SEK bulletin 2/2010

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Nr. 2 2010

bulletin

sek · feps

Das Magazin des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes

Wie die Reformierten wahrgenommen werden 4 DAS GESPRÄCH

15 KIRCHE AUF DEM MARKT

25 GLOBAL REFOMIERT

Interview zum Image der Schweizer Reformierten

Was es für die Kirche bedeutet, im Wettbewerb zu stehen

Zur Gründung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen

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NEUE STUDIEN

Wann und wie Journalisten über Religion berichten

ZUM BEKENNTNIS BEKENNEN

Die Suche nach dem verbindlichen Rahmen

PORTRÄT

Der Schriftsteller Peter Bichsel ist ein trotziger Gläubiger


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bulletin Nr. 2 / 2010

EDITORIAL

Was ist die Geschichte? Liebe Leserinnen, liebe Leser,

IMPRESSUM © Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund SEK Postfach CH-3000 Bern 23 Telefon 031 370 25 25 Fax 031 370 25 80 info@sek.ch, www.sek.ch Erscheinungsweise: 3-mal jährlich Auflage: 6000 deutsch, 1000 französisch Leiter Kommunikation: Simon Weber Administration: Nicole Freimüller-Hoffmann Redaktion: Maja Peter Gestaltung/Layout: Meier Mediadesign Silvan Meier Übersetzung: Aus dem Französischen: Elisabeth Mainberger-Ruh Korrektorat: Elisabeth Ehrensperger Nicole Freimüller-Hoffmann Druck: Schläfli & Maurer AG, Interlaken Titelbild: KEYSTONE/Alessandro Della Bella

«Was ist die Geschichte», wurde ich in meiner journalistischen Laufbahn an jeder Redaktionskonferenz gefragt, wenn ich ein Thema für einen Artikel vorschlug. Gelang es mir nicht, eine Geschichte zu erzählen und die Kolleginnen und Kollegen so von der Relevanz oder dem Unterhaltungswert des Themas zu überzeugen, konnte ich den Artikel nicht schreiben. Geschichten erzählen, bedeutet unter anderem, an kollektiven Erfahrungen anzuknüpfen, Beziehungen zwischen Menschen, Lebenswelten und Zeiten zu schaffen, Gefühle zu wecken. Die reformierte Kirche ist nicht nur mit der Bibel, sondern darüber hinaus reich an Geschichten. Alle Menschen, die je getauft wurden, sich konfirmieren liessen, vielleicht sogar in der Kirche heirateten oder an einer Beerdigung teilnahmen, sind mit Pfarrpersonen, der Gemeinschaft und der Institution Kirche über eine Geschichte verbunden. Ein Beispiel: Als ich die Kolleginnen und Kollegen der Geschäftsstelle SEK anfragte, ob sie fürs vorliegende bulletin ein Foto ihrer Konfirmation besteuern könnten, bekam ich die nächsten Tage nicht nur ein paar Bilder, sondern unzählige Geschichten. Sie füllten ganze Kaffeepausen. Natürlich sind solche Geschichten höchstens Lokalradios und -zeitungen einen Artikel wert. Aber sie sind ein Schatz, wenn es darum geht, Beziehungen zu den Mitgliedern der Kirche und den Ausgetretenen zu pflegen. Die Kirche hat das grosse Privileg, die Menschen in emotionalsten Momenten zu erleben und mit ihnen Geschichten zu schreiben. Deshalb sollte es für die Reformierten nicht allzu schwer sein, einige der Vorschläge der Theologen und Kommunikationsexperten im Heft zu beherzigen und das zu tun, worin sie reiche Erfahrung haben: zu erzählen. Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre Maja Peter Redaktorin


Inhalt

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EINE FRAGE, ZWEI ANTWORTEN

WELTGEMEINSCHAFT REFORMIERTER KIRCHEN

Sollen sich die reformierten Kirchen aktiv um Mitglieder bemühen?

Global reformiert. Von Serge Fornerod

Von Frank Worbs und Heinz Fäh

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DAS GESPRÄCH

«Das Mitwirken in der Kirche wird viel zu selten als lustvolles Ereignis angesehen.»

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Maja Peter im Gespräch mit Professor Thomas Schlag

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AUGENBLICK

Noahs Geschichte als Comic. Von Robert Crumb

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PORTRÄT

«Erzählen ist der Weg in die Stille.» Stephanie Riedi über den Schriftsteller Peter Bichsel

EKKLESIOLOGIE

Kirche auf dem Markt.

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Von Albrecht Grözinger

VERNEHMLASSUNG SEK

Zu Bekenntnissen bekennen. KOMMUNIKATION

Wie Medien Religion inszenieren. Von Vinzenz Wyss

Von Félix Moser

SCHLUSSPUNKT

Der Standpunkt und seineVerwandten: Credo, Bekenntnis, Status confessionis. Von Silvia Pfeiffer


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– Das Gespräch

«Das Mitwirken in der Kirche wird viel zu selten als lustvolles Ereignis angesehen» Als bemüht und schwer bezeichnet Thomas Schlag das Image der reformierten Kirche. Der Professor, Mitbegründer und Leiter des neuen Zentrums für Kirchenentwicklung (ZKE) der Universität Zürich plädiert für weniger Biederkeit und mehr Mut zum Experiment.

VON MAJA PETER *

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err Schlag, wie würden Sie das Image der Reformierten umschreiben? Es gibt unterschiedliche Images der reformierten Kirche, die stark davon abhängen, wie nah oder wie fern jemand der Kirche ist.

ten, weil eine bestimmte Atmosphäre herrscht: Gesellig im guten Sinn, durchaus intellektuell, aber auch fröhlich und feiernd. Kirche müsste als etwas Lebensdienliches erscheinen, im ernsten und im leichten Sinn. Das erleben viele nicht so.

Wie ist das Image bei kirchenfernen Menschen? Da gibt es viele Annahmen, die eher negativ sind: die reformierte Kirche sei langweilig, nicht am Puls der Zeit, bieder, stark reglementierend, verknöchert. Wenn man als kirchennahe Pfarrperson eine Sprache spricht, die verständlich und zeitgemäss ist oder Humor zeigt, sind diese Leute überrascht. Kirche wird immer noch mit dem 19. Jahrhundert verbunden. Diese Vorurteile können sich aber schnell ändern, wenn Kirchendistanzierte Kontakt zu Pfarrpersonen haben, die am Puls der Zeit sind.

Wie sehen Sie persönlich die reformierte Kirche? Sie steht in einer Marktsituation mit ernst zu nehmender Konkurrenz. Sie hat den Vorteil, dass sie auf eine lange Tradition zurückgreifen kann. Fragt sich allerdings, ob die Tradition noch immer für sie spricht oder nurmehr Vergangenheit darstellt. Ich sehe viele ernsthafte Versuche von Pfarrerinnen und Pfarrern, neue Wege zu gehen, um die Menschen zu erreichen − zum Beispiel, in der Konfirmationsarbeit. Ich sehe aber auch Überforderung, weil sich die Zielgruppen ausdifferenzieren und die Milieus auseinanderdriften. Das ist von einer einzigen Person oder von einem kleinen Team nicht zu leisten. Ich sehe Grenzen in den bisherigen kirchlichen Strukturen.

Was ist das Image bei kirchennahen Menschen? Die Kirche ist im doppelten Sinn bemüht. Sie bemüht sich darum, Reformprozesse anzustossen und Menschen in ihren Gemeinden anzusprechen. Das wird aber nicht selten von den Beteiligten selbst als mühevoll empfunden. Das Mitwirken in der Kirche wird viel zu selten als lustvolles Ereignis angesehen. Vieles ist ein bisschen sehr schwer. Soll Kirche lustvoll sein? Ich hoffe doch. Kirche sollte ein Ort sein, von dem Menschen sagen, dass sie sich gerne dort aufhal-

Auch finanzielle? Geld ist noch vergleichsweise viel da − insbesondere im Vergleich zum Ausland. Ich war eben in den USA. Dort sind die Kirchen zum Teil in ihrer Existenz bedroht. Sie betrachten das als Notwendigkeit zum Aufbruch. Und doch wird weniger gejammert als hier. Wie sieht dieser Aufbruch aus? Die sagen sich und den Kirchenmitgliedern,


wenn wir nicht aktiv werden, dann verschwinden wir vom Markt. Man fühlt sich für die lokale Kirchgemeinde verantwortlich, weil es keine Superstruktur gibt mit Kirchensteuern oder sonstigen Zuwendungen. Die Frage ist, ob dieses Szenario mit Verzögerung nicht auch den hiesigen reformierten Kirchen droht.

Das Gespräch

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Zum Beispiel? Etwa mich auf eine Liturgie oder schlicht auf eine Predigt einlassen zu müssen. Viele Leute wollen sich heute von einer Institution oder ihren Repräsentanten nichts mehr sagen lassen. Ein klassischer Fall: Eine Familie will ein Kind taufen lassen, möchte aber, dass der Gottesdienst an einem Samstagnachmittag unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Auf den ersten Blick ist das völlig verständlich, handelt es sich doch um ein Familienfest. Doch Taufe bedeutet auch, hinein getauft werden in eine Gemeinschaft. Mit dieser Zugehörigkeit über die eigenen privaten Wünsche hinaus tun sich viele Menschen schwer.

SUSI BODMER/AARGAUER ZEITUNG

Die Menschen sind heute nicht weniger religiös als früher, das belegen Studien. Warum schafft es die reformierte Kirche nicht, das Bedürfnis nach Spiritualität zu befriedigen? Die Kirche hat mehr Verbindlichkeitscharakter als dies für alternative Spiritualitätsfor«Die Kirche ist bemüht. men gilt. Denn das Individuum Wie soll die Kirche damit ist theologisch gesprochen einDas meine ich im doppelten umgehen? gebunden in eine Idee von GeSinne.» Man muss Menschen, die meinschaft, auf die man sich einihre eigene Spiritualität sulassen muss. Für Kirchen ist der chen, so viel Raum geben, dass Einzelne immer Teil des grössesie ihre eigene Form innerhalb der Kirche leben könren, von Gott her bestimmten Ganzen. Das bedeutet, nen. Aus meiner Sicht kann heute Dogmatik nur noch dass ich mich an bestimmten Standards orientieren heissen, Theologie ins Gespräch zu bringen. Sie soll muss, wenn ich teilnehme.

Thomas Schlag regt an, den Kontakt mit den Kirchenmitgliedern besser zu pflegen. Er selbst wurde vom Pfarrer seiner Kirchgemeinde bis heute nie kontaktiert.


