles war einfach nur toll. Die Generation meiner Kinder wundert sich über Rückmeldungen, die aus einzelnen Wörtern bestehen, „gut“ zum Beispiel. Sie denken dann immer, da müsse doch noch etwas kommen. Gewohnt sind sie ausschweifende Lobesgirlanden: „wirklich echt schön“, „sehr, sehr intensiv“, „ganz besonders toll“. Mit Freude und Lob wird jede ihrer Regungen begrüßt. Für sie ist die Welt voller Resonanz, ein Ort der Zustimmung und der Herzlichkeit. Immer wird dem Kind zunächst gratuliert, dass es da ist. PSYCHOLOGIE HEUTE

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ich entsetzt beobachtete, wie sie mit zitternden Fingern den Tee in die Kanne löffelte. Wir brauchten eine Weile, bis wir mit unseren Tassen auf der Terrasse saßen. Hilflos redete ich gegen die Zittrigkeit an, erzählte wild aus meinem Leben und versuchte, die Krümel zu übersehen, die ihr auf die Bluse fielen. Anders als früher, wo sie uns nicht aus den Augen gelassen hatte, starrte sie vor sich hin, und ich fing schon an, im Kopf zu überschlagen, wann ich wieder gehen könnte, ohne dass es allzu unhöflich wäre. Da hob sie den Kopf und unterbrach mich. „Und lässt sich denn Ihrer Ansicht nach zwischen all diesen Begebenheiten ein Zusammenhang herstellen?“, fragte sie scharf. Ich verstummte schlagartig. Es war klar, was sie wollte: Ich sollte aufhören zu plappern und anfangen zu denken. Und zugleich sollte ich sofort aufhören, sie zu bemitleiden. Ich senkte den Blick und wusste nicht mehr weiter. Eine Weile schwiegen wir beide. Sie muss sich gewundert haben über mich; über meine verlegene Redseligkeit und den fehlenden roten Faden, ohne den sie Gespräche nicht durchgehen ließ. Vielleicht wollte sie auch einfach nur prüfen, ob ich überhaupt noch einen Funken von Scharfsinn in mir hatte. Fiebrig suchte ich nach einer klugen Antwort. Der Zusammenhang war, dass ich zerrissen war vor Mitleid mit dem gealterten Habicht und meine Rührung nicht zeigen durfte. Aber genau das konnte ich natürlich nicht sagen. Und dann sagte ich es doch. „Ich wusste einfach nicht, was ich sagen sollte. Wir haben uns so lange nicht gesehen, und Sie haben sich ziemlich verändert.“ Sie ließ die Teetasse sinken. Und dann schaute sie mir direkt ins brennende Gesicht und nickte kurz. Ich wusste, was dieses Nicken bedeutete: Es war ihr größtes Lob. Ich hatte eine Prüfung bestanden, und die war nicht weniger streng, nur weil die Prüferin inzwischen am Stock ging. Ich wünschte, ich könnte sagen, ich hätte sie seitdem oft besucht. Oder öfter wahrhaftig gesprochen. Ich fürchte, so ist es nicht.

Herausgegeben von Wulf Bertram

Am Anfang war das (Sprich-) Wort

Irrtum und Preisänderungen vorbehalten. Abb.: Bild im Besitz des Autors (Kungfu Painting Co.)

ILLUSTR ATION: MAGDA WEL

Inzwischen bin ich in Workshops, Kursen, Klassen und in meiner Familie eine geübte Ermutigerin, Loberin und Förderin geworden. Schwierig wird es immer dann, wenn ich jemanden auf einen Fehler, eine Schwachstelle oder etwas Misslungenes hinweisen muss. Die jungen Leute ducken sich wie unter Peitschenhieben, obwohl ich natürlich niemals direkt den Finger in die Wunde legen würde. Nein, ich lobe zunächst, ich freue mich über dieses und jenes, dann schlage ich behutsam einige Veränderungen vor. Gleich zittern die Unterlippen; ein verdächtig feuchter Glanz legt sich über die Augen, und eine schlecht verborgene Verzweiflung greift um sich. Andere starren mich fassungslos an, recken dann kämpferisch das Kinn und weisen alles von sich. Wortgewandt weisen sie mir nach, wie falsch ich liege und wie blind ich sei. Kritik ist heutzutage eine heikle Angelegenheit, und ich muss mit allem rechnen. Mit den Jahren bin ich zwar ungeduldiger geworden und benutze beim Kritisieren weniger Einwickelpapier, aber Diplomatie ist auf jeden Fall immer gefragt. Meine alte Lehrerin sah das anders. Man musste sich vor ihr bewähren. Wir sollten unseren Blick schärfen, unsere Gedanken überprüfen, wir sollten uns nicht einrichten in unserem sanften Geplauder und unseren wattigen Ideen. Immer wenn wir nachließen und in erschöpften Smalltalk auswichen, stieß sie wie ein Habicht mit der nächsten Frage in unsere Runde. Unbequem war es damals bei meiner alten Lehrerin. Und deswegen hatte ich, als ich neulich vor der Tür meiner alten Lehrerin wartete, Herzklopfen, als stünde mir eine Prüfung bevor. Ich bin es nicht mehr gewöhnt, kurz gemustert zu werden und gesagt zu bekommen: „Sie sehen aber gar nicht gut aus. Dann erklären Sie mal.“ Aber als sie die Tür öffnete, war mir sofort klar, dass der Habicht gebrochene Flügel hatte. Wer nicht gut aussah, war sie. Sie war schmal geworden und hielt sich am Türrahmen fest. Die Kekse konnte sie nicht nehmen, weil sie sich auf einen Stock stützte; ich trug sie ihr in die Küche, wo

Jeder kennt Sprichworte und setzt sie im Alltag ein, doch was ist dran, an „Gelegenheit macht Liebe“ oder „Kleider machen Leute“? Der Neurowissenschaftler und Philosoph Manfred Spitzer geht diesen beiden Redewendungen auf den Grund und zeigt, was die Gehirnforschung zu ihnen zu sagen hat. Außerdem fragt er, warum blaues Licht schlaflos macht und der ständig im Hintergrund laufende Fernseher sprachlos. Er berichtet von Menschen, die lieber an zwei sich widersprechende Verschwörungstheorien glauben als an die Wahrheit, und von Menschen, die lieber zu Elektroschocks greifen als mit ihren Gedanken alleine zu sein. Wenn Sie nun denken, dass das doch mit dem Teufel zugeht, dann sind Sie hier ebenfalls richtig, denn auch ihm ist ein Kapitel gewidmet. 2016. 320 Seiten, 79 Abb., 10 Tab., kart. € 24,99 (D) / € 25,70 (A) | ISBN 978-3-7945-3173-8


BUCH& KRITIK

REDAKTION: KATRIN BRENNER-BECKER

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Wie sinnvoll ist mein Leben? Carlo Strenger analysiert die weitverbreitete Angst, die eigenen Potenziale nicht auszuschöpfen

Carlo Strenger ist in Basel geboren; heute lebt und lehrt er in Israel. Der in einer orthodoxen jüdischen Familie aufgewachsene Philosoph und Psychoanalytiker gehört zu den originellen Denkern der Gegenwart. Schon auf der ersten Seite zitiert er Immanuel Kant, und das ist Programm: Strenger, erklärter Freigeist, Atheist und Weltbürger, versteht sich als Parteigänger der Aufklärung. Diese sieht er weltweit bedroht und dringend der Wiederbelebung bedürftig. Denn unserem Zeitalter mangele es immer mehr an der Bereitschaft und Fähigkeit zum kritischen, unabhängigen Denken. Laut Strenger leben wir in einer Epoche des dogmatischen Schlummers, die dominiert wird von Menschen, „deren Identität in erster Linie dadurch definiert wird, dass sie Teile des globalen Infotainmentsystems sind“. Dieses Zur-Ware-Werden unseres Selbst, von Strenger etwas umständlich „Kommodifizierung“ genannt, führt zu einer Instabilität der Selbstachtung und zum Zweifel daran, ob das eigene Leben wirklich sinnvoll sei. Dem daraus resultierenden existenziellen Unbehagen begegnet die Moderne mit Psychopharmaka und einer seichten „Popspiritualität“. „Viele Menschen in der globalisierten Welt leiden an tiefgreifenden existenziellen Angststörungen und dem fortwährenden Gefühl, dass sie kein Leben leben, das wirklich Sinn hat“, meint der Autor. Er zeigt, dass der Großteil dieses Leidens nicht psychopathologisch ist, sondern ein Resultat der Auswirkungen, die „der globale Markt der Ich-Kommodifizierung auf uns alle hat“. Diese treffende Diagnose ist nicht eben neu. Schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges hat der US-Wissenschaftler David Riesman den ersten „soziologischen Weltbestseller“ veröffentlicht: das PSYCHOLOGIE HEUTE

