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Immer bestens orientiert
Interview: Pascal Grolimund, Text: Judith Brandsberg
Wer ins Wohnzimmer von Matthias Kyburz tritt, sieht durch die Balkontüre ein Schuhregal, in dem unzählige verschiedene Laufschuhe stehen. Kein Wunder, denn diese sind das Werkzeug für seinen Beruf, den Orientierungslauf. Und Matthias Kyburz kann in dieser Sportart auf viele Erfolge zurückblicken, unter anderem hat er an Weltmeisterschaften fünf Goldmedaillen gewonnen und fünf Gesamtweltcupsiege erreicht. Im Interview erzählt er über seine Passion.
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Im Techniktraining wird eine Bahn gelegt, und die Posten müssen in der richtigen Reihenfolge abgelaufen werden.
«Ich muss gut navigieren können und clevere Entscheidungen fällen.»
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Was macht für Sie die Faszination am Orientierungslauf aus? Mich fasziniert am OL vor allem, dass ich mich in der Natur aufhalten und dort meinen Bewegungsdrang ausleben kann. Zudem ist der OL sehr abwechslungsreich, jeder Lauf präsentiert sich anders aufgrund der unterschiedlichen Streckenführungen und verschiedenen Geländetypen. Besonders spannend aber finde ich, dass wir die Karte jeweils erst beim Start bekommen, ich weiss also vorher nie, was mich erwartet. Diese Ungewissheit hat mich schon als Kind gereizt, und das ist bis heute so. Was braucht es, um ein guter OL-Läufer zu sein?
Das A und O ist sicher die physische Grundvoraussetzung. Wer also nicht genügend schnell ist und sich im Gelände nicht gut bewegen kann, hat keine guten Karten. Darüber hinaus ist die Technik ein wichtiger Punkt, denn es gilt, clevere Entscheidungen zu fällen und gut navigieren zu können. Das Zusammenspiel dieser beiden Komponenten ist also enorm wichtig. Ich könnte zwar im Wettkampf noch mehr ans Limit der physischen Leistung gehen, dann macht aber irgendwann der Kopf nicht mehr mit. Das heisst, dass ich mir im richtigen Moment die Zeit nehmen muss, um die Karte zu lesen, und wenn ich sehe, dass nicht mehr so viel Konzentration nötig ist, dann kann ich vermehrt das Tempo forcieren.
Wie kamen Sie zum OL? War für Sie schon als Kind klar, dass dies Ihr Sport ist? Ich bin bereits als Kind OL gelaufen mit meiner Familie – der Sport ist übrigens bestens für Familien geeignet. Daneben hat mir aber auch das Geräteturnen zugesagt, und ich war ziemlich gut im Fussball. Als
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dann mein Bruder begonnen hat, mehr Zeit in den OL zu investieren, habe ich mich ebenfalls verstärkt darauf fokussiert. Und
so wurde die Faszination an diesem Sport immer grösser.
Was würden Sie den Jungen und Mädchen mit auf den Weg geben, damit sie in dieser Sportart ähnlich erfolgreich sein können? Wichtig ist, dass die natürliche Motivation und die Freude gefördert werden und dass das Training nie mit Zwang verbunden ist. Bei mir beispielsweise hat sich alles natür-
Keine Zeit, um die Aussicht zu geniessen. Das Quittieren des Postens mit dem Chip erfolgt kontaktlos und ohne Zwischenstopp.
lich entwickelt. Der Bewegungsdrang war schon immer vorhanden, folglich war Sport für mich nie ein Müssen. Dies reicht alleine natürlich noch nicht für eine Spitzenkarriere, stellt jedoch eine sehr gute Basis dar. Irgendwann kommt dann der Punkt, an dem Talent und Freude nicht mehr ausreichen, um erfolgreich zu sein. Spätestens ab dann sind viel Arbeit und Training nötig, um Spitzenleistungen zu erbringen. Auch wenn es dann in Richtung Spitzensport geht, sollte jedoch eine gewisse Lockerheit und die Freude am Sport nie verloren gehen.
