Thomas Kunst
KUNST Gedichte 1984 – 2014
© für diese Zusammenstellung edition AZUR · Dresden 2015 www.edition-azur.de Gestaltung: Kraft plus Wiechmann · Berlin Satz: n-zwo · Dresden Fotos Vor- und Nachsatz: Sonja Hoffstätter ISBN 978-3-942375-21-4
»Man scheitert immer beim Sprechen über das, was man liebt.« Roland Barthes
I Safschani
WENN IN DER ERSTEN PHASE DES VERLIEBENS EINER STIRBT,
Steht Gott nicht mehr allein da. Du könntest endlich wieder unvorsichtiger Mit deinem Briefkasten und deinem Telefon Umgehen, ich denke, ich muß damit aufhören, Nur noch über Briefkästen und Telefone zu schreiben, Sonst glaube ich am Ende selber noch daran, daß lediglich Die Sehnsucht an allem schuld sein soll, schuld daran, Für die tägliche Begabung des Aufstehens Unerläßlich zu sein, schuld daran, alle meine Bemühungen in deinen Gedanken schon Für ein kleines Vermögen zu halten, aber alle Hölzer, Zettelchen und Trockenblumen werden doch erst Dann zu einem kleinen Vermögen, wenn dein Aufbewahrungsgewissen nicht mehr von der Summe Meiner Bemühungen abhängig ist, ich denke, ich Muß damit aufhören, mich um dich zu bemühen, damit du Dich endlich an mich erinnern kannst, aber du wirst mich Vergessen, wenn ich mich nicht mehr weiter Um dich bemühe, ich sehe gerade deine Schultern und Hände vor mir, und ob sie für die Theoretische Beteiligung an einem Wiedersehen Auch wie geschaffen wären. Ich bin mir schon lange darüber im klaren, wie Gefährlich Sehnsucht sein kann, sie ist die Übertriebenste, aber auch die unaufdringlichste Strategie der Enthaltsamkeit. Wenn ich so, in meinem Leben, die Frauen Durchgehe, die mir Cassetten überspielt haben, Bleiben wirklich nur wenige übrig, von denen ich es, Im nachhinein, noch einmal fordern würde, aber du, Du gehörst ganz ohne Zweifel zu denen, Von denen ich das fordern muß, hoffentlich hast Du das noch nicht vergessen, selbst wenn Sie dann zu deinem Peiniger wird, die Musik, zu meinem Peiniger, denn irgendeine seelische Konfrontation Mit Schmerz und Beliebigkeit hört nie auf, in der 6
Musik, in jeder Musik, in dem Vermächtnis Von Regalen und Handschuhfächern, Musik, In der Genauigkeit zurückgelassener Lebensalter, Musik, in der Mutlosigkeit zu schöner Frauenschädel, In einem Schimmer abgetrotzten Glücks, Augen Und vergangene Musik, dagegen Ist wohl alles machtlos, wenn In der ersten Phase des Verliebens einer stirbt, Steht Gott nicht mehr allein da, Charakterrauschen, Kleiner Wind, dabei haben wir Doch heute noch getauscht, du Hast mir Whiskey und cubanische Cigarren für mein Altes Radio gegeben, wenn das Nicht heißt, daß ich Für immer hierbleiben Will, weiß ich auch nicht.
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MEHR ODER WENIGER, WENIGER.
Als ich dich zum ersten Mal sah, mußte ich gleich an Dich denken, so könnte es beginnen, muß Aber nicht, er schlägt das Zimmer an Ihr kaputt, die Tür läuft an ihr Runter, die helle Maserung eines Möbels Sickert in ihr Kleid über, die Farbe Der Beine ist auch nur ein Tier, das Klavier verfängt sich in Ihrem Haar, der Deckel nicht ganz Unten, denn das NotenBrett steckt dünn in Den Tasten, schiefes Blut springt aus Dem Öffnungsholz, warum gerade Schiefes Blut, wenn ich sage schiefes, dann Mein ich auch schiefes, schiefes Blut ist Auch nur ein Tier, als ich Dich zum ersten Mal sah, mußte ich gleich an Dich denken.