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Buch The Lonely Crowd (Die einsame Masse, deutsch 1956). In der modernen Dienstleistungs- und Konsumgesellschaft trete zunehmend ein neuer „Charaktertyp“ auf, der nicht mehr traditions- oder innengeleitet sei, sondern durch den Einf luss seiner Mitmenschen gesteuert. Strenger dehnt diese Argumentation auf die moderne digitalisierte Gesellschaft aus, für die er das „Infotainment“ für charakteristisch hält. Strengers Analyse liest sich überwiegend flüssig und spannend. Am beeindruckendsten finde ich die Passagen, in denen er über seine Auseinandersetzung mit ultraorthodoxen Juden berichtet. Manchmal gerät die Lektüre etwas zäh durch seine Neigung, in großem Umfang andere Autoren zu zitieren und zu rezensieren, wo man lieber mehr über seine eigenen Gedanken erfahren hätte. Unterm Strich bleibt ein positiver Eindruck – denn Strenger trifft vollends ins Schwarze, wenn er gegen Ende seines Textes schreibt: „Wie hoch der Preis ist, den wir dafür zahlen, dass die Bürger keine Ahnung haben von den Grundlagen politischen Denkens, sehen wir täglich im Fernsehen. Hier haben wir das traurige Schauspiel einer auf kurze Soundclips reduzierten Politik vor Augen, einer Politik, die zu einem Unterhaltungsspektakel verkommen ist, hinter dem ihre eigentliche Aufgabe, das Nachdenken über das Gemeinwohl, vollkommen zurücktritt.“ TILL BASTIAN

„Nur ein Geschöpf, das weiß, dass seine Zeit begrenzt ist, kann die Frage stellen: ‚Lebe ich ein lebenswertes Leben?‘“ CARLO STRENGER

Carlo Strenger: Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Das Leben in der globalisierten Welt sinnvoll gestalten. Aus dem Englischen von Irmela Köstlin. Psychosozial, Gießen 2016, 323 S., € 34,90

Leseprobe in der App

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Die späten Jahre Drei Bücher beleuchten die Frage: Wie kann man mit Würde und Freude älter werden, wenn in der Gesellschaft die „Ideologie ewiger Jugendlichkeit“ herrscht?

Es gehört zu den bemerkenswerten Widersprüchen unserer Gesellschaft: Während der Anteil der älteren Menschen an der Bevölkerung wächst, wird die Jugend verherrlicht. In der Arbeitswelt oder in der Werbebranche setzt man auf die Lebensenergie und Innovationskraft von Menschen unter 40. Die Senioren hingegen werden mit Demenz oder mit der Krise des Rentensystems in Verbindung gebracht. Wenn ihnen doch Lob zugeteilt wird, dann als Silver Surfer, Cougar-Frauen oder Best Ager sprich: Junggebliebene. Drei Bücher befassen sich mit diesem Phänomen – aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Bereits in der Einleitung von Ewige Jugend prangert der Literaturwissenschaftler und Philosoph Robert Pogue Harrison den Jugendkult an: Er trenne die Generationen voneinander, sodass der Erfahrungsschatz der Älteren den Jüngeren nicht mehr zur Verfügung stehe. „In Wahrheit entzieht das Zeitalter als Ganzes wissentlich oder unwissentlich den jungen Leuten das, was sie am meisten brauchen, wenn sie sich entfalten sollen“, urteilt der Autor. 82

Der Leser mag zunächst abgeschreckt sein vom sperrigen Stil und von schwerverständlichen Passagen über die sogenannte „Neotenie“, einen aus der Biologie entliehenen Begriff, den Harrison als Weiterleben des inneren Kindes im Erwachsenenalter versteht. Wer sich aber durch die Theorie kämpft, kommt zur interessanten Hauptthese: Ohne Bezug zur Vergangenheit und eine Art Weiterleitung derselben in die Gegenwart droht eine Verkümmerung der Kultur. Richtige Revolutionen – die Erfindung der Philosophie, das Christentum, die Geburt der amerikanischen Republik – seien nicht nur Ergebnisse eines rebellischen und zukunftsorientierten Drangs, sondern auch Folgen der Weisheit, die das Erbe der Geschichte antritt und weitergibt. Wollen wir wirklich jung bleiben und dennoch gleichzeitig reif sein, so Harrison, sollten wir die historische Tiefe der Gegenwart wiederentdecken und Heranwachsende dafür sensibilisieren. Dazu empfiehlt der Autor unter anderem die Abschaltung der „Geräte, die uns so fesseln“ und „die Welt auf Bildschirmformat verkleinern“.

Zu diesem Kulturpessimismus lässt sich Julia Onken hingegen nicht hinreißen. Ihr Buch Im Garten der neuen Freiheiten ist auch der Frage gewidmet: Wie kann man mit Würde und Freude älter werden, wenn in der Gesellschaft die „Ideologie ewiger Jugendlichkeit“ herrscht? Die kurze Abhandlung der 74-jährigen Autorin aus der Schweiz hat keinen kulturwissenschaftlichen Anspruch und liest sich dementsprechend viel leichter. Onken hat vor allem einen spezifischen Fokus: Frauen. „Bei allen Frauen ist das Nachlassen der körperlichen Schönheit eine Tragödie von besonderem Ausmaß“, stellt die Autorin und Psychotherapeutin fest.

Robert Pogue Harrison: Ewige Jugend. Eine Kulturgeschichte des Alterns. Aus dem Englischen von Horst Brühmann. Hanser, München 2015, 288 S., € 24,90

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Begutachtung psychisch reaktiver Traumafolgen Krieg, UnglĂźck, aber auch von Heiterkeit und Zufriedenheit geprägt sind. Etwas plump sind manchmal die Lehren, die die Autorin aus ihren Begegnungen zieht. Weniger lebensklug als platt klingen Sätze wie „Jeder Mensch braucht in seinem Leben ein spezielles Interesse“ oder „Man muss nicht immer erst unsterblich verliebt sein, um lieben zu kĂśnnen“. 100 Jahre Leben ist dennoch lesenswert. Es zeigt, dass viele Frauen tatsächlich ihr Leben mehr auf die Partnersuche ausgerichtet haben als Männer und dabei auch in finanzielle Abhängigkeit geraten. Mathilde, Mariska oder Agnes scheinen sich aber irgendwann vom Diktat der Attraktivität befreit zu haben, um im hohen Alter ein selbstbestimmtes Leben zu fĂźhren – ganz nach Onkens Modell. Was das gute – und nicht perfekte – Leben ausmacht, ist das gemeinsame Thema der drei Autoren, so unterschiedlich ihre Herangehensweisen und Schreibstile sind. FĂźr Harrison muss sich eine Gesellschaft die Frage ihres kulturellen Alters stellen, denn nur so kann sie vernĂźnftig mit den kommenden Generationen umgehen und ihren Bildungsauftrag ihnen gegenĂźber erfĂźllen. FĂźr Onken geht es darum, im Auf und Ab der eigenen Biografie ein „gutes Einverständnis mit sich selbst“ zu erreichen. Egal wie man zu diesen einzelnen Aufforderungen steht, sie sind angenehm reflektiert – jenseits der Ăźblichen Klagelieder Ăźber die Vergreisung der Gesellschaft und genauso weit entfernt vom aufgesetzten Optimismus der Marketingexperten, die Best Ager vor allem fĂźr ihre Kaufkraft schätzen. CLAIRE-LISE TULL

TRAUMA & GEWALT p geht den Weg von der Klinik dorthin, wo Gewalt entsteht p diskutiert die Prävention von Gewalt und die Entgegnung von Gewalt p verbindet die klinische Sicht mit gesellschaftlichen Perspektiven #*" '" #

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TRAUMA GEWALT

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Es liege nicht daran, dass Frauen oberflächlich seien und mehr Wert auf Ă„uĂ&#x;erlichkeiten legten, sondern daran, dass sie so erzogen wĂźrden. Die Aufforderung, schĂśn zu sein, sei etwas, was Mädchen bereits im Kleinkindalter verinnerlichen: „Sei hĂźbsch, räkle dich, richte dich her, mach das Beste aus deinem Ă„uĂ&#x;eren, denn du musst vor allem eines: gefallen“, laute die frĂźhe, oft unbewusst Ăźbermittelte Botschaft in vielen Familien. Attraktiv bleiben, einen Partner finden und behalten sei fĂźr Frauen eine lebenslange Herausforderung. Im fortgeschrittenen Alter hätten es Frauen daher noch schwerer als männliche Altersgenossen. Dies sei kein Grund zum Verzweifeln, meint die Autorin. Sie setzt auf individuelle Strategien gegen das Jugenddiktat. Der Vorschlag, sich als „Teil eines groĂ&#x;en zusammenhängenden Weltorganismus“ zu begreifen, mutet freilich esoterisch an. Interessanter sind ihre Ratschläge, vorhandene Beziehungen zu klären und Selbsterforschung zu betreiben: Nur wer sich selbst kennt, kann selbstbestimmt altern. Diese Lehre lässt sich auch aus den Porträts von Hundertjährigen ziehen, die die Journalistin Kerstin SchweighĂśfer in 100 Jahre Leben gesammelt hat. Ihr Buch taugt als Antwort auf Harrison, denn darin ist der RĂźckgriff auf den Erfahrungsschatz der älteren Generation geradezu beispielhaft. Da ist Mathilde, die Bäuerin aus SĂźddeutschland, die ihren Mann betrogen hat und dafĂźr einen hohen Preis zahlen musste. Oder Mariska, die passionierte Malerin aus Ungarn, die genau weiĂ&#x;: „GlĂźck ist kein Dauerzustand.“ Alles normale, exemplarische Schicksale, die von