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offen sein für Interpretationen. Zu meinen, man könne in exlusiv-eindeutiger Weise vom Glauben oder von biblischen Traditionen reden, ist eine Illusion. Sie sagen «ins Gespräch bringen». In einem Gottesdienst findet aber kein Gespräch statt. Nein, aber eine Predigt kann, nein, muss offen sein für unterschiedliches Hören und Verstehen. Zudem gibt es verschiedene Formen der Partizipation, etwa Nachgespräche oder das gemeinsame Vorbereiten einer Predigt. Das ist aufwändig, aber die klassische Form mit einem, der vorne sagt, wie es wirklich ist, ist nicht mehr zeitgemäss. Immer mehr Pfarrpersonen machen das auch nicht mehr so.

ihre Fachkompetenzen in die Kirche einbringen könnten. In Chicago gibt es eine Kirchgemeinde mit einer gebildeten, gutbürgerlichen Oberschicht, die grosse Probleme hatte. Da hat die Pfarrerin einen Kreis von Künstlern gebildet, die sich gemeinsam mit Glaubensfragen auseinandersetzen. Was können Pfarrer und Pfarrerinnen von Kulturschaffenden lernen? Die Pfarrer kleben noch immer am reformierten Wort. Von Künstlerinnen können sie die Ausweitung der Ausdrucksformen lernen. Die Theologie muss Mut zum Experimentieren haben. Das muss nicht am Sonntag sein, nicht im Kirchenraum. Den eigenen Geist durchwehen zu lassen und eine gewisse Biederkeit der Sprache abzulegen, wäre wichtig. Viele Pfarrer können nicht erzählen – vielleicht weil sie sich zu wenig für die vielfältigen Sprach- und Ausdrucksstile der Gegenwart interessieren. Die Theologie ist angewiesen auf den guten Umgang mit dem Wort, auf die Fähigkeit, Dinge literarisch auf den Punkt zu bringen.

Wenn jemand, der sonst nicht in die Kirche geht, an einer Taufe oder an einer Hochzeit teilnimmt, und das Pech hat, auf einen Prediger alter Schule zu treffen, ist er für Jahre verloren für die Kirche. Kasualien sind spannungsreiche und riskante Momente. Im guten Sinne riskant. Der Pfarrer hat die Chance, Leute zu überzeugen, die sonst nicht «Ohne Lebensin der Kirche sind. Aber es bebezug bleibt Theologie steht auch das Risiko, Leute in eine Geheimsprache.» ihren Vorurteilen zu bestätigen. Ein Kippmoment. Ein klassischer Fall ist auch die Abdankung. Angehörige sagen beispielsweise einer Pfarrerin im Vorgespräch, das Lieblingslied des Verstorbenen sei «I can’t get no satisfaction» von den Rolling Stones gewesen. Dem möchten sie Rechnung getragen wissen. Soll das gespielt werden in der Kirche, oder nicht? Wichtig ist, dass sich die Pfarrerin auf die Frage einlässt. Wenn sie abblockt, kann nichts mehr stattfinden, kein Seelsorgegespräch, nichts. Die Situation ist eine riesige Chance für die Kirche, denn der Wunsch der Angehörigen zeigt, dass sie die Abdankung wichtig finden und ernst nehmen. Wie kann die reformierte Kirche den Mitgliederkreis erweitern? Pfarrerinnen und Pfarrer müssen intensiver als bisher mit den Menschen in der Gemeinde Kontakt aufnehmen, deren Milieu nicht kirchennah ist: Zum Beispiel Künstlerinnen, Musikerinnen, aber auch Unternehmerinnen und Journalisten, ganz zu schweigen von den politisch Verantwortlichen einer Gemeinde, aber auch ganz einfache Menschen, die auf den ersten Blick kaum etwas einzubringen haben. Und zwar, um mit ihnen ins Gespräch über Glaubensfragen zu kommen und um über Möglichkeiten zu sprechen, wie sie

Und wie ist es mit Bildern bei den Reformierten? Zwingli ging es mit dem Verbannen von Bildern aus den Kirchen nicht darum, die Menschen zu lustlosen Asketen zu machen. Mir gefällt die Deutung, die besagt, der Zürcher Reformator habe leere Wände haben wollen, damit die Menschen sie neu beschreiben können mit dem, was sie persönlich angeht. Zwingli hatte etwas gegen den goldenen Schmuck der Mächtigen, der den Kirchgängern aufgezwungen wurde. Es entspricht sehr wohl reformierter Tradition, eigene Vorstellungen und Bilder, eigene Lebendigkeit in die Kirche zu bringen. Ohne Lebensbezug bleibt Theologie eine Geheimsprache. In einer grossen Stadt ist es schwierig, Leute aus kirchenfernen Kreisen ausfindig zu machen. Pfarrerinnen und Pfarrer müssen wahrnehmen, was um die Kirche herum stattfindet. Vieles ergibt sich, wenn man die Sinne schärft. Im Konfirmandenunterricht habe ich zum Beispiel einmal erfahren, dass der Vater eines meiner Konfirmanden Illustrator für Kinderbücher ist. Ich sprach ihn bei Gelegenheit an. In den USA werden die Pfarrer geschult darin, zu beobachten, was in ihrer Gemeinde, in ihrem Sozialraum geschieht. Sie sagen, «There is a difference between congregation and community», also zwischen Kirchgemeinde und sozialer Gemeinschaft. Sie trennen das aber nicht nach europäischem Vorbild in eine


weltliche und göttliche Sphäre, sondern sprechen von einem gemeinsamen, spirituell und politisch zu bearbeitenden Sozialraum. In einem Sozialraum leben die verschiedensten Menschen. Da sitzt die Arbeiterin neben der Intellektuellen im Gottesdienst, die auf verschiedene Weise angesprochen werden müssten. Ein unlösbares Problem? Natürlich bringen die Menschen verschiedene Reflexionsniveaus mit in die Kirche. Der mittlere Angestellte will etwas anderes vom Pfarrer als die global mobile Akademikerin, sie hört aber auch anderes. Eine Pfarrerin kann innerhalb eines Gottesdienstes nicht alles abdecken. Es braucht daneben zielgruppenorientierte Ereignisse. Eine Relativierung sozialer und intellektueller Unterschiede kann aber dann geschehen, wenn es um menschliche Grundfragen geht, etwa um Lebenssinn, ums Sterben. Man muss elementar und existentiell bedeutsam sprechen.

Das Gespräch

immer für Aha-Effekte gesorgt hatte, waren Geburtstagsbriefe. Nicht nur an die 88jährigen, sondern an den, der volljährig wird, an den Dreissigjährigen und so weiter. So signalisiert man: Ich nehme Dich wahr. Ein Kirchenpflegemitglied wird Ihnen entgegnen, dass die Ressourcen dafür nicht vorhanden sind. Ich sehe nicht im Einzelnen, wie hier die Gelder innerhalb von Kirchgemeinden verteilt werden. Von deutschen Landeskirchen weiss ich, dass relativ viel Geld in Bau- und Erhaltungsmassnahmen fliesst. Ob das so sein muss, wäre eine Überprüfung wert. Hier wie dort erlebe ich eine völlig ausufernde Sitzungskultur innerkirchlicher Gremien. Ich frage mich, ob die Zeit, die dort verbracht wird, nicht sinnvoller in Feldbegehungen investiert wäre. Ich plädiere für eine Verschlankung der Gremien und für eine andere Prioritätensetzung. Und dann kommt noch eine weitere Möglichkeit hinzu: In den USA arbeiten in Kirchgemeinden ganz viele Freiwillige. Man könnte also einen literarischen Profi der Gemeinde fragen, ob er einen solchen Geburtstagsbrief entwerfen könnte.

Auch so können Sie nicht verhindern, dass sich Leute «Die Volkskirche als Verausgeschlossen fühlen. sorgungskirche funktioniert Ein Gottesdienst ist ein exWir haben keine vergleich­ in Zukunft nicht mehr.» trem anspruchsvolles Format, bare Freiwilligen-Kultur. vermutlich die schwierigste Da braucht es einen MenForm der öffentlichen Rede. Ein talitätswechsel. Die Volkskirche Gemeindepräsident ist nicht darauf angewiesen, dass als Versorgungskirche funktioniert in Zukunft nicht die Leute das nächste Mal wieder zu seiner Rede kommehr. Wenn die Zahl der Reformierten so abnimmt men, eine Pfarrperson aber schon. Zum Glück besteht wie in den letzten fünfzehn Jahren, dann werden wir ein Gottesdienst aus verschiedenen Teilen. Jemanden nicht nur zur Minderheitenkirche, sondern die bishespricht an einem Tag vielleicht die Predigt an, den anrigen Strukturen trocknen aus. Das sehen wir ansatzderen die Fürbitte oder ein Lied. weise bei den kaum steigenden Studierendenzahlen, bei der Mitgliederentwicklung, an manch grossen Wir sprechen jetzt nur vom kleinen Kreis derer, die Kirchgebäuden, die kaum noch regelmässig für Gotin die Kirche gehen. Wie sollen Menschen angetesdienste genutzt werden. Kirche kann nur weiter sprochen werden, die ausgetreten sind? existieren, wenn die Menschen sich verantwortlich Man sollte sich darauf konzentrieren, zu verhinfühlen für sie und mitmachen. Das ist auch biblisch: dern, dass die Menschen austreten. Viele sind durch Kirche wird auf allen Schultern getragen, nicht nur eine einzelne Begegnung abgeschreckt worden. Oder von Funktionären und Angestellten – und dies hofsie wurden gar nie willkommen geheissen. Ich bin fentlich aus innerem Antrieb. So finde ich es problezum Beispiel vor einem Jahr in Zürich in ein anderes matisch, wenn etwa das Vertragen des GemeindebrieQuartier gezogen. Der Pfarrer meiner Kirchgemeinde, fes oder ehrenamtliche Arbeit überhaupt mit Lohn der keine 300 Meter entfernt wohnt, ist bis jetzt nicht bezahlt wird. < auf den Gedanken gekommen, mit mir Kontakt aufzunehmen. Man muss die Mitglieder pflegen. Wie? Zum Beispiel mit einem Besuchsdienst. Wenn jemand frisch zuzieht, soll er einen Brief bekommen, in dem ein Anruf angekündigt wird, der einem Besuch vorausgehen kann. Oder was in meinen Gemeinden

* DR. THOMAS SCHLAG ist Professor für Praktische Theo-

logie, Mitbegründer und Leiter des neuen Zentrums für Kirchen­­en­twicklung (ZKE) an der Universität Zürich. MAJA PETER ist

Redaktorin des bulletins.

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– Kommunikation

Obwohl Margot Kässmann im Februar 2010 als Rats– vorsitzende der Evangelischen Kirche Deutschlands zurück– getreten ist, schickt eine amerikanische Fotoagentur ihr Bild vom Ökumenischen Kirchentag von Mai 2010 um die Welt. Eine Bischöfin, die alkoholisiert Auto fährt, interessiert die Medien mehr als die Ökumene selbst.