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ICH WERDE NIE WIEDER MIT EICHHÖRNCHEN UND SCHIFFEN
Unangemeldet vor deiner Haustür stehen, nie mehr, die Schiffe fühlen sich endlich wieder wohl, im Hafen, Im Hafenbecken von Chibroskou, der blanke Süden, blaue Häuser und weiße, einzigartige Küsse, anhand von Jalousien, von mehrsilbigen Jalousien, wo Soll er denn abgefallen sein, dein zerdrückter, Tunesischer Käfer, ohne Rücksicht, einfach Runter, von deiner Postkarte, mein Herz, doch Nicht etwa erst in Europa, hattest du keine Angst, Bei solch einer Höhe, um mich und um ihn, ich weiß jetzt, Wohin meine Sehnsucht geht, wir lassen uns beide Noch ein halbes Jahr Zeit, und danach Machen wir Ernst, bis dahin kannst du es, Von mir aus, in Turnhallen, Umkleidesesseln Und Wartehäusern tun, mit wem auch immer, wenn es Das ist, was du brauchst, bleibt Wenigstens das Gefühl, ein halbes Jahr lang, die Weinflaschen tagsüber leiser aufzumachen als Nachts, es ist doch immer das Gleiche mit dir, wenn du mich anrufst, willst Du mich hören, wenn ich dich anrufe, will ich Dich sehen, den Eichhörnchen, ich habe sie nicht mehr Gezählt, geht es gut, in den weihnachtlichen Warenhäusern, warst du schon mal In einem Erlebnispark, mein Herz, dann Hättest du jetzt eine Vorstellung davon, wie sie sich Vorkommen müssen, Elektronik und Watte, verspielte Wälder, zum Nichtstun, zum Aufklappen, erst Küssen, dann ficken, oder vielleicht auch nie, hast Du das früher etwa Anders gehandhabt, dann muß ich dich Enttäuschen, ich glaube nämlich noch An Eichhörnchen und Schiffe, im Hafen, Vor jeder Haustür, Eichhörnchen und Schiffe, In jedem Hafen, im Hafenbecken von Chibroskou, übertragenes Hellblau, der schützende Süden, türkis 9
Klingt zwar best채ndiger, aber es war ja Auch nie die Rede davon, das alles, Bis zum Ende, gesund Durchzustehen.
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HILDE IST BESTIMMT GAR NICHT NACH BONN GEFAHREN,
Nach Koblenz, Andernach, nach Kiel, Sie muß hiergeblieben sein, ich spüre mit dem Finger Ihre Piercingreste in der Luft, wir heirateten zwei Mal im Schlaf, von allen Seiten, zum Glück Vergaß sie, ihre Jacke mitzunehmen, ich habe mir Vorgenommen, kleiner zu werden, mit Kleineren Kartoffeln, kleinerem Obst, Steakmedaillons und Winzigen Getränken, ich habe meine Arme Mit Wäscheleinen enger geschnürt, ich schlafe Nur noch mit hochgezogenen Knien, ich lese nur Noch die Buchzeilen genau in der Mitte, ich stelle mich Tagsüber gekrümmt vor meinen geöffneten Kühlschrank, Probiere, mit den Händen phasenweise Drin zu wohnen, lege Weinverpackungen und Melonentrümmer Auf die Arme, Arme Mit nichts dahinter, ich Hebe ständig Schnecken vom Boden auf, Grashalme, Filterpapier und die Kinder von Ameisen, ich gehe in Die Hocke und bleibe so, ich binde mich an einem Baum Fest und versuche jetzt, von ganz allein zu bluten, ich Schlenkere mit den Armen, warte auf Wölfe und Haie, die auch mal für umsonst schwimmen, bin ich Schon kleiner geworden, Hilde, ich winke ja gar nicht, ich Warte, ich esse, ich teile mir mit den Wespen Den kleinsten, jemals von einem Ast gefallenen, Aufgesprungenen Apfel, ich bin schon Kleiner geworden, du mußt Hiergeblieben sein.