Wie üben Sie das OL-Laufen respektive das Kartenlesen? Es sind ja immer wieder neue Strecken nötig. Es ist nicht sinnvoll, 10-mal im selben Wald zu trainieren, denn spätestens beim dritten Mal wird die Karte nicht mehr wirklich benötigt, weil es dann einfach ist, sich mithilfe der Erinnerung zu orientieren. Dies ist der Grund, wieso wir immer wieder an andere Orte reisen, um zu trainieren. Letztes Jahr waren wir in Tschechien, wir reisen aber auch oft nach Skandinavien. Normalerweise trainieren wir, indem jemand eine Bahn legt, Posten setzt und wir diese dann in der richtigen Reihenfolge ablaufen können. Im Techniktraining erhalten wir zudem Karten, die keine Details mehr anzeigen, also keine Vegetation oder keine Wege. In diesem Fall können wir uns nur noch an den Höhenkurven orientieren. Das ist viel schwieriger, aber sehr hilfreich, um das 3DBild besser zu verstehen. Noch anspruchsvoller wird es, wenn jemand einen Korridor vorgibt, den wir ablaufen müssen. Das bedeutet, dass ich auf einer solchen Karte nur meine Strecke und nichts rundherum sehe. Eine weitere Möglichkeit ist es, in der Nacht zu trainieren, wenn nur der Lichtkegel der Lampe sichtbar ist. An den Wettkämpfen selbst erhalten wir aber natürlich immer Karten mit allen Details.
Wie oft trainieren Sie? Ich trainiere täglich am Morgen und am Nachmittag je circa eine Stunde, das gibt pro Woche etwa 14 bis 16 Stunden. Dazu kommt das Krafttraining, das vor allem die Beine betrifft. Denn die Kraft in den Beinen
ist im Gelände äusserst relevant. Darüber hinaus gehen wir auch regelmässig in Trainingslager.
Im OL sind die Preisgelder nicht sehr attraktiv. Für den WM-Titel gibt es eine Salami und eine Flasche Wein ...
Ich mag den Wettkampf selbst und die Emotionen, die ich dabei durchlebe. Schliesslich bin ich nie so nervös wie vor
einem WM-Start. Die Zufriedenheit nach einem guten Lauf, aber ebenso das Gefühl, nachdem ich einen Wettkampf nicht wunschgemäss bestreiten konnte, das finde ich aktuell nur im Spitzensport, und dies ist für mich der grosse Reiz daran.
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Sie wurden in der Königsdisziplin Langdistanz Zweiter an der Weltmeisterschaft in Tschechien. Das ist Ihre erste Medaille in dieser Disziplin. Hat es Sie genervt, die Goldmedaille nicht gewonnen zu haben? Dass ich nicht Erster geworden bin in der Langdistanz, ist für mich nicht schlimm, sondern ich bin stolz auf den zweiten Platz. Was ich aber schade finde, ist, dass der OL grundsätzlich wenig Medienaufmerksamkeit erhält. Ich habe im letzten Jahr einen Laufbandweltrekord aufgestellt – ohne mich darauf vorzubereiten: Ich lief 50 Kilometer auf dem Laufband in knapp drei Stunden, damit sammelte ich Spenden für die Glückskette. Das gab einen Riesenhype in den Medien. Ich habe jedoch an dieser WM mit einem grossen Trainingsaufwand drei Medaillen, davon eine in Gold, eine in Silber und eine in Bronze gewonnen, da ist nur nebenbei darüber berichtet worden. Dieses Missverhältnis finde ich schade.