MIGUEL VILLAGRAN/GETTY IMAGES KEYSTONE

Wie Medien Religion inszenieren


Kommunikation

Wenn es um die Präsenz in den Schweizer Medien geht, rennen der Katholizismus und der Islam dem Protestantismus den Rang ab. Dies belegen neue Studien zur Religionsberichterstattung. Aus den Erkenntnissen lassen sich Schlussfolgerungen für die Kommunikationsstrategie der Reformierten ableiten.

VON VINZENZ WYSS  *

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er 26-jährige Schweizer Gibril Muhammad Zwicker ist vor zwei Jahren zum Islam konvertiert und will Hauptmann der Schweizer Armee werden. Mit diesem Anliegen ist dem gelernten Thurgauer Maschinenbaukonstrukteur die Aufmerksamkeit der Journalistinnen und Journalisten sicher. Das Thema hat Nachrichtenwert, weil mit dem Vorhaben des streng Gläubigen Irritationen ausgelöst werden und Irritationen das Geschäft der journalistischen Aufmerksamkeitsproduktion sind. Journalistische Medien thematisieren Ereignisse und Handlungen vor allem dann, wenn diese erwartete soziale Ordnungen real oder potenziell stören oder bedrohen. Eine solche Irritation kann auch im Fall des Offizieranwärters konstruiert werden. Etwa, indem dem Mann mit Vollbart in Interviews ein Gewissenskonflikt unterstellt wird, wenn er gefragt wird, wie er sich bei einem Terroranschlag von Islamisten als Hauptmann verhalten würde. Die Medien inszenieren den möglichen Konflikt zwischen einer Sicherheit garantierenden Armee und einem muslimischen Offizier, der öffentlich bekennt, bedingungslos Allah dienen zu wollen und noch dazu Mitglied ist beim umstrittenen Islamischen Zentralrat Schweiz. Typisch an dieser Geschichte ist auch, wie sie Religion als Thema anklingen lässt. So erfahren wir etwa, worin für Gibril Muhammad Zwicker der Sinn des Lebens besteht oder dass er die fünf täglichen Pflichtge-

bete nicht in einem einzigen zusammenzufassen möchte, wie dies ein Armeemerkblatt für den Umgang mit nichtchristlichen Rekruten vorsieht. Religiosität, bzw. religiöse Praktiken bilden auch hier nicht das Hauptthema, im Mittelpunkt steht vielmehr der Konflikt zwischen (bedrohter) Sicherheit und (bedrohendem) Fundamentalismus. Religion als Thema schafft es kaum aus sich heraus in die Medien. Zu diesem Schluss kommen zwei neue Schweizer Studien zur Religionsberichterstattung und zu journalistischen Inszenierungsstrategien. Sie wurden an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften realisiert und vom Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Die Medienwissenschafterin Carmen Koch hat über ein Jahr hinweg Artikel und Beiträge zu religiösen Themen aus Schweizer Tageszeitungen und Nachrichtensendungen inhaltsanalytisch untersucht. Ergänzend dazu habe ich mit dem Dozenten Guido Keel 35 Schweizer Journalisten und Journalistinnen derselben Medien zu ihrem Umgang mit Religionsberichterstattung interviewt.

Katholizismus und Islam dominieren

Die Studien zeigen auf, dass die mediale Berichterstattung über Religionsgemeinschaften und religiöse Themen vom Katholizismus und vom Islam dominiert wird. Der Anteil der Beiträge, die sich mit dem Protestantismus beschäftigen, ist im Verhältnis ver-

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schwindend klein. Möglicherweise fehle «dem Protestantismus eine interessante Führungsperson, wie die Katholiken sie mit dem Papst haben», folgert Koch. Sie stellt zudem fest, dass der Protestantismus kaum im Zusammenhang mit «Skandalen, Konflikten oder extremen Positionen» thematisiert werde. Tatsächlich ist die Dominanz der katholischen Kirche in der Berichterstattung auch mit Skandalen und Konflikten zu erklären. Viele Berichte beziehen sich zum Beispiel auf die Aufdeckung von Fällen pädophiler Priester. Solche Vorkommnisse rufen auf klassische Weise die Aufmerksamkeit der Medienschaffenden hervor, die reflexartig reagieren, wenn Geistliche jene Moral verletzen, die sie selbst propagieren.

Religion allein hat keinen Nachrichtenwert

Nachrichtenwert verfügt. «Das Thema ist ein ‹Gähn›», sagt etwa ein Redaktor eines kommerziellen Fernsehsenders oder der Chefredaktor einer Gratiszeitung meint, dass Religion nicht «sexy» sei. Die Gespräche verdeutlichen, dass religiöse Themen für Medienschaffende an Bedeutung gewinnen, wenn sie in Verbindung gebracht werden können mit politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, künstlerischen, sportlichen, erzieherischen oder wissenschaftlichen Themen. Ein Redaktor bringt dies so auf den Punkt: «Am besten ist Religion gekoppelt mit Sex, Gewalt, Erziehung, Schule oder Staat. Rein religiöse Fragen sind weniger interessant.» Dies drückt genau das aus, was wir in der Journalismusforschung «Mehrsystemrelevanz» nennen. Es entspricht der Logik des Journalismus, Themen bevorzugt dann zu bearbeiten, wenn sie in mehr als einem gesellschaftlichen Bereich als relevant erscheinen und Resonanz oder Anschlusskommunikation auslösen.

Insgesamt stellt die Inhaltsanalyse fest, dass religiöse Aspekte primär dann von den Medien thematisiert werden, wenn sie mit politischen Themen gekoppelt sind. Neben dem Buddhismus gilt dies stark für den Islam, wobei hier vor allem die vom AuslandjournalisEine Geschichte muss es sein mus thematisierten Konflikte, Krisen und Kriege, bzw. Die Koppelung religiöser Aspekte mit anderen die darin involvierten religiösen Gruppen, ins Gewicht Themen erfolgt aber nicht additiv. Weil Journalistinfallen. Religion an sich, das heisst religiöse Inhalte, sind nen und Journalisten ihre Themen in eine Erzählselten Thema der aktuellen Berichterstattung. struktur giessen, müssen die verschiedenen Aspekte Dieser Befund von Carmen Koch wird in der (etwa Religion und Gewalt) einander konflikthaft oder qualitativen Studie von Wyss/Keel weitgehend bestäzumindest irritierend gegenüber stehen, damit sie für tigt. Die befragten Journalisten und Journalistinnen Medienschaffende interessant sind. Die Geschichte haben in der Regel nur vage Vorstellungen von dem, des zum Islam konvertierten Schweizers, der Hauptwas sie mit dem Begriff «Religion» assoziieren sollen. mann werden will, ist dafür ein Musterbeispiel. Es dominiert ein Verständnis von Religion, das auf die Die journalistische Inszenierung von Realität ist religiösen Institutionen fokussiert: «Religion ist alles, geprägt vom Zwang, Komplexität zu reduzieren. Dies was mit Kirche zu tun hat, so genannte verfasste Religelingt dem Journalismus am besten, wenn er Ereiggion», sagt etwa ein Redaktor. Wenn aber Religion mit nisse und Handlungen im Rahmen von Geschichten Transzendenz in einen Zusamerzählt. Die Narrationsforschung menhang gebracht wird, betonen hat dazu Erkenntnisse vorgelegt, die Journalisten sofort, dass soldie auch für die journalistische BeEin Befragter stellt fest, che Aspekte kaum einen Aktualirichterstattung über religiöse Thedass Religion dann tätsbezug hätten und journalismen gelten und in den oben getisch eher nicht kommunizierbar nannten Studien bestätigt wurden. spannend sei, «wenn die seien. So geben denn auch in eiGemäss den Aussagen der befragReligion mit Standards ner aktuellen, repräsentativen ten Journalisten und Journalistinkollidiert.» Journalistenumfrage nur 4 Pronen steigt die Wahrscheinlichkeit, zent, bzw. 11 Prozent der Schweidass religiös motivierte Handlunzer Journalisten an, dass sie sehr gen zum Medienthema gemacht oft, bzw. häufig mit dem Thema Religion konfrontiert werden, wenn sie einem narrativen Muster folgen. Das seien. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch heisst, wenn die darzustellende Handlung in einen die Religionszugehörigkeit der Medienschaffenden: 32 zeitlichen Ablauf (mit Anfang und möglichem Ende) Prozent von ihnen sind evangelisch, 31 Prozent kathogegossen werden kann, die (archetypischen) Rollenlisch. Die grösste Gruppe bilden mit 34 Prozent die träger der Geschichte klar identifizierbar sind und die Konfessionslosen. aktuelle Handlung auf eine generelle BedeutungsebeDie befragten Journalisten sind der Ansicht, dass ne verweist. In der Inhaltsanalyse konnte beispielsweiReligion aus sich selbst heraus kaum über genügend se festgestellt werden, dass Buddhisten und Juden


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meistens als Opfer in negativ konnotierten Handlungen dargestellt werden. Muslime generell und Schiiten im Speziellen werden hingegen eher als Auslöser oder Mitschuldige identifiziert. Die Möglichkeit zur Personalisierung spielt im einzelnen Beitrag eine ganz zentrale Rolle. Dies formuliert ein Redaktor so: «Es braucht entweder eine sehr bekannte Figur wie den Dalai Lama, den Papst, einen Schweizer Kardinal oder halt eine sehr überzeugende Figur wie zum Beispiel die unbekannte Baptistin von Fribourg, die irgendwie überraschend ist.»

Köpfe, Köpfe, Köpfe

Religiöse Themen interessieren dann, wenn sie eine erwartete politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche oder auch eine natürliche Ordnung irritieren oder umgekehrt. «Wenn bei einem Lawinenunglück von Schweizer Rekruten der Bundesrat im Berner Münster predigt, ist Religion sehr gefragt.» Neben pädophilen oder liierten katholischen Priestern nennen die Journalisten auch das Spannungsfeld zwischen säkularer Gesellschaft und Religion als Dauerbrenner. So stellt ein Befragter fest, dass Religion dann spannend sei, «wenn die Religion mit Standards kollidiert.» Das Verbot von Kirchenbauten oder von umstrittenen religiösen Ritualen, staatliche Kleidervorschriften oder ein gestörtes Verhältnis zwischen Kirche und Staat oder zwischen einer Kirchgemeinde und ihrem Bischof werden als weitere Beispiele genannt.