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Heft 2 / 2016; ₏ 24,–

Jetzt testen im Startpaket! 2 Ausgaben fĂźr

nur

â‚Ź 22 / sFr 24 zzgl. Versand

Julia Onken: Im Garten der neuen Freiheiten. Ein ReisefĂźhrer fĂźr die späten Jahre. C. H. Beck, MĂźnchen 2015, 176 S., â‚Ź 14,95

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Kerstin SchweighĂśfer: 100 Jahre Leben. Welche Werte wirklich zählen. Hoffmann und Campe, Hamburg 2015, 368 S., â‚Ź 20,–

BestellmĂśglichkeiten unter www.traumaundgewalt.de


AUFGEBLÄTTERT

Das geliebte Ringelshirt, der mit

darunter Kim Gordon, Lena Dunham und Cindy Sherman.

glitzernden Schmetterlingen bedruckte

Sie wurden gefragt: Was ist für dich der Unterschied zwi-

Rock, die Jeans mit den zerschlissenen

schen Anziehen und Schickmachen? Erzähl uns davon, was

Nähten — Frauen und Kleider (S. Fischer,

du im Schrank hast, aber nie trägst. Nach welchem Klei-

€ 24,99) sind ein immerwährendes The-

dungsstück bist du noch immer auf der Suche? Wenn du all

ma. Ein ungewöhnliches Lesebuch ha-

deine Kleider weggeben müsstest, was würdest du behal-

ben Leanne Shapton, Sheila Heti und

ten? Ein inspirierender, interessant illustrierter Band, in den

Heidi Julavits zusammengestellt. Es ent-

man lange abtauchen kann.

stand auf der Grundlage eines Fragebogens, den die Autorinnen an 500 Frauen auf der ganzen Welt geschickt haben,

40 Prozent der Deutschen leiden im Laufe ihres

Als die Pille am 1. Juni 1961 in die west-

Lebens an einer psychischen Störung. Doch der

deutschen Apotheken kam, wurde sie

Gang zum Psychotherapeuten bringt viele Fragen

ausschließlich verheirateten Frauen mit

mit sich: Welches ist die richtige Therapieform?

mehr als zwei Kindern verschrieben. In der

Müssen überhaupt alle Störungen in einer Psycho-

DDR gab es deutlich weniger Hürden:

therapie behandelt werden? Was passiert in einer

1970 konsumierten bereits 16-Jährige ohne

ambulanten, was in einer stationären Psychothe-

Einwilligung der Eltern das kleine Dragee,

rapie? Welche Risiken und Nebenwirkungen hat

und nur zwei Jahre später war das Medika-

eine Therapie? Und: Wann ist sie

ment für alle Frauen kostenlos. Heute nehmen 87 Prozent

eigentlich beendet? Der informa-

der 14- bis 17-jährigen Mädchen die Pille — viele nicht wegen

tive Wegweiser Psychotherapie

ihrer verhütenden Wirkung, sondern aufgrund der er-

(Thieme, € 19,99) von Andrea

sehnten Nebeneffekte: volleres, glänzenderes Haar, eine

Dinger-Broda und Michael Broda

größere Oberweite, reinere Haut. Für ihr Buch Die Pille und

bringt Orientierung ins Dickicht

ich (C.H. Beck, € 14,95) hat Katrin Wegner mit 250 Frauen

der Psychotherapielandschaft

aus drei Generationen über die Bedeutung der Pille in

und baut Berührungsängste ab.

ihrem Leben gesprochen. Ihr Fazit: Einst ein Symbol der sexuellen Befreiung, ist die Pille zur Lifestyledroge geworden, die jungen Mädchen dazu dient, den eigenen Marktwert zu steigern.

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Marion Elling-Chong Luna Stressbefreiung + Entspannung Am MĂźhlweiher 1 78052 Villingen-Schwenningen www.Praxis-SonnenSeite.de

Erzähl mir nix! Werner Siefer versucht zu klären, warum das Gehirn in Geschichten denkt

Ich bin Mitglied im VFP weil: ... mich die ersten Telefonate sofort von der Engagiertheit und Kompetenz Ăźberzeugt haben

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theorien, erzählende Literatur vor allem des 20. Jahrhunderts und um Philologie geht, gerät seine Darstellung in den Bereich des Haarsträubenden. Dass ein Zeitschriftenredakteur, Ressort „Technik und Forschung“, mĂśglicherweise nicht ĂźbermäĂ&#x;ig viel mit dem einst in England lebenden amerikanischen Romancier Henry James (1843–1916), einem Autor ausgreifender psychologischer Romane, anfangen kann, mag ja noch angehen. Henry James allerdings als kaum bekannten Schriftsteller zu deklarieren, seinen Bruder, den Philosophen und Psychologen William James hingegen mit einem groĂ&#x;en, dafĂźr konventionellen Lob zu versehen ist mehr als anfechtbar. Vor allem wenn Siefer William James falsche Lebensdaten mitgibt. Es mutet denkwĂźrdig an, dass ein Haus wie der Carl-Hanser-Verlag, der eine stattliche Reihe von Literaturnobelpreisträgern in seinem Programm verzeichnet, diese grĂśĂ&#x;tenteils ahnungsfreien Passagen zum Druck hat freigeben kĂśnnen. Noch merkwĂźrdiger ist, dass zwar eine FĂźlle an Studien aufgefĂźhrt wird und zahlreiche Namen fallen – so mancher davon ohne Vornamen –, Siefer aber Ăźberzeugt ist, auf eine Literaturliste zum vertiefenden Nachlesen verzichten zu kĂśnnen.

... ich Antworten bekomme rund um die FĂźhrung einer Praxis ... er wirklich gute Verbandsarbeit leistet ... er innovative Projekte entwickelt, z. B. den Therapeuten-Notdienst Informationen Ăźber den VFP erhalten Sie hier: Verband Freier Psychotherapeuten, Heilpraktiker fĂźr Psychotherapie und Psychologischer Berater e.V. Lister Str. 7, 30163 Hannover Telefon 05 11 / 3 88 64 24 www.vfp.de | info@vfp.de

VFP

Gelungene Kommunikation erleichtert das Leben

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„Ich bin ein Erzähler!“ Mit dieser Behauptung setzt das Buch Werner Siefers ein. Es kreist um den Erzählinstinkt und dessen unmittelbare Folgen: soziale Kommunikation, das Entstehen eines Ichs, die Organisation eines Lebens durch Narration, durch Erzählen also. Siefer, Diplombiologe und Wissenschaftsredakteur, präsentiert eine Collage ausgewählter Studien und Untersuchungen, deren Ergebnisse er geschmeidig referiert. Das macht er mit leichter Hand. In die eigene Argumentationskette fädelt er viele Einsichten klinischer Studien ein. Dies sind die interessantesten Partien dieses Buches. Daneben befleiĂ&#x;igt sich der Journalist und mehrfache Buchautor einer dramaturgischen Form, die Zugänglichkeit suggerieren soll: Jedes Kapitel richtet sich in Briefform an eine Person namens Maurice. Warum aber denkt das Gehirn nun in Geschichten? Wie macht es das? Wie beim Kleinkind, wie im Erziehungsumfeld, wie im Alter, wenn eventuell erinnerungsschwächende Krankheiten auftreten? Und ist nicht Konfabulation, die Selbstproduktion und Autosuggestion falscher Erzählungen, auch Erzählen? Wie kann nun Erzählen gemeinschaftsstärkend, ja „wir-herstellend“ sein? Das Problematische dieses Buches ist: Siefer surft viel lieber den Uferbereich des Konkreten entlang, als dass er sich weit hinaus zu den Atollen des Abstrakten wagt. Sein Prinzip des nahezu kritiklosen Arrangierens verhindert dies. Und man realisiert ein wenig verdrossen, dass sich der Autor entschlossen hat, auf Originalität zu verzichten. Vor allem im dritten Kapitel „Die Dichtung und die Welt“, in dem es um Erzähl-

ALEXANDER KLUY

Werner Siefer: Der Erzählinstinkt. Warum das Gehirn in Geschichten denkt. Hanser, MĂźnchen 2015, 271 S., â‚Ź 19,90

Sie erfahren, wie Sie gekonnt Sprechen und gut verstanden werden. Zahlreiche Beispiele und Ăœbungen aus dem Alltag zeigen, was unser Sprechen eindeutig, individuell und respektvoll macht. Leseprobe unter www.beltz.de


Für alle, die es wissen wollen.

Ohne Bildung kein Überleben.

