K APITEL 1
Ratternde Zahnräder
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ch bin immer gern bei meinen Großeltern zu Gast gewesen. Ihre Wohnung war schlicht eingerichtet. Gelblich beige Helleraumöbel aus den Siebzigern bestimmten das
Raumbild. Kristallvasen auf dem Mobiliar und im Fenster warfen bunt schimmernde Prismen an die Wand und sorgten zusammen mit einer Reihe von Bildern im Perlmutteffekt, die Stadtansichten bekannter deutscher Touristenorte zeigten, und einer leicht vergilbten, nach Raumfahrt anmutenden, runden Deckenlampe, welche in den Zeiten des Space-Age das absolute Must-have darstellte, für DDR-nostalgischen Charme. Die Vor-
hänge waren aus transluzidem Stoff gefertigt, der mit tropfenartig herunterhängenden Schlieren in Weiß, Beige und Braun gemustert war. Die Farbkomposition muss in den Siebzigerjahren der Eyecatcher gewesen sein, denn ich finde sie heute noch auf meinen Ankauftouren quer durch Deutschland in so einigen Wohnzimmern. Dazu passend war natürlich, wenn auch in abgeschwächter Form, die Tapete gewählt, was dem Raum jedoch wiederum eine gewisse anheimelnde Homogenität verlieh. Das Schlafzimmer sah dem Wohnzimmer sehr ähnlich, und die Küche könnte als ein Paradebeispiel der Kriegsgeneration herhalten. Fein säuberlich nach Größe sortierte Emailletöpfe stapelten sich im vielfarbigen Spanplatten- Küchenmobiliar
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und auf dem gusseisernen Ofen in der Ecke neben der Tür. Der Raum war sehr schmal und für eine Küche eigentlich zu klein. Im Sommer, wenn es draußen brütend heiß war, feuerte Oma dennoch den uralten Herd an, stand mit hochgekrempelten Ärmeln in der Küche, gerade so, als würde sie die Wärme als Einzige nicht tangieren, und kochte für die ganze Familie ein bezauberndes Sonntagsmahl. Meine Großeltern väterlicherseits waren einfache, aber sehr gebildete und vielseitig interessierte Leute. So verwundert es nicht, dass beide im Lehrberuf tätig waren. Sie sparten ihr Vermögen, gaben lieber, als zu nehmen, und schmissen nichts leichtsinnig weg. Alles wurde bis zum Ende geehrt, verwahrt und benutzt. Ging etwas kaputt, reparierte man es. Und nur im größten Notfall wurde eine Neuanschaffung getätigt. Sie waren sozusagen die Ur-Hipster der heute so beliebten Vintage- und Upcycling-Kultur. Ich kann das nur befürworten. Heutzutage gehen wir mit so viel Unachtsamkeit durch unser Leben. Wir ehren die Dinge, die uns umgeben, nicht mehr in dem Maße, wie es Generationen vor uns getan haben. Alles fliegt schnell und funkensprühend an uns vorbei, zugespamt mit Werbung in grell leuchtender Optik, welche einem ihre vermeintlich wichtigen Botschaften mit spitzen Nägeln in den Kopf zu hämmern versucht. Durch stetig bimmelnde, mit Virtualität und Ablenkung lockende Smartphones und Tablets oberflächlich geworden, nehmen wir unsere Umwelt nur noch wahr, wenn sie uns am Laufen mit gesenktem Blick auf das Handy hindert oder mit gellendem Sirenengeheul an uns vorbeidonnert. Ruhe und Gelassenheit fehlen uns dadurch. Ich merke das deutlich an mir selbst, da ich in beruflicher Hinsicht oft und gern auf diese technischen Neuerungen zugreife und mit den Annehmlichkeiten und der daraus resultierenden Schnelligkeit und Effizienz durchaus zufrieden bin. Das Paradoxon könnte kaum größer sein. Mit schnelllebigen