Strategien für die Reformierten

Was kann nun also – zusammenfassend – aus all dem für die Kommunikationsstrategie einer Religionsgemeinschaft und insbesondere der Reformierten gelernt werden? Die Verantwortlichen der Reformierten haben dann eine Chance, ihre Themen in den Medien zu platzieren, wenn sie in ihren Stellungnahmen religiöse Aspekte und Glaubensfragen koppeln mit anderen irritierenden gesellschaftlichen Perspektiven. So können Moral- und Ethikperspektiven bestimmter Religionsvertreter journalistische Geschichten etwa zu Managerlöhnen, zum Bankgeheimnis, zum Sonntagsverkauf, zum Klimawandel, zum Burkaverbot oder zu Migrationsfragen gut ergänzen. Wichtig ist dabei, dass die religiöse Perspektive in ihrem Kern benannt wird und wertbezogen (Menschenwürde, Solidarität, Toleranz etc.) kommuniziert wird. Zudem muss die narrative Struktur der tragenden Geschichte augenfällig sein. Die Kommunikationsspezialisten müssen deshalb lernen, in ihrer Arbeit die narrativen Strukturen journalistischer Geschichten zu berücksichtigen und

Relevanz hat am Fernsehen nicht erste Priorität. Das exotische Bild einer vollverschleierten Schweizerin genügt dem Medium, um einer extremen Minderheit eine Plattform zu bieten.

ihre (archetypische) Rolle als Religionsvertreter im Rahmen der dominanten Erzählung einzunehmen – und diese möglichst positiv zu gestalten. Schliesslich sind auch hier Köpfe gefragt. Argumente müssen personalisiert werden, auch wenn es da die katholische Kirche leichter hat. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund hat aber mit ihrem Präsidenten Pfarrer Thomas Wipf eine gute Ausgangslage. < Mehr Informationen dazu: Vinzenz Wyss & Guido Keel: Religion surft mit. Journalistische Inszenierungsstrategien zu religiösen Themen. Carmen Koch: Das Politische dominiert. Wie Schweizer Medien über Religionen berichten. Beide Artikel sind erschienen in der Zeitschrift «Communicatio Socialis», Heft 4, 2009.

* DR. VINZENZ WYSS ist Professor für Journalismus

und Medienforschung am Institut für Angewandte Medienwissenschaft der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur.


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– Eine Frage, zwei Antworten

Sollen sich die reformierten Kir bemühen oder genügt es, die Tü Aber die Entwicklung muss weiter gehen. Es genügt nicht, das mediale Bild von Kirche positiv zu beeinflussen oder ein neues Glaubensbekenntnis als «Referenztext» auszuarbeiten, um wahrgenommen zu werden. Kirchenaustritte können so nicht verhindert werden.

Lernen vom Autohändler

Das einzelne Mitglied, speziell das wenig verbundene, das keine Leistungen bezieht und nicht am kirchlichen Leben teilnimmt, verdient mehr Aufmerksamkeit. So könnten zum Beispiel seine Geschichte mit der Kirche, seine persönlichen Eindrücke und Erinnerungen an die Kirche viel bewusster und sorgfältiger im Mitgliedermarketing aufgenommen werden. Eigentlich liegt da unsere Stärke: Wir kommen den Menschen in einer von virtuellen Netzwerken zunehmend durchdrungenen Welt noch ganz persönlich nah: Bei Besuchen, Taufen, Konfirmationen, Trauungen zum Beispiel. Aber aus den Augen aus dem Sinn. Da können die Kirchen viel von der Kundenpflege eines guten Autohauses lernen. Während das Autohaus sich nach einem Jahr beim Kunden meldet oder ihn zum enn die reformierten Kirchen doch Service einlädt, nach fünf Jahren ein neues Auto anbietet nur schon die Türen ihrer Kirchen ofund dies alles genau abgestimmt auf fen halten würdas Leben des Kunden, melden sich den! Abgeschlosdie Kirchgemeinden selten persönsene Kirchentüren sind nur ein Das einzelne Mitglied, lich bei den Mitgliedern, um an poBeispiel dafür, wie die reformierten speziell das wenig verbunsitiven, gemeinsamen Erlebnissen Kirchen mitunter an den Wünanzuknüpfen. Gute Gelegenheiten schen und Bedürfnissen ihrer Mitdene, verdient mehr Aufwären zwanzig Jahre nach der Konglieder vorbei denken und handeln. merksamkeit. firmation oder zehn Jahre nach der Wenn sie weiterhin Volkskirche Hochzeit. Die Beziehung mit unseund nicht nur Bekenntniskirche ren Mitgliedern pflegen, persönlich sein wollen, das heisst, auch Tradiabgestimmt auf ihren Lebenslauf, das ist eine von vielen tion, Offenheit, Solidarität oder andere Werthaltungen Möglichkeiten, welche die Kirche noch nicht im Blick als Beweggründe zur Mitgliedschaft akzeptieren, müshat. Semper reformanda – das gilt auch für die reforsen sie von den Erkenntnissen des Marketings noch einiges lernen. Vieles haben die reformierten Kirchen mierte Beziehungspflege. < und Gemeinden in den letzten zehn Jahren zwar bereits gelernt: Sorgfältige Medienarbeit, Einsatz verschiedener Kommunikationsmittel, Ausrichtung auf klar definierte * PFARRER FRANK WORBS ist Leiter Kommunikation Zielgruppen oder öffentlichkeitswirksame Kampagnen. der Reformierten Landeskirche Aargau.

Frank Worbs *

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chen aktiv um Mitglieder ren offen zu halten?

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ielleicht existiert die Illusion von volkskirchlicher Selbstverständlichkeit noch in den Köpfen mancher Kirchenleute, die davon ausgehen, dass sich die Menschen zur Kirche verhalten, wie die Patienten zum Arzt − sie werden schon kommen, wenn sie etwas brauchen. Die Saalsorgerinnen und Saalsorger, die leicht resigniert oder gar betupft fragen, warum die sorgfältig formulierte Sonntagspredigt nicht mehr Leute interessiere, haben noch nicht verstanden, dass Kirche heute offensiver, kreativer, dialogischer auf Menschen zugehen muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden. Es reicht nicht mehr, die Türe offen zu halten. Wir müssen neu übersetzen, was es in der urbanen Schweiz des 21. Jahrhunderts bedeutet, Menschen an Hecken und Zäunen oder eben am Strassenrand einzuladen. Wenn es gelingt, sie auf verschiedenen Kommunikationskanälen mit der Botschaft des immer noch gleichen Evangeliums anzusprechen, werden neue Menschen kommen. Vielleicht nicht jene, die wir gerufen haben. Vielleicht werden sie nach einer anderen Sprache und neuen Formen des Kircheseins verlangen. Es fragt sich, ob die Kirchen und Gemeinden bereit sind, sich entsprechend zu entwickeln.

Missionarische Kampagne von Greenpeace

Heinz Fäh *

Vielerorts ist es in der reformierten Kirche jedoch immer noch bequemer, den schleichenden Mitgliederschwund zu beklagen, als kohärente und glaubwürdige Angebote zu schaffen und diese überzeugend zu kommunizieren. Wir müssen neu übersetzen, was es heute bedeutet, Genau darin aber würde die Menschen an Hecken und Schlüsselkompetenz heutiger Kirchenleute liegen. <

Ein gutes Beispiel ist die Kampagne «Credo» der Evangelisch-reformierten Kirche BaselZäunen oder eben am Stadt. In einem sinnvollen DreiStrassenrand einzuladen. schritt fragte sie zunächst innerkirchlich nach den verbindenden biblischen Glaubenswurzeln, dann legte sie der Öffentlichkeit ein Gebetsbuch vor (es war im Nu ausverkauft) und liess schliesslich ein buntes Kirchentram durch die Stadt kurven, das zum Wiedereintritt ermunterte. Ist das aufdringlich? Mag sein. Aber es ist nicht aufdringlicher, als das Glockengeläute und nicht missio* HEINZ FÄH ist Pfarrer in Rapperswil-Jona narischer als eine Kampagne von Greenpeace. und Kirchenrat St. Gallen.

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Die reformierten Kirchen stehen im Wettbewerb mit anderen religiรถsen Gemeinschaften und reagieren unter anderem mit Werbemassnahmen darauf: Oben links die Kampagne der Kirchen der Nordwestschweiz, rechts ein Beispiel aus Neuenburg, unten das Basler Tram.


– Ekklesiologie

Kirche auf dem Markt Die Kirche kann sich ihren Ort nicht aussuchen. Sie ist Teil einer pluralistischen Gesellschaft, die Religionen und Weltanschauungen auf den Marktplatz verweist. Die Kirchen können ihren Platz darauf nur dann weiterhin behaupten, wenn sie sich an den Bedürfnissen ihrer Kunden orientieren. VON ALBRECHT GRÖZINGER *

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er Markt und das Marketing haben bei Theologinnen und Theologen keine gute Presse. «Markt» klingt in vielen Ohren nach Raubtierkapitalismus, nach schamloser Bereicherung durch Boni, nach sich immer weiter auftuender Kluft zwischen Armen und Reichen. Wer wollte sich an einem solchen Ort schon wohl fühlen? Und «Marketing» klingt nach Anbiederung und Anpassung an die Gesetze eben dieses unwohnlichen Ortes. Dieses Vorurteil wird aber weder dem gerecht, was der Markt ist, noch den reflektierten Theorien eines Marketings. Gleichwohl gibt es Tücken und Fallstricke, wenn sich Kirche und Theologie auf den Markt begeben, und wenn sie sich in ihrem Handeln am Marketing orientieren möchten. Im Zwischenraum von vorurteilsbehafteter Ablehnung und unreflektierter Anpassung sehe ich den einzigen Weg, sich den Herausforderungen zu stellen, die von Markt und Marketing ausgehen.

In den Gottesdienst oder ins Fitnesscenter?

Zunächst: Kirche steht schon auf dem Markt. Sie kann sich ihren Ort nicht aussuchen. Wir leben nun einmal in einer Gesellschaft des weltanschaulichen und religiösen Pluralismus. Dieser Pluralismus wird auf dem Markt verhandelt, ob uns das nun sympathisch ist oder nicht. In den Regalen der Buchhandlungen stehen theologisch reflektierte Bücher neben

seriösen und unseriösen New-Age-Ratgebern. In denselben Regalen gibt es nicht die eine Religion Christentum, sondern auch Islam und fernöstliche Religionen, wobei der Bücherbestand an fernöstlichen Religionen nicht selten der grösste ist − was etwas über ihren Marktwert aussagt. Unsere Gottesdienste konkurrieren mit den Öffnungszeiten der Museen, der Fitnesscenter und zunehmend auch der Einkaufspassagen.