Nicht Klima, nicht Rohstoffe, sondern Bildung ist der Schlüsselfaktor für das Überleben der Menschheit. Gesellschaften, in denen Breitenbildung gefördert wird, stehen heute bildungsfernen, teils fundamentalistischen gegenüber, die keine Antworten auf die sozialen und technologischen Herausforderungen unserer Zeit haben. Klingholz und Lutz stellen klar: Wir stecken mitten in einem Kampf der Bildungskulturen. Und der betrifft uns alle, denn Armut, Verzweiflung und Terror machen vor Grenzen nicht halt. Es ist Zeit, global in Bildung zu investieren! »Das glänzend geschriebene Buch ist ein einziges leidenschaftliches Plädoyer für mehr globale Verantwortung..« Vorwärts 2016. 300 Seiten. Gebunden ISBN 978-3-593-50510-7 Auch als E-Book erhältlich

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Herr im eigenen Haus Philipp Hübl entlarvt den Mythos von der Macht des Unbewussten Was haben Sigmund Freud und Neurowissenschaftler gemeinsam? Sehr wenig, könnte man meinen. Die Psychoanalyse sucht die Ursachen des Seelenleids vorwiegend in der Familiengeschichte des Patienten. Für Hirnforscher hingegen sind es vor allem biologische Prozesse, die über unser Wohlbefinden entscheiden. In seinem Buch Der Untergrund des Denkens sieht der Philosoph Philipp Hübl über diesen Unterschied hinweg und empfiehlt: Glaubt weder den einen noch den anderen! Den Anhängern der Psychoanalyse wirft er vor, das Wesen und die Natur von Wünschen zu verkennen. Diese lägen weder verdrängt noch verschlüsselt im Unbewussten, wie „Freuds obskure Triebtheorie“ besagt. Hinter unserem Tun-, Sein- oder Habenwollen stecke nichts anderes als die Wünsche selbst – und schon gar kein sexuelles Verlangen. In ähnlich prüfender Manier geht Hübl an die Neurowissenschaften heran. Jede Veränderung im Bewusstsein geht mit einer Hirnaktivität einher, räumt der Autor ein. Doch daraus zu schließen, den menschlichen Geist könnte man allein anhand jener Prozesse analysieren, die im Gehirn ablaufen, sei ein gravierender Fehler zahlreicher Wissenschaftler. Aus diesen spezifischen Einwänden folgt eine allgemeinere Kritik: Psychoanalytiker und Hirnforscher würden unsere Entscheidungsfreiheit verkennen. Indem sie dem Unbewussten eine zu große Rolle im menschlichen Verhalten zuschrieben, unterschätzten sie unsere Fähigkeit, rational und reflektiert zu handeln. Wir sind die Herren im eigenen Haus, lautet Hübls zentrale These. Das Unbewusste, wie auch immer es definiert wird, ist für den Autor eine harmlose Nebensache: „Unbewusste Prozesse haben selten einen Effekt; wenn sie einen haben, ist er meist schwach, und wenn ein be-

wusster Effekt stark ist, können wir ihn auch bewusst kontrollieren.“ Dieses Plädoyer für eine Wiederentdeckung der menschlichen Gestaltungsfähigkeit hat durchaus etwas Sympathisches. Freiheit, Bewusstsein, Vernunft kommen damit zu neuem Glanz – und das sticht angenehm hervor in einer Zeit, in der angeblich überall dunkle Mächte wie die Algorithmen, die Pheromone oder die Werbebranche am Werk sind, um klammheimlich auf uns einzuwirken. Leider muss der Leser Hübl viel Geduld entgegenbringen, um sich durch das Dickicht seiner Argumente zu kämpfen. Auch die Art und Weise, wie der Autor philosophiert, ist nicht jedermanns Sache: Er führt viele konkrete Beispiele an, beansprucht für sich eine Denkweise, die über die klassische Arbeit an Begriffen hinaus auch „eine empirische Komponente“ hat. Psychologische Labortests dienen als Rohmaterial. Am Ende ist der Text leider überladen mit der Beschreibung unzähliger Studienprotokolle und widersprüchlicher Ergebnisse, die keineswegs das Vertrauen in die Aussagekraft des Experimentellen wecken. Seltsam ist, dass Hübl sich dieser Methode bedient, aber gleichzeitig von ihrer Begrenztheit referiert. Allen Moden zum Trotz sollten Philosophen gründlicher überlegen, ob und wie sie mit der experimentellen Psychologie und den Naturwissenschaften auf deren Terrain konkurrieren wollen. CLAIRE-LISE TULL

Philipp Hübl. Der Untergrund des Denkens. Eine Philosophie des Unbewussten. Rowohlt, Reinbek 2015, 478 S., € 19,95

PSYCHOLOGIE HEUTE

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Sagen Sie mal, Frau Katerle: Wie können Paare mit unerfülltem Kinderwunsch ihre Liebe bewahren?

Stephanie Katerle ist Coach und Paarberaterin; ihr Ansatz ist systemisch, prozess- und lösungsorientiert. Schwerpunktmäßig berät sie Paare in schwierigen Lebens- und Beziehungsphasen.

Warum dominiert der Wunsch nach einem Kind bei manchen Paaren das gesamte Leben?

Ein Kinderwunsch ist ein Lebenstraum. Solche Träume lassen sich nicht abstellen, sie wirken intensiv. Solange es einen winzigen Funken auch noch so irrationaler Hoffnung gibt, lassen viele Wunscheltern nichts unversucht. Für sie gehören Kinder und Familie zur persönlichen Identität. Ohne sie fühlen sie sich nicht vollständig. Oft geben sie sich und manchmal auch ihr Liebesglück ohne Rücksicht auf das eigene Wohlergehen für ihren Wunsch auf. Leiden Frauen mehr als Männer?

ILLUSTR ATION: JAN RIECKHOFF

Seelisch leiden Frauen und Männer gleich stark unter unerfülltem Kinderwunsch. Für Frauen hat das Warten aufs Kind aufgrund unserer sozialen Gefüge größere negative Bedeutung. Viele Frauen rechnen die Babypause in ihre Biografie mit ein und halten sich in der aktivsten beruflichen Phase deswegen zurück. Sie erleben sogar manchmal einen Karriereknick – und das ganz ohne Kind. Das ist extrem frustrierend und belastend für die Frauen.

fühlen sich dann wie auf einer Insel: rundherum das Leben und auf der Insel große Leere. Ist es legitim, dem Wunsch nach einem Kind eine so hohe Priorität einzuräumen, dass man sich einen anderen Partner sucht, wenn es mit dem jetzigen nicht klappt?

Paare sollten ehrlich miteinander sein. Kommt einer von beiden zum Schluss, dass er oder sie auf das Kind unter keinen Umständen verzichten will, ist eine Trennung ehrlicher, denn unbewusst geben sich die Partner oft noch Jahre später die Schuld an geplatzten Träumen. Was raten Sie Paaren, die bisher vergeblich auf ein Kind warten und eine Kinderwunschbehandlung beginnen wollen?

Viele Kinderwunscheltern berichten von einer

Paare sollten in jedem Fall Kontakt zu anderen Betroffenen suchen. Es gibt so viel mehr davon, als Paare ahnen. Viele Kliniken bieten psychologische Hilfen an. Diese sollten genutzt werden. Im Internet sprechen mutige Paare in Videos oder Blogs über ihre Erfahrungen. Zu wissen, dass man nicht allein ist, hilft, die Phase seelisch gesund zu überstehen.

Vereinsamung. Woher kommt dieses Gefühl?

Was brauchen Paare, um eine gute Identität als

Schwangerschaft und Geburt gelten in vielen Köpfen als Selbstverständlichkeiten, die „natürlich“ abzulaufen haben. Wer sich Kinder wünscht, wird deswegen zunächst großzügig unterstützt und ermuntert. Sobald das Paar aber für den Kinderwunsch unangenehme Prioritäten setzt und etwa von Familienfeiern fernbleibt, weil es unter Termindruck zur Behandlung muss, sinkt das Verständnis rapide. Plötzlich heißt es: „Seid mal nicht so verbissen dabei, dann klappt’s von allein!“ Viele Kinderwunscheltern

„kinderloses Paar“ zu finden?

PSYCHOLOGIE HEUTE

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Stephanie Katerles Buch Wir ohne dich. Wie Paare mit unerfülltem Kinderwunsch ihre Liebe bewahren ist im März bei Klett-Cotta erschienen (160 S., € 16,95)

Paare – ob mit oder ohne Kinderwunsch übrigens – tun gut daran, sich das Fundament ihrer Beziehung gelegentlich anzuschauen. Warum haben wir uns füreinander entschieden? Was ermöglichen wir uns? Was erwarten wir voneinander? Solche ehrlichen Bestandsaufnahmen machen Offenheit auch für neue gemeinsame Perspektiven möglich. INTERVIEW: KATRIN BRENNER-BECKER