Was möchten Sie im OL unbedingt noch erreichen? Ich habe das meiste erreicht und bin sehr zufrieden. Eigentlich fehlt tatsächlich nur noch die Goldmedaille in der Langdistanz,
Sportliche Erfolge
Medaillen-Gewinne:
5 Weltmeistertitel 5 Gesamtweltcupsiege 7 Europameistertitel 22 Weltcupsiege 15 Einzel-Schweizermeistertitel
Erfolge in den letzten zwei Jahren:
2021 1. Rang Weltmeisterschaft, Mitteldistanz, Tschechien 2. Rang Weltmeisterschaft, Langdistanz, Tschechien 3. Rang Weltmeisterschaft, Staffel, Tschechien 1. Rang Europameisterschaft, Sprintstaffel, Schweiz 1. Rang Europameisterschaft, Knock-out-Sprint, Schweiz
2020 50-km-Laufband-Weltrekord am 16.4.2020 in 2 h, 56 min, 35 s (nicht mehr gültig) 1. Rang Swiss Alpine Marathon 3. Rang Schweizermeisterschaft, Sprint 3. Rang Schweizermeisterschaft, Langdistanz
Matthias Kyburz wurde am 5. März 1990 in Rheinfelden geboren.
Im Gespräch erzählt Matthias Kyburz, was ihn am Orientierungslauf fasziniert.
Im richtigen Moment sich die Zeit nehmen, um die Karte zu lesen. WM in der Schweiz stattfinden, darum ist es für mich klar, dass ich dann nochmals mein Bestes geben werde.
Und danach ist Schluss für Sie? Also grundsätzlich könnte ich schon weitermachen, denn beim OL ist es möglich, lange Spitzensport zu betreiben. Aber es ist schon so, dass die erste WM spannender ist als die zehnte. Der Enthusiasmus nimmt etwas ab, das liegt wohl in der Natur der Sache.
Gibt es Dinge, die Ihnen helfen, sich abzulenken und neue Energie zu tanken?
Ich arbeite zu 40 Prozent bei den SBB als
Projektleiter für Nachhaltigkeit, das ist für mich eine gute Ablenkung vom Trainingsalltag. Denn als ich nach dem Biologiestudium für eine kurze Zeit als Profi trainierte, habe ich gemerkt, dass mich nur Sport und Training nicht ganz befriedigen.
Was ist nebst dem Trainieren wichtig? Wie erholen Sie sich?
Um mich zu regenerieren, brauche ich viel Schlaf, wenn möglich 8 bis 9 Stunden täglich. Zudem bin ich überzeugt davon, dass dies auch hilft, um Verletzungen vorzubeugen. Massagen und Physiotherapie sind jedoch ebenfalls wichtig für die Erholung und die Regeneration.
OL ist populär in Schweden, Finnland und Norwegen, wo natürlich auch Wettkämpfe stattfinden. Hatten Sie dort noch nie Begegnungen mit der Tierwelt im Wald? Ich habe schon viele Tiere in freier Wildbahn angetroffen, das ist etwas Schönes. In Skandinavien sind immer wieder mal Elche zu sehen. Ich bin tatsächlich in Finnland auch schon einem Bären begegnet. Das war eine etwas heikle Situation, wir sind aufeinander zugelaufen, zum Glück sind wir dann aber auf jeweils verschiedene Seiten abgebogen, und der Bär hat sich nicht weiter für mich interessiert.
Und nach dieser Begegnung haben Sie keine Angst, wieder wilden Tieren zu begegnen? Die Chance ist sehr klein, dass etwas passiert. In Australien gibt es giftige Schlangen, jedoch begegnet man diesen sehr selten. Ich glaube, wenn ich mit dem Auto von Bern nach Zürich fahre, muss ich mir fast mehr Gedanken darüber machen, dass mir etwas zustossen könnte, als wenn ich in der Natur OL laufe.
Die Schweiz ist im OL eine Macht. Wieso?
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«An der WM 2023 in der Schweiz werde ich nochmals mein Bestes geben.»