Die Freiheit, unbevormundet zu glauben

Wer die Augen aufmacht, sieht, der Markt ist da. Und er sieht auch, dass die Kirchen auf diesem Markt agieren, wie gross der Vorbehalt dagegen auch sein mag. Die Kirchen haben sich auf dem Markt genauso eingerichtet wie die Kritiker der Marktwirtschaft. Diese handeln mit ihrer Kritik meistens recht geschickt, bringen sie also marktkonform an. Nun bedeutet diese Beschreibung nicht, dass ich den Markt glorifizieren möchte. Mir geht es um eine nüchterne Wahrnehmung und Beschreibung der Tatsache, dass sich Kirche und Theologie seit eh und je auf dem Markt der Religionen und Weltanschauungen befinden. Auch die grössten Marktkritiker möchten wohl nicht hinter diesen religiösen und weltanschaulichen Pluralismus zurücktreten. Denn er bedeutet nichts anderes als Freiheit – die Freiheit, religiöse und weltanschauliche Loyalitäten unbevormundet einzu-

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bulletin Nr. 2 / 2010

gehen. Ein Zurückdrehen dieses Pluralismus hätte einen hohen Preis − den Preis der Freiheit selbst. Deshalb schützen unsere demokratischen Verfassungen diesen Pluralismus und seine Regelungsmechanismen, zu denen der Markt gehört. Eine bessere Möglichkeit, den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus anders als über den Markt zu regeln, müsste erst erfunden werden.

Verrät die Kirche ihren Auftrag?

Nun gibt es einen gewichtigen Einwand gegen Kirche und Theologie auf dem Markt: Bedeutet eine Orientierung an den Gesetzen des Marktes nicht, dass die Kirche ihren Auftrag verrät? Eine Frage, die es ernst zu nehmen gilt. Dass man sie mit «nein» beantworten kann und muss, lehrt uns ausgerechnet das Marketing. Als die reformierte und katholische Kirchen in Basel vor einiger Zeit dem Lehrstuhl für Marketing und dem Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Universität Basel den Auftrag gaben, eine Kirchenstudie zu erstellen, war dies für alle Beteiligten ein interessanter Lernprozess. In den ersten Gesprächen waren es vor allem die Vertreter des Lehrstuhls Marketing, die immer wieder danach fragten, was denn die Kirchen erreichen wollen, was ihre Ziele und Themen seien. Auf dem Markt – das haben wir damals vom Marketing gelernt – kann nur bestehen, wer ein originäres Angebot hat. Nicht wer auf den Markt schielt, reagiert marktangemessen, sondern wer sein Angebot dort erkennbar macht. Nur wer etwas zu bieten hat, kann auf dem Markt bestehen. Allerdings ist dieses Bestehen auf dem Markt eine schwierige Angelegenheit. Es bedeutet im Grunde ein Wechsel der Perspektiven. Die Kirchen können nicht mehr als Monopolisten in Sachen Religion agieren, sondern müssen sich an der Kundenresonanz ihres Angebotes orientieren. Das heisst: Nicht die Kirchenleute und die theologischen Fachpersonen definieren die Bedeutung kirchlichen Handelns, sondern die Menschen, die dieses Handeln in Anspruch nehmen, sei es passiv, sei es mit aktiver Mitbeteiligung oder eine Mischung aus beidem. Doch ist das dem Selbstverständnis protestantischer Kirchen so fremd? Eigentlich nicht. Dass die Definitionshoheit nicht in den Händen des Priesterstandes liegt, sondern dass das «allgemeine Priestertum der Gläubigen in Geltung steht», um eine bekannte Formulierung aus dem Traditionsbestand des Protestantismus aufzunehmen, ist Protestanten vertraut. Dieser Perspektivenwechsel kann der Kirche nur gut tun. Es gibt nicht wenige empirische Untersuchungen im deutschsprachigen Raum, in denen die Menschen nach ihren Erwartungen an die Kirchen befragt

wurden. Die Antworten darauf sind erstaunlich einheitlich. Von der Kirche wird erwartet, dass in ihr Gottesdienste gefeiert werden, dass die christliche Tradition in der Generationenfolge weitergegeben wird, und dass bedürftigen Menschen geholfen wird. Nicht selten hat man den Eindruck, dass die Menschen «draussen» oft sehr viel genauer wissen, was Kirche ist, als mancher Profi innerhalb der Kirche. Auch in dieser Hinsicht müssen Kirche und Theologie den Markt nicht fürchten.

Der Kunde bestimmt das Angebot

Wer sich auf den Perspektivenwechsel vom Anbieter hin zum Kunden einlässt, muss ein fundamentales Interesse am Kunden haben. Denn es sind die Kunden, die entscheiden, welches Angebot zum Zug kommt. Auch hier sind Umfragen aufschlussreich. Die Menschen haben offensichtlich ein sensibles Gespür dafür, was auf dem Markt der Religionen ein seriöses Angebot ist. Sonst stünden sonntags die Kirchen leer, es gäbe keine kirchlich begleiteten Hochzeiten, keine Beerdigungen mehr. Die kirchlichen Angebote geniessen also nach wie vor grosses Vertrauen, die Kirche als Institution vielleicht etwas weniger. Der Kirche wird attestiert, dass das, was sie religiös tut, reflektiert und bewährt ist. Die Kirche wird also nur dann auf dem Markt bestehen, wenn sie das über Jahrhunderte hinweg gepflegte Erfahrungswissen bewahrt. An der Qualität ihres Handelns wird sich entscheiden, ob sie auch in Zukunft Bestand haben wird. Wer diesen Zusammenhang sieht, braucht theologisch den Markt gewiss nicht zu fürchten. Gerade oberflächliche Angebote, Gags und Albernheiten, die es immer wieder gibt und wohl auch geben wird, sind nicht das Resultat von Religionsmarketing, sondern das Gegenteil. Durch religiösen Kitsch und Schund, durch Schielen auf den vordergründigen Gag kann die Kirche auf dem Markt nicht bestehen. Bestehen wird sie durch qualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und durch die Qualität ihrer Angebote. Gerade das Marketing weist die Kirche zurück an ihren Auftrag: Das Evangelium in den verschiedensten Kontexten so zu gestalten, dass Menschen es als lebensdienlich erfahren. <

* PROF. DR. THEOL. ALBRECHT GRÖZINGER

ist Ordinarius für praktische Theologie, Dekan und Studiendekan an der Universität Basel.


Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund: 2,4 Millionen Protestantinnen und Protestanten unter einem Dach. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK ist der Zusammenschluss der 24 reformierten Kantonalkirchen, der Evangelisch-­methodis­tischen Kirche und der Église évangélique libre de Genève in der Schweiz. Damit repräsentiert der SEK rund 2,4 Millionen Protestantinnen und Protestanten. Er nimmt Stellung zu Politik, Wirtschaft und Glaubensfragen und ist unter anderem Ansprechpartner des Bundesrates. Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK nimmt die gemeinsamen Interessen seiner Mitgliedkirchen wahr und vertritt sie auf nationaler und internationaler Ebene. Politisch ist der SEK als Vertreter des Schweizer Protestantismus unter anderem Gesprächspartner der Bundesbehörden. Auf religiöser Ebene vertritt er seine Mitglieder in der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WRK), in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE), in der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und im Ökumenischen

Rat der Kirchen (ÖRK). Der SEK pflegt Beziehungen zu den Partnerkirchen im In- und Ausland, zur jüdischen und islamischen Gemeinschaft, zur Bischofskonferenz sowie zu den Hilfswerken und Missionsorganisationen.

Eine gesellschaftliche Kraft Der SEK nimmt politisch Stellung und äussert sich in eigenen Publikationen zu theologischen und ethischen Gegenwartsfragen. Aktuelle Publikationen gibt es zu den Themen Abendmahl, Taufe, Globalisierung, Forschung am Menschen, Sterbehilfe, Menschenrechte, Migrationskirchen. Sie können heruntergeladen und bestellt werden auf www.sek.ch. Ihre Meinung interessiert uns! Haben Sie Anregungen, Kritik oder einen Wunsch? Schreiben Sie uns Ihre Meinung an info@sek.ch

Das bulletin in Ihrem Briefkasten Wir schicken Ihnen das bulletin gerne kostenlos zu, damit Sie keine Ausgabe verpassen. Bestellen Sie das Magazin des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK mit Porträt, Hintergrundgeschichten, Interviews und Diskussionsbeiträgen aus den Mitgliedkirchen, Universitäten und dem SEK. Senden Sie eine E-Mail mit Ihrer Adresse und dem Vermerk «bulletin bestellen» an: info@sek.ch oder rufen Sie uns an: Telefon 031 370 25 25

bulletin

Das Magazin des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes

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– Augenblick

Noahs Geschichte

Der amerikanische Illustrator und Undergroundkünstler Robert Crumb erzählt das Buch Genesis lustvoll, detaillliert und räumt den Frauen viel Platz ein. Auf Deutsch ist das 228seitige Werk bei Carlsen erschienen. Es kostet Fr. 50.90.


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bulletin Nr. 2 / 2010

Konfirmation 1897: Bonstetten ZH

Konfirmation 1961: Methodisten Luzern


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– Vernehmlassung SEK

Zu Bekenntnissen bekennen Die Schweizer Reformierten wünschen sich eine Verständigung über Glaubensbekenntnisse. Was heute verschieden gehandhabt wird, soll künftig in einem verbindlichen Rahmen mit verbindlichen Texten stattfinden. Zum Beispiel während der Konfirmation. Nun geht das Projekt «Werkbuch Bekenntnis» in Vernehmlassung.

VON FÉLIX MOSER *

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it dem «Werkbuch Bekenntnis» sollen Gläubige in die Lage versetzt werden, jene Sprache zu finden, die ihren Grund zu leben und zu hoffen so angemessen wie möglich ausdrückt. Wer lieber elektronisch sucht, findet die Textsammlung auch auf der zugehörigen Website unter www.ref-credo.ch. Darüber hinaus soll das «Werkbuch Bekenntnis» Anlass geben, anstehende Fragen des christlichen Glaubens zu diskutieren und über Sinn und Relevanz kirchlichen Lebens in unserer Gesellschaft zu reflektieren. Als Hinführung zur Publikation, die nun für ein Jahr in Vernehmlassung geht, möchte ich kurz darauf eingehen, in welchem Geiste die Redaktorinnen und Redaktoren tätig waren.

1.

Niemand soll und darf dazu gezwungen werden, seinen Glauben zu bekennen. Die Geschichte aber lehrt uns, dass wir, als Personen und als Kirchen, eine Grundsatzreflexion zu folgenden Fragen wieder aufnehmen müssen: Mit Blick auf was und auf wen erklären wir, wir seien

Christen? Was ist uns Anlass, unseren Glauben hier und jetzt zu bekennen? Angesichts der zum Teil grundsätzlichen Einwände von Kritikern sei an eine von den Nachreformatoren zum Motto erhobene hilfreiche Unterscheidung erinnert: Sie unterschieden zwischen fides qua creditur und fides quae creditur, also zwischen dem Elan des Grundvertrauens jedes Gläubigen, und seinem Interesse am Glaubensinhalt.