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Der Draht zur Welt Resonanz ist fĂźr Hartmut Rosa die Bedingung fĂźr ein geglĂźcktes Leben Der Mensch sehnt sich nach Begegnung. Andere Menschen, aber auch Dinge und Ideen, Natur und Kunst, kurz: Gott und die Welt sollen mit ihm in einen lebendigen Austausch treten, ihn berĂźhren und von ihm erreichbar sein. Mit anderen Worten: Er sehnt sich nach Resonanz. Dieses Resonanzverlangen, so der Jenaer Soziologieprofessor Hartmut Rosa, gehĂśrt zur Grundausstattung des Menschen. Der Mensch ist ein Beziehungswesen. Erst in der Begegnung mit seiner Umwelt entwickelt und gestaltet er seine Vorstellung von sich und der Welt. In seinem Grundlagenwerk Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung macht Rosa deshalb die Qualität dieser Beziehung zum MaĂ&#x;stab fĂźr ein gelingendes Leben und zur Basis seiner Gesellschaftskritik. Resonanz als „vibrierender Draht zur Welt“ erfordert ein Sich-Einlassen und die Bereitschaft, sich zu verändern, etwa wenn man sich verliebt, ein Instrument lernt oder sich fĂźr ein Buch begeistert. Beim Gegenpart, der Entfremdung, stehen sich Subjekt und Welt dagegen innerlich unverbunden oder sogar feindlich, also „stumm“ gegenĂźber. Die Beziehung ist vorwiegend rational und zielt auf Beherrschung und VerfĂźgbarmachung der Welt. Das ist, so betont Rosa, in bestimmten Zusammenhängen, etwa in der wissenschaftlichen Forschung, eine sinnvolle Kulturtechnik. Doch das Verhältnis zwischen beiden Beziehungsmodi scheint ihm grundlegend aus der Balance geraten zu sein. Die Moderne, angetreten mit dem Versprechen, den Menschen aus den Fesseln der Tradition, des Aberglaubens, der Armut und der Tyrannei zu befreien und damit Resonanz fĂźr immer mehr Menschen Ăźberhaupt erst zu ermĂśglichen, ist zu einem Zeitalter der Entfremdung geworden. Das liegt, so Rosa, an der „dynamischen Stabilisierung“ der kapitalisti88

schen Gesellschaft, die auf ständiges Wachstum, auf Beschleunigung und Innovationsverdichtung angewiesen ist, um sich am Laufen zu halten. Auch der moderne Mensch versucht ununterbrochen, sich selbst zu optimieren und immer mehr an Ressourcen anzuhäufen, ohne jedoch automatisch glĂźcklicher zu werden. Denn die Bedingungen fĂźr ein gelingendes Leben – und das sind fĂźr Rosa stabile resonante Weltbeziehungen – werden gleichzeitig strukturell untergraben. Resonanz erfordert Zeit und Offenheit. Zeit- und Leistungsdruck, Wettbewerb und Angst erzeugen Resonanzblockaden. „Die Angst vor dem Verstummen der Welt“ scheint Rosa deshalb geradezu die Grundangst des spätmodernen Menschen zu sein. „Ein zielloser und unabschlieĂ&#x;barer Steigerungszwang fĂźhrt am Ende zu einer problematischen, ja gestĂśrten oder pathologischen Weltbeziehung der Subjekte und der Gesellschaft als ganzer“, konstatiert er und liefert damit interessante Erklärungsansätze zur aktuellen Ă–ko-, Demokratie- und Psychokrise. Mit seiner Resonanztheorie schlägt Rosa einen Paradigmenwechsel vor: „Nicht die Reichweite, sondern die Qualität der Weltbeziehung soll zum MaĂ&#x;stab politischen wie individuellen Handelns werden.“ Ein solches Konzept kĂśnne dann als Kompass fĂźr gesellschaftliche Veränderungen dienen, sei aber inhaltlich offen.

Hartmut Rosa: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Suhrkamp, Berlin 2016, 762 S., â‚Ź 34,95

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Wo Menschen durch Armut oder Unterdrückung gehindert sind, in einen Austausch mit der Welt zu treten, seien andere politische Maßnahmen erforderlich als in einer Überflussgesellschaft, in der Menschen vor lauter Termindruck keine Zeit mehr für Hobbys oder Freunde haben. Es ist Rosas erklärtes Ziel, einen Beitrag zu diesen Veränderungen zu leisten. Doch leider nehmen die konkrete Gesellschaftskritik und die Skizzierung einer Postwachstumsgesellschaft gegenüber der historischen Herleitung und theoretischen Einordnung seiner Begriffe und gegenüber der kritischen Auseinandersetzung

mit anderen Autoren und Theorien einen verhältnismäßig geringen Raum ein. Auch droht die Resonanz mit dem Buch immer mal wieder zu verstummen und das Lesevergnügen zur Anstrengung zu werden. Das liegt sowohl am schieren Umfang (762 Seiten) als auch an Rosas Schreibstil mit vielen Redundanzen, verschachtelten Sätzen und einem oft umständlichen Soziologendeutsch. Rosas Resonanztheorie könnte ein spannender und wichtiger Beitrag in aktuellen Debatten sein, doch wird er, zumindest mit diesem Buch, wohl eher nur ein akademisch gebildetes (Fach-) MARTINA BÖLCK Publikum erreichen.

ELTERN, SEID WIEDER LEITWÖLFE! Wölfe sind intelligente Tiere. Vor allem verfügen sie über soziale Intelligenz, sind familienorientiert und wissen ihr Rudel zusammenzuhalten. „Ich denke, der Schlüssel für erfolgreiche Familien heißt bei Menschen wie bei Wölfen: Beziehung und Vertrauen“, sagt der dänische Familientherapeut Jesper Juul. Darum plädiert er in seinem neuen Buch Leitwölfe sein für – so der Untertitel – „liebevolle Führung in der Familie“. Er ist sicher: „Kinder wollen Erwachsene, die die Führung übernehmen.“ Damit meint er übrigens nicht nur Eltern und Lehrkräfte, sondern auch Erzieherinnen und Erzieher. Es geht also um die Autorität von erwachsenen Bezugspersonen für Kinder, aber nicht um die traditionelle, auf Rollen gründende, sondern um „persönliche Autorität“. Sie beruht „auf Selbstwertgefühl, Selbsterkenntnis, Selbstachtung, Selbstvertrauen“. Erwachsene, die über diese Eigenschaften verfügen, sind eher in der Lage, auch Kindern gegenüber Empathie und Respekt aufzubringen. Eine solche Haltung gelingt Menschen leichter, die persönliche Verantwortung zu tragen bereit sind, auch wenn sie Fehler machen. In Juuls Buch geht es daneben um die existenziell bedeutsame Frage, warum wir als Erwachsene oft jene elterlichen Verhaltensweisen wiederholen, unter denen wir als Kinder gelitten haben. In diesem Zusammenhang plädiert Juul für den Dialog zwischen Eltern und Kind, ohne dass die Erwachsenen ihre Rolle „spielen“ oder „darstellen“. Sein Buch ist praxisorientiert und hilfreich – allerdings kein herkömmlicher Erziehungsratgeber mit präzisen Handlungsanleitungen. Diese kritisiert Juul stark, weil sie den notwendigen Umbruch der elterlichen Haltung hin zu einer dialogbereiten, DETLEF TRÄBERT offenen Führungsrolle behinderten.

bildungshungrig? wissensdurstig?

Beratung | Soziale Arbeit | Therapie | Supervision | Coaching | Mediation | MBSRund AchtsamkeitslehrerIn | Systemisch lösungsorientierte Therapie- und Beratungskonzepte | HeilpraktikerIn (Psychotherapie) Seit über 40 Jahren berufsbegleitende, durch Psychotherapeuten- und Landesärztekammer Baden-Württemberg akkreditierte Fortbildungsveranstaltungen.

Jesper Juul: Leitwölfe sein. Liebevolle Führung in der Familie. Beltz, Weinheim 2016, 216 S., € 16,95

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AUSSERDEM RAT UND LEBENSHILFE Hans-Günter Weeß Die schlaflose Gesellschaft. Wege zu erholsamem Schlaf und mehr Leistungsvermögen. Schattauer, 256 S., € 24,99 Teresa Keller Einfach ich selbst sein dürfen. Bessere Beziehungen mit sich und anderen durch die Positive Psychologie. Scorpio, 192 S., € 16,99 Reiner Noreisch Erschaffe Dein Leben neu! Warum positives Denken alleine nicht reicht. Kamphausen, 200 S., € 16,95 Rotraud A. Perner Mut. Das ultimative Lebensgefühl. Amalthea, 234 S., € 22,95 Guy Meadows Schlaf gut! Das Geheimnis erholsamer Nachtruhe. Rowohlt, 240 S., € 9,99 Eric Niedling, Ingo Niermann, Nils Schumann (Hg.) Lebenstempo. In Alltag und Sport den eigenen Rhythmus finden. Herder, 320 S., € 22,99 Christine Rot Kein Stress mit Lampenfieber. Ein Ratgeber. Books on Demand, 78 S., € 5,95 Sabine Dinkel Hochsensibel durch den Tag. Raus aus der Reiz-Überflutung. Gelassen durch den Alltag. Humboldt, 224 S., € 19,99 Jens Corssen, Stephanie Ehrenschwendner Das Corssen-Prinzip. Die vier Werkzeuge für ein freudvolles Leben. Arkana, 240 S., 19,99 Bernard Jakoby Damit der Tod als Freund kommt. Wie wir im Sterben Gelassenheit und Frieden finden. Nymphenburger, 128 S., € 15,– Heike Mayer Das seh ich entspannt. Wie Sie Gelassenheit entwickeln. Scorpio, 96 S., € 12,99 Manuel Trachsel, Andreas Maercker Lebensende, Sterben und Tod. Hogrefe, 100 S., € 19,95

PSYCHISCHE GESUNDHEIT Kirk D. Strosahl, Patricia J. Robinson In diesem Moment. Stress überwinden und achtsam werden. Das 5-Stufen-Programm neurowissenschaftlich belegt. Trias, 184 S., € 19,99

Thomas Bock, Andreas Heinz Psychosen. Ringen um Selbstverständlichkeit. Psychiatrie, 384 S., € 49,95 Antje Hunger, Heidi Lüttmann Ratgeber Trichotillomanie. Informationen zum krankhaften Haareausreißen für Betroffene und Angehörige. Hogrefe, 64 S., € 8,95 Hugo Pauli Wie wär’s mit einer Psychotherapie? Erfahrungen und Ratschläge eines Therapeuten. Verlag Hartmut Becker, 200 S., € 14,80

