Herausgegeben von andreas Kramer & Jan volKer rรถHnert
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ZelluloId
ausdeHnung eIne antHologIe
Die Herausgeber und der Verlag danken der Ludwig Sievers Stiftung und der Kulturstiftung des Freistaates Thüringen für die Förderung dieses Bandes.
Herausgegeben von A n d r e a s K r am e r & Ja n VO l k e r R รถ h n e r t
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Ausdehnung 1 0 0 j a h r e F IL M UN D k i n o i m g e d i c h t
Andreas Kramer & Jan Volker Röhnert
U n t e r d e m P r o j e k t o r d i c h t e n 1 Mit diesem Buch legen wir die erste Anthologie von Kino- und Filmgedichten in deutscher Sprache vor. Wie jede Anthologie ist dieses Buch nicht nur eine Sammlung, sondern auch eine Auswahl. Bei der Zusammenstellung der knapp 120 Gedichte haben wir Wert darauf gelegt, die Entwicklung dieses besonderen Gedichttyps, die sich im engen Dialog mit der Entwicklung des Kinos vollzog, von ihren Anfängen im frühen 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein nachzuzeichnen. Die Anthologie ist daher weitgehend chronologisch angelegt; in der zeitlichen Abfolge der einzelnen Gedichte kann der Leser, so hoffen wir, jedoch zugleich das vielgestaltige Nebeneinander ähnlicher und doch unterschiedlicher Formen, Töne, Einstellungen in Bezug auf das Kino, den Film erkennen. Unsere Anthologie setzt nicht zeitgleich mit dem Aufkommen des Kinos in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts, sondern etwas zeitverzögert ein. Das liegt keineswegs daran, dass es an Material gemangelt hätte. Es gibt einzelne Gedichte aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts, etwa von Dominik Müller und Ludwig Ullmann, in denen das neue Medium und der Besuch eines Kinos thematisiert werden, doch handelt es sich dabei um Gebrauchstexte, die in Zeitschriften wie dem »Simplicissimus« oder der »Jugend« erschienen. Der eigentliche Grund für die Zeitverzögerung liegt sicher darin, dass sich in den Augen vieler Dichter, Leser und Kritiker eine künstlerisch anspruchsvolle Lyrik kaum mit der unmittelbaren Wirklichkeit des Alltagslebens befassen durfte und mit dem Gebot der Innerlichkeit auch einem bestimmten Ausdrucks- und Stilideal verpflichtet blieb. Anders gesagt: Die zahlreichen technischen und medialen Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts kommen einer Lyrik, die in dieser Zeit (und noch lange danach) weitgehend einen hohen Kunstanspruch hatte, erst gar nicht in den Blick. Mehr noch: In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts war die Kunstlyrik als Gattung im selben Maße exklusiver geworden, in dem sich die moderne Gesellschaft dem Einmaligen und Authen tischen entfremdet und auf Massenkultur, Massenkonsum, Massen 182
kontrolle, Massenmedium, Massenproduktion umzuschalten begonnen hatte. George setzte mit seinem Dichterkult nur den Protest Charles Baudelaires gegen das erste moderne Massenmedium fort, welches direkt, ohne den Umweg der Schrift, ins menschliche Bewusstsein zu dringen vermochte – die Fotografie. Ein Protest, der etwas von der rührenden Auflehnung des Handarbeiters gegen die Fließbandfertigung an sich hat: Seine Produkte werden immer preziöser, je mehr er sich auf verlorenem Posten sieht. Von den beiden anderen Protagonisten der ästhetizistischen Dichtung der Jahrhundertwende, Hofmannsthal und Rilke, gibt es zwar keine expliziten Kino- oder Filmgedichte, doch ist ihrer Literatur an vielen Stellen anzusehen, wie tief das neue Medium Film, das die sichtbare