2.

Beim Aufschlagen des Werkbuchs fallen die breiten Ränder auf. Diese Gestaltung wiederspiegelt die Haltung der Autorinnen und Autoren: Ihnen sind Text und Ränder wichtig. Der Text, weil ein Glaubensbekenntnis nicht aus dem Nichts geschaffen wird, sondern sich in die Geschichte einschreibt und darin verwurzelt ist. Die Initiativgruppe hat mit leidenschaftlichem Interesse, aber auch mit kritischem Blick diese im Laufe der oft stürmischen Geschichte unserer Kirchen erarbeiteten Neuformulierungen geprüft. Aus den Kommentaren geht hervor, aus welchen Gründen dieses oder jenes Glau-


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bulletin Nr. 2 / 2010

Konfirmation 1970: Biel BE

bensbekenntnis schriftlich fixiert worden ist. Die an die Kommentare anschliessenden Fragen wollen bei den Lesenden Reaktionen auslösen und zu Auseinandersetzungen und Neuformulierungen einladen. Und hier nun kommen die breiten Ränder ins Spiel: Sie bieten Raum für Notizen und Reaktionen auf den konsultierten Text. Die Ortskirchen sollen in einen gemeinsamen Prozess des Neuschreibens eintreten. Ein Glaubensbekenntnis ist immer kontextuell, es ist Spiegel einer gegebenen soziopolitischen und religiösen Situation. Darüber hinaus ist ein Bekenntnistext oder eine Glaubenserklärung Ausdruck jener existenziellen Fragen, die sich Gemeinschaften stellen, wenn sie über ihren Glauben und ihr Engagement in der Gesellschaft nachdenken.

3.

Mit der Arbeit des Neuschreibens stellt sich die Frage nach der Verknüpfung von Überlieferung und Innovation. Überlieferung ist unerlässlich, ist sie doch der Ort, wo sich unsere persönlichen und lokalen Geschichten in eine längere

und umfassendere Geschichte einschreiben. Zudem weckt sie unser Bewusstsein für die oikuménè. Innovation ist unerlässlich, ist doch die Sprache, in der wir das Christentum sagen, schwer und missverständlich geworden. Sprachgeschichtlich ist diese Sprache inzwischen negativ besetzt. Die Arbeit der Neuinterpretation beinhaltet mithin eine hermeneutische Dimension: Es geht darum, das Christentum zu sagen, ohne es zu reduzieren oder seiner Substanz zu berauben. Es geht darum, das Evangelium neu zu sagen, ohne dessen provokativen Charakter auszumerzen.

4.

Jedes Glaubensbekenntnis liest sich als Ergebnis schwierigen Aushandelns. Die Einigung um das, was das Wesentliche des christlichen Glaubens ist, spielt sich stets im Modus von Konsens und Dissens ab. Die literarische Gattung der Glaubensbekenntnisse sowie deren Inhalt sind das Ergebnis eines langwierigen Diskussionsprozesses. An dieser Stelle sei an die beiden Legenden erinnert, die sich um die Entstehung des Apostolischen


Vernehmlassung SEK

Konfirmation 1983: Bonstetten ZH

Glaubensbekenntnisses ranken. Nach einer ersten Legende konnte jeder der zwölf Apostel den ihm wichtigsten Satz beitragen; so gerät das Glaubensbekenntnis zum Ausdruck des Zusammentragens der Neigung jedes Einzelnen. Nach der zweiten Legende ist das Apostolische Bekenntnis ein langer und komplexer Text, weil sich die Beteiligten nicht darüber haben einigen können, was wesentlich ist. Dieser Ansatz wirft eine für das Leben sämtlicher Kirchen entscheidende Frage auf: Worauf beruht, aus der Sicht der Sprache und der mit ihr beförderten Vorstellungen, unsere gegenseitige Verbindlichkeit? Diese Frage der Zugehörigkeit und der ihr beizumessenden Bedeutsamkeit entpuppt sich als wichtiger Schauplatz der ökumenischen Debatte.

5.

Die Formulierung des Glaubensbekenntnisses in der Sprache der Liturgie verweist auf den Gebrauch der Personalpronomen, insbesondere derjenigen der ersten Person Singular (ich) und Plural (wir). Das Zugehörigkeitsvokabular

stellt die Frage nach der Zustimmung zu den von einem Glaubensbekenntnis beförderten Vorstellungen. In der Tat, jedes Glaubensbekenntnis enthält eine persönliche Dimension und verweist zugleich auf eine kollektive Dimension. Es hängt nicht bloss von individuellen Gefühlen und Seelenzuständen ab, sondern beruft sich auf einen gemeinschaftlichen Akt, der anzeigt, was jeder glauben kann. Die Formulierung der Glaubensbekenntnisse in der Liturgie macht uns deutlich, dass der hermeneutische Zirkel von Glauben und Verstehen allzu eingrenzend ist. Das Glaubensbekenntnis wirkt in der Liturgie und in diesem Rahmen soll es in uns seine Wirkung entfalten, so wie ein Kunstwerk unabhängig von dem, was wir von ihm rational erfassen, sich in unser Leben einnistet. Die Sprache des Glaubensbekenntnisses kann keine völlig objektivierte Sprache sein. Deshalb schlagen die Initianten des Projektes vor, den liturgischen Aspekt der Glaubensbekenntnisse nicht zu vernachlässigen. Ästhetik und Kürze eines Bekenntnisses sind deshalb zu berücksichtigen.

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bulletin Nr. 2 / 2010

Konfirmation 2009: Malans GR

6.

Das Glaubensbekenntnis enthält eine in erster Linie persönliche, aber auch eine gemeinschaftliche ethische Dimension. Was bin ich so zu verteidigen bereit, dass mein Leben davon abhängt? In wessen Namen sind wir bereit, uns zu verpflichten, nötigenfalls auch in Absetzung von herrschenden Ideologien? Die kritische Lektüre der Glaubensbekenntnisse der Vergangenheit, verbunden mit der Befragung von Texten, die inzwischen Patina angesetzt haben und sich unter schwierigen Umständen bewährt haben, lassen unseren Mut und den heute so dringend nötigen Durchhaltewillen wieder aufleben. Nur so können wir vollkommen in unserer Gesellschaft verbleiben im gläubigen Wissen, dass wir auch vollkommen mit Gott leben. <

* FÉLIX MOSER ist Professor für Praktische Theologie an der Universität Neuchâtel und Mitglied der Initiativgruppe von www.ref-credo.ch und des Werkbuches Bekenntnis.


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– Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen

Global reformiert Ende Juni 2010 wurde in Michigan USA die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen WRK gegründet. Darin schliessen sich zwei Zweige reformierter Kirchen zusammen, um die weltweit grösste Organisation reformierter Kirchen zu bilden. Ein Meilenstein in der Geschichte der Ökumene: Mit ihrer ekklesiologischen Identität wird die neue Weltgemeinschaft eine wichtigere Rolle im globalen ökumenischen Dialog übernehmen und sich in der globalisierten Weltwirtschaft geeint für Gerechtigkeit einsetzen.

VON SERGE FORNEROD *

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ie Gründung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen WRK ist für die Einheit der reformatorischen Kirchen ein erfreuliches Zeichen und ein wichtiges Signal für die Ökumene. Denn die Geschichte der reformatorischen Kirchen ist geprägt von einer nicht abreissenden Kette von Spaltungen. Aufhorchen lässt aber nicht nur das Ziel der neuen weltweit grössten Organisation reformierter Kirchen, sondern auch das Vorgehen: Auf der Suche nach Einheit geht nicht einfach der Kleine im Grossen auf, sondern es wird eine neue Organisation geschaffen, die sich ein neues, gemeinsames rechtliches und theologisches Fundament gibt. Die Umwandlung eines «Bundes» und eines «Rates» in eine «Kirchengemeinschaft» ist ein qualitativer Fortschritt (siehe Box). In der WRK-Verfassung wird die Bekräftigung der Gemeinschaft in mehreren Elementen manifest:

– Als Erstes ruft die Präambel die Verwurzelung in der einen Kirche Christi in Erinnerung: « Die Kirchen der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen sind zur Gemeinsamkeit berufen im Namen des einen Gottes, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Unter dem souveränen Gott gehören die Mitglieder der Gemeinschaft, die Anteil an derselben Taufe haben, gemeinsam mit den Nachfolgern Christi in aller Welt zu der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche. » – Artikel II präzisiert: « Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen fühlt sich einer reformierten Identität verpflichtet, wie sie in den historischen Reformierten Bekenntnisschriften und den Ökumenischen Glaubensbekenntnissen der frühen Kirche zum Ausdruck kommt und ihre Kontinuität im Leben und Zeugnis der reformierten Gemeinschaft erweist. » So bekräftigt sie

das Band mit der universellen Kirche und insbesondere der vorreformatorischen Kirche. – Schliesslich definiert die WRK in Artikel III ihr Verständnis von Gemeinschaft: « Die Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen [ist] eine Gemeinschaft (communion) von Kirchen, indem sie […] die Gaben der Einheit in Christus durch die gegenseitige Anerkennung der Taufe, Mitgliedschaft, Kanzel- und Altargemeinschaft, des geistlichen Amtes und des Zeugnisses bekennt […]. »

Theologische Basis geschaffen

Noch nie in der Geschichte der reformierten Kirchen ist so genau formuliert worden, was die Einheit der Kirche ausmacht. In der Praxis haben die Mitgliedkirchen des RWB diese Einheit zwar pragmatisch gelebt, doch eine formell deklarierte gegenseitige Anerkennung hat es bislang nicht. Die neue Weltgemein-


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schaft erleichtert es den reformierten Kirchen, Kirchengemeinschaft zu leben, denn der Austausch untereinander und allfällige Partnerschaften miteinander werden formell einfacher. Zudem stärkt sie den ökumenischen Dialog. Dies dank der theologischen Basis, die allen in RWB und REC versammelten Traditionen gemeinsam ist und so formuliert ist, dass sie mit der Fassung der Leuenberger Konkordie vereinbar ist. Im ökumenischen Dialog des RWB mit dem Lutherischen Weltbund LWB, aber auch mit der römisch-katholischen Kirche gibt es ein Hindernis: In den offiziellen Dokumenten des RWB fehlen der klare Bezug auf die kirchliche Überliefe-

rung und die Definition dessen, was – jenseits des Bezugs auf die Trinität, auf Jesus Christus als Retter und auf die Bibel als lebendiges Wort Gottes – all diesen Kirchen auf ekklesiologischer Ebene gemeinsam ist. In Zukunft müsste die WRK besser gewappnet sein, die Diskussionen und Verhandlungen im Hinblick auf die Einheit der Kirchen fortzusetzen, dies insbesondere mit der lutherischen Überlieferung. Der Zusammenschluss von Reformiertem Weltbund RWB und Reformiertem Ökumenischem Rat REC ist in Grand Rapids im US-Staat Michigan symbolhaft und feierlich begangen worden. Was jetzt folgt, ist weniger festlich,