DENKEN, FÜHLEN, HANDELN Luisa Francia Wer nicht alt werden will, muss vorher sterben. Nachdenken über die letzte Lebenszeit. Nymphenburger, 159 S., € 18,– Martin Schuster Alltagskreativität. Verstehen und entwickeln. Springer Spektrum, 276 S., € 19,99 Katharina Ohana „Keiner kann anders, als er ist: Deshalb müssen wir freier werden“. Willensfreiheit zwischen Wiederholungszwang und neurobiologischem Determinismus. Waxmann, 203 S., € 29,90 Jon Palfreman Stürme im Gehirn. Dem Rätsel Parkinson auf der Spur. Beltz, 320 S., € 22,95 Dan Harris Wie ich die entscheidenden 10 % glücklicher wurde. Meditation für Skeptiker. Dtv, 320 S., € 16,90 Allan Guggenbühl Die vergessene Klugheit. Wie Normen uns am Denken hindern. Hogrefe, 271 S., € 24,95

Josef Aldenhoff Ich und Du – warum? Was Beziehungen schwierig macht und wie sie gelingen können. C. Bertelsmann, 334 S., € 19,99

KULTUR UND GESELLSCHAFT KINDER UND FAMILIE Reimer Gronemeyer, Michaela Fink Unsere Kinder. Was sie für die Zukunft wirklich stark macht. Gütersloher Verlagshaus, 240 S., € 19,99 Jan Weiler Im Reich der Pubertiere. Kindler, 166 S., € 12,– Sarah Fischer Die Mutterglück-Lüge. Regretting Motherhood – Warum ich lieber Vater geworden wäre. Ludwig, 240 S., € 16,99 Esther Göbel Die falsche Wahl. Wenn Frauen ihre Entscheidung für Kinder bereuen. Droemer Knaur, 224 S., € 19,99 Sabine Holdt, Marcus Schönherr Lösungsorientierte Beratung mit getrennten Eltern. Ein Praxishandbuch. Klett-Cotta, 210 S., € 24,95

ARBEIT UND BERUF Samia Little Elk Psychotherapie – mein erstes Mal. Starthilfe für psychotherapeutische Berufseinsteiger. Schattauer, 113 S., € 24,99 Sebastian Kühn Das Handbuch für digitale Nomaden. Selbstbestimmt leben – ortsunabhängig arbeiten. Redline, 320 S., € 19,99

Martin Spura Autobiografie der Nacht. Ein Traumbuch. Königshausen & Neumann, 288 S., € 24,80

Klaus Plab Psychoanalytische Psychosomatik – eine moderne Konzeption in Theorie und Praxis. Vandenhoeck & Ruprecht, 222 S., € 29,99

Markus Lehnert Sag, was du isst, und ich weiß, was du fühlst. Allegria, 256 S., € 16,99

Thomas Forkmann, Tobias Teismann, Heide Glaesmer Diagnostik von Suizidalität. Hogrefe, 162 S., € 24,95

Hans Sillescu Viele Welten in einer Welt. Springer Spektrum, 289 S., € 19,99

Daniela Eberhardt Generationen zusammenführen. Mit Millennials, Generation X und Babyboomern die Arbeitswelt gestalten. Inklusive Arbeitshilfen online. Haufe, 320 S., € 39,95

FRAUEN UND MÄNNER Susanne Pointner Adam, wo bist du? Eva, was tust du? Über die Befreiung aus Isolation und Abhängigkeit in Paarbeziehungen. Orac, 192 S., € 22,–

Heike Jurgschat-Geer Führungskraft in der Altenpflege. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Vincentz Network, 112 S., € 24,80

Joachim Armbrust, Gudrun Noll Besser leiten mit Vertrauen. Die Kita-Leitung als verlässliche Größe für Kinder, Eltern und Team. Carl Link, 244 S., € 29,95

Roland Kaehlbrandt Logbuch Deutsch. Wie wir sprechen, wie wir schreiben. Klostermann, 249 S., € 14,80 Elisabeth Wehling Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht. Edition Medienpraxis, 222 S., € 21,– Rainer Erlinger Höflichkeit. Vom Wert einer wertlosen Jugend. S. Fischer, 352 S., € 19,99 Babette Kozlik-Voigt Karen Horney. Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst. VTA, 287 S., € 29,50 Matthias Lohre Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. Gütersloher Verlagshaus, 256 S., € 19,99 Jens Hoffmann, Karoline Roshdi (Hg.) Amok und andere Formen schwerer Gewalt. Risikoanalyse – Bedrohungsmanagement – Präventionskonzepte. Schattauer, 320 S., € 59,99 Gustav Keller Psychologischer Zitatenschatz. Seelenweisheiten von A bis Z. Monsenstein und Vannerdat, 380 S., € 19,30 Gregor J. Betz Vergnügter Protest. Erkundungen hybridisierter Formen kollektiven Ungehorsams. Springer VS, 299 S., € 49,99 Clive Gamble, John Gowlett, Robin Dunbar Evolution, Denken, Kultur. Das soziale Gehirn und die Entstehung des Menschlichen. Springer Spektrum, 376 S., € 24,99 Peter Cremer-Schaeffer Cannabis. Was man weiß, was man wissen sollte. Hirzel, 122 S., € 14,80 Evi Hartmann Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral. Campus, 192 S., € 17,95

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MEDIEN

REDAKTION: ANKE BRUDER

HÖREN

Familiengeschichten „Welchen Einfluss haben Ereignisse auf uns, die vor siebzig Jahren stattgefunden haben?“, fragt sich Sacha Batthyany. Der 1973 geborene Schweizer Soziologe und Journalist hat per Zufall erfahren, dass eine seiner Tanten in ein grausames Naziverbrechen verwickelt war. Das Schweigen seiner Angehörigen treibt ihn schließlich hinaus in die Welt: Jahrelang reist er durch Ungarn, Österreich, Russland und bis nach Argentinien, immer auf der Suche nach der Wahrheit über seine Familie. Mit einem Psychoanalytiker spricht er über die Erfahrungen und die schockierenden Einsichten, die er dabei gewinnt. Und er schreibt seine Geschichte auf. Sein Buch Und was hat das mit mir zu tun? wurde jetzt als Hörbuch vertont, gelesen von Barnaby Metschurat. Spannend, aufschlussreich und ergreifend – und unbedingt hörenswert. Sacha Batthyany: Und was hat das mit mir zu tun? Ein Verbrechen im März 1945. Die Geschichte meiner Familie. 4 Audio-CDs. Der Audio-Verlag 2016. Laufzeit: 5 Stunden und 12 Minuten, € 19,99

SEHEN

Geschichte einer Liebe Die junge Physikstudentin Agnes und der Sachbuchautor Walter treffen sich in der Public Library in Chicago. Sie verlieben sich, werden ein Paar. So weit, so gewöhnlich. Doch irgendwann hat sie die Idee, er könne doch die Geschichte ihrer Liebe aufschreiben. Fiktion und Wirklichkeit beginnen sich zu vermischen; die Geschichte, an der Walter schreibt, droht ihre Beziehung in Gefahr zu bringen und sogar Agnes’ Leben zu gefährden … Der Film Agnes zeichnet ein intensives Bild einer Liebe und ihres dramatischen Endes. Der Stoff basiert auf dem gleichnamigen Roman von Peter Stamm. Kinostart ist am 2. Juni 2016. https://www.facebook.com/Agnes Lesen Sie auch unser Interview mit Peter Stamm in der Aprilausgabe 2013: „Ein Roman sollte die Augen fürs eigene Leben öffnen“. http://tinyurl.com/hotaela

HINGEHEN

Facetten des Glücks FOTO: MAK /ASL AN KUDRNOFSK Y

Stefan Sagmeister ist Grafikdesigner, Typograf und Künstler. Doch was ihn umtreibt, schon seit ungefähr zehn Jahren, ist das Glück. Er will wissen: „Was macht uns glücklich oder zumindest glücklicher?“ Seine Antworten auf diese Frage zeigt er nun in der Ausstellung The Happy Show im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main. Darin präsentiert er Ergebnisse sozialwissenschaftlicher, psychologischer und anthropologischer Studien und dokumentiert Erkenntnisse seiner eigenen Nachforschungen. In Form von Kommentaren, Filmen, Infografiken, Skulpturen und Installationen will er den Besucherinnen und Besuchern das Glück näherbringen. Die Ausstellung ist noch bis zum 25. September 2016 zu sehen. www.museumangewandtekunst.de

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LESERBRIEFE

k.brenner@beltz.de

„Es fällt mir persönlich schwer, einen Faschisten als ‚empathisch‘ zu bezeichnen, der keine Toleranz gegenüber Fremdem oder Andersartigem zeigt und nur in den Alternativen Schwarz und Weiß denkt“

Empathischer Faschist? (Thomas Saum-Aldehoff widmete sich der Frage, ob Dschihadisten psychisch krank sind. „Ganz normale Terroristen“. Heft 2/2016)