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WIE, ES HÖRT NIE AUF, DAS HOLZWEINFELD IN CALENZANA, DAS
Hört doch nie auf, es paßte immer genau in meine Augen und wieder zurück, so wie man es von festen, Unverrückbaren Eindrücken gar nicht anders gewohnt War, der Stolz, dein Geld könnte für ein Leben Auf den Inseln nicht reichen, blieb eine stille Größe In der von uns getroffenen Vereinbarung, so gut wie Nichts voneinander zu wissen, ich hatte dich im Ablaufenden Winter in einer Fernsehshow gesehen, du Solltest, nach einer groben Werbeunterbrechung, die Wörter Calenzana, Augen, Stolz, Geld, still, nichts Und Fernsehshow aus dem Kopf, im Abstand von Einer Minute, in der richtigen Reihenfolge Wiederholen, schade, daß in der Aufzählung Keine Schlittschuhhäfen, Riesenschnauzer, Pistolensegel und Antilopen dabei waren, durchsichtige Antilopen, die hätte ich nämlich, an welcher Stelle Auch immer, sofort behalten, im Abstand von einer Minute, die Riesenschnauzer und die Augen, aber um mich Ging es hier gerade nicht, in dieser Werbeunterbrechung, Im Winter, es ging nur um dich und das Holzweinfeld In Calenzana, erinnerst du dich etwa nicht mehr, du Dummerle, dein Geld war nach einem halben Jahr fast Aufgebraucht, dein Unterricht am Strand lief schlecht, die Kinder reicher Eltern brauchten unsere Sprache noch Nie, und ich, ich hatte es satt, getrocknete Wäscheblöcke Mit einem Lieferwagen nach Centuri und Piana zu fahren, Immer heimlich drei Kreuze, wenn ich wieder zurück War, ohne in den Baracken und Küstenabschnitten Sprechen zu müssen, Wort für Wort, immer im Abstand Von einer Minute, Calenzana, Centuri, Piana, die Sehnsucht Auf Korsika nach Korsika, das sture, seitliche Meer, das Noch nie zuvor zufror, die Sehnsucht nach einem Bewaffneten Überfall im Film, auf der Umschlagseite Einer einheimischen Illustrierten, würde die Frau ihre Rote Pistole noch mehr nach unten, auf meine Kniescheiben, Richten, hätte sie Ähnlichkeit mit einem Segel, aber 12
Es ging mir ja nur noch um dich und das Holzweinfeld In Calenzana, erinnerst du dich etwa, etwa nicht Mehr, wir waren doch ausgezogen, um die Schongeräusche All der Lichteinschläge tagsüber in unseren Monaten Apathisch hinzunehmen, wie wenn einer nicht mehr weiter Weiß, das Warten hinter Jalousien, die Farbwinkelstufen Einer ganz anderen Welt, der Stolz, dein Geld Könnte für unser Leben auf den Inseln nicht reichen, blieb Eine stille Größe in der von uns getroffenen Vereinbarung So gut wie nichts voneinander zu wissen, oder wußtest Du vielleicht, daß ich bei all meinen Fahrten nach Centuri und Piana gar nicht nach Centuri und Piana Unterwegs war, die minimalen Kreidefelsen in der Brandung Wie sie wieder Wasser fingen, endlich wieder Wasser, dein Unterricht am Strand lief schlecht, die Kinder Reicher Eltern riechen nicht nach Schnaps und Fischen, Ihre dünnen Haare lauern über dem Festland, in der Richtigen Reihenfolge, im Abstand von einer Minute, von Einer Minute zur wirklich anderen, Jahr für Jahr Über dem Festland, die Kreidefelsen und die Brandung, dein Unsichtbarer Unterricht im Land, ohne Wein am Strand Schlief es sich schlecht, die Schongeräusche im Freien, immer im Abstand von einer Minute, Knacken, treten, spülen, fliegen und alles In der richtigen Reihenfolge, könntest du dir nicht Vorstellen, nur noch von Kastanien zu leben, in Den Waldgebieten von Castagnicca, kein Wein, kein Fleisch mehr, Coppa und Lonzu‚ die Rotbraunen Nächte, im Vorbeiziehen, Bonaparte hat Seine Insel schon am Geruch erkannt, das Buschwerk Der Macchia, kniehoch, Oleaster, Steinlinde Und Erdbeerbaum, dann eben nicht kniehoch, was weißt Du schon von der fiebrigen Höhe meiner Vegetarischen Vorstellungskräfte, in einer Fernsehshow, Im Winter, im ablaufenden Winter, im Abstand Von einer Minute, in der richtigen Reihenfolge, knacken, Treten, spülen, fliegen, und wenn ich jetzt sage, die 13
Durchsichtigen Antilopen auf Korsika waren immer In der Unterzahl, weiĂ&#x; ich, dieser Satz Trifft irgendwann zu.
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ICH KANN DICH ERST NACHHER ERSCHIESSEN, FLIEDER,
Weil du mit einem Apfel Zeit verbringst. Ich würde mich gern täuschen, wenn du singst. Die Säure kratzt sich rein in deine Lieder, Erfrischt die Haare: Illinois in Strähnen. Das Gästebett im gleichen Zimmer Gläser Für Weitertrinkende und Bücherleser: Das Hirn sahnt ab, die Hände übernehmen Das Spiel der Möbel und Verlegenheiten. Ob du schon gehen sollst: von mir aus nie. Ich hätte dich erschießen sollen, Flieder. Ich muß mir einen Bramley zubereiten, Weil ich nicht sprechen kann, verstehst du, die Musik, die läuft, läuft ständig immer wieder.
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