80 MILLIONEN REFORMIERTE WELTWEIT

Wer sich zusammenschliesst Der Reformierte Weltbund RWB wurde 1970 gegründet. Damals schlossen sich zwei Organisationen zusammen: ein 1895/1875 gegründeter Bund presbyterianischer Kirchen und ein 1891 gegründeter Rat vornehmlich kongregationalistischer Kirchen. Im RWB vertreten sind weitere reformatorisch geprägte Kirchenströmungen wie die unierten, die hussitischen und die Waldenserkirchen – insgesamt 214 Kirchen mit rund 75 Millionen Mitgliedern in 107 Ländern. Der Reformierte Ökumenische Rat REC wiederum wurde 1946 (unter der Bezeichnung Reformierte Ökumenische Synode) gegründet, und zwar als Reaktion auf den als zu liberal beurteilten Ökumenischen Rat der Kirchen. Er umfasst in erster Linie die aus der zweiten Reformati-

on in den Niederlanden hervorgegangenen reformierten Kirchen. Zwei Drittel dieser Kirchen sind auch Mitglied des RWB. Im REC zusammengeschlossen sind heute rund 41 Kirchen mit 5 Millionen Mitgliedern in 25 Ländern. 2007 haben die beiden Organisationen beschlossen, zu fusionieren und so die weltweit bedeutendste Organisation reformatorischer Kirchen zu gründen. Eine starke Mehrheit bilden in beiden Organisationen die Mitgliedkirchen aus den Ländern des Südens. Weltweit gibt es neben der neuen Weltgemeinschaft eine Vielzahl weiterer reformierter Kirchen, die zum Teil der eher konservativ und fundamentalistisch geprägten Weltweiten Evangelischen Allianz WEA angehören.

aber umso wichtiger: Die Umsetzung der Einheit im Alltag. Die in den oben zitierten Verfassungsartikeln enthaltene Bekräftigung ist in erster Linie ein Programm, eine Grundsatzerklärung. Die Verfassung des WRK bekundet die Willensäusserung, im Zeichen dieser Definition zu leben. Doch was noch aussteht, sind die zwischenkirchlichen Diskussionen um das Verständnis von Amt und Wort, um konkrete Auswirkungen, etwa auf den Wortlaut der Verfassungen der Mitgliedkirchen.

Was der SEK zur Gründung des WRK beigetragen hat

Die Delegation des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes SEK freut sich über den Zusammenschluss von RWB und REC. Der SEK war intensiv an der Ausarbeitung der Verfassung der neuen Weltgemeinschaft beteiligt und hat gemeinsam mit den reformierten Kirchen Europas darauf hingewirkt, dass darin der Fokus auf dem Übergang von Grundsatzerklärung hin zur gelebten Gemeinschaft liegt. Treibende Kraft bei dieser Initiative war die Erfahrung mit der Leuenberger Gemeinschaft. Auch über die Mitarbeit im RWB seit der Versammlung von Accra 2004 zieht der SEK eine positive Bilanz. So hat sich der Vertreter des SEK im Präsidium des RWB, der designierte SEK-Ratspräsident Gottfried W. Locher, stark dafür eingesetzt, dass in der lutherisch-reformierten Dialogkommission des RWB in der Frage der episcopē die bestmögliche Lösung erzielt wurde. Auch bezüglich sozialer und wirtschaftlicher Gerechtigkeit haben der SEK und seine Mitgliedkirchen wichtige Bei-


träge zur Umsetzung der Accra-Erklärung geleistet. Für die Generalsversammlung in Grand Rapids hat der SEK eine erste Version seines Papiers «Fair play in the global arena» vorbereitet. Zudem hat er die Verbreitung der von den Kirchen der Schweiz und Brasiliens gemeinsam unterzeichneten «Ökumenischen Wassererklärung» tatkräftig unterstützt. Mit dem Projekt «calvin09» schliesslich stellt der SEK der reformierten Familie mit verschiedenen Unterlagen und Publikationen, aber auch mit dem Internetportal Instrumente zur Verfügung, um das Denken des Reformators in der heutigen Zeit neu zu bewerten.

Die Delegation des SEK und der Mitgliedkirchen

Und noch etwas freut den SEK: Die vereinigende Generalversammlung des WRK von 18–27. Juni 2010 in Michigan ist auf grosses Interesse gestossen. Erstmals haben die Kirchen der Schweiz für die Versammlung drei Stewards gestellt. Drei Theologinnen haben am Theologieseminar teilgenommen, das der RWB am Rande der Versammlung organisiert hat. Der von Ratspräsident Thomas Wipf angeführten Delegation haben neben Serge Fornerod, Leiter Abteilung Kirchenbeziehungen beim SEK, drei Synodalratspräsidentinnen oder -mitglieder aus unseren Mitgliedkirchen angehört (Verena Enzler, Solothurn, Lini Sutter, Graubünden, Jean-Michel Sordet, Waadt), sowie der Pfarrer der Chiesa Evangelica di Lingua italiana/Waldenser in Zürich, Matthias Rüesch und eine junge Theologiestudentin aus Bern, Silvianne Bürki. Zudem hat – auch das ist eine Premiere –

ein Vertreter der Migrationskirchen in der Schweiz teilgenommen, nämlich Joseph Mudimba Kabongo, Präsident der Conférence des Églises Africaines de Suisse. <

* PFARRER SERGE FORNEROD ist Leiter

der Abteilung Kirchenbeziehungen des SEK und Mitglied der SEK-Delegation in Grand Rapids.

Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen

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GRAND RAPIDS

Erste Resultate An der Generalversammlung der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen wurde Folgendes beschlossen: – Der Südafrikaner Dr. Jerry Pillay wurde zum ersten Präsidenten der WKR gewählt. Er ist Pfarrer und Generalsekretär der Uniting Presbyterian Church in Südafrika. – Als Vizepräsidenten wurden gewählt: Frau Lu Yueh Wen, Taiwan; Pfarrer Dr. Yvette Noble Bloomfield, Jamaica und Cayman Islands; Herr Helis Barraza Diaz, Kolumbien sowie Dr. Bas Plaisir, Niederlande. – Der Berner Synodalrat und designierte SEK-Präsident, Pfarrer Dr. Gottfried Locher, wurde zum Schatzmeister ernannt. – Zwei weitere europäische Mitglieder sitzen im Exekutivausschuss: Pfarrerin Cheryl Meban von der Presbyterian Church of Ireland und Dr. Peter Bukowski, Moderator des Reformierten Bundes in Deutschland. – Die Versammlung hat den Kirchen der WRK empfohlen, die «Ökumenische Erklärung zum Wasser als Menschenrecht und als öffentliches Gut» der evangelischen und katholischen Kirchen aus Brasilien und der Schweiz anzuer­ kennen. Mit der Erklärung sollen die Regierungen weltweit dazu bewegt werden, den allgemeinen und freien Zugang zu Wasser als Menschenrecht und lebensnotwendige Grundvoraus­ setzung gesetzlich anzuerkennen.


KEYSTONE/GAETAN KEYSTONE BALLY

– Porträt

«Erzählen ist der Weg in die Stille» Peter Bichsel wird reihum als intellektueller Erzähler gefeiert. Doch im Herzen ist er ein zutiefst gläubiger Mensch. Jetzt liegen seine gesammelten Texte «Über Gott und die Welt» vor.


Der Solothurner Schriftsteller Peter Bichsel liebt das Schweigen und das unbeobachtete Beobachten. Oft sitzt er im «Kreuz» und macht sich Gedanken «Über Gott und die Welt», wie sein jünstes Buch mit Texten zum Glauben heisst.

VON STEPHANIE RIEDI *

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eter Bichsel ist ein begnadeter Schweiger. Der preisgekrönte Erzähler weiss die Stille ebenso zu schätzen wie die Sprache; und er weiss, dass die beiden sich gegenseitig bedingen. An diesem Montagmorgen fühlt sich das Schweigen zunächst zwar etwas frostig an – die nachtblaue Wolljacke bleibt zugeknöpft, der Blick irrt vom Irgendwo ins Nirgendwo der Solothurner Genossenschaftsbeiz «Kreuz». Aber der Kaffee samt Stossseufzer lässt das Eis schmelzen. Auf die beredte Verschlossenheit folgt die einladende Stille. Oder wie Bichsel schreibt: «Erzählen ist eine eigenartige Form von Schweigen, Erzählen ist der Weg in die Stille.» Der Satz stammt aus seinem jüngsten Werk «Über Gott und die Welt», das im Pressegewitter der vergangenen Wochen zum 75. Geburtstag des Dichters und dem ihm gewidmeten Dokumentarfilm «Zimmer 202» merkwürdigerweise kaum Beachtung gefunden hat. Merkwürdig deshalb, weil das aufwühlende Buch Geschichten, Kolumnen, Essays, Reden und Laienpredigten enthält, in denen Bichsel sich teils zweifelnd, teils zornig, teils zuversichtlich dem Glauben stellt. Zündstoff also, der die Feuilletonisten und Literaturkritiker sonst entbrennen lässt. Zumal Bichsel als Inbild des politisch motivierten Intellektuellen gilt, der sich gar einer Fiche rühmen kann. Doch der bekennende Sozialist ist eben auch ein bekennender Christ. Zwar einer, der sich heute schwer tut mit Kirche und Frömmigkeit. Aber einer, der erkannt hat, dass er «Gott nicht braucht, um zu überleben», sondern, «nur um leben zu können».

Sprache als Medium zur inneren Einkehr

Das Glaubenseingeständnis erklärt in gewisser Weise Bichsels Liebe zur Stille. Obwohl – oder gerade weil – er seit fast fünf Jahrzehnten als «Sprachgenie» gefeiert wird, als «genuiner Dichter», ja, «als bekanntester und beliebtester Schriftsteller der Schweiz», gehört sein Herz der Meditation: Bichsel achtet und

pflegt die Sprache als Medium zur inneren Einkehr. Das zeigt sich in der Prägnanz und Kürze seiner Texte. Und das zeigt sich in immer wiederkehrenden Anspielungen: «Man kann jetzt nicht über irgendetwas sprechen», schreibt er etwa in der Weihnachtsgeschichte «24. Dezember». Bichsel verleiht seinen Protagonisten Würde, indem er Otto und Peter intuitiv wissen lässt, wann es geboten ist, die Unzulänglichkeit der Sprache zu respektieren. Das klingt paradoxerweise selbst dann edel, wenn die Worte in der Beiz mit einem halben Roten hinuntergeschluckt statt mit Bigotterie unter dem Christbaum heraufbeschworen werden.