Unabhängig davon, dass der Artikel an sich sehr interessant ist, empfinde ich die ausgewählte Fotografie dazu als sehr unpassend. Es gibt sicherlich andere Fotografien, die die „Normalität“ der Terroristen hätten aufzeigen können, muss es gleich eine Hinrichtung sein? Empfinden Sie das nicht selbst als grenzwertig? Ich hätte erwartet, dass es wenigstens einige wenige Magazine gibt, die auf solche drastischen Bilder verzichten können. Nuray Scherf, Bochum

Thomas Saum-Aldehoff stellt die Ergebnisse seines Artikels seinen Recherchen voran und kommt zu dem Schluss: „Die meisten Dschihadisten sind nicht psychisch krank. Es mangelt ihnen auch nicht an Empathie – und genau da liegt das Problem.“ Begründet wird diese Behauptung hauptsächlich mit den Forschungsergebnissen des amerikanischen Anthropologen Scott Atran, der festgestellt haben will, dass die meisten IS-Kämpfer (Bezugsgruppe: in kurdischen Camps im 92

Norden des Iraks gefangen genommene IS-Terroristen) „in die mittleren Bereiche der Normalverteilung fallen“, was Eigenschaften „wie Empathie, Mitgefühl, Idealismus oder den Wunsch, anderen zu helfen, statt sie zu verletzen“, anbelangt. Im Folgenden schreibt der Autor als Begründung für das Verhalten der Dschihadisten über die „Banalität des Bösen“ und über die Trennung in „wir und sie, schwarz und weiß“. Letzteres befasst sich also mit der Ich- und Wir-Identität. Hier beziehen sich die Äußerungen des Autors eindeutig auf die faschistoide Charakterstruktur, nachzulesen bei Adorno, dem Friedensforscher. Es fällt mir persönlich schwer, einen Faschisten als „empathisch“ zu bezeichnen, der seine Ich-Identität zur WirIdentität (hier also die Ideologie des IS) macht, Verantwortung für seine Greueltaten abgibt, keine Toleranz gegenüber Fremdem oder Andersartigem zeigt und nur in den Alternativen Schwarz und Weiß denkt. Ich bin nicht bereit, der „Banalität des Bösen“ einen solchen Spielraum zu geben, wie der Autor es tut. Damit schleicht sich die Gesellschaft aus der Verantwortung. Irene Martin, per E-Mail

Auch im Alter haben wir eine Wahl (Im Interview mit dem Alternsforscher HansWerner Wahl ging es auch um die Frage: „Leben wir vielleicht zu lange?“ Heft 4/2016)

Wort „Alter“ möchten wir im Zusammenhang mit uns nicht gebrauchen. Von dem Alternsforscher Hans-Werner Wahl hören wir jetzt, dass „auch spät im Leben sehr positive, gar nicht mit Alter verbundene Vorstellungen gelebt werden“. Die persönliche Entwicklung und ein zufriedenes Leben enden nicht mit 50 oder 60, sondern sind auch mit 70, 80 und 90 Jahren noch möglich. Die vier Säulen, die diese Entwicklung tragen, sind: kognitives Training, physische Aktivität und eine positive Einstellung zum eigenen Älterwerden. So weit, so gut und auch so zu erwarten. Überraschend ist aber die noch fehlende Säule. Laut Hans-Werner Wahl ist Psychotherapie beziehungsweise psychologische Beratung ein wesentlicher Baustein oder besser: könnte es werden. Mit wissenschaftlichen Studien wurde nämlich belegt, dass das chronologische Alter eines Patienten oder Klienten keinen Einfluss auf den Erfolg einer Psychotherapie oder psychologischen Beratung hat. Wenn wir also die Scheu vor psychologischer Beratung ablegen würden („Wer braucht denn so was? Ich bin doch nicht gestört!“) und stattdessen die Chancen sehen würden („Da sind ja auf einmal Wege! Ich habe eine Wahl!“), dann wären wir schon einen Schritt weiter. Dann können wir uns voller Erwartung und mit Optimismus auf die weitere Lebensreise bis ins hohe Alter begeben. Margret Vennebörger, Frankfurt am Main

Das Interview fand ich faszinierend und inspirierend. Wir Babyboomer sind jetzt in den 50ern und fragen uns, manchmal mit einem bangen Blick, was die späteren Jahre wohl für uns bereithalten – das

Besser reifen ohne Beziehung (Birgit Schönberger analysierte den Trend zur Trennung nach vielen Ehejahren. „Späte Scheidung“. Heft 4/2016)

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Die Redaktion behält es sich vor, Leserbriefe zu kürzen

Irene Martin, per E-Mail


Die Ergebnisse der Studie zu Scheidungen von Insa Fooken kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch die Idee von den neuen Beziehungsformen gefällt mir. Allerdings wird es komplizierter, wenn Kinder ins Spiel kommen. Die Hamburger Paartherapeuten Ulla Holm und Michael Cöllen meinen, eine dauerhafte Beziehung biete große Entwicklungs- und Reifungschancen für beide. Ich sehe es so, dass ein unabhängiger Mensch, der nicht danach trachtet, jemanden zu beherrschen oder beherrscht zu werden, ohne Beziehung besser reifen und sich entwickeln Marlies Franck, Potsdam kann. Heilpädagogik gegen Kinderängste (Jochen Paulus beleuchtete die häufigsten psychischen Probleme von Heranwachsenden: „Die Ängste der Kinder“. Heft 4/2016)

In dem Artikel geht es um den Mangel an Kinder- und Jugendtherapeuten, die Kindern helfen können, ihre Ängste zu überwinden. Ich bin selbständige Heilpädagogin und biete in meiner Praxis ein Training zur Gefühlssicherheit bei Kindern an. Dieses Training wird bei Kindern im Al-

ter von fünf bis sechs Jahren eingesetzt, und ich habe sehr gute Erfahrungen damit gemacht: Die Kinder werden sicher in ihren Gefühlen und bekommen einen riesigen Schub für ihr Selbstvertrauen. Sie erfahren, dass jedes Gefühl seine Berechtigung hat, und lernen, damit umzugehen. Ängstliche Kinder bauen ihre Ängste nach und nach ab und werden durch das Training zu selbstbewussten Heranwachsenden. Auch mit jüngeren Kindern arbeite ich an ihren Ängsten, die bis hin zu Panikattacken reichen können, auf herkömmlicher heilpädagogischer Ebene, und auch hier habe ich große Erfolge. Leider ist es so, dass unser Berufsstand viel zu wenig anerkannt wird und daher auch sehr unbekannt ist. Würde sich an dieser

Misere etwas ändern, könnten wir Heilpädagogen viele Dinge bereits im Keim ersticken, bevor die Betroffenen einen Kinder- und Jugendpsychotherapeuten brauchen. Die Tatsache, dass Heilpädagogik nicht von den Krankenkassen anerkannt ist, macht es uns natürlich nicht gerade leicht, diese ganzheitliche Art der Förderung bekanntzumachen. Ich finde dies sehr schade, da mit Heilpädagogik große Erfolge in der kindlichen Entwicklung erzielt werden können. Daniela Boeck, Praxis für Heilpädagogik, Kirchen

„Die rosarote Pädobrille“ (Michael Kraske begleitete für seine Reportage Ralf Thieme, der gelernt hat, seinen pädophilen Neigungen nicht nachzugehen. „Beklemmende Begierde“. Heft 2/2016)

„Rosarote Pädobrille“ – das könnte auch auf Ralf Thiemes Kinderwunsch zutreffen. Natürlich kann niemand ihm verbieten, eigene Kinder zu bekommen. Das kann nur er selbst. Und tut es nicht. Dem Kind bleibt nur zu wünschen, dass es ein Junge sein möge. Ruth Gaidas, Clausthal-Zellerfeld

IMPRESSUM Werderstraße 10, 69469 Weinheim Postfach 10 01 54, 69441 Weinheim, Telefon 0 62 01/60 07-0 Fax 0 6201/60 07-382 (Redaktion), Fax 0 6201/60 07-310 (Verlag) E-Mail: redaktion@psychologie-heute.de

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Julius Beltz GmbH & Co. KG, Weinheim Geschäftsführerin der Beltz GmbH: Marianne Rübelmann CHEFREDAKTION Ursula Nuber REDAKTION Katrin Brenner-Becker, Anke Bruder, Johannes Künzel, Thomas Saum-Aldehoff, Eva-Maria Träger HERSTELLUNG UND LAYOUT

Johannes Kranz, Gisela Jetter

REDAKTIONSASSISTENZ Nicole Coombe, Doris Müller KORRESPONDENTIN IN DEN USA Dr. Annette Schäfer ANZEIGEN Claudia Klinger

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IM NÄCHSTEN HEFT DIE JULIAUSGABE ERSCHEINT AM 8. JUNI 2016

WENN DER GROSCHEN FÄLLT TITELTHEMA

Lange grübelt man über ein Problem oder eine Aufgabe nach – und plötzlich weiß man die Lösung. Warum sie auf einmal auftaucht? Das ist oft unklar. Doch Geistesblitze sind nicht so mysteriös, wie wir glauben. Und schon gar nicht sind sie Zufall.

PROBIER’S MAL MIT MUSIK! Wir Menschen sind zutiefst musikalische Wesen. Von der Wiege an sind wir empfänglich für Melodien. Musik hilft uns, den inneren Stress herunterzufahren oder aus einer miesen Stimmung herauszufinden, und sie tröstet uns in der Trauer. Aber das ist längst nicht alles. In einem Forschungsprojekt wurde der Werdegang von Kindern verfolgt, die gezielt ein Instrument erlernten – mit erstaunlichen Ergebnissen.