Oberfläche der Welt in rascher Bildfolge auf einer simplen Leinwand reproduzierte, in ihre Gedankenwelt eingedrungen war. Hofmannsthal erkannte die Ähnlichkeit des Films mit der Evokationskraft der Poesie schon früh und widmete dem »Ersatz für die Träume« einen eigenen Essay, während Rilke aus Paris, der seinerzeit mit den Pionieren Auguste und Louis Lumière sowie Georges Méliès elaboriertesten Produktionsstätte des Films, die »Neuen Gedichte« mitbrachte, in der die Dinglichkeit, Phänomenologie, Optik und Perspektivik der sichtbaren Welt (man vergegenwärtige sich »Der Panther« oder »Das Karussell«) zum poetischen Generalbass geworden waren. Die bedingungslose Hingabe ans Medium, das schwärmerische Kokettieren mit seinen Suggestionen allerdings zeichnete erst die nächste Generation aus, die gewissermaßen ins Kino (und in die Versmaße Georges, Hofmannsthals und Rilkes) hineingeboren worden war – die Expressionisten. Unter ihrem Banner wurde der Film erst eigentlich bei seinem Namen genannt und hielt so offiziell Einzug ins deutschsprachige Gedicht. Und so steht René Schickeles »Prolog im Kino« nicht nur seines passenden Titels wegen am Anfang dieser Anthologie, sondern auch im übertragenen Sinne am Anfang der deutschsprachigen Kinolyrik. Das Kino, das Erlebnis laufender Bilder, die ungeheure, phantastisch anmutende Erweiterung der sichtbaren Welt soll nichts weniger als die Literatur überhaupt – mitsamt den damit verbundenen klassischen Vorstellungen und bürgerlichen Werten – auflösen (Schickeles Anspielungen auf den »Faust« sind ja genau kalkuliert). Nicht von ungefähr steht Schickeles 183
Gedicht auch am Anfang seines Buches »Schreie auf dem Boulevard« (1913), einer Sammlung politischer Essays und Reportagen, die der elsässische Schriftsteller kurz vor dem Krieg aus der Hauptstadt der französischen Republik ins kaiserliche Deutschland sendet.
2 Das Filmmedium half also den Expressionisten – wie auch den Dada- und Surrealisten, später den Popartisten –, sich von einer exklusiven Höhenkammkultur abzugrenzen, die für sie gleichbedeutend war mit den verschmähten Vätergenerationen, mit kleinbürger lichem Biedermeier, mit abgewirtschaftetem alten Abendland. Das Kino war von Anfang an, und ist es letztlich bis heute geblieben, ein intellektueller Jugendstil, und diejenigen Dichter, die sich da rauf einließen, huldigtem diesem Ort und dem dort Gebotenen in einer Mischung aus unbändiger Faszination und bilderreichem Utopismus. Viele Gedichte sprechen von der Lust am Schauen, von der Faszinationskraft der laufenden Bilder, der sich der Dichter im Kino gemeinsam mit anderen Kinogängern hingibt. Für manche stellen die bewegten Bilder einen Ersatz für das einförmige Leben dar; das Kino wird zum Ort echten, unverstellten Erlebens überhöht. Denn wenn irgendwo, dann war im Kino Platz und Raum vorhanden, mit der namenlosen Masse, dem auf seine bildliche Sehnsucht zurückgeworfenen Leidwesen »Mensch«, der unter den Fittichen der Leinwandgötter zu fühlen beginnenden »Kreatur« zu verschmelzen – mit all den imaginierten und realen Folgen, die so ein Verschmelzen in einer turbulenten Zeit kultureller und polit ischer Umbrüche zeitigen mochte. Doch kein Aufschwung ohne Abschwung, keine Leidenschaft ohne Leiden, auch nicht bei den Expressionisten. Wenn sich hier und da das Kino als allzu billige Traumwelt für die Massen erweist, als schöner Schein, als Schattenwelt, aus der man ernüchtert und desillusioniert in die Wirklichkeit zurückkehrt, dann sind in der deutschsprachigen Kinolyrik umgehend skeptische und medienkritische Töne zu vernehmen. Das Menschlichkeitspathos, der Hunger nach unverstelltem Leben und Erleben bei so vielen Expressionisten kehrt denn auch, mehr oder weniger gebrochen, in ihren Kinogedichten wieder. Claire und Yvan Goll, Ludwig Rubiner, Sebastian Scharnagl – ein Pseudonym, hinter dem sich der Autor und Verleger Heinrich F. S. Bachmair 184