Gefühlsaufruhr infolge «jahrelanger religiöser Abstinenz»

In der fiktiven weinseligen Andacht offenbart sich Bichsels Verhältnis zu Glauben, Kirche und Religion. Auf Bali lernte er eine von Pragmatismus geprägte Spiritualität kennen, eine Erfahrung, die quasi einer Initialzündung gleichkam. Ein junger Hotelangestellter gewährte ihm damals Einblick in den Hinduismus. Die absolute Gleichberechtigung von Mann und Frau, die selbst in den Tempeln waltet, hat Bichsel schwer beeindruckt. Ebenso die Unverkrampftheit Gott und religiösen Riten gegenüber. Als die beiden unterwegs waren, und Bichsels Begleiter beten wollte, half er ihm mit Zigarette und Feuerzeug aus. Die Balinesen bringen Gott Wasser, Blumen und Rauch dar – egal, in welcher Form. Also wurde in der Pampa halt blauer Dunst gen Himmel geschickt. Bichsel war gerührt, so gerührt, dass er nach vierzehn Tagen überstürzt, ja, bestürzt abreisen musste. «Ich fürchtete, Hindu zu werden.» Der Gefühlsaufruhr hatte nichts mit Romantik gemein. Er wurzelte, laut Bichsel, «in der jahrelangen religiösen Abstinenz» respektive den auf Bali plötzlich

PETER BICHSEL

Peter Bichsel wurde 1935 in Luzern geboren, er wuchs in Olten auf. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer schrieb er sich 1964 mit dem Buch «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen» in die Herzen der Leserinnen und Leser. Die Kürzestgeschichten über den Kleinbürgeralltag wurden über die Landesgrenze hinaus als poetische Miniaturen gefeiert. Weitere Werke folgten und mit ihnen zahlreiche Auszeichnungen, unter anderen die Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät Basel 2004. Von 1974 bis 1981 war Bichsel der persönliche Berater und Redenschreiber von Bundesrat Willi Ritschard. Er wohnt in Bellach bei Solothurn. Bichsel ist Witwer, Vater von zwei Kindern und Grossvater von drei Enkelkindern.

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bulletin Nr. 2 / 2010

aufgetretenen «Entzugserscheinungen». «Es meldete sich sozusagen ein biologisches Bedürfnis an, zum romantischen etwa im ähnlichen Verhältnis stehend wie Sexualität zu Erotik.» Hier und jetzt, in der von unzähligen Erinnerungsstücken beseelten und vom Rauch patinierten Schreibstube an der Hauptgasse in Solothurn ist der Erzähler in seinem Element. Genüsslich steckt er sich eine Parisienne an und weist nickend zum Bücherregal. Dort steht die Bibel in zwei Bänden, ein Faksimiledruck des Gutenberg-Originals. Er hege den Verdacht, verrät er, dass die Buchstaben religiöser Natur seien. Bichsel, dem die Theologische Fakultät Basel 2004 das Ehrendoktorat verliehen hat, bezeichnet das Christentum, Judentum und den Islam als «literarische Religionen» mit unerhört kraftvollen Schriften. Als Beispiel führt er das Werk von Augustinus an, dem algerischen Philosophen und Theologen der christlichen Spätantike. «Die Bekenntnisse haben bis heute Gültigkeit.»

Bichsel beklagt die Reduktion des Christentums auf Moral und Ethik

Als Kind las Bichsel täglich die Bibellosungen. Klein Peter hatte missionarische Ambitionen. «Ich wollte in die Wildnis, nach Afrika. Ich wollte die Wilden zu Christen machen.» Das war seine Emanzipation. Im Elternhaus wurde über Religiöses nicht gesprochen, bei Tisch kein Gebet gesprochen. Vater und Mutter glaubten an die Anständigkeit und Diskretion. Der Junge aber war geneigt, «ein zorniger Christ zu werden». Was ihm allerdings gänzlich misslang. «Im Grunde genommen war ich ängstlich bis auf die Knochen und ebenso wie meine Eltern darauf bedacht, als lieb und nett und anständig zu gelten.» Immerhin: «Der fromme Bub hat mich zum Schriftsteller gemacht.» Der Jugendliche Bichsel trat dem Bibellesebund bei, dem Hoffnungsbund des Blauen Kreuzes, er leitete den Jünglingsbund und später die Sonntagsschule. Als Protestant liebäugelte er bisweilen damit, zum Katholizismus zu konvertieren. «Mich faszinierte die Andacht, das Schweigen, die Stille.» Sonntags besuchte er jeweils die katholische Messe und trat danach als Sonntagsschullehrer an. Das intensive Interesse an Religion und Theologie forderte schliesslich seinen Preis: Bichsel verabschiedete sich emotional von der Kirche und wandte sich der Politik zu. «Vielleicht suchte ich in der Sozialdemokratischen Partei – inzwischen recht oft enttäuscht – das, was mir die Kirche in meiner Jugend einmal war, das Erlebnis der alternativen Minderheit, das Erlebnis der Gegenwelt.» Bichsel beklagt die Reduktion des Christentums auf Moral und Ethik, und er

klagt die Kirche an, eine «halbstaatliche Anständigkeitsinstitution» zu sein. Grundsätzlich sei das Christentum eine revolutionäre Idee und Christus ein Neuerer. Aber: «Die Rebellion, die Revolution, die Opposition und die Alternative lassen sich offenbar nicht institutionalisieren.» Der tempelreinigende Jesus entspricht da schon eher dem Geschmack des Streitbaren. Bei ihm spürt Bichsel «Verwandtschaft». Die Bergpredigt bewundert er als «unmöglich freche Idee», die in ihrer Sozialvorstellung dem römischen Recht «ins Gesicht schlug». Auch sieht er in ihr den Versuch, den Teufelskreis der Welt zu durchbrechen − das Streben nach Sicherheit, das doch nur zu Ausbeutung, Egoismus, Raub, Diebstahl und Mord führe. Der Wunsch nach Sicherheit gründe letztlich in der beängstigenden Unsicherheit der eigenen Sterblichkeit, sagt Bichsel. «Nur mein eigenes Schicksal hindert mich daran, das Schicksal der anderen ernst zu nehmen, und mein eigenes Schicksal heisst Tod.» Bichsels Worte hallen in der Stille nach. Lediglich das Klicken des Gasfeuerzeuges ist zu hören. Die Worte treffen, weil sie uns alle betreffen. Und weil es darüber hinaus nichts zu sagen gibt, denn: «Erzählen führt letztlich in das Schweigen.» <

* STEPHANIE RIEDI ist freie Journalistin.

BÜCHERTIPP

Peter Bichsel: Über Gott und die Welt. Texte zur Religion. Herausgegeben von Andreas Mauz. Suhrkamp Verlag, 231 Seiten, ca. Fr. 16.–, ISBN 3-518-46154-9


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VON SILVIA PFEIFFER

Kirchenratspräsidentin Schaffhausen und Mitglied des Rates SEK

– Schlusspunkt

Der Standpunkt und seine Verwandten: Credo, Bekenntnis, Status confessionis.

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as hoffnungsgrüne Werkbuch «Reformierte Bekenntnisse» lädt zum Nachdenken ein über den Standpunkt und seine Verwandten Credo, Bekenntnis, Status confessionis. Das Werkbuch wurde von einer Initiativgruppe unter Leitung von Matthias Krieg im Theologischen Verlag Zürich herausgegeben. Es leitet die Leserschaft durch die Bekenntnisgeschichte der Christenheit und beleuchtet ihre historischen, kulturellen, ekklesiologischen und theologischen Hintergründe. Nun soll «das Grüne» die Mitgliedkirchen des SEK anregen, sich in einem breit angelegten Vernehmlassungsprozess Gedanken zu machen über ein evangelisches Bekenntnis des schweizerischen Protestantismus (siehe Seite 21). Nach dem heutigen Begriffsverständnis müsste man die meisten Be-

kenntnisse der Konzilsgeschichte dem Begriff «Status confessionis» zuordnen, weil sie mehrheitlich der Abgrenzung gegen Häresien und dem hegemonialen Wahrheitsanspruch der Mächtigen dienten. Merkmal der ersten Konzilien zu christologischen und trinitarischen Streitpunkten und deren Bekenntnisse ist die historische Überlieferung, wonach die Diskussionen auch in den Gassen entbrannten, beim Bäcker und beim Metzger. Die theologischen Fragen waren für die Menschen damals existentiell wichtig und schieden die Geister: «Wer nicht für mich ist, ist wider mich!» (Lukas Evangelium) Bekenntnisse hat es immer gegeben bis in die heutige Zeit, weil die Menschen das Bedürfnis haben, ihrem Glauben Ausdruck zu verleihen, nach innen und nach aussen, sich selbst und den andern Zeugnis zu geben. Sie möchten erkenn-

bar sein, fassbar und ihre innere Zusammengehörigkeit bezeugen. Dagegen tun sich die Reformierten in der heutigen Zeit eher schwer mit einem gemeinsamen Bekenntnis. Sie bezeichnen sich als bekenntnisfrei, aber nicht bekenntnislos. Sie tragen ihre Bekenntnisse nicht auf den Lippen, sondern kleiden sie in Präambeln und Leitmotive. «Gott feiern, Menschen helfen» heisst es beispielsweise bei der Evangelisch-reformierten Kirchen des Kantons Schaffhausens neben der Verfassungspräambel. Nun macht sich also der Schweizerische Protestantismus auf den Weg zu einem gemeinsamen Bekenntnis, einem Credo; begibt sich in einen «processus confessionis», der fragt und hinterfragt, was denn nun der gemeinsame Referenztext sein soll. Möge ein guter Stern und Gottes Segen diesen Weg begleiten. Credo: Ich glaube. <


In dieser Ausgabe

«Ich erlebe eine völlig ausufernde Sitzungskultur innerkirchlicher Gremien.» Professor Thomas Schlag SEITE 7 «Am besten ist Religion gekoppelt mit Sex, Gewalt, Erziehung, Schule oder Staat. Rein religiöse Fragen sind weniger interessant.» Ein Redaktor «Wir müssen neu übersetzen, was es in der urbanen Schweiz des 21. Jahrhunderts bedeutet, Menschen an Hecken und Zäunen oder eben am Strassenrand einzuladen.» Pfarrer Heinz Fäh «Es meldete sich sozusagen ein biologisches Bedürfnis an, zum romantischen etwa im ähnlichen Verhältnis stehend wie Sexualität zu Erotik.» Schriftsteller Peter Bichsel

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sek · feps Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund

www.sek.ch


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