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Mitteln in einer schnelllebigen Zeit betreibe ich einen hektischen Handel mit langsam etablierten, wohldurchdachten und zeitaufwendig hergestellten Dingen vergangener Jahrhunderte. Doch gerade das ist es, was den Reiz an antiken Dingen ausmacht. Eine Louis-Philippe-Chaiselongue ist nicht nur einfach ein lebloses Möbel, gerade noch dekorativ genug, um in unserer modernisierten Welt einen, wenn auch ungewissen, Platz zu erhalten – nein. Es ist ein Stück gelebter, weit zurückliegender, menschlicher Gedanke. Ein über hundert Jahre alter Ahn vergangenen Zeitgeists. Geschichtsträchtig und erhaben, voll Schönheit und altertümlicher Patina. Und auch oder eher gerade diese Objekte sind es, die einen Wohnraum erst zum Leben erwecken. Ich selbst lebe die Vielfalt in meiner Wohnung. Ich bin weder ein Fan von leblosem Hochglanzpolitur-Mobiliar vom schwedischen Möbelhaus noch von verstaubten Barockbuden, welche ihre abgestandene Raffinesse in die Welt husten. Das richtige Maß zwischen diesen scheinbar konträren Welten zu finden, das ist wahre Ästhetik, durch die ein Wohnraum zu Poesie wird. Aber zurück zu meinen Großeltern und somit zu den Anfängen meiner Begeisterung für Antikes. In dem kleinen Haus, welches meine Großeltern bewirtschafteten, gab es nicht allzu viele Zimmer. Die wichtigsten habe ich oben bereits beschrieben. Bis auf eines. Das kleine Zimmer rechts neben der Eingangstür. Es war das ehemalige Kinderzimmer meines Vaters. Die Vorhänge waren hier aus unerklärlichen Gründen immer zugezogen und hüllten diesen Raum in geheimnisvolle Schwärze. Nur ein leises Ticken von drinnen her war zu vernehmen. Wie oft lief ich als Kind schnurstracks durch diesen schmalen Raum, um bloß schnell die verhüllenden Tücher vor dem Fenster aufzuziehen und das Tageslicht ins Innere hineinströmen zu sehen. Auch hier prägten Helleraumöbel das Raumbild. Eine Klappcouch rechts, ein kleiner Schreibtisch zu meiner Linken
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und an der Stirnseite eine mit dekorativen Römergläsern und Kristallvasen ausgestattete Fünfzigerjahre-Schiebeglasvitrine, in welcher Oma Matchboxautos aufbewahrte, mit denen mein Bruder und ich oft spielten. Nun hörte man auch das Ticken laut und deutlich. Über dem Bett hing, aus braunem Holz geschnitzt und mit Ziffern und Zeigern aus Bein verziert, eine Schwarzwälder Kuckucksuhr. Auf dem spitz zulaufenden und mit geschnitzten Weinblättern dekorierten Dachsims saß ein ebenfalls geschnitzter, frech mit den Flügeln schlagender Kuckuck. Das Pendel zierte ein Weinblatt, und die schweren Gewichte waren aus in Form von Pinienzapfen gegossenem Eisen gefertigt. Im Übrigen dürfen Letztere nicht vertauscht werden, da sie unterschiedlich gewichtet sind und eine mechanische Uhr dann nicht richtig läuft. Ich stand oft begeistert vor dieser Uhr. Sie war das wertvollste Stück meiner Großeltern und wurde seit jeher mit Bewunderung und Ehrfurcht betrachtet. Damals waren solcherlei Dinge sehr gefragt und entsprechend teuer. Heutzutage steht es darum leider etwas anders, aber für mich strahlt diese Uhr, damals wie heute, meine persönliche Verbundenheit zum Antikhandel aus. Oft stand ich als Kind davor und zählte die Minuten und Sekunden bis zur vollen Stunde, erwartungsvoll auf die Klappe unterm Dachsims schauend und auf jede Regung der Zahnräder im Inneren lauschend, bis sich endlich unter dumpfen Geratter die Klappe öffnete und sich der geschnitzte und bemalte Kuckuck mit lautem Ruf hervorschob. »Kuckuck! Kuckuck! Kuckuck!«, rief er in den Raum hinein, zog sich sogleich so schnell, wie er erschienen war, in seine schmale Behausung zurück, die Klappe schloss sich, und zurück blieben das monotone Ticken und Rattern der Zahnräder und ein begeisterter kleiner Junge, der von diesem Schauspiel nicht genug bekommen konnte. Mein Interesse an den Dingen der Vergangenheit war geweckt.
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