verbirgt –, Walter Rheiner, Ferdinand Hardekopf und andere geben einen Eindruck davon, dass Pathos auch unter Expressionisten nicht gleich Pathos ist, sondern in den verschiedensten Kontrasten und Schattierungen die lyrische Leinwand durchzieht. In manchen Gedichten (Becher, Leybold) ist das Kinoerlebnis gleichsam eine Vorschau auf die nicht erfolgte, aber dennoch imaginativ herbei gesehnte soziale Umwälzung. Gleichzeitig fällt auf, wie in der dichterischen Symbiose mit dem Kino zentrale Topoi der Moderne aufgegriffen und schärfer akzentuiert werden können – die Verunsicherung über den Charakter unserer Realität gehört ebenso dazu wie die Entkoppelung von Wahrnehmung und wahrnehmendem Ich (van Hoddis, Hardekopf, Lichtenstein), die von Poe kommende Auseinandersetzung mit der dunklen, kriminellen Seite des Menschen, seiner Nacht- und Schattenexistenz (wie in den »KriminalSonetten« von Rubiner, Eisenlohr und Hahn), die Kritik an einem Werte- und Geschichtsbewusstsein, das nurmehr Ware und Schein (Turszinsky, Schickele), an einem Heroenkult, der nichts weiter als Staranbetung geworden ist (Otten, Mehring, Brecht). Einerseits lieferte das Kino mit seinen Stoffen, Titeln und Protagonisten den konkreten Anlass zur Entstehung einzelner Gedichte – hier könnte man von »Kinogedichten« sprechen. Andererseits war es der Film als Medium, der mit der besonderen Beschaffenheit seiner bewegten, aus dem Zusammenspiel von Licht und Schatten erzeugten Oberfläche eine Bilderwelt schuf, wie sie zum Beispiel auch in Wilhelm Klemms Gedichten anklingt, ohne dass diese auf einen speziellen Film verweisen würden: unzweifelhaft sind sie jedoch unter dem Einfluss des Mediums entstanden. Da sich hier »Film« als neuartiges Ferment der menschlichen Wahrnehmung ankündigt, könnte in derartigen Fällen von »Filmgedichten« die Rede sein. Diese Anthologie zeigt, dass »Film« sich im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend zu einer strukturellen Eigenschaft von Gedichten ausbildete, zu einer lyrischen Wesenheit, die unverkennbar am Dasein der bewegten Bilder partizipiert. Siegfried Kracauer nennt das in seiner »Theorie des Films« die Affinität zur Endlosig keit, zum Zufall, zum Unbestimmbaren und zum »Fluss des Lebens«. Die Frage, ob das Festhalten an der Form des Sonetts, wie es bei vielen Expressionisten zu beobachten war, ›mehr‹ oder ›weniger‹ Avantgarde ist als die gegensätzliche Tendenz zu offeneren Versgebilden, 185
Inhalt
René Schickele Jakob van Hoddis Alfred Kerr Sebastian Scharnagl (d. i. Heinrich F. S. Bachmair) Kurt Tucholsky Joseph Tress Yvan Goll Claire Goll Walter Turszinsky Gustav Sack Georg Grosz Walter Mehring Ludwig Rubiner/ Friedrich Eisenlohr/ Livingstone Hahn Ferdinand Hardekopf Alfred Lichtenstein Hans Leybold Kurt Arnold Findeisen Heinrich Schaefer Heinrich Nowak Rudolf Leonhard J.R. Becher Karl Otten Walter Rheiner Joachim Ringelnatz Wilhelm Klemm 226
Prolog im Kino Kinematograph Sieg des Lichtspiels
10 12 13