Einer der Gründe dafür ist, dass wir im Verband gute Strukturen haben. Zudem funktioniert die Jugendförderung gut. Als grosses Plus sehe ich zudem, dass die Schweiz so klein ist. Das macht es einfacher, mit anderen zu trainieren, da wir uns durch die kurzen Distanzen oft treffen und gemeinsam Sport treiben können. Das ist in Schweden schwieriger, denn wenn beispielsweise verschiedene Athleten in Göteborg und Stockholm wohnen, sind die Distanzen viel länger, um sich zu treffen. Ein weiterer Vorteil besteht in der Topografie der Schweiz, da uns so viele verschiedene Geländetypen zur Verfügung stehen, um zu trainieren: der Jura, das Tessin oder die Voralpen, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir sind dies von klein auf gewohnt, in anderen Ländern aber sind diese verschiedenen Geländetypen wesentlich schwieriger zu erreichen. Dies ist ein klarer Vorteil für uns.
Welchen Wettbewerb bevorzugen Sie? Alleine gegen die Zeit zu rennen oder den Teamwettkampf? Grundsätzlich handelt es sich beim OL
schon um einen Einzelwettkampf. Was ich an den Staffelwettkämpfen (Team) schön finde, ist, dass wir da den Teamgeist ausleben können. Wir sind dann keine Kon-
kurrenten, sondern denken uns: «Wir Schweizer können es allen zeigen!» Dies ermöglicht es, zusammen ein Ziel zu erreichen und sich gemeinsam über einen Erfolg zu freuen.
Welche Region gefällt Ihnen am besten für OL-Läufe? Skandinavien gefällt mir schon gut aufgrund der schönen Wälder.
Orientierungsläufe finden auch in der Stadt statt. Wie gefallen Ihnen diese Stadtläufe?
Ich finde die Eventatmosphäre toll. Spannend ist zudem, dass ich in einem Stadtsprint schnelle Entscheidungen fällen muss und zusätzlich die physische Kondition eine grosse Rolle spielt. Das Training in der Stadt finde ich hingegen nicht so angenehm, weil ja die anderen Leute nicht wissen, dass ich am Trainieren bin. Wenn ich also plötzlich aus einer Querstrasse gerannt komme, muss ich aufpassen, dass ich nicht mit jemandem kollidiere oder jemanden erschrecke.
Was ist Ihre Aufgabe bei den SBB? Ich arbeite im Nachhaltigkeitsteam. Das bedeutet, dass wir Strategien insbesondere im Zusammenhang mit ökologischen Themen entwickeln und umsetzen. ich begleite Projekte im Bereich Kreislaufwirtschaft und versuche herauszufinden, wie wir den Rohstoffverbrauch reduzieren können. Ein zweites Projekt betrifft die Mobilität der Mitarbeitenden. In dessen Rahmen wird zum Beispiel untersucht, wie die 35 000 Angestellten zur Arbeit kommen. Das Schöne an diesen Projekten ist für mich, dass ich mit ihnen etwas bewegen kann. Denn viele Verhaltensweisen sind zur Gewohnheit geworden, und die meisten Firmen machen sich wenig Gedanken oder betreiben keinen so umfassenden Ansatz wie die SBB.
Weshalb sind Themen rund um die Nachhaltigkeit für Sie wichtig? Es ist klar, dass wir unser Verhalten ändern müssen. Schliesslich findet der Klimawandel statt, das ist ein Fakt. Die Herausforderung für uns Läufer ist dabei natürlich, dass wir oft reisen müssen, um zu trainieren. Ich selbst habe allerdings kein Auto, weil ich mit den ÖV in der Schweiz fürs tägliche Training in den Wäldern überall hinkomme. Das Bewusstsein hat sich bei uns aber auch generell verändert, es gibt beispielsweise Athleten, die vermehrt aufs Fliegen verzichten und mit dem Zug an Wettkämpfe in Europa reisen.
Gibt es einen Traum, den Sie sich erfüllen möchten? Ich lebe eigentlich ziemlich in der Gegenwart und nehme alles vorzu. Deshalb habe ich auch keinen speziellen Traum, schliesslich mache ich mir nicht so viele Gedanken darüber, was noch kommen wird.
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Foto: Rémy Steinegger
Emotionen pur nach dem Sieg im Knockout-Sprint an der EM 2021 in Neuenburg.
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Ein grosser Erfolg: drei Medaillen an der Weltmeisterschaft in Tschechien.