DOSSIER: „TRUGBILD TRAUMJOB“ Wenn die Arbeit nervt, träumen viele von einer neuen Tätigkeit – in der Hoffnung, dass sie mit ihr zufriedener sein werden. Doch die hohen Erwartungen lassen sich oft nicht erfüllen: Alte Probleme treten auch im Traumjob wieder auf, ungeahnte neue kommen hinzu. Welche Schwierigkeiten lassen sich ohne Wechsel lösen? Wie finden wir Sinn in einer Arbeit, die uns zunehmend sinnlos erscheint? AUSSERDEM ●

UNSICHERE ZEITEN Terroranschläge, Flüchtlinge, die umstrittene Geldpolitik der EZB – die täglichen Nachrichten taugen nicht dazu, uns in Sicherheit zu wiegen. Auch unser privates Leben ist widersprüchlich und kompliziert. Viele Fragen lassen sich auf ganz unterschiedliche Weise beantworten, und oft muss man sich in unvertraute Situationen begeben, ohne zu wissen, was einen erwartet. Welche Auswirkungen hat diese Vielfalt an Ungewissheit auf uns? Wie halten wir die Unsicherheit aus? Welche psychischen Voraussetzungen brauchen wir dafür? Und können wir lernen, ein gutes Leben im unsicheren zu führen?

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Über die Liebe, den Zweifel und andere wichtige Dinge des Lebens: Der Heidelberger Psychotherapeut Arnold Retzer im Gespräch Bett statt Strand: Warum wird man ausgerechnet in der Freizeit krank? Fußball-EM: Die Psychologie der Fan-Gesänge

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Die Ausbildung befähigt AbsolventInnen, Mitmenschen professionell und nachhaltig zu coachen, um Ziele beruflich wie privat zu erreichen und dadurch Lebensfreude und Erfolgspotenziale zu steigern.

Mag. Sonja Kato-Mailath-Pokorny, PR-Beraterin aus Wien (A): „Die Ausbildung der CoachAkademieSchweiz gehört für mich zu den wertvollsten Begebenheiten meines Lebens. Strukturiert und empathisch, kompakt und dennoch umfassend - die Vermittlungsarbeit durch die Dozentin war hervorragend.“

Ziele Auf den Grundlagen eines humanistischen Menschenbildes wird systemisches Denken, wirksame Kommunikation und moderne, wissenschaftlich fundierte Coaching-Methodik, das „St.Galler Coaching Modell (SCM)®“, vermittelt. Die Coaching-Tools sind kontextunabhängig, d.h. in allen Berufsfeldern und im persönlichen und privaten Bereich anwendbar.

Dr. med. Magnus Bitterlich, Arzt aus Tirol (A): „Die Macht des Wortes ist wesentlich in der Behandlung von Patienten und der Vorsorgemedizin. Auf meinem Weg zur werteorientierten Kurzzeittherapie, vor allem bei psychosomatisch Erkrankten, ist mir die CoachAkademieSchweiz ein kompetenter Lehrmeister, Ideengeber und Motivator.“

2-fach wissenschaftlich validierte Methodik Methodische Basis der Ausbildungen ist das „St.Galler Coaching Modell (SCM)®“, welches 2014 zum zweiten Mal wissenschaftlich validiert und als nachhaltig und wirksam befunden wurde: www.coachakademie.ch/cas-studien

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Internationale zertifizierte Ausbildungen An über 20 Standorten in der Schweiz, Deutschland, Österreich und Italien (Meran), führt die CoachAkademieSchweiz seit 1997 ihre systemischen Coach- und Trainer-Ausbildungen durch. Alle Informationen und Details finden Sie unter: www.coachakademie.ch/cub

Kostenlose Beratung Individuelle und fundierte Klärung Ihrer Fragen telefonisch, per EMail oder im unverbindlichen und kostenlosen Beratungsgespräch. Nehmen Sie einfach Kontakt auf.

Kontakt CoachAkademieSchweiz Hr. Nicolas Fitz, Bildungs-Berater und Geschäftsführer Kostenfreie Beratungs-Hotline: Schweiz: 0800 800 288 Deutschland: 0800 180 2003 Österreich: 0800 297 934 office@coachakademie.ch • www.coachakademie.ch

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171 Seiten · Broschur € 16,90 ISBN 978-3-8379-2455-8 Angststörungen sind heute weitverbreitet und meist mit großem Leidensdruck verbunden. Die Autorin beschreibt Angststörungen und deren Symptome aus psychoanalytischer Sicht. Sie gibt einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Ausprägungen der Angst – wie Panikattacken, Sozialphobie, Hypochondrie und Schulangst. Betroffene finden wertvolle Tipps zu spezifischen Krankheitsbildern und Antworten auf Fragen wie: Ab wann wird Angst krankhaft? Wo finde ich Hilfe? Welche Therapieformen bieten sich an? Hartmut Radebold, Hildegard Radebold

Zufrieden älterwerden

Entwicklungsaufgaben für das Alter

233 Seiten · Broschur € 19,90 ISBN 978-3-8379-2461-9 Erscheint April 2015 Unsere Lebenserwartung steigt unverändert an: Wer heute 60 ist, hat noch 20 bis 25 Lebensjahre vor sich liegen. Die Aufgabe für die heutigen Älteren lautet daher, den individuellen Weg für ein befriedigendes Älterwerden zu erkunden – sei es allein oder als Paar. Ausgehend vom Konzept lebenslanger Entwicklung verdeutlichen Hartmut und Hildegard Radebold, welche weiteren Entwicklungsmöglichkeiten auch jenseits des 60. Lebensjahres bestehen. Sie schlagen vor, sich darauf bezogene Fragen möglichst frühzeitig zu stellen. Walltorstr. 10 · 35390 Gießen Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 bestellung@psychosozial-verlag.de www.psychosozial-verlag.de

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INNERE RUHE Vertrauen in die eigene Entwicklung im pädagogischen Handeln

Do 29.09.2016 · Symposium-Workshop Integrative KVT – Konzept und Tools · Dr. H. H. Stavemann

Fr 30.10.2016 · Symposium Neun einstündige aktuelle Themen zu Therapiemethoden und -möglichkeiten mit Raum für den kollegialen Austausch:

· Ambulante KVT bei psychotischen Störungen: Bestandsaufnahme und Ausblick (Prof. Dr. T. Lincoln)

· D-MTK: Metakognitives Training bei Depressionen

Für alle WaldorflehrerInnen, pädagogisch Tätigen, wie ErzieherInnen, ElternberaterInnen, TherapeutInnen, StudentInnen, Eltern und Interessierte

· Akzeptanz und Commitment im Konzept der KVT

Frühbucherrabatt bis zum 9.6.2016 www.sommerakademie2016.de Bund der Freien Waldorfschulen

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Hamburg, 29. September bis 3. Oktober 2016

9. Pädagogische Sommerakademie und Klassenlehrerfortbildung Do 28. Juli bis Mo 1. August 2016 in Stuttgart

Anmeldung & Info: Agentur „Von Mensch zu Mensch“ aneider@gmx.de Tel. 0711.248 50 97

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Neue Entwicklungen und Behandlungsansätze der Integrativen KVT

(PD Dr. L. Jelinek)

· Möglichkeiten und Grenzen von Psychotherapie aus neurobiologischer Sicht (Prof. Dr. Dr. G. Roth)

· Behandlung der chronischen Depression mit CBASP (Prof. Dr. U. Schweiger)

· KVT von Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen (Prof. Dr. A. Schlarb) (Dr. K. Born)

· KVT bei medizinisch unerklärten und somatoformen Störungen (Dr. M. Kleinstäuber)

· Imagery Rescripting & Reprocessing Therapy (IRRT) bei Traumafolgestörungen (Prof. Dr. M. Schmucker)

· KVT bei affektiven Störungen: Erfahrungen und Ergebnisse aus aktuellen Untersuchungen (Prof. Dr. M. Hautzinger)

Sa 01.10. bis Mo 03.10.2016 · Workshoptagung Zu den obigen und weiteren Themen finden jeweils vier Workshops parallel statt. Da alle Themen sehr praxis- und übungsorientiert behandelt werden, ist die Teilnehmerzahl auf 18 Personen je Kurs begrenzt. Zu den Workshops werden Grundkenntnisse in KVT vorausgesetzt. (Das genaue Programm finden Sie auf www.i-v-t.de)

Anmeldung und Infos: IVT · Osterkamp 58 · 22043 Hamburg www.i-v-t.de · IVT@i-v-t.de Aktuelle Bücher zum Thema auf www.beltz.de

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Information und Anmeldung

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© Fotos v. o. Hertie School of Governance / Cristoph Boeckheler / Beltz

žEHU 9RUWU¦JH :RUNVKRSV XQG 'LVNXVVLRQVUXQGHQ ]X GHQ 7KHPHQ ,QNOXVLRQ 'LYHUVLW¦W Heterogenität )O¾FKWOLQJVNLQGHU /HKUHUJHVXQGKHLW (OWHUQJHVSU¦FKH Motivation

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