Der selige Kintopp Kino Der bunte Menschenfilm Der Kino-Direktor Globus-Kino Pathé-Woche Kino-Rebellen Der Schuss Kaffeehaus Die Kinoduse Das Kriminal-Sonett Das Wunder Das Duell Die Première im Marmor-Kino Morgen-Arbeit Wir Gespenster Kientoppbildchen Konfusion Vorstadtkino Satanischer Film Kino Kinosonett Kino Asta Nielsen Asta Nielsen An Asta Nielsen Über Asta Nielsen Abendlied Déjà vu Szenerie Die Satanspuppe
14 15 17 19 21 23 28 30 31 32 34 35 36 37 38 40 41 42 43 45 48 49 50 52 54 55 57 58 59 60 61
Martin Kessel Joachim Ringelnatz Kurt Tucholsky Else Lasker-Schüler Rudolf Leonhard Bertolt Brecht Theodor Kramer Ferdinand Hardekopf Wilhelm Lehmann Heiner Müller Peter Handke Rolf Dieter Brinkmann Paulus Böhmer Paul Celan Guntram Vesper Ludwig Greve Rainer Malkowski Reinhard Priessnitz Günter Herburger Jörg Fauser Frank-Wolf Matthies
Kino 64 Seemann kommt aus Pariser Kino 65 Schepplin 66 Komm mit mir in das Cinema 67 Kino 68 Hollywood 70 Hollywood-Elegien 71 Ein Film des Komikers Chaplin 73 Oh, wer geht mit mir rasch noch ins Kino vor Nacht 74 Kino nach Tisch 75 Good bye, Mr. Chips 76 Göttin und Diva 77 Film 78 Babelsberger Elegie 1960 79 Warner Brothers und ... 82 Film 84 Schlesingers Film 85 Von Walt Disney 86 Der nackte Fuß von Ava Gardner 87 Ra-tat-ta-ta für Bonnie & Clyde etc. 89 Cinemascope 90 Fotos 1,2 91 Samstagabend im Winter [1] 92 Programmschluß 94 Marylin 96 Playtime 98 Kino Amerika 99 Sie lacht 101 Vorstellung 102 film 103 kintopp 104 King Kong 105 White heat 107 Außer Atem 108 227
Ursula Krechel Barbara Köhler Jürgen Becker Hemut Heißenbüttel Hans Magnus Enzensberger Ernst Jandl Nicolas Born Bert Papenfuß-Gorek Günter Herburger Friederike Mayröcker Jürgen Theobaldy Ulla Hahn Heidi Pataki Richard Wagner Thomas Brasch Thomas Böhme Durs Grünbein Thomas Kling 228
Studio des Ursulines In the movies Reisefilm, Ausschnitte Projektor Alter Film In der Nähe von Andy Warhol Selbst als Buñuel Siebenundzwanzigster Gesang G. M. film charlie’s walk Nach dieser ersten Zeile Für Pasolini brigit bar-do Ozu raging bull Ins Kino getrieben Bar Red River Lili Marleen Asche und Diamant Buster Keaton Die Bühne Luchino Viscontis R.W.F. Wenn es nach einer ... Dieser Tag gehört dir Limelight Sunset Boulevard kopf skydiving leinwand brandenburger wetterbericht sendeschluss gestümperte synchronisation tag für rasuren petersburger hängun’
110 111 112 115 116 117 118 119 121 124 125 126 130 131 132 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 148 149 151 152 153 154 155 156 157
Christoph Leisten Lutz Seiler Marcel Beyer Raoul Schrott Paulus Böhmer Jürgen Theobaldy Richard Wagner Joachim Sartorius Hendrik Rost Michael Krüger Ludwig Harig
Beim Aufwachen (nosferatu) Olympia, Spätfilm Der westdeutsche Tierfilm Szenen der Jagd X aus dem Sechsten Kaddish Filmstunde Amerikanische Einstellung Die Liebenden In den ägyptischen Filmen Matt glänzend Videotext Dorfkino Verlassenes Feld
160 161 162 163 168 170 172 173 174 175 176 177 178 179
Nachwort Kommentar Quellenverzeichnis Alphabetisches Autorenverzeichnis
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Imp r e s s u m edition AZUR, Dresden Erstausgabe, März 2009 ISBN: 978-3-9812804-2-5 www.edition-azur.de
H e r au s g e b e r : Andreas Kramer Jan Volker Röhnert
G e s ta lt u n g : Kraft plus Wiechmann Frauke Wiechmann
P h o to g r a m m e Originale auf Barytpapier: Glenn Vincent Kraft
Ti t e l - I l l u s t r at i o n: Glenn Vincent Kraft
Au s s tat t u n g We r b e m i ttel: Kraft plus Wiechmann
D ru c k : Gutenberg Druckerei Weimar
Verlag und Herausgeber danken den Autoren und Rechteinhabern für die Abdruckgenehmigungen (siehe Quellenverzeichnis). 232